Chapter Text
So hatte Fabi sich das nicht vorgestellt.
Überhaupt war seit die Wildern Kerle aufgetaucht waren, um Leon zu retten, nichts mehr so gelaufen wie er es geplant hatte…
Und dann hatte Leon auch noch so verdammt genau mitten ins Schwarze getroffen, als er ihn aufgefordert hatte, wieder sein Freund zu sein, falls er gewinnen sollte. Es hatte Fabi unerwartet hart getroffen, war völlig aus dem Nichts gekommen und er hatte das Einzige getan, was er tun konnte; sich zusammengerissen, den Schmerz unterdrückt und gelächelt. «Dann habe ich ja nichts zu verlieren» hatte er gesagt. Es hatte gut geklungen. Vielleicht ein wenig gezwungen, vielleicht hatte man die Bitterkeit in seiner Stimme gehört, aber es hatte doch so ausgesehen, als hätte er die Situation im Griff.
Und dann hatte Leon ihn gleich noch einmal voll erwischt; «Mir schon. Mir geht es heute nämlich um alles.» Wäre es irgendein anderer gewesen, hätte Fabi gedacht, er wäre ein emotional-manipulatives Genie, so perfekt hatten ihn die Worte getroffen. Genau da, wo es weh tat. Genau mitten ins Herz. Die richtigen Worte, gesagt in Leons Stimme mit Leons Gesicht, mit einem Ausdruck, der nur bei ihm so funktioniert hätte. Und Fabi hatte nicht mehr so tun können, als liesse ihn das Ganze kalt.
Und dann hatte Leon auch noch gewonnen. Und Fabi versuchte sich das Gegenteil einzureden, aber er wusste nur zu genau, dass er diesen verdammten Ball hätte halten können. Es hatte wirklich nur den Bruchteil einer Sekunde gebraucht, einen Blick auf Leons Gesicht, und er hatte ihn verfehlt.
Er war so verdammt wütend gewesen auf sich selber. Er hatte sich wieder genau so gefühlt wie damals.
Und dann, gerade als er vor lauter Wut auf seinem Quat durch den Wald gebrettert war, auf der Flucht vor allen und sich selbst, waren sie alle plötzlich vor ihm aufgetaucht. Sogar Leon war da gewesen und hatte Fabi seine Hand gereicht, ihn angeschaut mit seinen grossen Augen und Fabi hatte etwas darin gesehen. Etwas, dass ihn glauben liess, dass sich alles geändert hatte. Dass sie vielleicht doch wieder Freunde werden könnten. Dass Leon vielleicht doch begriffen hatte, dass er sich vielleicht doch noch geändert hatte.
Doch jetzt, Stunden später, sass Fabi auf seinem Stuhl am halbleeren Festtisch und schaute Leon dabei zu, wie er Vanessa auf seinen Schoss zog und sie innig küsste.
Irgendetwas in seinem Gehirn machte ‘klick’ und er begriff.
Er war wieder darauf reingefallen, er hatte Leon wieder verziehen, und wieder war es nur er selbst gewesen, der sich etwas vorgemacht hatte. Leon hatte nicht vorgehabt, etwas zu ändern. Leon hatte nur gewollt, dass alle zufrieden wären, damit er wieder in den Wald verschwinden könnte und kein schlechtes Gewissen haben müsste, Fabi hier zurückzulassen und ihn nie wieder zu sehen. Er könnte sich einfach sagen, er habe die Sache geklärt.
Fabis Brust fühlte sich furchtbar leer an. Er trank sein Weinglas aus und wandte sich vom Tisch und vom Anblick des knutschenden Paares ab und ging zum Lagerfeuer hinüber, wo er wütend begann, Holzscheite nachzulegen. Alles war genauso wie zuvor. Nichts hatte sich verändert. Tatsächlich fühlte er sich wieder genau wie damals mit zehn. Und er hasste sich selbst und Leon dafür. Hatte er sich nicht geschworen, es nie wieder dazu kommen zu lassen? Er fluchte und warf noch ein paar Scheite nach, das Feuer spie gelbe Funken in die Nacht.
Er hörte Schritte hinter sich treten und erwartete Lissi, die ihn besorgt fragen würde, was los sei, oder ihn ins Bett schicken, oder versuchen würde, ihn aufzumuntern. Alles Dinge, die er jetzt nicht ertragen hätte. Er wollte wütend sein. Lieber das als die Alternative; Sich mit seinen anderen Gefühlen zu beschäftigen.
Aber es war nicht Lissi, die neben ihn trat, sondern Marlon. Fabi sah erstaunt auf.
Marlon reichte ihm eine halbleere Weinflasche und sagte leise: «Du siehst aus, als könntest du das brauchen.»
Fabi schaute kurz zwischen der Flasche und Marlons Gesicht hin und her, dann nahm er sie ihm ab, und trank einen Schluck. Marlon sagte noch etwas, dass Fabi nicht verstand, weil sein Blick gerade auf Vanessa und Leon gefallen war, die aufgestanden waren und nun kichernd und Arm in Arm zum Ausgang des Steinbruchs verschwanden. Er wollte schreien, aber stattdessen besann er sich auf die Flasche in seiner Hand, setzte sie an seine Lippen und trank sie auf einen Zug leer. Er hörte Marlon protestieren, aber da war die Flasche schon leer und Fabi warf sie mit aller Kraft, die er hatte, auf einen Stein am Lagerfeuer. Sie zersplitterte in tausend Teile und Kacke, verdammte, fühlte sich das gut an!
Marlon zuckte zusammen und keuchte überrascht auf und über den Hof hinweg hörte Fabi, wie sein Name gebrüllt wurde. Er musste nicht hinsehen um zu wissen, dass Lissi soeben aus dem Fussballkäfig geklettert war, in dem sie mit ein paar Anderen gespielt hatte, und auf ihn zustürmte.
«WAS ZUM FICK FABI!?WILLST DU, DASS WIR UNS DIE FÜSSE AUFSCHNEIDEN?!» hörte er sie brüllen.
Reflexartig sprang er zum nächsten Geheimgang und kletterte flink durch den engen Steintunnel und über eine Strickleiter nach oben, bis er am oberen Rand des Steinbruches wieder herauskam. Er lehnte sich ausser Atem an einen Felsen und fluchte. Lissi brüllte ihm von unten noch etwas zu, aber sie schien ihm nicht zu folgen und so atmete er tief durch und setzte sich erschöpft auf den Boden.
Der Aussichtsplatz, an dem er sich befand, hatte einen guten Blick auf den gesamten Steinbruch. Man sah Raban, Joschka, Aischa und Anna an den Katapulten stehen, und sich über die Machart ihrer Waffen austauschen, Nerv und Fli-fla, die als letzte noch am Esstisch sassen und nun, ein wenig verdattert durch Fabis Ausbruch, wieder zu ihrem Kartenspiel zurückkehrten. Lissi, die immer noch sichtlich erzürnt zurück zum Käfig stapfte, wo Juli, Maxi, Markus, Lara-Moon und Sara auf sie warteten.
Fabi sah Kissi und Yvette, die dabei gewesen waren, ihre Wäsche von einer der Leinen zu nehmen, innegehalten hatten und nun zu Lissi hinübergingen, vermutlich um zu fragen, was los sei. Der Wäschekorb stand vergessen auf dem Boden.
«Kacke, verdammte, Fabi was war denn das?!» keuchte hinter ihm eine Stimme und Fabi zuckte so heftig zusammen, dass ihm fast der Hut vom Kopf gefallen wäre. Marlon war gerade aus dem Loch zum Geheimgang geklettert und setzte sich jetzt ein wenig atemlos neben ihn.
«Was interessierts dich?» gab Fabi halbherzig zurück, nach seinem kleinen Ausbruch plötzlich nicht mehr wütend. Tatsächlich fühlte er sich nur noch irgendwie leer.
«Naja, du hast mich ziemlich geschockt grade. Ich wollte eigentlich nur fragen ob bei dir alles okay ist und du ext ne halbe Flasche Wein und knallst sie mir vor die Füsse…» Er zog sich das Stirnband vom Kopf und fuhr sich durch die roten Haare.
Fabi schnaubte und schüttelte den Kopf. «Ich bin okay, du kannst also wieder gehen.»
Er und Marlon waren nie besonders eng befreundet gewesen. Natürlich, er kannte ihn gut genug; immerhin war er der grosse Bruder seines besten Freundes, und ein Teil des Teams, aber soweit er sich erinnern konnte, hatten sie noch nie einfach etwas nur zu zweit gemacht. Geschweige denn über ihre Gefühle geredet.
«Du kannst Die Intuition nicht anlügen, Fabi» sagte Marlon streng und klang dabei wie Oma Schrecklich.
«Aber ich kann sie ignorieren» gab Fabi zurück, und rieb sich mit den Händen übers Gesicht. «Heiliger Muckefuck, was fürn Tag» seufzte er halblaut, mehr zu sich selber als zu Marlon.
Eine Weile lang war es einfach nur still, während Fabi das Gesicht in den Händen vergrub und angestrengt versuchte, Leons Gesicht zu vergessen. Wie er gelacht hatte mit Vanessa. Verdammt, tat das weh.
Ein Rascheln zu seiner Rechten liess Fabi zusammenzucken, aber er rührte sich nicht. Sollte Marlon doch gehen. Er wollte eh nicht mit ihm reden. Sollte er ihn doch alleine lassen, das war genau, worauf er wartete. Er wollte alleine sein und vor sich hin schmollen… vielleicht ein wenig Heulen.
Aber Marlon machte keine Anstalten zu gehen, stattdessen rückte er näher an Fabi und legte ihm den Arm um die Schulter.
«Ich weiss, das bringt dir jetzt grad nichts, aber… naja, er hat es nicht verdient, dass du dich wegen ihm kaputt machst» sagte er und Fabi hob erschrocken den Kopf aus den Händen. Hier oben war es dunkler, als unten im Steinbruch, aber in einem nahen Aussichtspunkt brannte eine Lampe, die Marlons Gesicht genug erleuchtete, dass Fabi den Ausdruck darin sehen konnte. Mitleid- nein, Mitgefühl. Und eine gewisse Entschlossenheit, die Fabi nicht ganz deuten konnte.
«Wovon redest du?» fragte er, überflüssigerweise. Er wusste, dass er, vor allem heute Abend, transparent wie eine Fensterscheibe war. Aber er konnte es nicht so einfach zugeben. Kacke, verdammte, Marlon kannte ihn doch gar nicht richtig! Zumindest schon eine Weile nicht mehr.
Aber Marlon war nicht umsonst Die Intuition und Fabis Abstreitungsversuch erreichte nur eine gehobene Augenbraue und einen erneuten tiefen Seufzer.
«Spar dir die Energie,» sagte er «Ich bin nicht blind, und im Gegensatz zu meinem kleinen Bruder kann ich durchaus eins und eins zusammenzählen.» er zog Fabi fester an sich und rieb mit dem Daumen über seine Schulter. «Und du hast ja auch nicht gerade versucht subtil zu sein, als du ihn hierher entführt hast, oder?»
Fabi fluchte leise, aber mehr aus Resignation als Wut.
«Ich wollte mit ihm abschliessen.» murmelte er und liess den Kopf auf die Knie sinken. «Ich wollte ihn ein letztes Mal besiegen. Das ist es doch, oder? Das Einzige, was Leon interessiert. Gewinnen. Und ich hab’ ihn immer gewinnen lassen. Ich bin weggelaufen und hab ihn damit gewinnen lassen. Ich wollte ihn nur einmal verlieren sehen, dann hätte ich damit Schluss machen können.» Fabis Stimme zitterte jetzt, aber er sprach nur noch schneller. «Verfluchte Kacke! Ich war so kurz davor, und dann zieht er diese Scheisse ab… und ich fall auch noch drauf rein, verdammt!»
Marlons Arm an seinem Rücken war warm und beruhigend und er lehnte den Kopf gegen seine Schulter, merkte nicht mal wie ihm dabei der Hut vom Kopf rutschte. Der Wein zeigte langsam deutlich seine Wirkung, erwärmte Fabis Inneres und erweichte die Mauern, die er so mühsam um sich herum aufgebaut hatte. Unten im Steinbruch hatten sie wieder angefangen zu spielen und das vertraute knallen des Balls im Käfig war beruhigend.
«Es fühlt sich alles wieder genau so an wie damals. Und ich dachte wirklich, dass sich etwas geändert hat»
Marlon schwieg eine Weile lang, sass nur da und starrte auf Fabis Füsse, die in schweren Stiefeln steckten.
«Vielleicht ist es das Beste, wenn du einfach aufgibst» sagte er langsam, tief in Gedanken versunken, «Im Endeffekt ist es egal, wer gewinnt. Was zählt, ist, dass du nicht für immer hinter ihm herjagst, oder? Er ist es wirklich nicht wert.»
Fabi spürte die Tränen, die in seinen Augen brannten und sie machten ihn wieder wütend. «Aber dann ist es wieder genauso! Dann hab’ ich wieder aufgegeben und er gewinnt und weiss es nicht mal! Ich will doch nur, dass er verdammt nochmal versteht, was er tut! Er kann doch nicht einfach so rumlaufen und von allen erwarten, dass sie sich für ihn aufopfern und sie dann fallen lassen, wenn er keinen Bock mehr hat!»
«Aber genau das ist es doch; er wird nichts daraus lernen.» Marlon sprach ruhig aber nachdrücklich, «Das tut er nie. Er baut Scheisse, und sobald wieder alles gut ist, vergisst er, was er daraus gelernt hat und dann macht er genau die gleichen Fehler wieder genauso. Dieser ganze Verräterkram, zum Beispiel, den er immer so furchtbar wichtig findet, das zählt nicht für ihn, weil er aufgeben und weglaufen kann, so viel er will. Weil er genau weiss, dass das Team ihn braucht und wir ihn zurückholen werden. Er hat irgendwie nie gelernt, dass was er tut Konsequenzen hat. »
Fabi hatte inzwischen aufgehört zu schluchzen und atmete nur noch ein wenig flach. Ab und zu schniefte er leise.
«Wenn ich sage, du sollst aufgeben, mein ich nicht, dass du ihn gewinnen lassen sollst. Sondern dass du dieses ganze Gewinnen-Ding insgesamt aufgeben musst. Wenn du dich daran festhältst, dann wirst du das alles nie los. Dann wird dich das irgendwie von innen auffressen, irgendwann. Du musst loslassen, verstehst du?»
Nur das Knallen des Balls gegen die Wände des Käfigs hallte laut durch den Steinbruch. Es fühlte sich fast so an, als wäre Fabis Herz aus seiner Brust gesprungen und würde jetzt dort unten schlagen.
«Meinst du, das geht irgendwann weg?» fragte er nachdenklich, und die getrockneten Tränen auf seinen Wangen ziepten ein wenig. Er rieb sie gedankenverloren weg.
«Keine Ahnung, Mann. Ich glaub, ich war noch nie verliebt» sagte Marlon und riss Fabi damit aus seiner Trance.
Schnell rückte er von Marlon ab.
«Ich bin nicht verliebt!» sagte er ein wenig zu laut und zu schnell. Plötzlich brannte sein Gesicht wie Feuer.
Marlon zog skeptisch die Augenbrauen zusammen. «Sicher?» fragte er und schaffte es dabei, nicht spöttisch zu klingen.
«Natürlich bin ich sicher!» Instinktiv griff Fabi nach seinem Hut, um ihn sich tiefer ins Gesicht zu ziehen, aber er griff ins Leere und tastete fahrig über den Boden, bis er den Hut wiederhatte. «Ich bin doch nicht ver-« schnaubte er und setzte sich den Hut hastig wieder auf. «Das ist eklig, hörst du!» zischte Fabi, und noch während er die Worte aussprach spürte er seinen Brustkorb enger werden. Die Worte hingen zwischen den beiden in der Luft wie Giftgas und Marlons Blick lastete auf ihm wie eine Tonne.
«Verdammt.» war das nächste was Fabi hervorbrachte, doch da war kein Biss in seiner Stimme, sie war platt wie ein extradicker Hinterradreifen, dem jemand die Luft rausgelassen hatte.
Er drehte sich von Marlon weg, schaute lieber hinunter in den Steinbruch, wo Raban und Joschka am Feuer sassen, neben Anna, die gerade eine Wolldecke um sich und Aischa legte. Es war kühl geworden.
«Du weisst schon, dass es uns egal ist, oder?» murmelte Marlon nach langem Schweigen. «Ob du- naja, auf wen du stehst und so.» Er klang unsicher, vorsichtig.
Fabi atmete tief durch. «Es ist trotzdem nicht einfach» sagte er, seine Hände zupften fahrig lose Fäden aus dem Saum seines Kilts. «Wilde Kerle verlieben sich nicht. Schon gar nicht in andere Kerle. Schon erst recht überhaupt nicht in ihren besten Freund.»
Wieder Schweigen. Inzwischen hatten sie unten aufgehört zu spielen und die einzigen Geräusche, die noch zu hören waren, waren das Knispern des Feuers und leise Stimmen, die sich unterhielten, ab und zu durchbrochen von Fli-Flas und Nervs Lachen.
«Du…» setzte Marlon an, brach mitten im Satz ab und versuchte es nochmal ein paar Sekunden später; «Warst du damals nicht in Vanessa… ich mein, du mochtest sie schon, oder nicht?» Wie merkwürdig, Marlon so über seine eigenen Worte stolpern zu hören. Herz und Intuition. Klar doch.
«Ja. Ich mein, ich war acht oder so. Aber ich denk schon, dass ich in sie verknallt war» antwortete Fabi müde. Der Alkohol machte ihn inzwischen nur noch schläfrig und er sehnte sich nach seinem Bett.
«Aber-« begann Marlon, wurde aber unterbrochen, bevor er den ganzen Gedanken aussprechen konnte.
«Das ist doch egal, Marlon. Das Einzige, was dabei zählt, ist, dass Leon heute hierbei genau gleich drauf reagieren würde, wie er es damals getan hat. Was meinst du, weshalb ich’s ihm nicht einfach gesagt hab? Ich war so kurz davor, es ihm an den Kopf zu werfen. Aber ich hab mich nicht getraut.»
Marlon schien sich immer noch den Kopf darüber zu zerbrechen, was genau es jetzt mit Fabis Sexualität auf sich hatte und Fabi liess ihn grübeln. Er selbst starrte auch nur ins Nichts und fragte sich, wie er es nach allem, was damals passiert war, geschafft hatte, Leon zu verzeihen. Wenn er das so von aussen betrachtete, war es unglaublich, dass er sich tatsächlich in Leon verliebt hatte. Kacke, verdammte, da war dieses Wort schon wieder!
«Lass uns runter gehen, ich will ins Bett» unterbrach er schliesslich das Schweigen mit matter Stimme.
Marlon hob ruckartig den Kopf, blinzelte und nickte dann schnell.
Als sie aus dem Gebüsch vor dem Geheimgang kletterten, fragte Marlon vorsichtig «Geht’s dir etwas besser?»
Fabi hielt inne und schaute ihn nachdenklich an. «Hm, ich glaub schon», er legte Marlon die Hand auf die Schulter. «Danke.»
Marlon nickte knapp.
Fabi drehte sich um und ging auf den Esstisch zu, wo die beiden kleinsten Mitglieder ihrer jeweiligen Mannschaften immer noch fröhlich plauderten.
Als er näherkam, wurden sie still und Fli-Fla schaute ihren Anführer über ihre Brille hinweg unsicher an.
«Hey Fabi» sagte sie vorsichtig und es versetzte ihm einen Stich, dass sie so unsicher klang. Fli-Fla war eines der frechsten Biester. Nie auf den Mund gefallen und normalerweise direkt, oft über die zwischenmenschlichen Grenzen hinweg.
«Hey Kleines,» sagte Fabi, nahm ein Herrenloses Wasserglas vom Tisch und leerte es. Fli-Fla haute ihn normalerweise, wenn er sie ‘Kleines’ nannte, aber diesmal kniff sie nur die Augen zusammen.
«Ihr beiden solltet vermutlich langsam ins Bett. Ihr wollt doch morgen wieder los, Nerv.»
Der Junge schien kurz nach einer Ausrede zu suchen, aber Marlon war neben Fabi getreten und schaute ihn streng an.
«Fabi hat recht, Nerv. Das wird ‘n langer Tag Morgen und wenn du übermüdet bist und rumjammerst, setz ich dich ohne zu zögern im Wald aus, ist das klar?»
Nerv zog den Kopf ein und murrte widerwillig, stand aber auf und trollte sich in Richtung des provisorischen Zeltplatzes, den die Kerle vor dem Abendessen im Steinbruch aufgestellt hatten. Fli-Fla sah aus, als wollte sie sich beschweren, schien es sich dann aber anders zu überlegen und sammelte schnell ihre Karten zusammen, bevor sie sich in Richtung Höhleneingang verzog. Sie rief noch ein «Nacht» über die Schulter und verschwand.
Marlon und Fabi machten sich daran, ein wenig den Esstisch aufzuräumen. Fabis Augen brannten vor Müdigkeit und vom Weinen und er gähnte alle paar Sekunden so fest, dass er es zuerst gar nicht mitbekam, als sich das Eingangstor ein Stück öffnete und zwei eng aneinander gedrückte Gestalten sich durchschoben. Erst als eine der beiden stolperte und die andere sie fluchend auffing, bemerkte Fabi ihre Anwesenheit. Vanessa zog Leon lachend wieder auf die Füsse und tuschelte ihm neckisch etwas zu und er kicherte und küsste sie erneut.
Fabi spürte eine Hand an seinem Arm und schaute in Marlons entschlossenes Gesicht. Der schüttelte nur den Kopf und hielt Fabis Arms fest, bis das Kichernde Pärchen in einem Zelt verschwunden war. Fabi hatte die Zähne so fest zusammengebissen, dass er spüren konnte, dass er morgen Kieferschmerzen haben würde. Sein Bauch war auch ganz verkrampft.
Marlon seufzte leise und sagte «Komm ich bring dich noch… äh, wo schläfst du eigentlich?»
Fabi blinzelte ein paarmal schnell, dann stellte er den schmutzigen Teller, den er festgehalten hatte, auf den Tisch und ging voraus in Richtung Höhleneingang.
Die Schlafräume der Biester waren Balkon-artige Löcher in den Wänden des Steinbruchs, ähnlich den Logen in einem Theater. Keiner wusste genau, zu welchem Zweck sie damals in die Felsen gehauen worden waren, aber die Biester hatten sie zu gemütlichen kleinen Schlafhöhlen umgebaut. Fabis war am Weitesten oben angelegt; normalerweise praktisch zum Überblicken der Natternhöhle, in angetrunkenem Zustand aber eher ungünstig. Er hätte es nicht zugegeben, aber er war dankbar, dass Marlon gleich hinter ihm kletterte und ihn festhielt, als er ein- zwei Mal von den Holzsprossen der Leiter abrutschte.
Oben angekommen zog er den Vorhang zur Seite, der als Tür diente, und kletterte auf das Schlaflager aus Matratzen, Decken und Kissen, das den Grossteil des kleinen Raumes einnahm. Er streckte sich, fand zielstrebig die kleine Lampe, die am Fussende stand und schaltete sie ein.
Marlon blinzelte ein wenig verwirrt in das plötzliche Licht und sah sich überrascht um. «…Das hatte ich irgendwie nich’ so erwartet…» murmelte er halblaut.
Fabi, der immer noch auf dem Bett sass und dabei war, seine Stiefel aufzuschnüren, schaute mit schiefgelegtem Kopf hoch.
«Was hattest du denn erwartet?» fragte er und warf die Schuhe auf einen Kleiderhaufen. Der Hut folgte, dann die Lederjacke.
«Ich weiss auch nich’…» meinte Marlon und wandte sich schnell von Fabi ab, als dieser den Kilt abstreifte. Danach sass der in Boxershorts und T-shirt da und schaute zu Marlon hoch, unsicher, was er jetzt sagen sollte. Am liebsten hätte er ihn gebeten, hier zu schlafen, aber er wagte es nicht, zu fragen.
Marlon stand peinlich berührt im Eingang. «Du, äh… kommst klar jetzt? …Kannst du schlafen?»
Fabi zuckte die Schultern.
Wieder verging eine Weile, in der beide schwiegen und Marlon immer noch ein wenig hilflos im Eingang stand. Schliesslich klopfte Fabi neben sich auf die Matratze und Marlon setzte sich, fast ein wenig widerwillig, hin.
Fabi lehnte seinen Kopf wieder gegen Marlons Schulter und schloss die Augen. Und Marlon sah überall hin nur nicht auf Fabis nackte Beine neben den seinen. Er hatte ein Tattoo am Oberschenkel, offensichtlich selbstgestochen. Die Tinte war etwas verblasst und es war schwer zu sagen, was es darstellen sollte.
«Du kannst auch hier schlafen, wenn’s dir nix ausmacht» sagte Fabi leise, es machte ihn nervöser, das zu sagen, als ihm lieb war. Er war immer noch angetrunken genug um ehrlicher mit sich selbst zu sein, als er es in nüchternem Zustand zu tun pflegte, und er spürte deutlich, dass eine Abweisung ihn jetzt härter treffen würde, als normal, auch wenn es nur Marlon war. Nicht weil er auf irgendetwas spekulierte oder weil Marlon irgendwelche romantischen Gefühle in ihm auslöste; er war einfach zu müde um noch eine Enttäuschung locker wegstecken zu können.
Marlon zögerte; Fabi sah sein Gesicht nicht, aber er spürte, wie er ein paar Mal Luft holte um etwas zu sagen und dann immer wieder abbrach, ohne ein Wort herausgebracht zu haben.
«Keine Angst, ich hab’ nicht vor, was zu tun. Ich wär’ einfach lieber nicht allein» murmelte Fabi müde. «Aber es ist sonst auch okay. Ich penn eh bald ein.»
Marlons Körper neben Fabis spannte sich an, als wäre ihm die Situation sehr unangenehm.
«Ich hab’ auch nicht gedacht dass du- ich hab keine Angst vor dir.» Er seufzte tief und murmelte etwas Unverständliches, dann schob er Fabi sanft von seiner Schulter weg.
Der liess sich nach hinten auf sein Bett sinken und starrte an die Decke. Die Enttäuschung war weniger schlimm, als er gedacht hatte. Nur irgendwie …stumpf.
Aber zum zweiten Mal an diesem Abend ging Marlon nicht, als Fabi es von ihm erwartete. Stattdessen schlüpfte er aus seinen Schuhen und zog seinen Overall aus, sodass auch er nur noch Boxershorts und ein Tanktop trug, als er neben Fabi ins Bett kroch.
«Wenn du das jemals einem der anderen erzählst, bring ich dich um» murmelte er einem überraschten Fabi ins Ohr.
Dieser zog eine Decke über sie beide und nickte. «Keine Angst, lieber bring ich uns beide und die andern um, als ihnen hiervon zu erzählen.» Er löschte das Licht aus und sie lagen in der Dunkelheit Schulter an Schulter. Draussen war es inzwischen vollkommen still, auch die letzten mussten ins Bett gegangen sein.
«Danke nochmal», murmelte Fabi und Marlon legte ihm den Arm um die Schulter und wuschelte ihm durch die Haare.
«Hmh» machte er leise und dann schliefen sie nebeneinander ein.
Fabi wachte auf, als das erste Sonnenlicht durch den dünnen Vorhang seiner Höhle auf sein Gesicht fiel.
Er wachte für gewöhnlich jeden Morgen so auf, und eigentlich mochte er das auch, aber an diesem Morgen stach der Lichtstrahl ihm in die Augen wie ein glühendes Schwert und er fluchte gepresst. Er drehte sich um und vergrub sein Gesicht so gut es ging im Shirt des Jungen neben ihm. Es funktionierte gut genug und für ein Paar Sekunden war er drauf und dran wieder in den Schlaf zu sinken, eingelullt vom Herzschlag des anderen, und der sanften Bewegung seiner Brust mit jedem Atemzug.
Dann rastete etwas in Fabis Gehirn ein und er schreckte hoch. Von einer Sekunde auf die andere senkrecht im Bett sitzend, starrte er auf Marlon hinunter, der da ausgestreckt im Bett lag, den linken Arm über dem Gesicht, als hätte auch er Begegnung mit dem Sonnenlicht gemacht.
«Marlon?!» ,keuchte Fabi erschrocken.
Der grummelte etwas Unartikuliertes und schaute aus kleinen Augen hoch zu Fabi, der ihn anstarrte wie einen Geist.
«Was?» nuschelte er, nachdem er schnell seine Augen wieder in den Schatten seines Armes gebracht hatte.
Fabis Herz schlug schnell, als er dasass und seinen ehemaligen Teamkameraden anstarrte, während langsam aber sicher die Erinnerungen an den letzten Abend zurückkamen. Erleichtert seufzend liess er sich wieder nach hinten fallen.
«Heiliger Muckefuck, Marlon!» stiess er aus.
Marlon grunzte, halb genervt, halb belustigt. «Was hast’n du gedacht?»
Diese Frage führte in eine Richtung, in die Fabi nicht denken wollte, also wechselte er schnell das Thema: «Shitte, das Wetter ist perfekt heute was? Es ist, als wollte euch der Himmel hier genauso schnell weghaben wie ich!» Er lachte und Marlon stiess ihn in die Seite.
«Wer sagt denn sowas zu jemandem, der grad neben ihm aufgewacht ist!»
Sie lachten beide und trotz seiner Kopfschmerzen fühlte sich Fabi irgendwie gut.
Schliesslich standen sie auf und zogen sich an.
Bevor sie aus der Höhle ins Freie traten, überprüfte Fabi, ob die Luft rein war. Lissi war natürlich schon wach, denn sie hatte mindestens so viel Anführer-Verantwortungsgefühl für die Biester wie Fabi (vermutlich sogar mehr) und jetzt stand sie am Feuer und machte allem Anschein nach Kaffee. Als die beiden auf sie zugingen, blinzelte sie Marlon ein wenig irritiert an, sagte aber nichts dazu.
Stattdessen schnauzte sie Fabi entgegen; «Ah, der Werte Herr bequemt sich auch mal noch aufzustehen. Als Erstes darfst du gerne die Scherben von Gestern aufwischen. Du weisst, dass Sara hier immer Barfuss rumrennt.» Ihre Stimme war kalt, aber Fabi hörte heraus, dass sie nicht mehr wirklich wütend war, auch wenn sie ihm noch nicht verziehen hatte.
Er gehorchte stumm, während Marlon sich kurz mit Lissi unterhielt und sich dann mit Aufräumen nützlich machte.
Der nächste, der sich ins Tageslicht bewegte, war Nerv, welcher ziemlich verpennt wirkte; er trug einen Pyjama mit kleinen Fussbällen drauf, dessen Oberteil mit Kakaoflecken besprenkelt war und seine Haare standen in allen Richtungen von seinem Kopf ab. Nachdem er pinkeln gewesen war, half Nerv, indem er die anderen Kerle weckte, was ihm, wie Fabi auffiel, sichtlich Spass machte. Nur bei Vanessas und Leons Zelt wagte er nicht, einfach den Reissverschluss aufzuzerren. Stattdessen ging er daneben in die Hocke, etwa auf der Höhe, auf der er ihre Köpfe vermutete und brüllte Wilde-Kerle-Parolen, bis Leon fluchend aus dem Zelt stürzte.
Dann fand eine kurze, aber laute Verfolgungsjagd durch die Natternhöhle statt, die damit endete, dass Leon und Vanessa den kleinsten Kerl an Armen und Füssen gepackt aus dem Steinbruch schleppten. Als sie wenige Minuten später wiederkamen, war Nerv tropfnass und Leon und Vanessa schienen mit ihrer Rache zufrieden.
Das Durcheinander hatte schliesslich auch die Letzten aufgeweckt und bald dirigierte Lissi mit gekonntem Überblick die Frühstücksvorbereitungen, während Leon und Marlon dafür sorgten, dass der Zeltabbau und das Packen der Bikes reibungslos von statten ging.
Eine Viertelstunde später sassen sie alle in der Morgensonne am grossen Tisch und frühstückten. Es war laut und alle wirkten ein wenig aufgedreht, ausser Raban, der auf seinen Ellbogen gestützt eingepennt war, und nicht mal merkte, dass Nerv ihm sein Nutellabrot vom Teller geklaut hatte, und Markus, der an Maxi gelehnt döste, die Hände um seine Kaffeetasse geklammert.
Als die Wilden Kerle abfahrtsbereit waren, schüttelten sich alle nochmal reihum die Hände, Fistbumps und Umarmungen wurden ausgetauscht und Fabi gab sein Bestes, selbstsicher auszusehen, als er auf Leon zutrat und ihm die Hand reichte.
Dieser Schlug ein und grinste und Fabi biss die Zähne zusammen, wobei er das Zähneknirschen von gestern in seinen Muskeln spüren konnte.
«Meld’ dich mal.» sagte Leon und Fabi wusste, noch bevor er antwortete, dass er das ganz bestimmt nicht tun würde.
«Mal seh’n.» sagte er vage und verspürte eine gewisse Genugtuung dabei. «Kommt gut heim, und passt auf euch auf.» sagte er, und meinte es auch so.
Sein Abschied von Marlon war nicht länger, aber auf eine sehr direkte Art ehrlicher.
«Du weisst, wo du mich findest, wenn du was brauchst» sagte er und streckte die Hand aus.
Marlon ergriff sie und nickte entschlossen. «Und du, vergiss nicht, was ich dir gesagt hab übers Gewinnen.»
Die beiden umarmten sich kurz, bevor Marlon zu Markus ins Cart stieg.
Fabi fing Leons fragenden Blick auf und diesmal war sein Grinsen echt, als er die Schultern zuckte. Es fühlte sich gut an, zu sehen, wie Leon die Nase rümpfte, eindeutig unzufrieden, weil er etwas nicht verstand.
Dann gab er das Zeichen und sie fuhren knatternd und brummend davon.
Fabi kletterte durch den nächsten Gang in einen Ausguck auf dem Oberen Rand des Steinbruchs, gegenüber dem Platz, an dem er gestern Abend mit Marlon geredet hatte. Er hielt die Hand über die Augen gegen das Sonnenlicht und schaute den Wilden Kerlen nach.
Als sie zwischen den Bäumen verschwanden, fühlte er sich, als hätte sich gerade ein Tonnenschweres Gewicht von ihm gelöst. Als hätte bis gerade eben noch der dicke Michi auf seinem Brustkorb gesessen. Er konnte ihn förmlich schnaufend davonstampfen hören.
Fabi lachte in den Morgen hinein und fühlte sich frei.
