Work Text:
Das erste Mal, als ihm die Idee kam, war Adam gerade am Ende einer kurzen Beziehung mit einer Frau, mit der er absolut nicht zusammenpasste. Wie auch. Er war mit dem Kopf noch viel zu sehr dem Drang nach Freiheit verhaftet, als dass er sich hätte binden können oder wollen. Die letzten paar Wochen so zu tun als ob, hatten ihm gereicht.
An dem Tag fragte Adam sich zwei Stunden lang, warum er zu diesem Filmabend überhaupt zugesagt hatte. Seine Freundin war hin und weg von der romantischen Schnulze, hatte sich vorhin schon unauffällig die Nase geputzt und legte jetzt noch mit tränenvollem Nasehochziehen einen drauf, nachdem der Typ im Film seine Chance mit der Hauptdarstellerin für immer und auf dramatischste Art und Weise verpasst hatte. Adam verstand den Sinn hinter dem Film einfach nicht.
„Das war jetzt so traurig“, schniefte seine Freundin mit belegter Stimme, nachdem der Abspann gelaufen war.
Adam nickte gehorsam.
Sie war anscheinend nicht bereit, schon loszulassen. „Findest du nicht? Wenn er nur irgendwann mal angerufen hätte, dann hätte er sie noch erreicht.“
Adam schnaubte. Er gestikulierte zum Fernseher, als könnte man den Idioten immer noch am Bildschirm sehen. „Hätte er wirklich gewollt, hätte er ja angerufen!“
Seine Freundin zog ein verächtliches Gesicht und steigerte sich jetzt erst richtig in die Erklärung rein, als müsse sie ihn umstimmen. „Sie ist gestorben, ohne dass sie wusste, was er für sie empfindet! Und er konnte ihr nie sagen, dass er sie liebt! Das ist super traurig!“
Adam seufzte nur, machte ein vages, zustimmendes Geräusch, weil er sich auf keine Diskussion einlassen wollte und weil es ihm auch ziemlich egal war.
„Glaubst du nicht, sie hätte seine Stimme nochmal hören wollen?“, bohrte sie noch einmal nach, als würde sie die Geschichte persönlich betreffen. Als wäre dieser Film und dieser Moment hier entscheidend für alles weitere.
Adam wollte schon etwas abfällig Blödes antworten, wollte den Film noch mehr ins Lächerliche ziehen, aber da schoss plötzlich ein Bild von Leos Lachen durch seinen Kopf. Nur das Bild reichte, um ihn zum Verstummen zu bringen: Leos zurückgelegter Kopf, sein ungestümes, glückliches Lachen, als Adam ihn in ihrem letzten gemeinsamen Sommer beim Baden im See mit Wasser angespritzt hatte. Er sagte nichts mehr. Sie trennten sich ein paar Tage später; er war nicht traurig und sie bestimmt auch nicht.
Der Gedanke, den der Film und die Ex ganz unabsichtlich gepflanzt hatten, ging ihm danach allerdings nicht mehr aus dem Kopf.
Ein paar Monate später, im Herbst schon, saß er eines Tages an der Spree und sah ein paar Kindern zu, wie sie am Ufer entlangliefen. Er konnte sich nicht erinnern, das je getan zu haben, aber die Szene brachte wieder die gleiche Erinnerung zurück: Leo mit seinem Kopf im Nacken, lachend, glücklich glucksend. Die Jahreszeit war denkbar unpassend, weil es viel zu kalt war, um ans Schwimmen im See zu denken, aber das Bild ließ ihn einfach nicht los.
Wie es Leo jetzt wohl ging? Dachte er manchmal an Adam?
Adam holte sein Handy aus der Tasche und drehte es in seinen Händen. Jetzt oder nie. Leos Nummer hatte er vor einiger Zeit einmal herausgefunden, hatte sich auch gar nicht dafür geschämt, wie er sie sich beschafft hatte: über eine Suche in der internen Datenbank unter einem billigen Vorwand. Seit Wochen lag die Nummer nun in seinen Kontakten und er hatte sich noch nie anrufen getraut.
Er balancierte das Handy auf seinem Bein, steckte sich eine Zigarette an und nahm einen Schluck von seinem Bier. Es war keine Art von ‚Mut antrinken‘, sondern mehr ein ‚Kehle befeuchten‘. Er war schon fast dabei, den Anruf tatsächlich zu tätigen, als er doch noch die Incognito-Anrufeinstellung wählte; denn was, wenn es nicht gut lief? Die Anonymität gab ihm eine gewisse Sicherheit.
Er wählte und merkte, wie sein Daumen über dem Bildschirm zitterte, bevor er es hochnahm. Das Telefon war heiß an seinem Ohr, als er wartete. Er wollte schon fast wieder auflegen, weil sich niemand zu melden schien, als Leo doch am anderen Ende abhob.
„Hölzer?“
Leos Stimme war ruhig und klang etwas vorsichtig, wahrscheinlich wegen der unbekannten Nummer. Adam wünschte, er hätte doch mehr getrunken, denn sein Hals war plötzlich staubtrocken.
„Leo“, sagte er leise, testete den Namen. Jahrelang waren diese drei Buchstaben nicht so über seine Lippen gewandert. Früher ständig. ‚Hey, Leo, wie war… Leo, hast du die… das Spiel, die Hausübung, der gestrige Abend, Leo, wie war der Film, Leo, hast du schon, Leo, ich will dir noch so viel sagen, bevor ich abhaue. Leo, lass uns nochmal… Leo,deine Augen sind so schön, Leo, lies mir noch was vor, hey, Leo, kann ich dich heute sehen?‘ Adam hatte schon Probleme, nur an den Namen zu denken.
(Ein One-Night Stand hatte sich mal als Leon vorgestellt. Adam war so schnell abgehauen, dass er seine Jacke liegen gelassen hatte.)
Ein überraschter Atemzug am anderen Ende; ein zaghaftes: „Adam?“
Adam? Adam wollte auflegen. Luft zischte durch seine Nase. Er war so ein Vollidiot. Was machte er hier? Was, wenn Leo wütend war?
„Adam, bist du das?“, fragte Leo noch einmal, seine Stimme dringender als davor; hoffnungsvoller. Leos Ton ließ ihn am Telefon bleiben. Er klang so unsicher, dass es wiederum Adam unsicher machte.
„Hey. Ich…“, begann er holprig. Er wusste nicht einmal, warum er gerade heute anrief. Es war kein besonderer Tag, Leo hatte nicht Geburstag. Nichts war geschehen, das den Anruf ausgelöst hätte. „Ich weiß nicht, wieso ich anrufe“, murmelte er deshalb, ehrlich und ohne viel Aufhebens. Scheiße, was tat er da gerade? Sein Herz pochte wild und war nicht bereit für diesen Anruf. Sein Kopf noch weniger. Das alles machte keinen Sinn. Er blickte auf die Spree, auf die Kinder, auf das bunte Laub… nicht einmal die Wolken, die am Himmel vorbeizogen, halfen ihm dabei, einen Grund zu finden.
„Ich freue mich“, antwortete Leo. Seine Stimme war anders, erwachsener, rauer, tiefer und doch die selbe, die ihm so oft etwas vorgelesen hatte, wenn er erschöpft im Baumhaus gelegen war. „Schön, von dir zu hören.“
Das war so… unerwartet; und doch so Leo. Adam lachte, ein bisschen bitter, ein bisschen laut, ein bisschen zu viel. Er hatte sich alles vorgestellt in den letzten Jahren, einen Leo, der ihn anschrie, einen Leo, dem er egal war, einen Leo, der ihn vergessen hatte. Nie hätte er zu hoffen gewagt, dass Leo sich einfach nur freuen würde. Verdammt, wie kaputt war er eigentlich?
„Schön, deine Stimme zu hören“, gab Adam zurück.
Er hörte Leo am anderen Ende ein paar Atemzüge lang einfach nur atmen. Er drückte das Telefon an sein Ohr, als könnte er so besser hören, als würde das irgendetwas helfen. Er hörte ein Rascheln im Hintergrund, ein Glas auf einem Tisch. Es herrschte kurz Stille zwischen ihnen, bis Leo fragte: „Geht es dir gut?“
Scheiße, Leo, wieso bist du so wie du bist? Adam wusste nicht, wie er die Frage beantworten sollte, ohne, dass es Leo weh tun würde. Schließlich entschied er sich einfach für die Wahrheit. Scheiß auf alles. Heute war er in einer Stimmung, in der er sich nicht mehr viel aus irgendetwas machte. Das Schlimmste hatte er bereits hinter sich. Leos Antwort auf seinen Anruf war schon besser als alles, was er sich je erträumt hatte. „Besser… Besser als früher.“
Am anderen Ende hörte er einen Lacher, der traurig und… verdammt nochmal… plötzlich ziemlich verrotzt klang. „Das ist gut.“
„Leo“, begann Adam wieder, zögerlich, brach ab... Was tat er, wenn Leo jetzt am anderen Ende heulte? Das wollte er doch nicht. Er wollte Leos Gefühle nicht noch mehr verletzen, als er das schon getan hatte. Er senkte seinen Kopf, starrte zwischen seinen Knien auf die Grashalme unter ihm und zupfte einen aus. Was machte er hier? Wie sehr wollte er ihnen beiden eigentlich noch weh tun?
„Ich glaube, ich weiß, was du meinst“, murmelte Leo dann, Stimme immer noch traurig und belegt. „Hey, aber ich meine es so, wie ich es sage… es freut mich, dass es dir gut geht.“
Adam nickte, obwohl ihm klar war, dass Leo das nicht hören konnte. „Ich vermisse dich“, gab er dann vorsichtig und leise zu. Irgendwie wollte er testen, wie Leo reagieren würde, denn das war doch die ultimative Probe, nicht? Sich jahrelang nicht zu melden und dann mit Alkohol im Blut etwas von Vermissen säuseln. Er war echt ein Arsch.
Er hörte Leo am anderen Ende traurig lachen. „Ich dich auch.“
Adam atmete einfach nur ins Telefon, stieß Rauch zwischen gespitzten Lippen aus, damit Leo ihn hören konnte. Er war hier, so viele hunderte Kilometer weit weg und doch waren sie sich so nah, wie sie sich seit Jahren nicht mehr gewesen waren. Er konnte fast das Baumhaus riechen, wenn er die Augen schloss: Vom Gras und der Erde unter seinen Füßen war es in seiner Erinnerung nur ein kurzer Weg zu Gummibärchen, Comic-Heften und Laub. Er hörte zu, wie Leo einen Schluck Wasser trank. Soll ich noch weiterlesen?
„Darf ich fragen, wo du bist?“, fragte Leo und Adam kam sich vor wie ein scheues Wildtier, dem Leo sich nähern wollte, wie einmal der Schwalbe, die bei der Garageneinfahrt bei Leos Eltern tollpatschig herumgehopst war, schreiend, auf der Suche nach ihren Eltern. Adam hatte ihn damals davon abhalten müssen, dem Vogel zu helfen. Leo wollte eben nicht, dass jemand leiden musste. Aber Adam hatte, damals wie heute, gewusst, dass Leiden zum Leben gehörte. Die Schwalbe hatte sich erholt, war von ihrer Mutter am Boden aufgepäppelt worden und hatte Flügel gefasst. Adam wollte auch alleine fliegen lernen.
Er war in Berlin. Er war nicht einmal besonders weit weg. Er war allerdings auch… so nah, wie er es im Moment aushielt. Aber für sie beide, für Leo, für alle, die ihn von früher kannten… hätte er genauso gut am anderen Ende der Welt sein können, in Thailand, in Kenya, in Australien, in Übersee, in Da-See, in Nirgendwo, in Geht-dich-einen-Dreck-an, in der Fickt-euch-Allee. Adam wollte Leo nicht ‚nein‘ sagen, aber er konnte auch nicht ‚ja‘ sagen.
„Egal“, unterbrach Leo seine Gedanken, seine Stimme so knapp als würde er sich über seine eigene Frage ärgern. „Alles egal, Adam, okay? Hauptsache, es geht dir gut.“
Tat es das? Ging es ihm gut? War alles egal?
„Gib mir noch Zeit“, bat er. Er war noch nicht so weit. Er war noch bei weitem nicht so weit. Vielleicht würde er das nie sein.
Was wenn er nie so weit sein würde?
Was wenn…
Hey, Leo, hast du die Hausübung?
… wie ging das … ?
… warst du?
… kannst du?
… darf ich?
Hey, Leo, kann ich dich heute sehen?
Ich will dir das noch sagen.
(Bitte, lass mich dir dieses eine Ding noch sagen, bevor…)
„Rufst du mich wieder mal an?“, fragte Leo dann schnell, als hätte der Telefonanruf einen unsichtbaren Countdown, dem sie sich näherten. Vielleicht taten sie das. Adam merkte schon, dass er selbst fahrig wurde, rupfte Gras aus, wusste nicht mehr, was er sagen sollte. Er wollte so vieles sagen, das er einfach noch nicht sagen konnte.
„Ja“, antwortete er schließlich. Er würde anrufen. Irgendwann.
Sie schwiegen noch ein paar Augenblicke lang gemeinsam. Adam nahm noch einen Schluck Bier. Leo, an seinem Ende, raschelte wieder; Adam hatte ihn wohl bei etwas unterbrochen. Er konnte sich Leo fast vorstellen, beim Kochen, beim Salatmachen, beim Wäschewaschen, beim Batteriewechseln, beim Rechnungenöffnen… bei alltäglichen Dingen; einfach Leo, wenn er zu Hause war.
Leo unterbrach seine Gedanken mit: „Hey, ich meine es, so wie ich es sage, ja? Ich freue mich, dich zu hören. Nimm dir Zeit.“
Sie beendeten den Anruf nicht lange danach, oder eher Adam beendete ihn mit einem: „Ich muss wieder los.“ Er saß eine Stunde später immer noch an derselben Stelle im Gras, Handy in der Hand, kurz vorm Heulen. Fühlte sich so Freiheit an?
Über ihm kreisten Schwalben, stürzten sich wagemutig durch die Wolken, kreischend, schreiend, leicht; im Gegensatz zu ihm, dessen Füße wie Blei waren.
Es dauerte eine Zeit, bis er die Nummer wieder wählte. Sein Leben war wieder halbwegs in einer Bahn. Sein Dasein hatte…
Berechtigung? Freude?
(Er hatte Spaß in der Freizeit, er hatte eine Ausbildung, er hatte einen Job, der ihn ausfüllte, wenn er ihm auch nicht immer Spaß machte. Hey, Adam, kommst du mit uns… Ja, klar, sowieso, gerne. Er kam gerne mit einen Trinken, oder in einen Club, oder wo auch immer hin, Hauptsache er saß nicht allein zu Hause. Er hatte einen Freund. Kurz darauf hatte er eine Freundin. Kurz darauf war er Single, kurz darauf hatte er einen one night stand in einer Toilette in einer Bar, kurz darauf schlief er mit einem Typen, den er gar nicht mochte, kurz darauf vögelte er eine Tussi, die mehr an Instagram interessiert war, als an ihm, kurz darauf war er wieder Single, allein, zu zweit, allein, in einer offenen Beziehung, kurz darauf kümmerte ihn nichts und niemand und er stieß alle wieder von sich.)
Adam hatte nicht viele Hobbies.
Er ging gerne mit Freunden einen Trinken. Er ging gerne in Bars. Er hörte gerne DJs bei ihren Sets zu. Er tanzte gerne. Er sah sich gerne in der Menge auf großen Leinwänden oder im Stadion Fußballspiele an. Er war gerne draußen, er war gerne zu dritt, zu viert, je mehr, desto besser, Hauptsache nicht alleine in seiner winzigen Wohnung.
Die Jeansjacke steht dir gut, Schürk! … Es war nicht mal seine.
Und manchmal sah er sich um und war trotzdem einsam.
Ob ihn jemand von seinen Kollegen vermissen würde?
Ob ihn jemand von seinen Freunden suchen würde?
Ob jemand in seinem Berliner Leben mit so viel Freude in der Stimme abheben würde, wie der Freund, den er vor Jahren das letzte Mal gesehen hatte und den er im Grunde genommen im Stich gelassen hatte?
Hey, Leo, ich bin dir wichtig, oder?
Adam ging regelmäßig in einen Boxclub. Schlug auf Sandsäcke ein. Schlug auf Trainingspartner ein. Trat und haute und schlug und schlug und schlug und schlug
… schlug sich durchs Leben.
„Adam? Hey. Hallo!“ Leo klang…
„Hey?“
„Sorry, wenn ich heute gestresst klinge… Ich hab heute ein Turnier“, erklärte Leo, grinsend und offensichtlich auf dem Weg irgendwohin. „Tennis. Ich weiß, lach nicht. Caro kann so ein Arsch sein! In einer halben Stunde sind wir dran. Gemischtes Doppel, so ein Scheiß.“ Sein selbstironisches Lachen und sein leichtgemeintes, gutgelauntes Fluchen waren ansteckend. Adams Mundwinkel zuckten ganz unfreiwillig nach oben.
Leo hatte ein Leben in Saarbrücken, einen Job, Freunde. Offenbar spielte er Tennis oft und gut genug, dass Caro ihn zu einem Turnier schleppte.
Es war süß, es war so weit weg, es war schön, es war zu weit weg, es war…
Hey, Leo, du erinnerst dich an mich, oder?
Irgendwann rückte er in einem Gespräch damit raus: „Ich bin echt Polizist geworden.“
Er wusste bereits, dass Leo Polizist geworden war, dass er ‚ihre‘ Pläne zumindest in dem Punkt verwirklicht hatte. Adam hatte viel vom Rest auch gemacht, aber viel Freude hatte es ihm nicht gebracht. Ein Sonnenbrand auf Bali war genauso scheiße wie ein Sonnenbrand in Berlin. In einer Landwirtschaft in Australien zu jobben, war Adam schon nach zwei Tagen wie die dümmste Idee seines Lebens vorgekommen: heiß, trocken, allein.
„Ja?“ Leos Begeisterung war hörbar. Leos Freude, Leos unaufdringliche Neugierde; all das schwang mit, als er Adam aufforderte: „Erzähl.“
Und Adam wollte erzählen, zum ersten Mal in seinem neuen Leben. Er wollte Leo erzählen, wie es ihm ging, nicht weil jemand Interesse heuchelte oder über die fast unerträgliche Lautstärke in einem ranzigen Club hinweg. Er wollte erzählen, weil es Leo war, mit dem er sprach. Und deshalb berichtete er, von seinen ersten Fällen, von den Anfängen in der Akademie, von seinen Vorgesetzten, von seinen Kollegen. Leo lachte an den richtigen Stellen, hörte zu und stellte Fragen. Im Gegensatz zu den meisten anderen Menschen in Adams Leben hörte Leo richtig zu und warf manchmal Sachen ein, Ideen oder Dinge, die Adam selbst schon überlegt hatte. Er war aufmerksam, nahm sich Zeit und was auch immer er tat als Adam anrief, er legte es beiseite, einfach weil Adam angerufen hatte und in den paar Minuten, in denen sie telefonierten, schien Leo nichts so wichtig zu sein, wie das, was Adam sagte.
Er revanchiete sich, fragte genauso nach und zeigte sein Interesse auf ähnliche Art und Weise. Was auch immer er gerade machte, wurde beiseite gelegt. Eine Zigarette brannte manchmal mit Leos Geschichten ab, oft eine zweite. Langsam und entspannt nahm Adam sich Zeit für ihre Telefonate.
Leo lachte Adam gerne an, durch das Telefon durch. Adam konnte an seiner Stimme erkennen ob er müde oder gestresst war, ob er ein gutes Wochenende hatte, ob Caro ihm wieder zusetzte, ob er hungrig war. Er erzählte… von seinen Anfängen in der Akademie, von seinen ersten Fällen und Interviews und Vorgesetzten und Kollegen. Adam hörte gerne zu. Irgendwann mal sagte Leo: „Ich verspreche dir, ich suche dich nicht, okay? Falls… also, wegen… Datenbankzugang. Mach dir deshalb bitte keine Sorgen, okay?“
Adam wollte nicht zugeben, dass er sich darüber wirklich kurz Gedanken gemacht hatte, seitdem er wusste, dass Leo auch bei der Polizei war. Er log: „Dachte ich nicht, keine Sorge.“ Leo erzählte weiter, von einem Verhör, das er fast versemmelt hätte. Von einer Spur, die er gefunden hatte, und von einer anderen, die er absolut nicht gesehen hatte.
Es dauerte nicht lange, bis sie ein Muster entwickelt hatten. Adam fühlte sich immer wohler mit den Telefonaten. Die anfängliche Sorge, dass es nicht gut laufen könnte, hatte sich mittlerweile gelegt. Er rief gerne an, aus einmal alle paar Monate wurde rasch einmal alle paar Wochen. Nicht lange und er meldete sich einmal in der Woche, meistens am Freitag. Er ging weniger oft in Clubs und Bars, und freute sich auf den Freitag aus ganz neuen Gründen. Er merkte an Leos Erzählungen, dass er nicht wirklich ausging.
Die Distanz wahrte er allerdings genau wie bei ihrem ersten Telefonat. Er schaltete immer noch den Incognito-Modus ein, damit er wenigstens dieses Körnchen an Kontrolle behielt. So weit war er doch noch nicht. Leo beklagte sich nicht. Und so blöd sich Adam auch manchmal vorkam, seine Finger hüpften jedes Mal wieder geübt zu den Telefoneinstellungen, um den Incognito-Modus zu aktivieren.
(Einmal träumte er, dass er in ihrem Baumhaus saß und die Leiter war oben bei ihm. Leo wollte zu ihm hinauf, aber Adam wusste nicht, wie. Die Leiter lag neben ihm, aber sie war zu schwer, um sie zu bewegen. Er war mit Herzklopfen aufgewacht und der Schatten, den sein Kleiderständer warf, hatte kurz wie eine Leiter ausgesehen. Er hatte sich selten so erschreckt.)
Er rief Leo am nächsten Tag an, erwischte ihn beim Laufen. Er konnte hören, wie Leo zu einem gemütlichen Schritttempo überging und sich sein schnaufender Atem entspannte. Also erzählte er Leo von seinem Tag, während Leo zu Atem kam. Dann beschrieb Leo den Weg, auf dem er sich gerade befand.
„Beim See, weißt du noch?“
Adam konnte sich erinnern, an ihre Fahrradausflüge, an den versteckten Waldweg, an die Brennnesseln, an die unzähligen Grüntöne der Blätter und an die Angst vor seinem Vater. Daran, dass er an manchen Tagen so oft auf die Uhr gesehen hatte, bis Leo mit ihm wortlos umgedreht war. Daran, dass er einfach weg musste nach dem Abi. Und dieses Gefühl, dass er dorthin einfach noch nicht zurückkehren konnte, hatte sich bisher nicht gelegt. Sie hatten den See geliebt. Das Bild von Leo mit zurückgelegtem Kopf und seinem ungestümen, glücklichen Lachen hatte ihn nie losgelassen. Da war nur noch so viel anderes, das ihn von Leo fernhielt.
Das Muster setzte sich fort. Sie erzählten sich gegenseitig ihre Geschichten, ihre Fälle, ihre größeren und kleineren Problemchen. Sie lernten sich neu kennen, als Erwachsene. Alles was Adam je für Leo empfunden und an ihm so gemocht hatte, kroch wieder in sein Leben, zuerst relativ unbemerkt, aber dann immer unbändiger.
„Sorry, ich quatsche schon ewig. Lass mal du hören“, sagte Leo mal nach einem längeren Telefonat. Adam schnaufte nur; von wegen. Er hatte Leo am Telefon schon so viel mehr erzählt, als er je seinen Berliner Freunden und Kollegen erzählt hatte, dass es fast lächerlich war. Er nahm einen Schluck von seinem Bier und lehnte sich zurück. „Okay“, sagte er und musste zuerst überlegen, was er Neues zu berichten hatte.
„Ich stecke in diesem Fall fest“, holte er dann aus. Und er liebte, dass Leo mit ihm überlegte. Dass er am anderen Ende von Deutschland war und nicht direkt neben ihm machte (fast) überhaupt nichts.
Manchmal, zum Glück sehr selten, konnte Adam Leos Müdigkeit durch das Telefon hören – eine andere Art von Müdigkeit. Eine Müdigkeit, die sich nicht mit einer Nacht erholsamen Schlaf wiedergutmachen ließ. Adam wusste, dass es Leo manchmal einfach nicht gut ging. Er selbst konnte nicht reden. Er hatte eine Myriade an Problemen, die kein Therapeut je richten konnte. Er schlief schlecht und wenig in der Regel, aber er wusste warum: Sein Vater hatte ihn eine Kindheit lang gequält, hatte ihn jahrelang mit irgendwelchen verschrobenen Ideen gefoltert. Das war eben so, das war seine Geschichte, die er mit sich zu tragen hatte; eine Last eben. Viele seiner Probleme waren darauf zurückzuführen, dass er ein Arschloch als Vater gehabt hatte.
Bei Leo war das anders. Adam wusste, dass Leo seit Kindesalter manchmal einfach nur kämpfte, da musste gar nicht viel passieren, das hatte keine besonderen Gründe… es gab Tage (Wochen, Monate) da spielte irgendeine Chemikalie in seinem Kopf verrückt und zwang ihn auf die Ersatzbank seines eigenen Lebens.
Adam konnte diese Tage in Leos Stimme hören. Wenn er schwer und müde klang. Wenn er versuchte, so zu tun wie immer. Wenn er lachte, aber nicht wirklich. Wenn er nach Adams Leben fragte, aber bei der Antwort nicht zuhören konnte – nicht weil er nicht wollte, oder weil Adam ihn nicht interessierte, sondern weil er einfach nicht ganz da war. An solchen Tagen versuchte Adam ihn abzulenken. Erzählte von einem Film oder einer Serie. Einmal hatte er ein Lied in Youtube eingeschaltet und sie hatten einfach nur zusammen zugehört. Sie mussten nicht über das Leben sprechen, wenn das Leben gerade scheiße war.
Hey, Leo, geht es dir jetzt besser?
… halt die Ohren steif.
… soll ich morgen noch einmal anrufen?
Brauchst du jemanden?
Kann Caro vorbeikommen?
Als er eines Tages an der Bushaltestelle stand, sah er, wie gegenüber jemand weinte: ein Teenager, der viel zu jung für einen so schweren Gesichtsausdruck war. Er wollte schon fast hinübergehen und fragen, ob alles okay war, denn so sehr er auch vorgab und lautstark verkündete, dass er seine Mitmenschen gar nicht wirklich mochte, so war er doch Polizist geworden um zu helfen. Aber da kam auch schon ein älteres Mädchen und holte den Jungen mit einer Umarmung ab. Die Schwester, sortiere Adam sie anhand der familiären Ähnlichkeit ein.
Einmal, damals, lange her, hatte er Leo mal von der Bushaltestelle neben der Schule so abgeholt. Leo hatte verloren auf den Boden gestarrt, weil er absolut übersehen hatte, dass seine Stimmung an dem Tag einfach nicht für Schulegehen reichte. Damals hatte Adam das erschreckt, war er doch davor noch nie mit so etwas konfrontiert gewesen. Leo war wie ausgewechselt gewesen, still, müde, gleichgültig, träge. Adam hatte es sich dann erklären lassen; nicht von Leo, sondern von der Schulärztin. Er wusste heute noch, dass er zu ihr gegangen war, weil er nicht Leos Eltern fragen wollte; als wären alle Eltern so wie seine. Wie verschroben war seine Welt gewesen.
Und jetzt war er zu weit weg und fragte sich, wen Leo jetzt wohl anrief, wenn er umarmt werden wollte?
Gab es jemanden in Leos Leben, der ihn umarmte? Den er anrufen konnte?
Hey, Leo, ich bin noch nicht so weit.
Gib mir noch ein wenig Zeit.
Sein Finger wanderte immer noch automatisch zu den Telefoneinstellungen und zum Incognito-Modus.
Was war so schlimm daran, seine Nummer herzugeben?
Feigling.
Adams Karriereleiter führte weiter nach oben. Seine Instinkte waren gut, sein Job nahm immer mehr eine Form an, die er mochte. Er liebte seine täglichen Arbeiten, die Kleinigkeiten, die ihn von einem Beweis zum nächsten führten. Er war gut in dem, was er tat. Er besuchte Workshops, nicht weil er musste, sondern weil er sich weiterbilden wollte, weil der Drang nach Sinn in seiner Karriere und seinem Leben immer stärker wurde. Hatte er vor in paar Jahren, bevor er Leo das erste Mal angerufen hatte, sich noch aus Verantwortung herausgewunden, so hatte er immer mehr gelernt, was es bedeutete, ein Teamplayer zu sein. Ein bisschen hatte Leo damit zu tun, weil er manchmal Dinge fragte, die Adam nachdenken ließen. Wollte er immer sich selbst ausgrenzen, oder wollte er seinen Job gut machen? Wollte er da steckenbleiben, wo er jetzt war und sich ihn zehn Jahren fragen, ob er etwas bewirken hätte können, wenn er sich früher bemüht hätte? Leo hatte seine Fragen an dem Abend überspitzt so formuliert, damit sich Adam ärgerte. Sie hatten sich am Telefon angeschwiegen. Adam hatte wieder das Rascheln im Hintergrund gehört, befürchtete, dass Leo ein schlechtes Gewissen bekommen würde, wenn er noch weiter schwieg, also hatte er dann doch noch geantwortet. Und eigentlich hatte Leo recht. Er wollte doch weiterkommen.
Leos Erzählungen von der Arbeit nach klang es nicht so als würde er seinen eigenen Rat immer befolgen. Aber Adam hörte zu und tat sich damit selbst einen Gefallen. Aus einer cleveren Meldung bei einer Besprechung wurde etwas mehr Verantwortung und mehr Interesse an ihm und seinen Fähigkeiten. Er war ein wichtiges Teammitglied. Türen standen ihm offen, die er früher noch zugedrückt hätte.
Ein spannendes Kapitel brach für ihn an und es freute ihn, dass Leo ihm diesen Schubs gegeben hatte. In letzter Zeit hatten sie nur noch über die Arbeit gesprochen. Adam hatte keine Ahnung, was in Leos Leben vorging, aber umgekehrt ja auch nicht. Ihre Gesprächsthemen kreisten einfach hauptsächlich um die Arbeit im Moment. Sie konnten das ändern, dachte Adam. Sie sollten das ändern. Er wollte doch wissen, was in Leos Leben so vorging.
Vielleicht war es bald an der Zeit, den Incognito-Modus nicht mehr einzuschalten. Wozu brauchte er den überhaupt noch? Selbstschutz? Dafür war es für sein Herz ohnehin schon vorbei. War er schon bereit?
Er würde es Leo bei nächster Gelegenheit mal sagen.
Hey, Leo, du kannst mich gerne auch mal anrufen.
Ich geb‘ dir meine Nummer.
Bald.
Sie saßen gerade auf der Couch – Adam auf seiner alten Samtcouch, die nach so vielen Jahren schon etwas mufflig roch, Leo auf einer anderen. Adam wusste, dass es ebenso eine Couch war, denn Leo hatte sich so erleichtert hingesetzt, dass Adam nachgefragt hatte. Er wusste nicht, weshalb Leo so fertig war, aber er schnaufte erleichtert und ließ sich hörbar zurücksinken.
„Hier ist heute viel los“, sagte er während er es sich bequem machte und klang dabei erschöpft. „Ich bin schon den ganzen Vormittag auf den Beinen.“ Im Hintergrund ging irgendwo eine Tür.
Eine Männerstimme rief: „Hey, Schatz, kommst du dann? Leo!“
Und Leo seufzte müde in den Hörer und in Adams Ohr und murmelte: „Das wird heute nichts mehr mit Ruhe. Ich muss da mit.“ Adam hörte noch, wie er aufstand und sich verabschiedete, aber dann war für ihn erst einmal alles leise.
Adam saß den Rest des Abends auf der Couch und wusste zum ersten Mal, was seine Freundin damals gemeint hatte. Er hatte Leo so viel sagen wollen, ernste Dinge, Gefühle, vielleicht auch das Zugeständnis, dass diese Anrufe die Highlights seiner Wochen waren. Dass er so froh war, dass er Leo angerufen hatte, das erste Mal. Dass er sich sein Leben hier in Berlin ohne Leo irgendwie nicht mehr vorstellen konnte.
Hey, Leo, ich muss dir noch was sagen.
(Bitte, lass mich dir dieses eine Ding noch sagen, bevor…)
Er rief nicht mehr an.
Er schlug sich weiter durchs Leben.
Er lebte vor sich hin.
Er arbeitete.
Er funktionierte.
Er war froh, dass Leo glücklich war.
Hey, Leo.
Hätte ich dir all das früher gesagt, was ich dir sagen wollte, wärst du dann…?
Eines Abends, er trank gerade ein Bier und sah eine Doku auf seiner Couch - die Samtcouch hatte mittlerweile einer IKEA-Couch Platz gemacht, die sich im letzten Jahr viel zu schnell durchgesessen hatte – als das Telefon klingelte.
Leos Name leuchtete auf dem Display. Woher… Adam war doch nie dazu gekommen, Leo seine Nummer zu geben. Seine Hand zitterte nicht weniger als bei seinem ersten Anruf, als er es aufnahm und abhob.
„Hallo?“, fragte er zögerlich.
„Adam“, murmelte Leo am anderen Ende. Leise. Zögerlich. Müde.
Adam erstarrte.
Leos Stimme blieb so leise und schwerfällig, als er weitersprach: „Es tut mir leid. Ich wollte nicht stören, aber… darf ich dich…? Nur kurz?“
Adam kannte den schleppenden, schweren Ton in Leos Stimme. Die Müdigkeit, die sich nicht schnell wiedergutmachen ließ.
„Hey“, antwortete er und räusperte sich. Mit festerer Stimme fügte er hinzu: „Ja, klar.“
Leos „Danke“, klang so erleichtert, dass Adam sich ohrfeigen wollte. Er hatte Leo nie gesagt, dass er sich melden konnte, hatte das Angebot gemieden, einfach weil er nicht wusste, ob er schon bereit war. Und dann war es zu spät gewesen.
Aber was war eine Freundschaft, wenn sie nicht in beide Richtungen ging? Er hatte Leo doch auch schon an vielen schlechten Tagen angerufen, hatte sich nie etwas dabei gedacht. Hey, Leo, ich will mich nicht auskotzen, aber… Und Leo hatte jedes Mal gelacht und gesagt: „Schieß los.“
Eine lange Pause am anderen Ende ließ ihn schon fast nachfragen, was los war, aber da meldete sich Leo wieder. „Tut mir leid, ich weiß gar nicht, warum ich anrufe. Ich wollte nur deine Stimme hören.“
Adam hatte Leos Stimme auch vermisst.
„Ich weiß nicht, was ich falsch gemacht habe“, sagte Leo leise. „Aber es tut mir leid. Es war nur… Caros Hochzeit damals war so stressig. Falls ich dich abgewürgt habe… ich musste los, Tom hat schon alle so ungeduldig gerufen.“
Adam brummte in den Hörer, nur um ein Zeichen zu geben, dass er noch da war. Abgewürgt, das war das geringste seiner Probleme gewesen. Er erstarrte einen Moment später. Hey, Schatz, kommst du dann? Leo!
… hat schon alle so ungeduldig gerufen…
Nein.
„Caros Mann?“, fragte Adam vorsichtig. Nein.
Nein, bitte nicht.
Hatte er wirklich…
Bitte nicht.
Er hielt sich das Handy vom Mund weg. Seine Fingernägel bohrten sich in seine Handflächen. Alles war heiß, kalt, zittrig, beklemmend. Sein Hals machte zu.
„Mmhm. Sie sind gut zusammen“, erzählte Leo träge. Mit einem Lächeln, das keines war.
Und Adam konnte hören, dass Leos Worte in seinem Hals fast erstickten, also schluckte er alles runter, was gerade hochzukommen drohte, räusperte sich um seinen eigenen Hals freizubekommen und erzählte von seiner Couch, von der Scheiß-Samtcouch, von der neuen IKEA-Couch, die er von Anfang an gehasst hatte, die sich so schnell durchgesessen hatte – ein Jahr, ein beschissenes Jahr war die schon fast alt – von der verfickten Pflanze, die er damals im Vorbeigehen mitgenommen hatte, die ein paar Monate später beim Stoßlüften erfroren war.
3…
„Adam.“
Es fühlte sich gerade wieder so an wie ein Countdown, gleich wie damals bei ihrem ersten Telefonat. Also sprach er einfach weiter. Von einem Lied, das er gehört hatte, von einem Film, den er gesehen hatte. Er holte sich etwas zu trinken, sprach weiter, weiter, weiter.
2…
„Danke, Adam. Ich weiß, ich habe versprochen, ich suche deine Nummer nicht raus.“
„Kein Problem, Leo. Hörst du? Mach dir darüber keine Gedanken.“
1…
Leg nicht auf. Ich bin noch da. Keine Sorge. Ich erzähl dir die Welt. Du musst nicht alleine sein. Ich bin da. Ich bin da.
„Hey, danke. Es war echt schön, deine Stimme zu hören“, verabschiedete sich Leo irgendwann.
0.
Ich bin immer noch hier, hörst du? Ich bin hier, aber ich weiß, viel zu weit weg.
Nachdem Leo aufgelegt hatte, warf Adam sein Handy mit einem Schrei mit solcher Wucht quer durch den Raum, dass es an der Wand abprallte und scheppernd in Einzelteilen zu Boden fiel. Das Display splitterte, regnete auf das Parkett, klirrte.
Er schnitt sich in den Finger, als er die SIM-Karte aus dem Handy kratzte, wusch die Wunde fluchend sauber. Wieso war er so? Wieso hatte er nicht fragen können? Wieso hatte er gedacht, Leo wollte ihn nicht? Wieso war das überhaupt wichtig? Er war doch derjenige, der nicht wollte. Er wollte doch nicht zurück, er wollte doch
… nicht? Er war es, der gegangen war. Abgehauen, verschwunden, geflüchtet… hatte sich fortgestohlen in der Nacht, wie ein Feigling. Was für Ansprüchte konnte er stellen, jetzt, so viele Jahre später?
Ihm war schlecht.
Wieso tat alles so weh.
Eine Woche später wählte er Leos Nummer von seinem neuen Telefon. Es fühlte sich wie ein Neuanfang an. Er erzählte Leo von der matten Silberoberfläche, schwärmte ein wenig blöd über einige Features, die ihm, wenn er ehrlich war, ziemlich egal waren. Er genoss es, Leo wieder wacher und besser gelaunt zu hören. Sie tranken etwas zusammen, stießen lachend an ihren jeweiligen Couchtischen an. Leo erzählte von der Wohnung, in die er gezogen war, nachdem Caro geheiratet hatte, und dem Kredit, den er aufgenommen hatte. Die Idee war Adam fremd. Er hatte hier nie sesshaft werden wollen.
Und für einen Moment wollte Adam vorbeikommen, auf Pizza und Bier, wollte mit Leo ein Fußballspiel oder Tennisturnier schauen, wollte sich den Balkon ansehen, von dem Leo schwärmte.
„Die Aussicht ist echt schön.“
Adam wollte sie mit Leo sehen, wollte ihn anschauen und ihm dabei zusehen, wie er die Aussicht genoss. Leo hatte immer so schön lange Wimpern gehabt. Wenn er den Kopf zurückgelegt hatte, gelacht hatte, damals im See, hätte Adam ihn küssen können. Dabei wusste er nicht einmal wie Leo jetzt aussah. Er war ziemlich sicher, dass Leo ihn auch nicht gegoogelt hatte.
Da saßen sie mit ihren Handys, mit ihren scheiß-hochauflösenden Kameras, mit diesen kleinen Pixelwundern, und keiner von ihnen schlug je vor, sie könnten doch mal videotelefonieren.
Viel lieber hörte Adam Leo in seinem Ohr. Leise und murmelnd, laut und lachend, ein unerwarteter Aufschrei, ein seltsam bedeutungsvolles ‚Schlaf gut.‘
Gute Nacht.
Bis bald.
Hey, Leo, tut mir leid, dass ich…
Ich bin froh, dass du dich gemeldet hast.
Ich bin so froh, dass du mich nicht vergessen hast.
Ich bin so froh, ich kann es dir gar nicht sagen.
„Ich werde bald nicht so gut erreichbar sein. Tut mir leid, wenn ich mal nicht gleich antworte“, sagte Leo eines Nachmittags, als sie spazieren gingen. Einmal um den Block, weil Adam einen anstrengenden Fall hatte und er ein bisschen Frischluft und eine Zigarette brauchte. Leo ‚kam mit ihm mit‘ und ging ebenso eine kurze Runde.
Leo arbeitete in der Drogenfahndung und erzählte manchmal skurrile Geschichten von Festnahmen. Er zog seine Dramatisierungen manchmal ins Lächerliche, vielleicht musste er das tun, wenn er seiner Familie von seinem Job erzählte. Adam hörte zwischen den Zeilen, dass es nicht das war, was Leo unbedingt gerne tat, dass er etwas anderes wollte und deshalb gerne die karrierefördernden Möglichkeiten annahm, die seine Vorgesetzten ihm anboten. So auch diesmal. Ein spannendes Angebot, das er nicht abschlagen wollte oder konnte, wenn er in die Mordkommission wollte. Wenn er das richtig machte, durfte er endlich weg von der Drogenfahndung, und obwohl er das nie so ausdrückte, so konnte Adam es an dem Nachmittag in seiner Stimme hören.
„Du bist vorsichtig, ja?“, fragte er.
„Bin ich immer.“
Adam kannte Leo, oder dachte zumindest, dass er ihn gut kannte. Leo war gut in dem was er tat: gut im Verstellen, gut in Verhören, gut im So-tun-als-ob. Er hatte so viele Jahre ein so schweres Geheimnis mit sich herumgetragen und hatte es sich fast nicht anmerken lassen. Klar war er gut im Verstellen. Allerdings stellte er seine eigenen Bedürfnisse und Sorgen auch gerne in den Hintergrund, wenn es darum ging, jemandem etwas recht zu machen. Deshalb war ‚sei vorsichtig‘ gleichzeitig ein gutgemeinter, aber auf der anderen Seite auch, fand Adam, ein dringend notwendiger Rat. Er sagte nicht ‚bitte‘.
Er wollte noch sagen, ‚bist du sicher, dass eine gute Idee ist?‘ – aber es war Leos Job und Adam war über siebenhundert Kilometer weit weg und was maßte er sich an, Leo Tipps für sein Leben zu geben?
Und für einen Moment wollte Adam vorbeikommen, auf Pizza und Bier, wollte mit Leo ein Fußballspiel oder Tennisturnier schauen… wollte ihn ansehen beim Aussichtgenießen. Wollte ihn sehen.
Er rief in der darauffolgenden Wocher wieder an und fand es trotzdem seltsam, dass Leo nicht abhob und dass er auch nicht zurückrief, obwohl er Adam gewarnt hatte. Es war okay. Er wusste, dass Leo vielleicht nicht gut abheben konnte. Er versuchte es einfach wieder.
Aber…
Leo hob nicht ab.
Leo hob nicht ab.
Leo hob nicht ab.
Leos Telefon war ausgeschaltet oder kaputt oder es ging nicht mehr oder die Batterie war aus, denn die Sprachbox schaltete sich nach ein paar Tagen ein und egal wie oft Adam seinen Namen und seine Nummer durchgab und darum bat, dass ihn jemand zurückrufen würde, denn es war dringend oder er wollte einfach, dass sich irgendjemand, am besten Leo mit einem erschöpften ‚Ja bitte?‘, meldete, aber es kam einfach kein Anruf und schön langsam verzweifelte er und wieso konnte nicht zumindest jemand das Handy anstecken, damit es wieder Saft hatte und es einschalten, denn er wollte einfach nur den beruhigenden Klingelton hören und nicht, dass der gewünschte Anrufer zur Zeit nicht erreichbar war, aber es. Kam. Einfach. Nichts.
Er versuchte es weiter und irgendwann, nach einer weiteren Woche der Unsicherheit, klingelte es wieder und Leo hob tatsächlich ab.
„Hey“, nuschelte Leo als er ans Telefon ging. „Adam?“
Er klang nicht gut, aber nicht müde oder traurig, sondern einfach nur verwirrt und überrascht.
„Ich… hey… rufst du mich wieder an?“, fügte er dann noch hinzu.
Adam zog die Augenbrauen zusammen, legte seinen Toast beiseite, ging zur Couch. Er setzte sich, bevor er fragte: „Leo, wo warst du? Alles klar?“
Leos Stimme klang kratzig, nicht so, wie er normalerweise sprach. Viel mehr Angst machten ihm die Dinge, die Leo sagte:
„Ich freue mich, von dir zu hören.“ Er klang so, als hätte er Adams Anruf nicht erwartet.
Adam zwang sich, ruhig zu bleiben. Irgendetwas stimmte nicht, aber was? Leo schien nicht in der Verfassung, ihm sagen zu können, was nicht in Ordnung war. Also sagte er: „Ja… Ich hab’s schon ein paar Mal versucht. Steckst du in deinem mysteriösen Fall?“
„Ja, ich war… ich weiß nicht genau.“
Leo machte keinen Sinn, war abwesend. Er wollte Leo fragen, was für ein Datum heute war. Er wollte fragen, wie er hieß, was sein Geburstdatum war – bist du mein Leo? Bist du okay?
Anfangs hatte Adam nie die Kontrolle hergeben wollen, wollte nicht, dass Leo ihn anrufen konnte, aber nachdem Leo ihn dann doch von sich aus das eine Mal angerufen hatte, hatte er den Incognito-Modus nicht mehr angemacht vorm Telefonieren. Die Vorstellung, dass Leo ihn jetzt auch anrufen konnte, gab ihm eine ganz andere Art von Sicherheit, die er davor noch nie bedacht hatte. Für seinen Freund da sein zu können, vielleicht auch mal gebraucht zu werden, gab ihm so viel mehr Wärme als Kontrolle es je getan hatte.
Er hörte auch so gerne, dass Leo sich freute, wenn er anrief. Es war schön. Es bedeutete so viel.
Aber eben gerade weil Leo ihn schon einmal angerufen hatte, von sich aus, dachte Adam doch, dass sich Leo wieder melden würde, wenn er ihn brauchte. Er war sich dessen so sicher gewesen. Und jetzt hörte er Leo benebelt und verwirrt und so neben sich, dass er sich nichts anderes wünschte als dezidiert gesagt zu haben, dass Leo ihn jederzeit anrufen konnte.
Er hörte stetige Geräusche im Hintergrund. Irgendetwas war da noch, das er nicht identifizieren konnte.
„Alles klar?“ fragte er noch einmal, als Leo nichts mehr sagte.
„Alles tut weh“, antwortete der ohne viel Überlegen.
„Wo bist du?“
„Im Krankenhaus.“ Leo klang nicht so, als wüsste er mit absoluter Sicherheit, warum er im Krankenhaus war.
Ärger kochte in Adam hoch. Wieso war da niemand, der bei ihm war? Wieso war er allein? Wieso konnte-
Er hörte, wie eine Tür aufging. „Kommissar Hölzer? Ihr Puls ist etwas hochgegangen, darf ich mal- ah, ja klar, Ihr Handy.“ Die Stimme klang erschöpft als sie das Telefon ansprach und Adam fragte sich, wenn jemand gesehen hatte, wie oft er angerufen hatte, wieso hatte sich dann niemand gemeldet?
Das Handy rutschte wohl aus Leos Hand, denn plötzlich hörte Adam nichts mehr, nur stumpfes, ganz leises Genuschel. Es wurde dann tollpatschig hochgehoben, denn etwas anderes blockierte jetzt halb das Mikrofon.
„Ja, ich weiß, das Handy ist Ihnen wichtig, aber Sie brauchen noch Ruhe. Schlafen Sie noch ein bisschen. Sie können später-“
„Hallo?“, fragte Adam laut, in der Hoffnung, dass ihn jemand hörte. Da kamen noch weitere Geräusche, ein dumpfes Klappern, mehr Rauschen, Gemurmel und Sprachfetzen, die so klangen als würde jemand Leo sagen, er müsse jetzt wirklich auflegen. Dann kam der du-du Ton, der ihm sagte, dass am anderen Ende aufgelegt worden war.
Und
für
einen
Moment
wollte
Adam
vorbeikommen.
Die Distanz schien unendlich und unüberbrückbar. Am liebsten wäre Adam auf der Stelle losgefahren, aber das ging gerade nicht. Er hatte Verpflichtungen. Er und Leo hatten sich seit fast fünfzehn Jahren nicht mehr gesehen. Er zwang sich, Ruhe zu bewahren. Leo hatte verwirrt geklungen, aber er durfte telefonieren. Er war im Krankenhaus, die Krankenpflegerin hatte aber nicht besonders besorgt geklungen. Er gab sich und Leo ein paar Tage Pause.
Bei seinem nächsten Anruf hob Leo ab.
„Hallo, Adam.“ Er klang erschöpft und abgekämpft, aber wach und schon viel besser als noch bei Adams letztem Anruf.
Trotzdem lagen Pausen zwischen seinen Wörtern, als müsste er jedes einzelne tief aus sich herausholen, nur für Adam. „Sorry, du hast mich angerufen.“
Adam wollte in sein Telefon schreien. Zig verpasste Anrufe, das musste doch aufgefallen sein. Fick dich, Leo, was glaubst du eigentlich? Willst du mich verarschen? Was stimmt nicht mit dir? Er meinte diese wütenden Gedanken nicht so. Er war nur… besorgt.
„Hey, Leo“, begann er, riss sich absichtlich zusammen, um nicht sauer zu klingen. „Alles okay bei dir?“
Leo atmete einfach nur. „Mir geht es gut“, sagte er dann. „Ich bin seit heute wieder zu Hause. Ich war im Krankenhaus.“
„Ah.“
Wieso.
Wieso, Leo?
Wieso warst du im Krankenhaus?
Was ist passiert?
„Ich glaube, ich habe keinen Job mehr“, murmelte Leo ins Telefon. „Ich weiß nicht genau, noch hat niemand mit mir gesprochen.“ Er brach ab, sagte dann unsicher: „Glaube ich zumindest?“
„Das klingt nicht so, als würde es dir gut gehen.“
„Nein.“ Leos seufzte. „Ich hab… ich weiß nicht mehr, was genau passiert ist. Ich hab, glaub ich, mein Cover aufgegeben. Da war ein Mädchen und zwei Typen. Ich weiß nur noch… eigentlich weiß ich gar nichts mehr. Alles tat weh.“
Er stöhnte, wo auch immer er war. „Eigentlich tut immer noch alles weh.“
Und für einen Moment wollte Adam vorbeikommen, auf Pizza und Bier, wollte mit Leo ein Fußballspiel oder Tennisturnier schauen, wollte sich den Balkon ansehen, von dem Leo schwärmte. Wollte für ihn da sein, wollte ihm ein Glas Wasser bringen, wollte ihm durch die Haare kämmen, wollte ihn umarmen.
„Das ist auch okay“, sagte Adam. „Erzähl mir einfach, woran du dich erinnerst.“
Und Leo erzählte: Ein undercover Einsatz, eine Frau, die von irgendwelchen Typen bedrängt wurde, und Leo, der nicht zusehen konnte, Leo, der dazwischen ging, Leo, der sich selbst überschätzte, Leo, der eine Tracht Prügel kassierte, Leo, der jetzt ein paar gebrochene Rippen und getretene Organe hatte, Leo, der an sich selbst zweifelte, denn was bedeutete ein Einsatz als verdeckter Ermittler, wenn nicht für das So-tun-als-ob alles an sich abprallen zu lassen?
Aber nein, Leo konnte einfach nicht ignorieren, wenn jemand gequält wurde.
Leo war einfach so.
„Ich finde richtig, was du getan hast“, murmelte Adam leise und behutsam, weil Leo vielleicht gerade seinem Job nachtrauerte; vielleicht auch aus ganz anderen Gründen leise und behutsam. Eigentlich wollte er fragen, wo Leos Kollegen gewesen waren, während er halbtot geschlagen worden war.
„Ich weiß, dass ich das Richtige getan hab, Adam. Damals, heute. Es ist nur manchmal schwer, damit zu leben, dass… ach, ich weiß auch nicht.“
Diesmal war Adam es, der die Tränen hochsteigen fühlte, der merkte, dass seine Stimme belegt klingen musste. „Du hast mich damals gerettet.“
Leo schnaubte ins Telefon. „Du warst so stark, Adam. Jahrelang. Und immer allein. Ich habe viel zu lange gewartet.“
„Nein, so darfst du nicht denken. Bitte.“
„Es tut mir immer noch leid. Dass ich erst an dem Tag…“
„Nein. Du hast… Du warst…"
Du hast mich gerettet.
Du hast mir so viel bedeutet.
Du warst mir so wichtig.
Wegen dir wollte ich nicht gehen.
Du bist mir immer noch wichtig.
Und für einen Moment wollte Adam vorbeikommen, auf Pizza und Bier, wollte mit Leo ein Fußballspiel oder Tennisturnier schauen, wollte sich auf Leos Couch setzen, wollte ihm eine Decke bringen, wollte ihm so viel sagen, was er sich noch nicht zu sagen getraut hatte. Er hatte Leo schon so vieles erzählt, aber da war immer noch so viel Ungesagtes.
Du bist mir so wichtig.
Leo.
Lass mich…
Sie blieben noch lange am Telefon, atmeten einfach nur. Irgendwann nahm Adam Leo mit auf den Balkon und zündete sich eine Zigarette an. Er blies Rauch in den Lautsprecher, wollte, dass Leo seine Atemzüge hörte.
Er hörte Leo dann im Hintergrund herumklappern und klicken und plötzlich füllte sich die Luft zwischen ihnen mit Musik.
„Weißt du noch?“, fragte Leo dann und seine Stimme klang so weit weg, als hätte er Adam auf dem Tisch abgelegt und auf Lautsprecher geschaltet.
„Ja, ich weiß noch.“ Er lehnte den Kopf zurück, starrte über die Dächer und musste sich fest auf die Lippe beißen, damit Leo nichts von ihm hörte. Den ganzen Anruf lang war er schon emotional gewesen. Das gab ihm nochmal den Rest. Er schloss die Augen.
Sie beide im Baumhaus, im Wald, im See, zwischen Eisdiele und Supermarkt, in dem kleinen Hof hinter der Schule. Beim Apfelklauen, beim Kirschkernspucken, beim Rauchen, beim Radfahren, beim Comiclesen…
Leo summte den Refrain mit, leise, fast ohne Atem.
„Ich habe das Lied schon ewig nicht mehr gehört“, murmelte Adam, als es vorbei war und wieder Stille einkehrte. Er wischte sich über die Augen.
„Ich auch nicht.“
Leo wechselte danach zur Mordkommission. Es ging ihm wieder besser, alles verheilte so wie es sollte. Adam hörte bald kein überraschtes, zischendes Lufteinsaugen mehr durchs Telefon, wenn Leo eine kleine falsche Bewegung machte, die irgendwelche Verletzungen beleidigte. Er klang begeistert von seinem neuen Job, von dem was er dabei lernte. Es war ein Job, für den Adam selbst schon seit Monaten arbeitete, aber Berlin war eben größer und der Platz begehrter. Es gehörte mehr kämpfen dazu. Leo redete ihm seit Monaten ein, dass er den Platz bekommen würde, motivierte ihn zu diesem seltsamen ‚Wettkampf‘ mit den Kollegen, suchte zusammen mit Adam Kriminalistik-Workshops in Berlin raus. Das sagte Adam zumindest, dass, wenn Leo ihn auch nicht dezidiert gesucht hatte, Adam doch schon so viel von sich und seinem Leben erzählt hatte, dass Leo wusste, wo er war. Es war irgendwie beruhigend, zu wissen.
Also kämpfte er. Nicht, weil Leo das wollte, sondern, weil er selbst neu motiviert war. Leo erzählte immer wieder von Fällen und den Methoden, die sie beide gelernt hatten, getrennt voneinander, von denen sie sich am Telefon schon öfters erzählt hatten, die er in der neuen Abteilung anwenden konnte. Es war schön zu hören, dass Leo Adams eigene Erfahrungen auch schon verwendet hatte, genau wie er sich manchmal an Dinge erinnerte, die Leo ihm gesagt hatte. Es fühlte sich an wie Teamarbeit. Es fühlte sich an wie etwas, das Adam mit Leo machen wollte, nicht nur über das Telefon.
„Wo bist du gerade?“, fragte Adam nach einem langen Tag in einem zu kleinen Besprechungsraum. Er stand auf der Dachterrasse, weit weg und außer Hörweite von den Kollegen, mit einer Zigarette, die jetzt gerade unglaublich gut schmeckte.
„Ich sitze gerade an der Saar. Wollte nach der Arbeit noch ein bisschen raus.“
„Joggen?“
Leo hatte begonnen, langsam wieder zu joggen.
„Nein, nur spazieren. Bin direkt im Auto her.“
„Wie ist das Wetter bei dir?“, fragte Adam und sah in seinen eigenen Himmel. Ein paar Wolken zogen vorbei, aber im Großen und Ganzen war es ein sonniger Tag mit viel blauem Himmel.
„Schönwetterwolken“, antwortete Leo. Adam hörte einen plötzlichen Lacher, bevor Leo fortfuhr: „Da zieht gerade ein Kaninchen vorbei.“
Adam grinste nun auch. „Ja?“ Er sah nach oben in die Wolken über ihm. „Ich hab hier sowas wie eine Ente.“
„Okay. Mmmm, ich kann hier… lass gucken… ich kann einen Elefanten bieten.“
Die Traurigkeit, die Adam bei dem Satz überkam, war plötzlich und unerwartet. Gerade noch war er so entspannt und fröhlich gewesen.
„Adam, bist du noch da?“, fragte Leo.
„Ja, ich…“ War das nicht das Problem… dass er immer noch hier war, in Berlin? Er wollte dieselben Wolken wie Leo sehen. Und er wollte sie mit Leo sehen. „Ja, alles gut.“
„Adam…“ Leo klang enttäuscht. So enttäuscht, wie Adam, wenn Leo ihm vorzugaukeln versuchte, dass alles okay war, wenn es eindeutig nicht so war.
„Ich kann gerade nicht reden. Hier sind zu viele Leute.“ Das stimmte zumindest. Er sah zu der Gruppe Pausenraucher hinüber, die sich über den Workshop zu unterhalten schienen. Eine hob ihre Hand, winkte ihm mit ihrer Zigarette zu. Er grüßte zurück, drehte sich wieder weg und ging ein paar Schritte weiter.
Später.
Feigling.
Februar.
Auf der einen Seite gefiel es Adam gar nicht, dass er Leo anrief, weil es ihm nicht gut ging. Irgendwie hatte es den seltsam bitteren Beigeschmack von ‚ausnutzen‘. Aber er wollte einfach Leos Stimme hören.
(Sein Herz hatte dazu Folgendes zu sagen: Ausnutzen, was bist du für ein Volllidiot? Leo hat dich vor ein paar Monaten angerufen, weil es ihm schlecht ging. Er hätte seine Schwester anrufen können, aber hat sich bei dir gemeldet. Er wollte deine Stimme hören. Er wollte, dass du ihm irgendwelche Dinge erzählst, niemand sonst. Er hat nach fast einem Jahr Stille zwischen euch das Eis gebrochen, weil er sich nach dir gesehnt hat. Er hat deine Nummer rausgesucht, obwohl er dir versprochen hat, dass er es nicht tut, weil er dich in dem Moment einfach gebraucht hat. Du bist ihm wichtig. Er hat dich vermisst. Weißt du noch, wie er dich damals immer angesehen hat? Was, wenn das Gefühl immer noch da ist oder, selbst wenn es irgendwann mal dazwischen weggegangen ist, was wenn es jetzt wieder da ist? Früher waren es vielleicht verstohlene Blicke. Aber heute… hörst du es nicht in seiner Stimme? Wann traust du dich endlich wieder mal zu träumen? Checkst du’s jetzt?)
Und ging es ihm nicht genau gleich? War da nicht immer schon etwas gewesen, das jetzt wieder besonders stark hochgekommen war?
Er lag auf seiner Couch, in eine Decke gehüllt, obwohl es gar nicht so wirklich kalt war. Er hatte erhöhte Temperatur also fröstelte ihn. Rund um ihn waren Taschentücher. Die Fernbedienung hatte er heute Früh schon mal abwischen müssen, weil er direkt draufgeniest hatte. Seine Lunge schrie bei jedem Huster.
Also wählte er die Nummer. Scheiß auf alles.
„Hallo? Adam?“
„Hallo, Leo.“ Es war so schön, Leos Stimme zu hören. So erholsam, so weich, Adam so freundlich gesinnt und vor allem so schön in seinen vom Schnupfen verschlagenen, halbtauben Ohren. Er drückte den Lautsprecherknopf, der Leos Stimme um einiges lauter werden ließ, als er fragte: „Wie geht’s?“
„Gut!“, log Adam und kam sich dabei schäbig vor. Irgendwie hoffte er doch, dass Leo merken würde, dass das nicht stimmte.
„Du klingst nicht so.“ Leo enttäuschte ihn einfach nicht.
Er seufzte ins Telefon: „Doch, doch, geht schon.“
Leo lachte am anderen Ende. Der Arsch. Lachte der ihn gerade aus?
„Adam, sag schon. Du klingst nicht gut. Erzähl.“
Adam atmete, stockte, nahm ein Taschentuch und schnäuzte sich, bevor er weitersprach. „Ich habe einfach nur eine Erkältung.“
„Das ist nicht ‚gut‘“, murmelte Leo am anderen Ende. Adam hörte Schritte und Geräusche am anderen Ende, bis Leo sich wieder an ihn wandte. „Also, nochmal: Wie geht’s?“
„Beschissen.“
Er hörte Leo belustigt ins Telefon schnaufen. „Sorry, ich wollt nicht lachen“, sagte er dann. „Okay, du hast… Schnupfen, Halsweh?“
„Ja.“
„Gliederschmerzen?“
„Auch.“
„Fieber?“
„Ein bisschen.“
„Husten?“
Adam hustete als Antwort, tief und feucht, weil gerade wieder Schleim aus seiner Lunge herauswollte. Er drückte sich mit der flachen Hand gegen den Brustkorb, weil das Husten schon so weh tat.
Eine kurze Pause am anderen Ende ließ Adam sich schon vorbeugen um zu sehen, ob der Anruf vielleicht abgebrochen worden war, aber da sagte Leo: „Bist du… alleine?“
Er klang so vorsichtig, dass Adam die Zähne zusammenpressen musste. Wann war er nicht alleine? Wann war er einmal nicht alleine?
„Ja“, gab er zurück. „Leo…“
Leo unterbrach ihn. „Mach dir einen Tee“, sagte er nur.
„Ja, später.“ Er wollte jetzt etwas ganz anderes sagen, etwas viel Wichtigeres. Aber auf der anderen Seite war es ihm auch fast zu blöd.
Hey, Leo, ich muss dir noch was sagen.
(Bitte, lass mich dir dieses eine Ding noch sagen, bevor…)
Es hatte schon genug verpasste Chancen zwischen ihnen gegeben.
Aber statt Adam vor sich hin faseln zu lassen, machte Leo ein stures Geräusch. „Nein, jetzt. Komm, steh auf.“
Er hörte, wie Leo im Hintergrund herumkramte. „Ich würde dir jetzt… Pfefferminz anbieten, oder Ingwer-Zitrone.“
Notgedrungen stand Adam auf. „Okay, okay. Lass mal… Moment.”
Er hörte, wie Leo mit einer Dose klapperte, nahm an, dass Leo in seiner coolen Küche eine ganze Box mit verschiedenen Teesorten hatte. In seiner eigenen Küche ging das schneller. Die Küche war winzig, der einzige Tee, den er hatte, war in einer armseligen Schachtel, deren Ablaufdatum vor einem Jahr gewesen war.
„Ich habe… Schwarztee“, sagte er, etwas trocken, um Leo wissen zu lassen, dass sein Schrank nicht so gut bestückt war.
„Okay, das muss reichen. Und jetzt, schalt den Wasserkocher ein.“
Adam hörte im Hintergrund, wie Leo das Selbe tat wie er. Eine Kanne füllte sich mit Wasser, ein Deckel klapperte, ein Schalter wurde umgelegt. Er tat es Leo gleich. Geschirr klirrte auf Leos Seite, also holte Adam auch eine Tasse aus dem Schrank.
„Hast du was zu essen zuhause?“
Adam seufzte und öffnete den Kühlschrank. Da war nichts, das auch irgendwie einladend aussah. „Ich habe… noch irgendwo Suppe.“
„Geh auf dein Lieferdienst App“, schlug Leo vor.
Adam schnaufte ins Telefon.
„Oder ich bestell dir was. Sag mir deine Ad-“ Ein verschreckter Atemzug folgte. „Sorry.“
„Leo, es ist okay.“
Wann würde Leo begreifen, dass er Adam damals nicht verschreckt hatte? Und trotzdem füllte Leos Zögern Adam irgendwie mit Wärme. Er wollte ihm seine Freiheit geben, egal wie sehr Adam sich mittlerweile fragte, ob er das wirklich wollte.
„Ich such mir was raus.“
„Hm?“, fragte Leo laut nach, weil er scheinbar Adam über das Rauschen seines Wasserkochers nicht verstand.
„Ich sagte, ich such mir was raus!“ Mittlerweile war Adams eigener Wasserkocher auch bereit.
Er kippte Wasser in seine Tasse, hob und senkte den Teebeutel. Dazwischen musste er sich wieder schnäuzen. Er war nach dem Tee machen schon fertig und wieder bereit für die Couch.
„Okay. Aber etwas mit Gemüse.“
„Jawohl, Chef.“
„Adam…“
„Leo…“
Leo grinste am anderen Ende. Adam konnte es genau hören.
Adam rollte die Augen und warf den Teebeutel in den Biomüll. „Ich gehe wieder auf die Couch.“
„Mach das.“
Und für einen Moment, wollte Adam, dass Leo vorbeikam, auf Pizza und Tee, wollte mit Leo auf der Couch liegen und fernsehen. Wollte, dass Leo ihm eine Decke und ein Glas Wasser brachte.
„Ich gehe wieder schlafen“, sagte er trotzig, weil er nicht haben konnte, was er wollte.
„Mach das“, wiederholte Leo.
„Hey, danke fürs Tee machen.“
„Gerne.“
Eine Weile später wagte sich Adam einen Schritt weiter vor. Er rief einfach mal absichtlich über eine Woche lang nicht an, weil er sehen wollte, was Leo tun würde. Dass Leo an ihn dachte und ihn vermisste, wusste er bereits. Jahre zuvor hatte er sich das immer wieder mal gefragt, aber mittlerweile konnte er es in Leos Stimme hören. Aber da war doch trotzdem noch diese Blockade in Leo, von all den Jahren, die ihre Kommunikation von Adam gewollt einseitig gehalten worden war. Nur jetzt wollte er das eben nicht mehr. Jetzt wollte er etwas ganz anderes und obwohl er schon öfter gesagt hatte ‚Du kannst mich jederzeit anrufen,‘ so schien es doch nicht ganz angekommen zu sein. Also rief er nicht an. Er wartete. Wenn er mit der Absicht, Leo anzurufen, sein Handy in die Hand nahm, legte er es wieder weg. Er wartete, befürchtete schon, Leo würde sich nie melden. Eine zweifelnde Stimme flüsterte in seinem Kopf. Vielleicht war er Leo nicht so wichtig, wie Leo ihm? Er war aber so sicher. Er wartete.
Eines Abends klingelte dann sein Telefon.
„Hallo“, antwortete er, das Lächeln in seiner Stimme mit Sicherheit hörbar.
„Adam, hey. Alles klar bei dir?“
Was machte dieser Tonfall mit ihm. Am liebsten wollte er sich gleich entschuldigen.
„Alles bestens“, antwortete er.
Leo zögerte an seinem Ende. „Hast du… war das ein Test?“
Adam schwieg an seinem Ende. Es war ja wirklich ein Test gewesen. Jetzt, wo Leo fragte, kam er sich blöd vor. Er konnte Leo am anderen Ende atmen hören, befürchtete kurz, er würde auflegen.
„Du hast ja recht“, murmelte Leo. Er seufzte. „Ich will wirklich öfter anrufen. Aber meistens, bis ich anrufe, rufst du schon an. Oft an genau dem Tag.“
„Diese Woche nicht.“
Leo schnaubte ins Telefon. „Genau. Diese Woche nicht. Deshalb rufe diesmal ich an.“
„Ich wollte dich nicht zum Telefonieren zwingen“, sagte Adam. Denn eigentlich war das der Test gewesen: ob Leo überhaupt so viel mit ihm telefonieren wollte.
Leo zerstampfte seine Zweifel zu Staub. „Ich habe dich vermisst letzte Woche.“ Adam hörte wieder das Rascheln im Hintergrund, das er schon öfter gehört hatte. Er wusste immer noch nicht, was das Geräusch war, wollte irgendwie auch nicht fragen. Denn, wenn er ganz ehrlich mit sich war, wollte er es sehen. Vielleicht deshalb auch der Test. Vielleicht machte er deshalb gerade so viel Lärm um nichts.
Hey, Leo, weißt du noch, wie ich am Anfang immer gesagt habe, ich bin noch nicht bereit?
Weißt du noch, wie ich gesagt habe, ich brauche noch Zeit?
Ich glaube, ich bin soweit.
Ich glaube, ich will nicht mehr so weit weg von dir sein.
Hey, Leo, darf ich dich besuchen?
Er sprach keinen von den Gedanken laut aus.
Er hörte Leo zu, wie er erzählte von seiner letzten Woche, machte die richtigen Geräusche, aber eigentlich war er mit seinen Gedanken woanders. Er wollte diese Dinge jetzt sagen.
„Ah, verdammt. Adam, ich muss los. Ich wusste, ich habe nicht lange Zeit, aber ich wollte einfach nicht mehr warten. Ich rufe wieder an, okay?“
„Danke fürs Anrufen.“
„Ich will dich jetzt ganz liebevoll einen Arsch nennen für die letzte Woche, aber du klingst heute nicht so toll. Lass uns später nochmal telefonieren, ja? Ich rufe dich an. Spätestens um neun.“
Adam lächelte etwas schwach ins Telefon, hoffte, dass es besser rüberkam, als er dachte. „Okay.“
Leo legte auf, rief aber tatsächlich kurz vor neun nochmal an. Sie tranken gemeinsam was, stießen an ihren Couchtischen an, Leo legte Musik auf im Hintergrund und erzählte von dem Abendessen mit Caro, bei dem er gerade gewesen war, was sie gegessen hatten, worüber sie gesprochen hatten; Dinge, von denen Adam viel mehr Ahnung haben würde, wenn er auch in Saarbrücken und ein größerer, aktiverer Teil von Leos Leben wäre. Diese Schwere war zurück, aber Leo konnte ja nicht ahnen, dass die kümmernde Art, auf die er gerade zu helfen versuchte, Adam noch trauriger machte.
Auf eine gewisse Weise halfen die beiden Anrufe. Nicht sofort, nicht direkt, aber sie halfen Adam, einen Entschluss zu fassen. Er war bereit.
Und dann geschah die Verhaftung von Rainer Jaschke.
Seitdem Leo im Krankenhaus gelandet war, überflog Adam die internen Nachrichten, die Saarbrücken betrafen, mindestens alle zwei Tage mal. Er hatte einen eigenen Filter in der Datenbank dafür eingerichtet, weil er nicht noch einmal etwas verpassen wollte. Irgendwie schien jetzt ohnehin alles dringend und wichtig, was mit Saarbrücken zu tun hatte.
Ein Schusswechsel bei einer Verhaftung ließ ihn genauer hinschauen. Der Name Leo Hölzer im Zusammenhang mit der Nachricht ließ ihn erstarren. Als er las, was passiert war, was in dem Bericht angedeutet war, traute er sich nicht sofort anrufen.
Als ein paar Tage später das Tauschgesuch in dem Filter aufschien, fing sein Herz zu pochen an. Er klickte, suchte sich gleichzeitig seine Zigarettenschachtel mit zitternden Fingern. Ein ehrgeiziger Kollege, der aus der Sache und dem Bericht wie ein Held herausgegangen war. Adam sprach mit seinem Vorgesetzten und konnte in dem Gespräch schon spüren, was die spitzen Zungen in Saarbrücken behaupteten, dass passiert war.
Was Adam am meisten störte war, dass Leo nicht anrief. Er hätte nichts davon mitbekommen, wenn er nicht seinen Filter gecheckt hätte. Vor allem fragte er sich, warum Leo nicht bei ihm klingelte und ihm sagte, dass sein Kollege ging und nach Berlin wollte und ein Tauschgesuch geschrieben hatte und wäre es nicht schön, wenn Adam kommen würde…
In die Mordkommission Saarbrücken.
Mit Leo Hölzer.
Also rief er an.
„Leo, ich habe gehört, was passiert ist.“
„Du auch?“, gab Leo in einem Ton zurück, als würde Adam gemeinsam mit allen anderen an den Iden des März mit dem Messer kommen.
Adam ließ das Selbstmitleid gar nicht zu, sagte einfach nur: „Erzähl.“ Dass er schon angeboten hatte, das Tauschgesuch anzunehmen, sagte er Leo nicht.
Er sagte gar nichts dazu, hörte einfach nur zu, hörte wieder die Zweifel zwischen den Zeilen.
„Wo bist du gerade?“, fragte er, weil Leos Stimme seltsam klang.
„Im Bett.“
Adam hielt den Atem kurz an. Das hatte er jetzt nicht in Leos Stimme gehört. Er klang nicht so, wie er sonst klang, wenn es ihm nicht gut ging.
„Ah, nein“, unterbrach Leo seine Gedanken, schnell und laut. „Ich war gestern nur zu lange auf, habe schlecht und kurz geschlafen. Es ist nicht so schlimm wie… naja. Ich bin nur echt fertig heute.“
Adam schnaubte ins Telefon. Damit konnte er genauso umgehen. Er konnte mit Leo in jeder Verfassung umgehen, mittlerweile. Umgekehrt galt das genauso.
„Okay, dann… mach es dir bequem. Leg das Telefon weg.“
Etwas Rascheln folgte. Leos Stimme klang anders, hallender wegen der Freisprechanlage, als er antwortete: „Bin soweit.“
„So und jetzt mach die Augen zu und erzähl.“
„Wir hatten diesen einen Verdächten…“, begann Leo mit seiner Erzählung.
Er erzählte von dem Kollegen, der kurzerhand in Urlaub gegangen war und nicht mehr zurückkommen würde. Es klang nicht danach, als wüsste Leo davon, dass der Kollege nach Berlin wollte. Dass er es ein ‚Versetzungsgesuch‘ nannte, sagte Adam nochmal mehr, dass Leo gerade weniger wusste als er. Er erzählte von den Sorgen, die er hatte. Das letzte, das der Kollege zu ihm gesagt hatte, war, dass er eine Gefahr für jeden Kollegen war. Stimmte das? War er das? Konnte er wirklich nicht schießen? Hatte die Geschichte von damals ihn wirklich für den Dienst unfähig gemacht? Was, wenn er ungeeignet war für seinen Job?
Irgendwann schlief er ein und Adam wusste, dass er sich nie laut sagen trauen würde, wie lange er Leo noch beim Atmen zugehört hatte, bis er auflegte. Er schnarchte im Tiefschlaf manchmal ganz leise, was Adam entzückend fand. Er fragte am nächsten Tag gleich nach der morgendlichen Besprechung, was mit dem Tausch los war. Er wollte zurück zu Leo, egal ob mit oder ohne der Position in der Saarbrücker Mordkomission, wenn es sein musste.
Er wollte nicht nur vorbeikommen auf Pizza und Bier, er wollte mehr. Er wollte gemeinsam spazieren, nebeneinander, er wollte die Wolken beobachten und Aussichten genießen, aber eben dieselben. Er wollte Leo nicht mehr nur beim Atmen zuhören, er wollte sehen, wie er sich dabei entspannte. Er wollte die Möglichkeit haben, Leo in den Arm zu nehmen. Er wollte hören, wie Leo einschlief. Und er wollte das alles auch für sich.
Er brauchte nur Mut.
Einen Monat später und nach einigen Anrufen, bei denen Leo zwar nicht richtig schlimm, aber auch nicht glücklich geklungen hatte, war Adam im Bus unterwegs. Bei einem Zwischenstopp, drei Stunden vor ihrer Ankunft in Saarbrücken, stieß Adam durch nervöse Lippen Rauch aus, blickte gedankenverloren auf sein Handy und überlegte, ob er anrufen sollte oder nicht. Nein. Es war okay, dass er auf dem Weg war.
Er war ziemlich sicher, dass niemand Leo gesagt hatte, dass er der neue Kollege war, sonst hätte Leo ihn vielleicht schon angerufen. In der letzten Zeit – und das war ein Grund, warum Adam sicher war, dass es okay war, dass er nach Saarbrücken zog – hatte Leo sich von seiner Seite aus öfter gemeldet. Sie hatten mittlerweile noch mehr Kommunikation von beiden Seiten und trotzdem hatten sie noch nie videotelefoniert oder eine App verwendet; nicht einmal SMS. Telefonieren oder gar nicht. Adam wollte nie etwas von Leo lesen und sich fragen, wie es gemeint war. Er wollte Leo hören und wenn es nur war, um ihm einen schönen Abend zu wünschen, ganz egal. Er wollte keine missverständlichen Smileys oder Sätze, keine Punkte oder Fragezeichen, die irgendwie falsch ausgelegt werden konnten. Leo, der anscheinend mit seiner Schwester öfters unabsichtlich missverstandene Nachrichten ausgetauscht hatte, war absolut einverstanden.
Als der Bus in Saarbrücken einfuhr, nahm Adam sein Handy in die Hand, steckte es aber gleich wieder weg. Nein. Heute Abend brauchte er noch einen Moment für sich.
Hey, Leo, ich bin jetzt hier.
Ich bin jetzt da.
Ich bin soweit.
Ich brauch keine Zeit mehr.
Am nächsten Morgen erschien er pünktlich zum Dienst. Erster Tag in der Mordkommission Saarbrücken. Ein Herr Weniger von der Disziplinardienststelle holte ihn unten ab. Er hätte jemanden von der Personalabteilung erwartet.
„Ich muss sowieso mit Herrn Hölzer sprechen“, sagte er und Adam wollte mit den Augen rollen.
Er folgte dem Typen hinauf, in sein zukünftiges Büro, in dem noch niemand war, und lehnte sich an den Tisch. Er verschränkte die Arme, gähnte dezidiert einmal während Weniger ausführte, wie es ‚hier in Saarbrücken‘ ablief und warum der werte Kollege sich versetzen lassen wollte.
„Ich kenne Kommissar Hölzer bereits“, unterbrach Adam irgendwann, weil ihm Weniger und seine falsche Freundlichkeit leidtaten. Fremdschämen war nicht so sein Ding. Mitleid hatte er im Moment nicht für diesen Typen, nicht nachdem was Leo ihm erzählt hatte.
„Ach?“
Adam grinste. „Man möchte fast sagen, ich bin mit seiner steilen Karriere vertraut. Ich kenne ihn sehr gut, als absolut geschätzten Kollegen.“
Weniger spitzte die Lippen. Adam genoss es. Genau, halt einfach die Fresse, dachte er nur.
Dann sah Weniger wohl Leo hinter ihm zum Büro kommen und Adam musste sich zusammenreißen, um sich nicht sofort umzudrehen. Leo war hier, direkt hier, hinter der Glastür, hinter ihm, nur Meter entfernt.
Sein Puls ging hoch. Weniger ging raus, ging mit Leo in einen anderen Raum, so viel bekam er noch mit. Er konnte Leos Stimme hören. Weich, schön, genervt auf eine Art, wie Adam sie noch nie gegen ihn gerichtet gehört hatte. Er musste schmunzeln. Wenn sie zusammenarbeiteten, würde das wohl unweigerlich mal passieren. Er freute sich schon darauf, denn es hieß, dass sie zusammenarbeiten würden. Alles andere war egal. Alles andere war nebensächlich.
Er blieb so sitzen und schloss die Augen, um klar denken zu können.
War das eine gute Idee gewesen? Hätte er Leo bescheid sagen sollen? Als er noch überlegte, schoss ihm durch den Kopf, was Leo bei ihren Telefonaten so oft sagte:
Hey, Adam. Ich wünschte, du könntest…
Ach, Adam, du hast immer so gute…
Adam, wenn du nur…
Nein, es war alles okay. Als die Tür aufging und Leo sich vorstellte, drehte sich Adam um. Leo sah… immer noch umwerfend aus, genau wie damals. Älter, so viel schöner jetzt, ausgefüllt und mit Bart, immer noch mit den selben blaugrünen Augen.
„Adam“, sagte er überrascht, als er ihn erkannte. Ein Lächeln zog langsam über sein Gesicht, ehrlich erfreut und begeistert.
Sie konnten sich gar nicht richtig Hallo sagen, als eine Kollegin die Tür aufriss und sie unterbrechen wollte. Aber Adam schüttelte nur den Kopf, ignorierte sie, blickte Leo einfach weiter in die Augen, so wie Leo in seine. Plötzlich lag Leo in seinen Armen, drückte ihn so fest, dass Adam fast keine Luft mehr bekam. Endlich. Er schloss die Augen, presste sein Gesicht in Leos Schulter.
„Hey, Leo.“
