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* Teenagers in Love *

Summary:

West-Berlin in den 80ern. Zwei junge Männer und ihre fantastischen Pläne für die Zukunft. Sie spinnen sie während sie an der Bushaltestelle warten / miteinander zelten / zusammen in einer WG wohnen / Musikclips drehen / zusammen erfolgreich werden / in den Urlaub fahren. Aber wie ist man gleichzeitig bester Freund, Bandkollege und love interest? Bela und Farin erzählen, wie und ob das überhaupt geht.

Chapter 1: 1980 - Bushaltestelle

Chapter Text

 

 

 

 

 

*




Willkommen zu einer Sammlung von Oneshots zu Jan / Dirk, die aufeinander aufbauen.

In den kleinen Miniaturen werden Szenen ausgeleuchtet, die garantiert so nie stattgefunden haben ;-), aber die in meinem Headcanon wichtige Momente für die fiktiven Figuren Jan und Dirk waren in den 80ern in West-Berlin.

Bisher habe ich 6 Höhepunkte mit den Ärzten geplant.

Kann als Vorgeschichte zu „Keine Angst“ gelesen werden, da es Kontinuitäten zu deren Inhalt in den 2020er gibt und sich ganze angedeutete Erzählstränge weiter spinnen über die Jahrzehnte.

Liebe Grüße von The-Windmils-of-your-mind.






 

 

* Teenagers in Love *

 

 

 

 

 

 

Dez 1980 - Bushaltestelle

 

 

 

„Ey, Hussi ist echt manchmal so `n autoritäres Arschloch. Ick lass mir doch nich befehlen, wat ick zu spielen hab. Geilet Punkverständnis. Da kann ick och gleich Zuhause bleiben. Da geht`s ähnlich ätzend zu. Wat sollte das?“

Während ich wie schon öfter vor mich hingrummel, ist Jan ungewohnt schweigsam. Normalerweise quatschen wir beide nach `ner Bandprobe ohne Punkt und Komma aufeinander ein. Jetzt läuft er nur schnellen Schrittes neben mir durch die scheißkalte Dezembernacht.

„Hey! Allet okay mit dir?“

Er sieht zu mir hinüber oder vielmehr hinunter und nickt schnell. „Will nur den Bus erwischen.“

„Ja. Ja, klar.“ Ich lege einen Zahn zu, um mit ihm mitzuhalten. Jan lächelt ein wenig verkniffen. Der Drei-Meter-Kerl neben mir ist heute echt viel zu ruhig und nachdenklich.

Ich lasse die Probe in meinem Kopf Revue passieren. War da irgendwas Außergewöhnliches? Eigentlich nich. Halt das übliche Chaos und Gezanke wegen Texten. Hussi wollte unbedingt ein Lied über die „Drecksbullen“ machen, damit kämen wir in Kreuzberg besser an, als mit Songs über „Zitroneneis“, was Jan vorgeschlagen hatte. Ist er vielleicht deswegen beleidigt? Jan hält sich normalerweise aus den Streits raus, sagt erst seine Meinung, wenn wir alleine sind und zusammen Richtung Bushaltestelle schlendern. Aber gerade kommt gar nichts.

Kann natürlich auch einfach der Stress sein wegen nächstem Wochenende. Sein erstes Konzert und direkt in `nem besetzten Haus. Die sollen nicht so auf die Spandauer Vorstadtpunks stehen dort in Kreuzberg. „War heut echt `n bisschen lang, wa? Und wir sin wohl alle `n bisschen nervös wegen dem Konzert.“

„Hmmm.“ Langsam macht mich Jans Einsilbigkeit nervös. Ist er etwa sauer auf mich? Normalerweise ist unser traditioneller Spaziergang zur Bushaltestelle der beste Moment der Bandprobe. Wenn ich neben ihm laufe, wirbeln unsere Ideen immer wie so `n Kaleidoskop durcheinander. Zusammen wird`s immer noch bizarrer. Außenstehende würden wahrscheinlich gar nichts kapieren, wenn sie uns zuhören.. Als wenn wir in `nem geheimen Wettbewerb miteinander wären. Aber eigentlich ist es nich Konkurrenz, sondern das totale Hineinsteigern, wer noch `ne verrücktere Idee nachlegt.  

Die Anderen von Soilent Grün finde das meist nicht so witzig. Deswegen drehen wir in den Proben auch nicht mehr ganz so auf. Erst wenn wir unter uns sind. Außer heute.

Neben der gedrückten Laune ist es auch noch scheißkalt. Ich hasse Dezember und Weihnachten ist scheiße. Von der Havel jagen Böen durch die Hochhausschluchten uns direkt ins Gesicht. Ich kann meine Wangen kaum noch spüren. An den Händen tut der kalte Wind dagegen gut nach drei Stunden Drumstickgewirbel.

„Hey. Du weißt, dass ich das nich so seh wie Hussi, ne? Ick find die Idee mit dem „Zitroneneis“-Song echt dufte.“

„Ja, klar. Weeß ick.“ Immerhin lebt er noch. Bei der Kälte kann man echt zum gefriergetrockneten Zombie werden.

„Was`n los mit dir?“

„Mit mir? Nüscht. Allet jut.“

„Ja, bist echt uffällig überschwänglich heut, du olle Quasselstrippe.“

Jan bleibt so plötzlich stehen, dass ich zusammenzucke. „War heut eenfach `n bisschen streßig, dit janze Rumgeschrei.“

Ich nicke. „Hussi is echt manchmal so `n arschbeschissener Hitzkopf.“ Irgendwie ist es mir peinlich, wenn die Proben so laufen. So `n bisschen fühl ich mich für Jan zuständig, weil er noch nich so lange in der Band ist und weil ich es war, der ihn mehr oder weniger als neuen Gitarristen aufgerissen hat.

Wir kennen uns erst seit `nem guten halben Jahr, genauer seit dem Ende der Sommerferien, als er sich in unsere Band und so `n bisschen auch in mein Herz gegrinst hat. Fuuuuiiiiiiii! Unsere Freundschaft ist gestartet wie so `ne wildgewordene Silvesterrakete. Steil nach oben, mit viel Gefunkel. Trotzdem – so richtig gut, kenn ich Jan dann doch noch nicht. Meistens reden wir über Musik und andern Kram.

Jan sieht auf mich herunter. Ein trauriges Heben eines Mundwinkels, das vielleicht ein Lächeln werden sollte. „Kannst du ja nüscht für. Normalerweise kann ich dit och ab, aber heut war schon Zuhause so viel Gebrüll, da hätt ick echt keen Encore gebraucht.“

„Oh, scheiße. Sorry.“

Über seine Familie weiß ich nur, dass er `ne Halbschwester hat. Und das früher seine Mutter auch alleinerziehend war, bis sie meinte unbedingt `nen neuen Macker zu brauchen. Sein Stiefvater ist wohl auch nicht so cool. Und ich weiß, dass er immer ewig nachts mit dem Bus nach Frohnau zurück gurken muss.

Deswegen bring ich ihn auch immer zur Bushaltestelle. Vielleicht auch ´n bisschen weil – also irgendwas hat einfach geklickt zwischen uns, zwischen dem großen Punker mit dem breiten Grinsen und mir. Gleich beim ersten Treffen im Ballhaus.

Irgendwie konnte ich den ganzen Abend nicht meine Augen von dem Neuen lassen. Lag bestimmt an seiner Größe. Is ja schwer zu übersehen, der Gute, noch dazu mit dem fetten Grinsen.

Irgendwann hab ich mich dann so lässig an ihn rangeschlichen. Keine Ahnung, ob`s so unauffällig war, wie ich`s gern gehabt hätte, aber nach ein paar Minuten war das ganze coolness-Getue auch egal, weil – er war einfach nett, ungewöhnlich nett für `n Punker. Und witzig. Und krass braungebrannt mit sonnenausgebleichten Haaren. Grad zurück aus Sizilien, meinte er. Sizilien war für mich fast so weit weg wie der Mond.

„Hab die Sommerferien dort mit meinem Freund verbracht.“ – „Wie alt bist`n du?“ – „16. Im Oktober 17. Und du?“ – „Im Dezember werd ick 18.“ – „Und was machste so?“ – „Ick spiel in `ner Band. Wir suchen grad `nen neuen Gitarristen.“ – „Ick spiel Gitarre. Und `nen Verstärker hab ick och.“

„Scheiße.“ Jan zeigt auf die große Uhr am Rathaus. In einer Minute fährt der Bus ab. Oder waren das gerade die Rücklichter von ...?

Jan rennt los, ich hinterher. Sieht bestimmt schräg aus: ein großer blonder und `n kleener schwarzhaariger Punker rasen durch das nächtlich ruhige Spandau.

Eine der Laternen vor dem Rathaus ist kaputt, `ne andere flackert nur gruselig in die Winternacht. Vor uns leuchtet die Bushaltestelle wie eine Herberge.

Als ich ihn endlich eingeholt hab, muss ich erstmal wieder Luft in die Lungen kriegen. Vielleicht sollt ich das mit dem Rauchen doch lassen. „Hey, Jan. Ick gloob, der is da grad vorne um`s Eck gebogen.“

„Aber is doch noch `ne Minute.“ Jan deutet leicht verzweifelt nochmal in Richtung Turmuhr. „Lass uns noch warten, ja? Der kommt bestimmt gleich.“

„Wenn de meinst. Aber es is echt scheißkalt. Ick frier mir total den Arsch ab.“

„In den Klamotten keen Wunder.“ Jan deutet auf mein sorgsam ausgewähltes Outfit. Weißes T-Shirt, schwarze Jeans, Kutte plus `n Schal. So richtig warm, ist es nich, aber dafür `n cooler Look.

„Ja, Herr Wollpulli und Armeemantel.“

„Musst ja nich mit mir hier warten.“

„Ick geh doch jetz nich und dann erfrierste hier wie dieses Mädchen aus dem een Märchen. Die mit den Streichhölzern.“

„Willste mit unter den Mantel?“

„Da passen wir doch nich beede rin.“

„Ma kieken.“ Auf einmal steht Jan hinter ihm. Starrer, dicker Filz hüllt mich ein. Der Stoff riecht nach Mottenkugeln und nach, von drei Stunden Gitarre spielen, verschwitztem Jan. Und trotzdem duftet er so nach sauber. Also nicht übertrieben, aber jedenfalls angenehmer als die anderen Jungs. Nich das die jetzt direkt schmutzig wären oder so, aber Zigarettenmief und `ne Bierfahne sind halt auch nich so schick. Deswegen verkneif ich es mir auch mir auf unseren nächtlichen Streifzügen in Jans Gegenwart `ne Kippe anzustecken. Andererseits macht mich der Nikotinentzug immer ganz hibbelig.  

Ich versuche einen kläglichen Ausbruchsversuch aus der Mantelfalle, aber er schlingt einfach seine Arme um uns beide und verkündet: „Wenn es kalt is, is es kalt. Fertig.“ Jan ist echt der Oberpragmatiker.

So richtig will ich aber auch gar nicht mehr weg. Ein bisschen macht mich Jans Riesengestalt hinter mir nervös, aber es tut so gut. Er und sein Mantel sind wie eine Trutzburg in der Kälte. Seine Körperwärme will durch die Maschen seines dicken Wollpullis zu mir. Echt angenehm, nach der Zitterei auf dem Weg hierher.

Ich zupfe am dicken Filz des Mantels. „Dit is aber och `n dickes Ding.“

„Hab ick mir aus`m Trödel geholt. Gemütlich, nee?“

„Mhmm. Ja.“

Ein paar Minuten stehen wir einfach so an der Haltestelle und schweigen, nur mein Kopf läuft die ganze Zeit weiter auf Hochtouren. Eine Erinnerung klopft an. „Ey, ick hatte heute nacht voll die dufte Idee: wir zwei, also, wir könnten `ne Karriere als Popstars starten. Also, nich, dass ich Punk nich mehr mag oder so, aber – es wär doch echt witzig, wenn wir zwee Karpeiken so ein auf Popstar machen und damit berühmt werden. So berühmt wie Nena. Wir bau`n uns so `ne richtige Marke auf. Dit wird dufte. Da brauchen wir Soilent Grün och nich mehr als Kapelle. Wir ziehen einfach unser eigenet Ding durch.“

Nur Jans warmer Atem in meinem Nacken zeigt, dass er noch lebt. Mann, was ist der denn heute so verdammt schweigsam? Er muss doch verstehen wie grandios das ist. „Was hältst `n davon?“

Um ihm das besser verklickern zu können, dreh ich mich mühsam in der Enge des Mantels um und – okay, dass ist jetzt schon so`n bisschen seltsam.

Jan ragt wie ein lebendiges Felsmassiv vor mir auf. Ich stehe ungefähr fünfhundert Zentimeter zu weit in seiner Intimsphäre – und er in meiner. Er ist mir so nah, dass ich sein Gesicht gar nicht mehr richtig scharf stellen kann, seine Augen sind einfach nur `n Glitzern über mir. Dennoch erkenne ich nur zu genau, dass er mich direkt ansieht.

Er blickt weiterhin ruhig auf mich hinunter. „Ick gloob du hast recht!“ Eine weiße Atemwolke aus seinem Mund streift meine Wange.

„Was?“

„Der Bus is wech.“

„Oh. ... Aber wie kommst`n du dann heut noch nach Haus?“

Er zuckt mit den Schultern und der ganze Mantel bewegt sich um mich mit.

„Ey, also hier bleiben kannste nich. ... Willste mit zu mir kommen?“ Wahrscheinlich seh ich ihn nicht so wirklich einladend an. Er zögert. Ich auch. Heute ist er mir wirklich ein bisschen fremd mit seiner schlechten Laune. Jan hat nie schlechte Laune, aber – wahrscheinlich Murphy`s Law, dass er ausgerechnet heute seinen Bus verpasst.

„Mhmm.“ Er beißt sich auf die Lippen, schließlich nickt er langsam. „Wenn dit für dich okay is?“

„... Klar!“  Aber irgendwie, weiß ich nicht so richtig, ob das wirklich klar geht. Immerhin wohne ich noch bei meinen Alten. Meine Mutter ist okay, aber mein Stiefvater ist `n Penner. Ich weiß nie, warum und wann genau er ausflippt. Mädchenbesuch ist zum Beispiel für ihn `n Problem. Aber wenn Buttgereit bei mir übernachtet, ist das okay. Also, sollte das mit Jan auch gehen, oder?

Dieses unerwartete Problem sorgt dafür, dass mir auf dem Weg in die Seegefelder Straße nich mehr kalt ist. So `n nerviges Gefühl von Unruhe pumpt mein Blut recht zügig durch meinen Körper.

Vor der Wohnungstür kippt es dann ins Gegenteil. Meine Finger sind total kalt vor Angespanntheit und ich bekomm den Schlüssel fast nicht ins Schloß. „Ick hoff meine Mutter und vor allem mein Stiefvater schlafen schon“, flüstere ich Jan zu. „Besser wir sind leise.“

Jan setzt sich auf die Treppe, die in den nächsten Stock führt und schält sich aus seinen riesigen Botten von Schuhen, nimmt sie dann in die Hand.

Leise drehe ich den Schlüssel und klinke die Tür auf, lausche. Stimmengewirr. Irgend`ne Talkshow. Im Wohnzimmer flimmert es bläulich. Ich öffne die Tür einen Spalt und spinxe hinein. Die beiden pennen vor der Glotze. Passt. Auf langatmige Erklärungen, wer Jan ist und warum der jetzt bei mir pennen muss, hab ich echt keinen Bock.

Vor meinem Kinderzimmer halte ich wieder inne. Zögernd öffne ich die Tür, schalte nur die kleine Lampe über meinem Bett an, nicht das große Licht. Muss ja nicht gleich mein ganzes, kleines Reich in Flutlicht tauchen.

„Also, dit is mein Zimmer ...“ Es ist als hätte ich selber noch nie gesehen. Kritisch betrachte ich das von mir gepflegte Chaos aus Klamotten und Geschirr auf dem Boden. Diana hat wohl doch `n bisschen recht, dass ich mal öfter aufräumen könnte. Etwas Heißes wie Lampenfieber strömt durch meinen Magen in meine Wangen. Jan war noch nie bei mir.

Der tritt vorsichtig ein, stellt seine Schuhe neben die Tür und legt den großen Mantel über sie. Dann kniet er sich mit einem interessierten Gesicht vor meine Plattensammlung und stöbert sie durch. „Cool. Dann bekomm ick mal ein paar von deinen Preziosen zu sehen.“ Ich setze mich zu ihm auf den Boden. „Wow. Kiek ma an. Magst du die auch? Anhören is wohl `n bisschen schlecht jetze, wa?“

„Ick hab Kopfhörer, wenn de willst.“

Andächtig zieht er die Single aus der weißen Papierhülle, wirkt endlich wieder wie der Jan, den ich kenn. Mit einem konzentrierten Stirnrunzeln legt er den Arm auf die Rillen, setzt sich die Kopfhörer auf. Sein Ausdruck der heute Abend die ganze Zeit so verschlossen war, wird weicher, ein echtes Lächeln – vermutlich die ersten Töne. Einladend hält er einen Kopfhörer ein wenig von seinem Ohr weg. „Willste mithören?“

Ich setze mich näher zu ihm. Der harmonische Gesang tut wirklich gut nach unsererm Soilent Grün Geschrammel. Außerdem mag ich Abwechslung. Jan wühlt sich weiter durch meine Sammlung.

Als die Single durch ist, sieht er mich an, zieht anerkennend die Augenbraue hoch. „Exzellente Mischung. Gilbert Becaud find ick och jut. Und natürlich The Sweet. Beatles haste keene?“

„Neee. Mag ich nich.“

„Schade.“ Sein Gesicht verdüstert sich ein bisschen, als hätte ich ihm das Herz gebrochen. Am liebsten würd ich es Zurücknehmen, aber das wäre dann einfach gelogen und ich will Jan nicht anlügen. „Mein Musiklehrer schwärmt immer so von denen und dann hab ick immer Herrn Wagner vor Augen, wenn ick wat von denen hör. Funkt nich so zwischen mir und den Vieren. Magst du die denn?“

Als hätte jemand die Sonne angeknipst. Ein Strahlen geht über Jans ganzes Gesicht. „Meine Mutter hatte ein paar Platten von denen und dann hab ick die immer gehört, wenn ick alleen war und die waren so `n bisschen Trost.“

„Ha. ... Wie alt warste da?“

„Puh. Vielleicht vier-fünf oder so.“ Er sieht nachdenklich auf den sich immer noch drehenden Plattenteller.

„Fünf? Wieso warst `n du mit fünf alleen?“ Es ist seltsam sich den großen Jan als kleinen Jungen vorzustellen.

„War ich ja nich. Wir ham in Moabit in so `ner Hippie-WG gewohnt. Irgendwer war schon immer da. Also meistens.“

Jan steht abrupt auf und geht unruhig ein paar Schritte durch mein kleines Kinderzimmer, mustert unverholen den Rest, die Poster an meinen Wänden und ich mit ihm. Mir ist so ein wenig atemlos, was total albern ist. Ist mir seine Meinung so krass wichtig?

Jan tritt näher an mein Bett und betrachtet das Vixen!-Poster darüber. Oh. Die Dame darauf ist extrem freizügig gekleidet. Find ich ja gut, weil das ihren echt großen Titten genügend Raum gibt und mir Einblick. Ick mag Erica Gavin echt gern. „Haste den Film gesehen?“, frage ich vorsichtig.

„Vixen? Äh, nee.“

Eigentlch bin ich echt stolz auf das Poster, aber gerade über sowas hab ich mich mit Jan einfach noch nicht unterhalten. „Wenn du willst könn wir den mal zusammen anschauen.“

„Is so `n Softporno, oder?“

„Ja, könnte man so sagen.“

„Ähm, ja ... okay?“ Jan sieht mich einen Moment unsicher an, dann grinst er zu mir hinüber und mir fällt tatsächlich ein kleiner Stein vom Herzen. Das hätte grad echt schräg rüber kommen können.

Jan gähnt einmal herzhaft, sieht dann hinunter auf mein schmales Bett. „Ähm, haste vielleicht `ne Isomatte und `n Schlafsack, oder so?“

„Nee, sorry. Hab ick nie gebraucht. Ick war noch nie zelten oder so.“

„Waas?“ Jan ist schlagartig wieder wach, schießt zu mir herum und sieht mich vollkommen entsetzt an.

„Hey!“ Ich heb einen Zeigefinger an den Mund. Wer ahnt denn, dass fehlende Campingausrüstung fast meine Alten weckt. „Also, `ne Wolldecke hätt ick hier.“

„Also, dit jeht gar nich.“ Jan bemüht sich leiser zu reden, aber es fällt ihm schwer. „Noch nie zelten?“ Er schüttelt vehement den Kopf. „Die Wissenslücke müssen wa schleunigst schließen.“ Seine geschockte Mimik wandelt sich. Sein Lächeln ist für mich gleichzeitig anziehend wie ein Licht in der Nacht und ein wenig befremdlich. So wie seine Launen heute insgesamt.

„Ick kenn `ne echt schöne Stelle an der Havel. Unten in Kladow. Direkt im Zonenrandgebiet.“

Jetzt strahlt er wie `n blitzblauer Sommerhimmel. Dennoch zweifel ich an seiner Idee, seh an ihm vorbei zum Fenster. Draußen beginnt es gerade zu schneien. „In `nem Iglu, oder wat?“

Jan folgt meinem Blick und tritt ans Fenster. „Oh. ... Schön.“ Sein Gesicht wird auf einmal ganz weich. Ich stell mich neben ihn ans Fenster. Unser Atem beschlägt die Scheibe. Er malt mit seinem Zeigefinger einen Stern hinein. „Also, ick mein natürlich im Sommer. Dann fahr`n wir zwei da mal hin, ja?“ Seine Stimme ist so sanft wie sein Blick hinaus auf das Schneetreiben, fühlt sich an wie die Wärme unter seinem Mantel.

Er dreht sich ein Stück zu mir, lässt den Blick aber nicht eine Sekunde von den dicken Schneeflocken, die jetzt draußen alles weiß färben. „Dann pennen wir also zusammen in deinem Bett?!“

Ist das eine Frage oder eine Feststellung?

„Wegen mir ...“, krächze ich. Na, toll. Spontaner Stimmbruch. Peinlich. „Also, ich mein, ich kann auch auf dem Sofa im Wohnzimmer pennen und du bekommst mein Bett.“

„Nee, nee. Da sind doch deine Ollen. Du bleibst mal schön hier. Dit kriegn wir schon hin. Aber – haste vielleicht `ne Zahnbürste oder so?“

„Stört`s dich wenn de meine mitbenutzt?“

Er sieht mich an, scheint ernsthaft zu überlegen. Ich komm mir vor wie ein seltsamer Kauz ihm sowas anzubieten. Langsam geht es mir auf den Keks, dass ich so viel Wert auf seine Meinung lege.

Schließlich schüttelt er den Kopf und lässt sogar noch eines seiner Jan-Lächeln folgen.

Wir gehen nacheinander ins Bad. Ich bin kurz vor Beten, dass die hypnotische Wirkung der Glotze meine Alten weiterhin im Koma hält. Sollte da nicht bald Sendeschluss sein? Wie auf Kommando ertönt das Gefiepe des Testbilds aus dem Wohnzimmer. Das weckt sie jedes Mal. Und oft auch mich und Diana.

Schlurfende Schritte. Schnell scheuche ich Jan in mein Zimmer. Aus Gewohnheit beginne ich mich auszuziehen bis mein Blick auf Jans amüsiertes Gesicht fällt. Dann bleibt heute wohl doch mal besser das T-Shirt und der Schlüpper an.

„Haste vielleicht auch was für mich? `N T-Shirt oder so? ick hab meins vorhin total durchgeschwitzt. Dit is nich mehr so lecker.“

„Klar. Aber ob dir dit passt?“ Ich halte ihm mein Lieblings-T-Shirt von Bauhaus hin.

Er dreht es andächtig in seiner Hand. „Cool.“

Ich bin mir unsicher, ob ich mich weg drehen soll, als er zuerst seinen dicken Wollpulli über den Kopf zieht, dann sein T-Shirt. Sein Oberkörper ist komplett glatt. Keine Haare. Dafür zeichnen sich seine Brustwarzen dunkel von der weißen Haut ab. Starre ich? Obwohl es ihn nicht zu stören scheint, beginne ich schlagartig total interessiert an meiner Bettdecke herumzunesteln, während Jan neben mir seine Hose aufknöpft.

Auf einmal wird mein Zimmer dominiert von sehr viel nackter Haut, dann streift sich Jan das T-Shirt über. Ein leises Lachen. Er sieht an sich hinunter. Das Shirt reicht ihm bis zum Bauchnabel und liegt recht eng an. Seine blonden Haare stehen noch ein wenig zerzauster vom Kopf ab. „`N bisschen kurz, oder?“ Ich schlucke trocken, versuche nicht tiefer zu sehen, erahne nur einen schwarzen Slip.  

„Och, geht schon.“ Schnell klettere ich ins Bett und unter die Decke, rutsche bis ganz an die Wand und traue mich dann nicht Jan anzusehen, aber der versteht die unausgesprochene Einladung trotzdem.

Erstaunlich geschmeidig für seine Größe schlüpft er zu mir ins Bett und unter die Wolldecke. Keine Ahnung, ob die warm genug ist in dieser kalten Dezembernacht.

Er dreht sich auf die Seite zu mir. Wir liegen uns gegenüber. „Hier.“ Er fasst unter seinen Kopf und zieht am Kopfkissen. „Du hast ja gar keins.“ Seine Worte sind so leise, nur für die paar Zentimeter zwischen uns. „Geht das so für dich?“ Seine Stimme ist wie ein Anschmiegen und mich zieht es irgendwie nach vorne zu ihm. Draußen heult der Wind um die Hausecke. „Danke, dass ick hier bei dir übernachten kann.“

„Klar.“ Meine Stimme ist total belegt. „Dafür sind Freunde doch da.“

Er nickt. Wirkt zum ersten Mal am heutigen Abend einfach nur zufrieden. Vorsichtig streckt er seine Hand nach mir aus und ich halte den Atem an. Er fährt mir behutsam durch die Haare, lässt seine langen, warmen Finger für einen Moment an meiner Wange liegen. Unter seiner großen Hand fühle ich mich elektrisiert und geborgen zugleich.

„Schlaf gut, Dirk!“

„Mhmm. Du auch.“ Mir ist so ganz merkwürdig nach Gute-Nacht-Kuss. Stattdessen strecke ich mich nach dem Lampenkabel und knipse das Licht aus.

Jan dreht sich um, von mir weg und ein graues Gefühl brandet durch mich. Ich liege ganz ruhig, lausche auf seinen Atem, der unregelmässig und schwer ist, traue mich selbst kaum Luft zu holen.

Es ist definitiv nicht das erste Mal, dass ich mit `nem Typen so zusammen liege. In meiner Zeit in der Clique von Ades vorletztes Jahr war da sogar noch viel mehr los, auch körperlich. Aber das hier ... Es holt mich irgendwie so ganz anders ab. Da ist so `n komisches Ziehen in mir.

Jans Atem wird ruhiger. Der Wind knallt dicke Flocken an das Fenster. Das wird morgen ein Spaß in die Arbeit zu kommen. Und Jan muss ja in die Schule.

„Hey. Biste noch wach?“, wisper ich so leise, dass er es vermutlich nicht mal hören würde, wenn er denn noch wach wäre.

„Mhmmmm?" Er dreht sich so langsam, ganz langsam zu mir.

„Ähm, mir is nur grad eingefallen, dass deine Eltern ja gar nich Bescheid wissen", flüster ich.

Obwohl ich ihn kaum sehen kann im nächtlichen Dämmerlicht, nehme ich doch die schlagartige Veränderung der Stimmung in ihm wahr. Als würde sich der weiche, lebendige Jan in eine Steinsäule verwandeln. Ich kann seinen Blick im Dunkel wie einen Laser auf mir fühlen.

„Sorry. Ick wollt dich nich ... Is mir nur grad so eingefallen.“

„Mist", brummt er.  „An die hat ich gar nich ... Wird schon okay sein.“ Seine leisen Worte beben vor Zweifeln. „Mach dir keene Sorgen.“ Mit einem tiefen Seufzer dreht er sich schwerfällig wieder von mir weg.

Wenn er den letzten Satz nicht gesagt hätte, nicht so gesagt hätte, dann ... Jetzt mach ich mir wirklich Gedanken. Die Stimmung ist so schnell gekippt, dass mein Hirn kaum hinterher kommt. Aus einem besorgten Impuls heraus, rutsche ich ein Stück näher an ihn heran. „Is die Wolldecke warm genug?“

„Ja. Geht schon.“ Seine Stimme ist seltsam belegt. Eine Bewegung. Jans Arm streicht suchend über meine Decke. Ich halte den Atem an. Warme Haut an meiner Hand. Er greift nach ihr und zieht meinem Arm unter seine Decke, legt ihn sich um die Seite. Meine Hand landet auf seinem Bauch, halb am Saum des T-Shirt. Weiche, glatte Haut. Er atmet einmal tief ein und aus. Seine Bauchmuskeln bewegen sich unter meinen Fingern. An meinem Unterarm kann ich seine Rippen spüren, wie sie sich bei jedem Atemzug dehnen und wieder zusammenziehen. Er ist schlank, fast sehnig. Ich trau mich nicht genauer hinzufühlen.

Er bewegt sich, rutscht ein kleines Stück hin und her, näher an mich heran. Mein Unterarm liegt jetzt auf seiner Brust. Sein Herzschlag klopft unter dem dünnen T-Shirt gegen meine Haut.

„Ist das ... Ist das okay so für dich?“, flüstert er.

„Mhmm.“ Worte sind gerade schwierig. Viel zu laut und ich zu atemlos. Unsere Körper sind nur ein paar Milimeter voneinander entfernt. Sein angenehm herben Geruch umhüllt mich. Seine Wärme zieht mich an wie ein Magnet, aber ich kann den letzten Abstand nicht überwinden.

„Jut.“ Er seufzt. Sein ganzer Körper entspannt sich unter meinem Arm.

 

 

„Für mich auch. Träum wat schönet!“



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Chapter 2: 1981 - Zonenrandgebiet

Chapter Text

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* Teenagers in Love *

 

 


Links findest du eingebettet im Kapitel.



1981 - Zonenrandgebiet





Schon wieder 22 Uhr. Die Bandprobe hat mal wieder länger gedauert. Mein Bus nach Frohnau fährt in genau 18 Minuten los. Besser ich verpasse den nicht wieder. Das hat vor einem halben Jahr mal tierischen Ärger zu Hause gegeben.

Hektisch packe ich meine Sachen zusammen. Die anderen sind schon losgezogen auf ein Feierabendbier in die Kneipe am Eck. Ich geh da so gut wie nie mit, freue mich lieber noch Zeit mit Dirk zu verbringen, wenn er mich zum Bus bringt. Das ist so eine unausgesprochene Regel zwischen uns.  

Während er wartet, dass ich meine Sachen gepackt hab, kloppt er lustlos einen Rhythmus auf die Snare. Sogar der Beat hört sich bedrückt an.

„Ey, tut mir echt leid, dass dein Stiefvater och so `n Arsch is.“ Genervt packe ich meine Gitarre mit viel zu viel Schwung zurück in den Koffer. Es kotzt mich einfach an, wenn Eltern so mit ihren Kindern umgehen – wenn Menschen so mit anderen Menschen umgehen. Hat mich schon immer aufgeregt.

„Mhm. Tja, kann ma wo nüscht machen.“ Dirk klingt, als hätte er schon verloren.

Ich schließe die Schnallen des Koffers und erhebe mich aus der Hocke. „Der kann dich nich rausschmeißen, Felse. Außerdem hat da ja wohl deine Mutter och noch `n Wörtchen mitzureden.“

„Mhm. Schon.“ Dirk drischt ein paar Mal mit dem Fußpedal auf die große Bassdrum. Die Schläge hallen durch den Übungsraum.

„Der hat überhaupt nicht das Recht dich so anzugehen. Du hast doch allet richtig gemacht. Fertige Ausbildung. Allet schick. Das de jetz keene Festanstellung findest als Dekorateur is doch nich deine Schuld.“

„Ick weeß ja noch nich mal, ob ick dit überhaupt weiter machen will. Aber dit behalt ich bei dem seine Laune wohl ma besser für mich.“

„Was für eine Scheiße, ey! Bekommen eigentlich Leute nur Kinder, damit sie die dann drangsalieren können, oder wat? Und grad diese Ätztypen. Mir wär`s echt lieber gewesen meine Mutter wär einfach alleinerziehend geblieben.“ Mir wird bewußt, dass ich mich in Rage rede. Schnell reiße ich mich wieder zusammen, verdränge das heißrote Gefühl in mir. Ich hasse es, wenn die Emotionen mich übernehmen und ich anfange so private Sachen auszuquatschen.

„Nervt echt. Aber ... grad weiß ick och gar nich wie`s weiter gehen soll für mich.“

Ich gehe hinüber zu Dirk, der wie ein Häufchen Elend hinter seinem Schlagzeug sitzt, lege ihm eine Hand auf die Schulter. „Na, wir werden Popstars. So wie de es geplant hast. So geht dit weiter für uns beede.“

Ich seh, dass er nicht schmunzeln und stattdessen lieber seine schlechte Laune weiter kultivieren will, aber dann kann er sich das Lächeln doch nicht verkneifen. Wenn ich ihm das entlocken kann, macht mich das mit glücklich. Vielleicht so wie andere das beim Fußball spielen haben, wenn sie für ihr Team `n Tor schießen.

„Tja, wer`n wir dann wohl sehen, wa? Wird uns wohl och nüscht andres übrig bleiben, als berühmt zu werden. Wenn ick keene Arbeit finde, dann heißt es Tschüss im Hotel Mutti.“ Seine Mundwinkel ziehen sich wieder nach unten.

Ich hasse es, wenn Dirk so niedergeschlagen aussieht, vermisse seine euphorisch vorgetragenen crazy Ideen. Um das Schmunzeln wieder hervor zu holen, setze ich mein schönstes Grinsen auf. „Weeßte wat? Wir hauen einfach ab.“

„Haste `ne Rad ab?

„Nee. Alle noch dran. Ick meen, wenn de weg bist, dann sehen se erstma wie sehr se dich vermissen. Ick meen dit bierernst.“

„Wenn du schon Bier sagst ... Dit is doch Quatsch. Abhauen? Ick bin volljährig.“

„Einfach um `n Zeichen zu setzen!“ Ich gehe hinüber zu meinen Gitarrenkoffer und heb ihn hoch. Wir müssen wirklich los. „Ick kann mir nüscht besseret vorstellen, als nicht zu Hause sein.“ Der Seufzer, der mir entkommt, ist viel zu tief, viel zu ernst, aber ich kann ihn nicht mehr einfangen. Genervt fahr ich mir durch die strubbeligen Haare.

„Mhmmm. Ja, schon, aber ... Ick weeß nich. Dies gibt doch nur den totalen Aufriß.“ Dirk sieht mich nachdenklich an.

„Willste denn gar nich weg von Zuhause?“ Spürt er das denn nicht? Wir sind doch sonst auf einer Wellenlänge. „Ick will seit Jahren nur raus aus dem Käfig. Also, jetz nich direkt weg von Muttern und Julchen, aber ... halt von Arschloch-Gerd.“

Alles in mir funkelt zornig. Ich schließe die Augen, um mich wieder unter Kontrolle zu bringen. „Die Ferien fangen och erst in `nem Monat an. Ick erstick noch, wenn ... Wir müssen ja nich wirklich direkt weglaufen. Lass uns einfach raus fahren ins Grüne. Ick kenn da `ne schöne Ecke unten an der Havel.“ Etwas Bittendes schleicht sich unter das Adrenalingepumpe in mir. „Biste dabei?“

Dirk mustert mich, dann nickt er langsam.

„Super.“ Auf einmal habe ich seinen Körper um mich geschlungen. Hab ich ihn umarmt? Oder er mich? Egal. Er ist dabei. „Dit wird super. Ick pack mein Zelt und zwee Schlafsäcke ein und dann fahrn wir gleich am Freitag mittag los, wenn ick aus der Schule komm. Und jetze müssen wir ma ganz fix los zum Bus, sonst muss ich wieder bei dir übernachten.“ Ich versuche es wie eine Drohung klingen zu lassen, aber er sieht mich mit einem unerwartet warmen Ausdruck an.

~ * ~


Ecky hat sich nach der Schule mit ein paar Freund*innen für das Strandbad in Lübars verabredet. Eigentlich hätte ich auch dabei sein sollen, aber ich will unbedingt den Ausflug mit Dirk machen.

So richtig gut findet Ecky meine neue Band-Leidenschaft wohl nicht, aber er macht mir auch keinen Stress deswegen. Er ist einfach nicht so der eifersüchtige Typ und findet immer einen positiven Blick auf alle Gegebenheiten. Er hat mir sogar sein Moped geliehen für das Wochenende und seinen Schlafsack.

Der Gepäckträger ist vollkommen überladen mit den ganzen Campingsachen. Als ich es endlich von Frohnau nach Spandau geschafft habe, ist es bereits Nachmittag.

Dirk sitzt in der Seegefelder Straße auf dem Gehsteig in der Sonne. In seiner Lederjacke. Bei 25 ° C. Er hat wirklich eine interessante Art sich anziehen.

„Na, endlich, Alter“, begrüßt er mich halb lachen, halb grollend. „Ick dacht schon, du wolltest nu doch nich mehr mit mir weglaufen.“ Er schnappt sich seinen Rucksack und beäugt den Aufbau auf dem Gepäckträger. „Passt der überhaupt noch drauf?“

Ich bocke das Moped auf und verstaue seine Sachen.

„Sicher, dass dit allet hält?“ Dirks hochgezogene Augenbrauen verschwinden fast in seinen schwarzen Haaren. Die werden auch immer länger.

„Klar.“ Meine Antwort fällt ein wenig zickig aus. Im nächsten Moment tut es mir leid. Aber ich steh echt gar nicht drauf, wenn Leute meine Fähigkeiten anzweifeln. So sicher, wie ich mich gebe, bin ich allerdings auch nicht.

Egal. Ich habe echt Bock auf das Wochenende mit Dirk. Einfach mal woanders sein als im Proberaum und ohne die anderen Kunden.

„Wo is`n da noch Platz für mich?“ Anklagend deutet Dirk auf die Sitzbank.

„Rutsch einfach so nah an mich ran wie de kannst. Dann jeht`s schon.“ Ich reiche ihm den zweiten Helm und er quetscht sich hinter mir auf den Sitz. „Hier.“ Vorsichtig greife ich nach seinem Arm und lege ihn mir um den Bauch. „Halt dich gut fest, ja?“

Ich bin nicht der erfahrenste Fahrer und immer wieder klammert sich Dirk bei einem nicht ganz astreinen Manöver wie ein Äffchen an mir fest. Es ist ein wirklich warmer Junitag heute. Der Fahrtwind kühlt ein wenig, aber dennoch läuft mir der Schweiß hinunter, vor allem am Rücken, da Dirk so auf mir klebt. Bei vielen anderen Leuten wäre mir das absolut zu eng. Mit ihm ist das okay, wie ich mit einem Lächeln feststelle. Wir sind wirklich unterwegs. Mein Grinsen wird noch breiter. Hip-Hip-Hurra!

Als wir endlich aus Spandau raus und über die ätzende Heerstraße geknattert sind, wird der Verkehr ruhiger. Wir fahren an Gatow vorbei, an der riesigen Kaserne des britischen Militär.

Danach fühlt sich Westberlin gar nicht mehr nach Großstadt an. Die Luft ist soviel besser. Nur noch wir verpesten sie mit dem typischen Zweitaktmotor-Gestank.

Der Kladower Damm führt zum Teil an Feldern vorbei, dann durch Wald. In Frohnau ist es ähnlich. Einer der wenigen Gründe, warum ich über den Umzug dorthin froh war. Ich bin so viel wie möglich einfach draußen im Park oder im Wald, einfach in der Natur. Nur momentan geht es wegen den nervigen Prüfungen nicht. Um so mehr genieße ich diesen Ausflug. Die Juniluft ist angenehm warm auf meiner Haut und es riecht nach Freiheit und Sommer.

Vor uns fahren ein paar junge Frauen auf Rädern. Ich überhole sie vorsichtig und sie winken uns zu. Ja! Genau so hab ich mir das vorgestellt.

„Allet jut bei dir?“, brüll ich gegen das Geknatter des Motors und den Fahrtwind nach hinten.

Dirk presst sich an mich, drückt mich einmal mit seinen Armen um meinen Bauch.

Mein Lächeln wird mit jedem Kilometer, mit dem wir Frohnau und Spandau hinter uns lassen, breiter. Eine tiefe, warme Zufriedenheit breitet sich in meinem Bauch aus, das Gefühl von "alles machen können". Wir fahren durch eine Allee Richtung Süden, der Sonne entgegen und mein Herz singt und will weiter, einfach immer weiter fahren.

„Halt! Grenzgebiet!“ Ein weißes Schild mit einem roten Rand. In Westberlin gibt es kein Endloses weiter. Ich bremse und lasse den Motor im Leerlauf daddeln.

„Ey, wie weit willste denn noch?“, ruft Dirk von hinten.

„Na, ick wollt noch weiter bis zur Mauer fahrn.“

„Echt jetze?“ Aus den Augenwinkeln kann ich Dirks große Augen sehen. „Is dit nich `n bisschen gefährlich?“

„Doch nich von unserer Seite.“

„Okay“, seufzt er. „Wie immer, Herr Reiseleiter, befehlen.“ Er salutiert halbherzig hinter mir.

„Is spannend da. Wirst schon sehen.“

„Genau dit befürcht ich ja.“

Am Schild „Achtung Zonengrenze“ parke ich das vollgepackte Moped an der Straße hinter dichten Büschen.

„Hier lang.“

„Warste denn schon mal hier?“

„Ja. Mit Ecky.“

„Aha.“

„Schon lange her. Da waren wir so 12 und sind mit seiner Mutter zum Baden her gefahren. Wir haben uns an die Wachtürme angeschlichen und so getan als wären wir Spione.“

„Dit willste jetz aber nich machen, oder?“

„Jetz mach dir doch nich so `n Kopp. Wir sin doch keene Ossis.“

Er schüttelt den Kopf. „Dit muss echt so krass sein. Warste schon mal drüben?“

„Nee. Nur durchgefahren. Transitstrecke. Sollten wir echt ma tun. Rüber machen nach Ostberlin.“

„Jo. Da bin ich auf jeden dabei.“ Er schlägt auf seinen Arm. „Da jibt`s bestimmt och weniger Ungeziefer als hier im Dschungel.“ Er weist auf den kleinen Trampelpfad vor uns. „Nach Ihnen, James Cook!“

Ich muss grinsen. „Na, ick gloob, da wär ick lieber Marco Polo gewesen. So lange hätt ick`s nich auf `nem Schiff ausgehalten. Dit wär ja noch enger als Westberlin.“

Nach ein paar hundert Metern durch den Wald stoßen wir auf den bekannten, trostlosen Anblick von grauen Betonteilen, die eine endlos lange Mauer bilden.

Dirk bleibt im Schatten der Bäume stehen und sieht ängstlich hinüber zum Wachturm. „Biste sicher, dass die nich schießen?“  

Hinter den Fenstern kann ich zwei Silhouetten erkennen. Grenzer. Einer scheint nach etwas zu greifen. Ein Fernglas? Widerwillen steigt in mir hoch. Ich lass mich doch nicht von so Scheiß-Uniformierten einschüchtern.

„Quatsch. Nu komm, Felse. Wir können ja in die andere Richtung gehen.“

Langsam folgt mir Dirk. Wir laufen auf dem unbefestigten Weg an dem Bauwerk entlang, weg von den DDR-Grenzern.

In Kreuzberg und Frohnau bin ich an das Alltägliche der Mauer gewohnt, sehe sie zum Teil gar nicht mehr. Hier im Wald wirkt es einfach nur noch absurd.

Wenn ich könnte, würde ich ein Lied darüber schreiben, aber es erscheint mir gefährlich. Nicht weil ich dann wahrscheinlich auf einer Liste mit unerwünschten Personen landen würde und sich meine Idee mal den Osten zu besuchen, damit erledigt hätte, sondern weil ich es nicht schaffe, es in Wort zu fassen: dieses Gefühl in Freiheit zu sein und dennoch eingesperrt.

Meine Mutter ist aus Westdeutschland, aber für echte Berliner*innen hat das Roulette, in welchem Teil man am Ende des zweiten Weltkriegs wohnte, oft über das ganze Leben bestimmt.

Einfach nur hinüber zu sehen, auf die gleichen Baumwipfel zu blicken, die auch auf unserer Seite stehen ist, als würde sich ein Abgrund auftun. Als wäre die Natur, der reine Boden durchtränkt von politischer Ungerechtigkeit. Mir wird ein wenig schwindelig. Was für eine menschliche Abartigkeit.

„Hey, wollen wir zurück?“ Dirk zupft an meinem Arm. Es ist wie in einen Spiegel zu blicken. Er sieht genauso angekotzt und nachdenklich aus wie ich. Aber da ist auch noch etwas anderes. „Mich macht dit echt depressiv.“

Ich nicke. „Ja. Lass uns was anderet machen. Haste Lust noch in die Havel zuspringen?“

„Ma sehn.“ Er klatscht mit beiden Händen nach einer Mücke. „Mistviecher. Immerhin kommen se nich durch die Lederjacke. Also, `ne Dusche wär mir lieber.“

„Ach komm. Es ist Sommer. Dit Wasser is total erfrischend. Ick muss mir uf jeden Fall den Schweiß und den Staub abwaschen.“

Wir gehen zurück zum Moped und ich biege von der Straße ab, direkt auf einen Waldweg, der hinunter an die Havel führt. Wir brettern über eine Wurzel, kommen ins Schlingern auf dem weichen Sandboden. Vorsichtig steuer ich gegen. Vor uns fliegt empört krächzend ein Vogel aus dem Dickicht des Waldes.

Den Rest des Weges hinunter zur Havel schiebe ich das Moped.

Skeptisch betrachtet Dirk das Schild am Ufer. „Warning! End of British Sector. You are forbidden to proceed beyond this point“, liest er leicht stockend vor. Mir wird bewusst, dass er nicht ganz so lange Englisch lernen konnte auf der Schule wie ich. Dafür hat er schon eine Ausbildung.

Dirk stellt sich ans Ufer und spukt in Richtung eines weiteren Schildes im Wasser aus. „Mann, ick hab schon kapiert, dass ick hier einjesperrt bin. Noch eene Warnung und ick kotz.“

„Wer als erstes drin ist“, ruf ich ihm zu und schäle mich blitzschnell aus meinen abgeschnittenen Jeans und dem verschwitzten T-Shirt. Und ich hab mich nicht getäuscht. Ohne Wettbewerb hätt ich meinen lieben Freund wahrscheinlich `ne geschlagene Stunde zuquatschen müssen, bevor er reinspringt. Zufrieden mit meiner Taktik, lass ich Felse sogar überholen.

Mit lautem Gebrüll schmeißt er sich in die Havel, dass das Wasser nur so nach allen Seiten spritzt. Als er wieder auftaucht liegen seine sonst hochgestylten Haare platt an seinem Kopf, was sehr ungewohnt, aber auch irgenwie süß aussieht. Allerdings hab ich keinen Bock, dass meinen Haaren das gleiche Schicksal wiederfährt. Deswegen gehe ich ein paar Meter entfernt von Dirk ins Wasser.

War natürlich ein Fehler. Jetzt ist Dirks Jagdinstinkt erst so richtig geweckt. Er formt mit seinen Händen ein Dreieck und kommt mit lautem „Daaa-Dum! Daaa-Dum!“ auf mich zu. Sein Grinsen ist definitiv fetter und dreckiger als das des Weißen Hais.

„Tja, Schätzchen, ick würd mal sagen bis eben war et noch `n echt schöner Tag hier an der kalifornischen Küste. Oder sollte ick sagen: Hai-Alarm am Wannsee?“

Ick deute hinüber zum anderen Ufer. „Der Wannsee ist da drüben, du Geographie-Nulpe!“

Dirk ist nur noch ein paar Meter von mir entfernt. Mit einem Sprung schmeißt er sich ins Wasser und ist verschwunden. Die Havel ist so grün, dass ich ihn unter der Oberfläche nicht erkennen kann. Etwas packt mich am Fuß und ich kreische auf. Im nächsten Moment werde ich unter Wasser gezogen.

Als ich prustend und spuckend wieder hoch komme, hat sich Dirk schon in Sicherheit gebracht. In falsche Sicherheit wie er gleich bemerken wird. Mit meinen langen Beinen bin ich ihm auch im Wasser überlegen. Ich reiße ihn an der Schulter herum und schmeiße mich auf ihn. Er ist glitschig wie ein Aal, aber schließlich schaffe ich es ihn unter Wasser zu drücken.

Auf einmal spüre ich Hände an meinen Beinen. Die Hände wandern nach oben, an meinen Hintern, an meine Taille und im nächsten Moment hat Dirk meine Unterhose hinunter gezogen. Als er auftaucht, lacht er so, dass er sich komplett verschluckt.

„Du Arsch!“ Schnell ziehe ich die Hose wieder hoch, was gar nicht so einfach ist. In nassem Zustand klebt die einfach nur an der Haut. „Na, warte.“

Mit einem Quietschen bringt sich Dirk halb schwimmend, halb laufend aus der Reichweite meiner langen Arme. Nicht schnell genug. Dieses Mal gehen wir beide unter. Er zappelt in meinen Armen, seine Haut ist so glatt und schlüpfrig, dass ich ihn kaum halten kann. Dann geht mir die Luft aus. Ich schieße aus dem Wasser und atme hektisch ein.  

„Frieden.“ Dirk wedelt vollkommen außer Atem vor mir mit einer imaginären Fahne. Wasser tropft aus seinen schwarzen Haaren. Ich bin wirklich sehr versucht eine dritte Runde mit ihm zu drehen. Es fühlt sich einfach zu gut an, aber er steht so bedröppelt da, dass ich es nicht kann.

„Ey, sorry, Jan. Ick muss raus.“

„Was? Der weiße Hai gibt schon auf?“ Echtes Bedauern macht sich in mir breit. Aber seine Lippen sind schon leicht blau, Gänsehaut überzieht seinen ganzen Körper. Zum ersten Mal sehe ich ihn bewußt mit nacktem Oberkörper. Ich bin ja auch ein ganz schön dünner Hering, aber Dirk ist fast beunruhigend dünn. Kein Wunder, dass er so schnell friert im Wasser, sogar an einem sonnigen Juninachmittag.

Die Arme um seinen Oberkörper geschlungen, watet er aus dem Wasser und ich hinterher.

„Ick hab gar keen Handtuch dabei.“

„Hier kannst meins haben.“ Ich wühle in meinem Rucksack und schmeiße es ihm rüber. „`N zweites Paar Unterhosen haste ja hoffentlich eingepackt.“

„Für wen hältste mich denn, ey?“

Er holt sie aus seinem Rucksack und ich drehe mich weg, als er sich umzieht, schüttel meine Haare aus. Tropfen fliegen in alle Richtungen. Schnell schlüpfe ich aus meiner nassen Hose und in eine trockene. Auf mehr Klamotten hab ich bei dem schönen Wetter keinen Bock.

Aus meinem Rucksack ziehe ich meinen Schlafsack raus und breite ihn für uns aus. Heller Sand, wahrscheinlich noch aus Sizilien, rieselt heraus. Fernweh zieht brutal an meinem Herzen. Wenn diese Scheißmauer nicht da stände, wäre ich wirklich einfach weiter gefahren, hätte Dirk einfach entführt.

Ich mach es mir auf dem Schlafsack gemütlich und klopfe einladend neben mich. Wassertropfen laufen aus Dirks Haaren über seinen Rücken. Er ist viel weißer als ich, seine Haut sieht aus wie eine Mamorstatue. Schön irgendwie. Ich bin dagegen total braun vom ständigen draußen sein. Wir sind schon ein witziges Paar. Er weißer Körper, schwarze Haare. Ich blonde Haare und braungebrannt.  

„Was warmes zu Essen wäre jetze echt der Himmel auf Erden“, seufzt er neben mir.

„Soll ich uns ein paar Nudeln machen?“

„Echt?“ Sein Gesicht leuchtet so auf, dass es fast schon komisch ist.

Ich stelle den kleinen Gaskocher auf und schütte aus dem Kanister Wasser in einen Topf.  

Nach dem Essen wäscht Dirk seinen Teller in der Havel und lässt sich wieder neben mich fallen. „Dit war`n die besten Nudeln, die ich jemals in meinem janzen Leben gegessen hab.“

Ich atme auf, hatte echt Angst, dass er keinen Gefallen an diesem Abenteuer findet. Gerade sieht er einfach zufrieden aus und schlägt auch viel vergnügter nach den Mücken.

„Hey, Felse. Ick muss noch `n bisschen für die Prüfung am Donnerstag lernen.“

„Ach, ja. Manchmal vergess ich, dass du ja noch `n Pennäler bist. Wat musste denn lernen?“

„Ich hab mir den Vergleich zwischen „Brave New World“ und „1984“ ausgesucht.“

„Uuuuh. Sehr dystopisch. Aber spannend. Interessante Lektüre, mein Freund. Willste mit deinen Lehrer*innen die orgy porgy Szene diskutieren?“

Darüber hatte ich noch gar nicht nachgedacht. „Wohl eher nich. Eher so die Kontrolle, die der Staat auf die Leute ausübt.“

„Ick bin echt froh, dass wir keen Soma haben. Ick gloob, da würd ich voll druf abgehen. Reicht schon, wenn ick öfter mal zu viel trink. Aber die Feelies, dit wär echt wat für mich. Pornos mit Berührung. Voll geil.“

„Du magst das echt, nee?"

„Pornos? Klar."

„Ich meinte eher so generell - Rausch?“

Er überlegt – lange, blickt auf die Havel hinaus, die jetzt golden in der Abendsonne schimmert. „Also, wat is nu mit deinen Hausaufgaben. Wenn`s dir hilft, kannste die mir gerne erklären.“

Ich betrachte ihn nachdenklich, nicke dann. „Okay. Dit wär echt gut, denn es is `ne mündliche Prüfung.“ Ich ziehe die losen Notizzettel aus „1984“ und konzentriere mich auf das was ich bisher herausanalysiert habe. Also: What are the differences and similarities between the books? The four themes I would like to compare are Totalitarianism and Propaganda, Identity and Loyalty, Poverty versus Wealth and Technology."

„Okay, also, du kannst gerne weiter erzählen, aber ick muss gestehen, dass ick nur ungefähr die Hälfte kapier.“

„Oh. Sorry, ich wollte nich ...“

„Nee. Mach weiter. Is doch cool. Kann ick mein Englisch verbessern. Ick hätt schon och gern Abitur gemacht. Aber ging halt nich wegen der Kohle.“ Er sieht so traurig aus, dass ich ihn am liebsten in den Arm nehmen würde.  

„Das ist echt ... übel. Tut mir leid.“

„Schon okay. Hab`s verkraftet. Komm, mach ma weiter mit deinen Dystopien.“

„Wirklich?“ Er nickt. „Okay. So in Brave New World, the people are controlled by the government through happiness via the drug Soma.“

Ich würde mit ihm echt gerne über Soma diskutieren, aber das Thema fühlt sich sehr nach Glatteis an. Natürlich hab ich schon ein paar Mal mitbekommen, wie er sich nach Konzerten voll laufen lässt. Und ich bin kein Fan. Eigentlich würde ich wirklich gerne mit ihm feiern, das langsame Abklingen des Bühnenadrenalin zusammen genießen, aber meistens wird es mir dann ab einem bestimmten Punkt zu krass und ich muss mich zurück ziehen.

Immerhin singen wir nicht die typischen Sauflieder. Das könnte ich gar nicht.

Mitten in meinem eigenen Gelaber streift mich ein kleiner Geistesblitz. Ich kenn das schon. Es fängt mit einem Wort im Hintergrund meines Hirns an, dass sich dann penetrant immer mehr in der Vordergrund schiebt, weil es unbedingt ein Songtext werden möchte.

Schnell nehme ich einen Stift. Da ich es nicht auf einen losen Zettel kritzeln will, den ich dann verlier, kritzel ich es hinten auf den inneren Umschlag von Brave New World.

Dirk kniet sich neben mich. „Wat schreibste denn da?“

Ich kann nicht antworten, muss erst die letzten Zeilen niederschreiben, die mir mein Hirn diktiert. Dirk liest mit und beginnt dann haltlos zu lachen. Zuerst denke ich, weil er sie albern findet, aber dann klopft er mir auf die Schulter.


Du trinkst Whiskey, er trinkt Bier,
Ich trink Vollmilch, Ich trink Vollmilch
Du bist ein Punkrocker, doch das passt nicht zu mir
Denn ich trink Vollmilch, Ich trink Vollmilch


„Dit is grandios, Jan. Das muss unbedingt ein Lied werden.“


Langsam wird es kühl. Ich schlüpfe in meine Jeans und einen Kapuzenpulli. Es müsste jetzt so 21 Uhr sein. Die Sonne ist schon längst hinter den Baumwimpfeln verschwunden, um ihre Reise um die Erde anzutreten.

Es wird Zeit das Lager herzurichten. Mit geübten Griffen baue ich das orange Zelt auf, das Ecky und mir in der Vergangenheit schon gute Dienste geleistet hat.

Dirk scheint weniger überzeugt. Mißtrauisch beäugt er es. „Also, ick weeß nicht. So theoretisch is Camping ja schon `ne coole Idee, aber ... Is dit nich `n bisschen kleen für uns beide?“

„Da passen wir schon rein. Bei Ecky und mir geht`s ja och. Aber ... wenn de wieder heim willst, dann sach einfach und wir drehen wieder um.“ Meine Worte klingen `n Tick herausfordernd. Und verfehlen ihre Wirkung nicht.

„Nee. Schon gut. War eigentlich echt schön bisher.“ Er haut sich auf die Wange. „Au. Diese Drecksmücken. Also, wat ick sagen wollte: bisher war`s echt schön. Außerdem ...“ Er beugt sich zu mir hinunter. „Außerdem verbring ich echt gern Zeit mit dir, Jan.“

Ich habe so lange gewerkelt, um es gemütlich zu machen, dass es auf einmal richtig dunkel ist.

„Sach ma, könn wir nich `n kleines Feuerchen anmachen? So Cowboystyle.“

„Wär echt schön, aber leider zu gefährlich hier. Also, nich nur wegen Waldbrand, sondern auch wegen den DDR-Grenzern und den Leute vom Bundesgrenzschutz. Die patroullieren hier mit Booten. Haste Schiß im Dunkeln?“ Es kommt etwas zu neckend heraus, dabei habe ich es ernst gemeint.

„Nee. Nich wirklich. Also, zumindest in der Stadt nich. Kennst mich doch.“

Tu ich das? Wir kennen uns ein knappes Jahr.

„Ick bin voll die Nachteule“, lacht er. Seine Zähne schimmern weiß in der Dunkelheit.

Stimmt. Zumindest aus seinen Erzählungen hab ich das mitbekommen.

„Is halt schon `n bisschen kalt.“

„Wir können uns ja in die Schlafsäcke legen. Is wärmer.“

„Okay.“ Dirk klettert in das Zelt, sucht mit den Händen im Dunkeln nach etwas. Ich quetsche mich hinter ihm hinein. So sehr ich zelten liebe, aber Dirk hat schon nicht ganz unrecht. Der Innenraum ist nicht für Menschen meiner Größe gemacht. Ich stoße als erstes fast die Haltestange am Eingang um, dann mit Dirks Kopf zusammen. „Sorry.“

Es dauert bis wir uns beide in unsere Schlafsäcke geschält haben. Wir liegen mit dem Kopf am Zeltausgang und sehen in den Himmel über uns. Es ist seltsam. Der Schlafsack neben mir riecht so typisch nach Ecky. Ein Geruch, den ich sofort mit Italien verbinde. Aber jetzt weht eben der Geruch nach Dirk zu mir. Ein bisschen Zigarettenrauch und noch ganz leicht sein Deo und sein typischer Eigengeruch, der mich immer an Dunkelheit erinnert, schöne Dunkelheit wie die Nacht, sowie jetzt.

Ich sehe nach oben. „Oh, schau mal. Die Sterne. Schön.“

„Wo denn? Ick seh die Sterne vor lauter Bäumen nich.“

„Da, du Schmalspur-Romantiker.“ Ich deute mit meinem Arm auf eine Lücke zwischen den Baumwipfeln.

„Witzig. Es ist stockdunkel hier. Ick seh gar nüscht.“

Ich rutsche ein Stück zu ihm hinüber, drehe seinen Kopf so, dass er in die richtige Richtung zeigt. „Da. Ick kann sogar die Plejaden sehen.“

„Kenn ich nich.“

„Oh, du armes Stadtkind.“

„Mann. Biste doch och!“

„Schon, aber ick war auch viel unterwegs. In Sizilien war es am Strand ein Mal so dunkel, dass Ecky und ich die Sternbilder och nich mehr finden konnten. Stell dir einfach vor, als wär es ein Negativ: Die dunklen Stelle jefüllt mit Sternen und die Sterne dit Dunkle.“  

Hu-Huuuuuu!

Bela zuckt zusammen. „Und wat war dit nu wieder?“

Ich mag Dirks große Klappe wirklich gern. Endlich mal jemand mit dem man sich verbal die Bälle zuwerfen kann. Aber gerade finde ich es auch ganz charmant, dass er, der sich gerne damit brüstet lauter verbotene Filme wie „Tanz der Teufel“ oder „Gesichter des Todes“ zu sehen, sich ein Stück näher an mich schiebt. Die Wärme seines Gesichts strahlt jetzt auf meine Wange.  

„Kennste keen Käuzchen? Ich dachte, du stehst uf so Gruselsachen.“

„Ah. Echt? Cool. Hoffentlich macht et nochmal dit Geräusch. Hab mich nur kurz erschreckt. ... Jan, meinste hier jibts och Wölfe?“

„Aaaaa-Uuuuuuuuuuu! Meinste solche?“

„Bist de irre?“ Ich kann sogar im Dunkeln spüren wie groß Dirks Augen werden. „Damit lockst du se bestimmt an.“

Aggressives Gebell lässt uns beide zusammenfahren. Der gleisende Lichtkegel eines Flutlichts durchschneidet mehrmals die Dunkelheit.

„Scheiße.“ Dirk sieht im plötzlichen Lichtschein viel zu erschrocken an. „Ick hasse Hunde.“ Jetzt drängt  er sich wirklich an mich. „Meinste die suchen uns?“

Mein Herz klopft auch etwas zu schnell, aber ich hatte schon schwierigere Situationen auf meinen Reisen. Auf einmal finde ich die Mauer doch nicht so schlecht, empfinde sie fast wie einen Schutz. „Vor denen brauchste keene Angst zu haben. Die kommen nich hier rüber. Wildschweine wären `n allerdings `n Problem.“

„Na, toll!“, murmelt er.

Ich würde ihm so gerne einen Teil meiner Urlaubseuphorie schenken. Obwohl es gerade etwas stressig ist, hab ich mich seit Wochen, seit Sizilien letzten Sommer nicht mehr so wohl und - Zuhause gefühlt.

„Quatsch.“ Ich geb meiner Stimme eine Extraportion Zuversicht. „Brauchst nich flüstern. Dit is wahrscheinlich nur so `n typischer Fehlalarm der paranoiden Grenzer. Passiert, wenn man denkt, dass man Leute unbedingt einsperren muss. Hätt ick vielleicht besser nich machen soll`n meine Wolfimitiation.“

Der Spuk mit Flutlicht-Leuchtturm und Gekläffe dauert noch zwei weitere anstrengende Minuten. Dann ist wieder alles ruhig. Seltsam ruhig nach dem Gelärme.

Als es endlich wieder dunkel ist und ich nach oben sehe, ziehen immer mehr Wolken an einer dünnen Mondsichel vorbei, werden dichter, dann sind Mond und Sterne komplett verschwunden.

Ein leises Geräusch auf der Zeltwand über uns wird immer lauter. Jetzt kann ich das leise Rauschen auch in den Bäumen und auf dem Boden neben uns hören.

„Oh! Mist. Ick gloob, es regnet!“ Ick schieb mich neben Dirk, der etwas vor sich hingrummelt, ein Stück zurück ins Zelt.

„Och menno! Also, dit janze Unternehmen zeigt mir nur wie schön so `ne Wohnung und `n Bett is.“

„Ist doch jemütlich!“ Ich fühl mich hier im Wald trotz Grenzern und Hunden und Wildschweinen wesentlich wohler als Zuhause.

„Findste?“

„Ja. Ich mag es einfach draußen zu sein. Fühlt sich doch viel mehr nach Abenteuer an, als langweilig im Kinderzimmer zu pennen.“

„Also, wärmer is et da aber schon.“

„Ja. ... Vielleicht.“ Es tut mir fast körperlich weh, dass wir über dieses Thema keinen Konsens zu finden scheinen.

„Deine Alten lassen dir aber auch echt viel Freiheit!“

„Ähm, ... ja, schon.“ Hört sich Dirk neidisch an? Den eigentlichen Grund verrat ich lieber nicht. Einmal hat Dirk bei einem unserer nächtlichen Gespräche an der Bushaltestelle schon ziemlich konkret nachgefragt, wie das so ist mit Gerd. Sein besorgtes Interesse hat mich echt gerührt, aber was hilft es denn.

„Ick dürfte niemals so die janzen Sommerferien lang eenfach nach Italien verduften.“

„Ja. ... Das ist schon echt jut. Sie vertrauen mir halt. Willste mal mitkommen?“ Wäre bestimmt interessant mal länger mit ihm unterwegs zu sein, als immer nur für die Bandprobe und Konzerte. „Ick kann dir echt `n paar schöne Plätze zeigen am Mittelmeer.“

„Weeß nich. Außerdem haste doch Ecky für deine Urlaube.“

„Ja, aber du kannst doch auch mitfahren. Auf Friedhöfen übernachten, sollte doch voll dein Ding sein.“

„Und da heißt es immer, ick wär der Verrückte. Du bist echt crazy, Jan Vetter!“

„Vielleicht `n bisschen.“

„Ick muss übrigens morjen abend wieder aufhören mit abhauen.“

„Wieso `n dit?“

„Na, weil ick `n Date hab.“

„... Ähm, okay. ... Wusst ick nich.“

„Ja, sorry. War ganz spontan. Du kennst doch Moni?“

„Ja. ... Schön, also, ick mein, schön für dich.“

„Find ick och. Außerdem wäre et wieder mal janz angenehm von jemandem flachgelegt zu werden.“

„... Oh. ... Okay.“

„Findste nich?“

„Ähm, vielleicht. Ick ... ick hab noch nie mit jemandem geschlafen.“

„Echt? Warste nicht mit dieser Angelika aus deiner Schule zusammen die letzten Monate?“

„Ja, schon, aber ... nich so. Außerdem hab ick vor `n paar Wochen Schluß gemacht.“

„Oh. Wußt ich gar nich. Weil sie nich wollte?“

„Nee. Quatsch. Deswegen doch nich. Ick ... Hat sich irgendwie nich mehr richtig angefühlt. Mein Herz war da nich mehr so dabei. Außerdem hatt ick mich in jemand anderet verknallt. Aber dit hat nich geklappt.“

„Tut mir leid, Mann. Aber man kann doch och ohne ... Also, ick muss nich unbedingt verliebt sein um ein Techtelmechtel zu haben. Sex is einfach zu geil dafür. Also, Wichsen ist auch super, aber so zusammen mit jemand. Mhmm.“ Seine Stimme wird immer tiefer, zwischen verträumt und angetörnt und trifft mich seltsam im Bauch.

Danach ist es lange Minuten still zwischen uns. Er liegt immer noch ganz nah bei mir, so dass ich jeden Atemzug auf meinem Unterarm fühle. Dennoch scheint er auf einmal viel weiter weg. „Sollen wir schlafen?“

„Biste denn müde?“

Ich gähne und hoffe, dass er nicht merkt, dass es nicht echt ist. „Jaaaaa. Schooon.“

„Okay. Na, denn.“ Dirk rutscht hinüber auf seine Seite und hinterlässt einen leeren, kalten Fleck neben mir. „Dann schlaf gut, Marco Polo!“


~ * ~



Ein lautes Grollen weckt mich. Totale Dunkelheit. Dann schießt ein Lichtstrahl durch das Zelt. Bevor ich versteh, was los ist, setzt der Urinstinkt ein, jagt das Adrenalin wie eine Flutwelle durch meinen Körper.

Der nächste Donner. Ich zähle. Bei 20 erhellt der Blitz die Dunkelheit. Ein visueller Schock. Wie versteinert liege ich in meinem Schlafsack, schaffe es nicht mal meinen Kopf zu drehen. Schläft Dirk durch dieses Getöse? Darf ich ihn wecken?

Der Wind drückt die Zeltwand dicht über mein Gesicht. Ich bin echt ein miserabler Reiseplaner. Warum hab ich denn nicht die Wettervorhersage gecheckt?

Die ersten dicken Tropfen knallen gegen die Leinwand. Hoffentlich hält das Zelt.

Der nächste Donner. Ich zucke hart zusammen. Jetzt rührt sich auch Dirk neben mir.
„Mhmmmrmmmhhh was `n ... Oh, scheiße. Gewitter?“

Ich kann nur nicken, aber wie soll er das sehen. Der nächste Donner. Zählen. 18, als der Blitz den Innenraum erhellt.

„Jan?“ Auf einmal klingt Dirk sehr alamiert. Hat er auch Angst vor Gewitter? „Hey, Jan!“ Dem Geraschel nach macht er etwas mit seinem Schlafsack. Eine Bewegung in der Dunkelheit neben mir. Dirk ist näher als zuvor.

„Ja?“, presse ich so würdevoll wie möglich raus.

„Biste okay?“ Seine Stimme ist ganz nah - über mir.

„Mhmmm.“

„Deine Augen waren riesig, als der Blitz ...“ Er rutscht noch näher und so sehr ich das gut finde, mich danach gesehnt habe, ich will nicht, dass er ...

Seine Seite drückt gegen meine Schulter. „Du zitterst ja total. Hey, wirklich allet okay?“ Hände auf meinem Schlafsack. Jetzt merk ich `s auch. Meine Muskeln sind total steif, aber darunter läuft ein Zittern durch meinen ganzen Körper.

„Ick hab so `n bisschen Angst vor Gewitter.“

„Oh.“ Keine blöden Sprüche, dass der Abenteurer wohl auch Grenzen hat. Einfach nur ein Oh.

„Mhm.“

„Soll`n wir hier abhauen?“

„Jetzt?“ Eigentlich find ich die Idee sehr verlockend, aber in dem Weltuntergang alles zusammenpacken, ist noch schlimmer und wahrscheinlich auch sinnloser als es einfach durch zu stehen. Die dünne Zeltwand gibt mir eine merkwürdige Illusion von Schutz. „Nee. ... Das ist bestimmt gleich vorbei.“

WRRROOOOOOMMM. Der Donner wummert sekundenlang nach. Ich versteife mich komplett unter der Vibration des Halls. Ohne darüber nachzudenken, befreie ich meine Hände aus dem Schlafsack und ziehe Dirk ein Stück weiter an mich. Sein Shirt ist leicht feucht. „Ey, sag mal, regnet`s bei dir drüben rein?“

„Ja. Wollt nüscht sagen, weil de eh schon so genervt bist.“

Dirk löst sich von mir und ich will ihn festhalten, aber da ist er schon wieder zurück. „Dit läuft irgendwo da oben rein. Is schon `ne kleine Lache auf der Isomatte.“

„Ick weeß schon wo“, seufze ich. „Hat ick eigentlich repariert. Ey, tut mir echt leid, das dit so `n Reinfall is.“ Gleisend weißes Licht – überall. Ich zucke böse zusammen. Mann, wie ich das hasse. Als ich klein war, war ich mal bei Gewitter allein in der WG in Moabit und die Blitze waren so nah, dass ich mir sicher war, die können durch die Fenster kommen und mich verbrennen.

„Iiiih“, schreit Dirk auf einmal auf.

Ich schrecke hoch. „Was ist los???“

„Sorry.“ Dirk beugt sich wieder zu mir. „Nass! Ick gloob, der Schlafsack hat auch wat abbekommen.“

„Willste zu mir mit rein?“

„Da passen wir doch nich rin.“

„Haste beim Mantel damals och jesagt. Wir sind doch zwei schmale Hemden.“

„Danke, Alter.“

„War nich bös gemeint. Willste?“ Ich öffne den Reißverschluss ein gutes Stück. Für einen Moment sind wir ein lebendiges Chaos aus Armen und Beinen. Dirks Füße sind eisig an meinen. „Mensch, Alter, sag doch was.“

Wir drehen uns beide auf die Seite. Er kuschelt seinen Rücken an meinen Bauch und ich lege ganz leicht meinen Arm um ihn. Sein T-Shirt ist an einer Stelle auf der Brust nass. Ich fahre vorsichtig mit den Fingern drüber, um zu sehen wie groß der Fleck ist, und er erschaudert. „Wird gleich besser“, flüstere ich in seine Haare.

Wieder schlägt der Blitz auf uns nieder. Impulsiv ziehe ich Dirk fester an mich. Er dreht seinen Kopf ein Stück zu mir. „Nur dit scheiß Gewitter nich, wa?“

Ich nicke gegen seine Schulter. Der nächste Donner hämmert durch meine Knochen. „Sag ma, haste denn gar keene Angst?“

„Icke? Nö“, kommt es nonchalant zurück.

„Ick mein, du hattest heute so viele Sachen, die dich genervt haben, aber jetze wirkste fast fidel über die Tatsache, dass wir hier gleich vom Blitz erschlagen werden.“

„Werden wir nich.“

„Wenn du das sagst?“

„Ick mag Jewitter. Dit knallt einfach so fantastisch und überhaupt die entfesselte Naturgewalt. Dit is einfach geil. Wie `n juter Heavy Metal Song.“

„Na, schön, dass ich dir jetz doch noch `ne Freude machen konnte mit der ganzen Zeltidee.“ Ich komme mir zwar nun noch mehr wie ein Feigling vor - auch wenn ich glaube, er unterschätzt die Gefahr massiv - aber Dirks Zuversicht tut mir gut. Zumindest bis es wieder donnert. Dieser ist so verflochten mit dem Blitz, so nah, dass ich entsetzt aufkeuche.

„Hey, hey, hey.“ Dirk dreht sich zu mir um. „Is okay, Jan!“ Ich kann seinen mitfühlenden Blick sogar durch die Dunkelheit zwischen uns spüren.

„Kannste mich irgendwie ablenken, Felse?“ Gegen meinen Willen höre ich mich sehr kläglich an.

„Ähm, klar. ... Wie denn?“

„Erzähl mir `ne Geschichte. Erzähl von deinen glitzernden Popstarträumen.“

„Jute Idee.“ Der Blitz erleuchtet, wie Dirk sich über mich beugt. Ganz nah an meinem Ohr beginnt er zu erzählen. „Also, beim Einschlafen heute hab ick mir überlegt, dass wir uns vielleicht so Künstlernamen zulegen sollten. Also, weil Dirk ist nu echt nich sehr poppig. Jan mag ich allerdings.“

Ich versuche mich auf seine Worte zu konzentrieren, auf seinen Atem an meinem Ohr.  

„So richtig weit bin ick noch nich mit Ideen. Bin wohl irgendwann eingepennt, obwohl ick uff irgend`nem Stein gelegen hab.“

„Tut mir echt leid.“ Meine Stimme ist leise unter dem auf uns niederprasselnden Regen.

„Allet jut. Also, ick mein, dit is jetz schon echt `n Erlebnis. Vielleicht kann ick deine Faszination für Abenteuer nun `n bisschen besser nachvollziehen. Aber een Mal reicht dann och wieder. Also, ich glaub, ick hab `nen Künstlernamen für mich.“

„Echt?“

„Na, als de dit vorher mit den Gruselsachen gesagt hast ... Dit stimmt schon. Kennste Dracula? Also, den ganz Alten in schwarz-weiß. Der Hauptdarsteller heißt Bela Lugosi. Und da dacht ick: Bela wär doch schön.“

„Bella?“

„Nee, BE-la!“

„Ah.“ Ich lasse den Namen durch mich klingen. „Schön. Echt schön.“

„Ja?“

„Mhmmm. Passt zu dir.“

„Danke. Cool. ... Dann brauchen wir nur noch einen für dich. Willste denn Jan behalten?“

„Weiß nich.“

„Ich mag Jan.“

Eine leichte Berührung an meinen Kopf. Dirks Finger gleiten durch meine Haare. Ich seufze auf, weil es so gut tut, meine Anspannung vertreibt.

„Magste das?“ Dirk hört sich an meinem Ohr fast ein wenig belustigt an. Er streichelt mir nochmal über den Kopf, durch einzelne Strähnen, streicht ganz langsam über meine Haare.

„Die sind ganz weich jetz“, flüstert er mir ins Ohr. „Sonst haste da immer soviel Zeuch drin.“

Seine Hand wandert in meinen Nacken, fährt über die rasierten kurzen Haare dort. Vielleicht will er mich einfach nur trösten, aber das Zittern in mir verändert sich. Mein Körper begreift wohl gar nicht mehr, was los ist, denn er leitet meine Nervosität in ganz andere Bahnen. Auf einmal ist nicht nur die Luft außerhalb des Zelts elektrisch aufgeladen. Etwas vibriert zwischen uns, zwischen Dirk und mir.

Mein Radar nimmt wahr wie er seinen Kopf langsam zu mir hinunter senkt. Seine Nase streift meine Stirn, er gleitet weiter zu meiner Wange, streicht mit kühlen Fingern vorsichtig über mein Gesicht über meine Wangenknochen.

In mir ist alles Aufruhr und Gewitter. Mein Kopf nickt. Ich weiß nicht, ob er es verstanden hat. Ich versteh es ja selbst kaum.

Ein sanfter Kuss auf meine Wange. Ich spüre wie er sich langsam meinem Mund nähert und strecke mich ihm ein Stück entgegen. Seine Lippen treffen meinen Mundwinkel. Er verharrt. Das hätt ich nicht machen sollen. Gleich ist er weg.

„Haste schon mal `nen Jungen geküsst?“, flüstert er über mir.

„Nhnn. Du?“

„Ja.“ Ein leises Lachen. „Schon öfter.“

Mein Kopf kann gerade nicht nachdenken, ob und was das bedeutet.

Er beugt sich wieder über mich, streicht durch meine Haare, flüstert in mein Ohr. „Willste?“

Seine Finger sind kühl, aber seine Lippen sind warm. Er küsst mich leicht auf den Mundwinkel, fährt mit seinen Lippen an meinem Mund entlang, küsst mich auf den andern Mundwinkel, verweilt dort, wartet, als würde er auf mich lauschen, auf meine Reaktion.  

Meine Synapsen feuern auf allen Kanälen, versuchen zu erfassen, was hier gerade passiert. Es ist definitiv nicht das erste Mal, dass mich jemand küsst, aber genau so fühlt es sich an. Mein ganzer Körper kribbelt, durchströmt von Pheromonen und Ungewissheit. Ich will ihn auf mich ziehen, mich an ihn pressen, ich will ...

Dirk verharrt immer noch ganz knapp vor meinem Mund. Ich kann die Hitze seiner Haut auf meinem Gesicht  fühlen. Vorsichtig fährt er mit seiner Zunge über meine geschlossenen Lippen und ich öffne sie mit einem Seufzen. Ja.

Er küsst mich. Zuerst vorsichtig. Seine Hände fahren behutsam über meine Wangen, durch meine Haare. Langsam vertieft er den Kuss, seine Zurückhaltung weicht einer aufmerksamen Konzentration auf mich, die mich noch nervöser werden lässt.

Leise Laute, ein Stöhnen. Ich bin so durcheinander, dass ich nicht weiß, ob ich das bin oder er. Ein weiteres Stöhnen. Sein Kuss wird wilder, gieriger.

Es ist gut, wirbelt wie ein Tornado durch mich, aber es ist so intensiv - zu viel. Etwas wie Panik steigt in mir auf.

Dirk scheint es zu merken. „Biste okay?“ Seine Stimme ist rau. Sein Atem kommt stoßweise.

„Ja. ... Ja, es ist nur ...“

„Magste nich so, hm? Mit `nem Typen?“

„Nee. Das ... Es ist echt schön. ... Aber ich bin echt trotzdem `n bisschen überfordert grad.“

Er brummt etwas Unverständliches, dass aber liebevoll klingt. „Ist total okay. Ick rutsch wohl mal besser wieder rüber.“

„Nee! Nee, bleib hier. Bitte. Also, wenn das für dich okay ist.“

„Gerne." Er streicht mir nochmal durch die Haare, gibt mir einen Kuss auf die Wange.  Er drückt meine Schulter, deutet mir, dass ich mich umdrehen soll.

Ich roll mich auf die andere Seite und Dirk rutscht hinter mich. Das fühlt sich besser an, sicherer, vertrauter. Ich will mich noch ein Stück weiter an ihn kuscheln, aber er hält mich fest.

„Mhmm, das ist vielleicht keen so jute Idee grade. Dit Rumgeknutsche hat ... bei mir doch so `n paar Spuren hinterlassen.“

Oh. Ich kann es selber auch noch spüren, das Pulsieren in mir, das immer noch Mehr will. Warum hab ich es abgebrochen? Es war gut. Verdammt gut.

„Na, denn ... Sollen wir trotzdem versuchen zu schlafen?“

„Mhm.“ Ich drehe mich zu ihm um und küsse ihn auf die Wange, suche seine Lippen, küsse ihn noch einmal lange auf den Mund. „Schlaf gut, Bela.“

„Du auch.“ Ich höre das Lächeln in seiner Stimme.


~ * ~



Etwas kitzelt mich an der Nase. Ich fahre verpennt über mein Gesicht. Vorsichtig öffne ich ein Auge. Im Zelt ist alles in einen orangen Schimmer getaucht, der sich auf Belas schwarze Haare legt. Mehr ist von ihm nicht zu sehen unter dem Schlafsack.

Anscheinend hat sich in der Nacht doch noch an mich gekuschelt, schläft mit einem Arm über meinem Bauch. Seine Morgenlatte schmiegt sich an meinen Rücken. Es ist seltsam, aber nicht unangenehm. Das Gefühl hilft allerdings auch nicht wirklich mit meiner eigenen. Zum Glück schläft er.

Ich würde echt gerne einfach diesen ruhigen Moment, genießen, meine Gedanken über gestern ordnen, aber Dirks Arm liegt schwer auf meinem Bauch, drückt auf meine Blase. Ich muss echt dringend pinkeln. Vorsichtig schlage ich den Schlafsack zurück, winde ich mich aus seiner Umarmung.

Er brummt und zieht unzufrieden für einen Moment das Gesicht kraus, dann dreht er sich auf die andere Seite und pennt einfach weiter. Süß sieht er aus, total unschuldig, obwohl er das ja nicht mehr ist.

Ich verfluche meine Blase und schlüpfe vorsichtig aus dem Schlafsack. Kühl ohne Dirk. Ich decke ihn sorgsam wieder zu und suche im Chaos um uns herum nach meinem Kapuzenpulli.

Vorsichtig ziehe ich den Reißverschluss des Zeltes auf, der ein wenig hakt. Draußen ist alles erfüllt von morgendlichem Sonnenschein. Geblendet krieche ich hinaus, staune mit zusammen gekniffenen Augen in den strahlend blauem Himmel über mir. Als hätte ich den Weltuntergang gestern nur geträumt.

Ich pisse an eine der Kiefern. Dampf steigt in den kühlen Morgen. Dann bin ich mir nicht sicher, was ich machen soll. Mich einfach wieder zu Dirk legen? Ich möchte, aber ... Wird das nicht ein bisschen seltsam nach unserem ... Ja, nach was? Was war das gestern? Rumknutschen? Oder einfach nur ein freundschaftliches Ablenkungsmanöver für mich, den Gewittergestörten?

Nachdenken darüber funktioniert nicht, richtet nur noch mehr Chaos an. Meine Gedanken fliegen in alle Richtungen. Die Gefühle darunter machen es nicht besser. Der sonnige Morgen beginnt seinen Charme zu verlieren. Ich will mich nicht fragen, was das war. Ich will es einfach nur schön finden dürfen. Und das tue ich jetzt auch, beschließe ich.

Vorsichtig krieche ich zurück. Meine Füße sind eisig vom kühlen Morgentau und ich will einfach nur zurück in den warmen Schlafsack – zu Dirk. Der blinzelt mir verschlafen entgegen. Als er mich erkennt, werden seine Augen schlagartig größer. Nein. Ich will nicht, dass wir jetzt beide in so Unsicherheiten stecken bleiben. Dafür war es viel zu schön gestern mit ihm.  

„Hey.“ Ich hebe fragend eine Ecke vom Schlafsack und warte bis er nickt. Ich lege mich zu ihm, sehe ihn an, versuche ein kleines Lächeln und als er es erwidert scheint draußen wieder die Sonne und die Vögel zwitschern und alles ist gut.

„Morgen, Bela“, flüster ich.

Seine Augen werden weit, dann zieht sich ein zufriedenes Lächeln über sein Gesicht. „Moin. Haste – haste gut geschlafen?“ Vorsichtig blickt er mir in die Augen.

„Mhmm.“ Mir fällt nicht mehr ein als ein zufriedenes Brummen. „Du?“

„Ja, bisschen kühl, aber ... War schön hier ... bei dir.“ Seine Augen wandern über mein Gesicht, scheinen jede meiner Regungen zu studieren.

„Fand ich auch.“

„War das okay gestern, ick mein, dass ...“

Ich nicke schnell, will es nicht diskutieren, auseinander nehmen.

Er streicht über meinen Arm. Sofort ist die Stimmung von gestern wieder da und ich weiß nicht, ob ich das kann.

„Du kannst noch weiter pennen, wenn de willst.“

Er schüttelt den Kopf. Seine Hand verschwindet von meinem Arm.  

„Ick hab Kaffee dabei.“

„... Echt? Du trinkst doch gar keinen Kaffee!“

„Ick weeß. Für mich hab ick ja och Pfefferminztee dabei.“

Ein breites Lächeln erscheint auf seinem Gesicht aus, vertreibt alle Unsicherheit, die noch irgendwo in mir versteckt war.

„Mann. Danke, Jan. Dit rührt mich jetz echt." Er wirft mir ein spielerisches Grinsen zu.


„Is doch ganz schön zelten."



*
*





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Lyrics: Glen Campell - Wichita Lineman
Leider finde ich das Interview nicht mehr, in dem Jan sehr liebevoll über dieses Lied redet. Wenn es jemand zufällig kennt, ich würde mich sehr über den Link freuen.

Lyrics: die ärzte - Vollmilch

Lyrics: Bauhaus - Bela Lugosi`s dead

Mauer mit Vorher-Nachher-Effekt

 

*

Chapter 3: 1981 - Weihnachten

Chapter Text

*



* Teenagers in Love *






Ich hab das Rating mal auf P16 erhöht.
Lieder und Bilder farbig unterlegt im Kapitel und am Ende.





1981 - Weihnachten





Senheimer Straße 44, Frohnau



„Du kommst sofort zurück, Junge, und schließt diese Tür nochmal LEISE!!!“

Ich renne den Flur entlang Richtung Treppe. Nur weg von dem Gebrüll, weg von Gerd. Vor lauter Wut vibriert Wasser in meinen Augen, lässt den Flur verschwimmen.

Neben mir geht die Küchentür auf. Ein süßer Duft nach frisch gebackenen Plätzchen weht heraus. Im Türrahmen steht Julchen, sieht mich mit riesigen Augen von unten an. Hinter ihr erscheint meine Mutter ein heißes Backblech balancierend. Ihr genervt-ängstlicher Gesichtsausdruck macht klar, dass ich es wieder richten soll. Wie immer.

Ich bleibe stehen. Mein Kiefer ist total verkrampft, meine Zähne mahlen aufeinander.

„Bitte, Jan!“

In mir kocht glühend heiße Lava und ich will sie nicht nach oben lassen, sie über Julchen spucken. Ich will nicht, dass sie mich so sieht. Als wäre ich wie Gerd. Einfach ein weiteres männliches Arschloch. Ich muss gehen - jetzt sofort.

„Bitte, Jan!“

Die Lava verglüht, lässt nur Asche übrig. Warum tut sie mir das an? Die Wut in mir wird in meinen Augen zu Tränen der Hilflosigkeit. Kein besseres Gefühl.

Ich drehe energisch auf dem Absatz um, gehe zurück zur Wohnzimmertür, lege die Hand auf die Klinke. Ich kann nicht. In meinem Bauch zieht sich alles zusammen bis mein Magen ein großer harter Klotz ist. Niemand gewinnt hier etwas. Wir verlieren nur alle.

Ich sehe zu Julchen, schüttel den Kopf. Sie nickt – begreift, versteht mit ihren gerade mal 12 Jahren. Keine Ahnung, warum ausgerechnet das der Moment ist, in dem das Wasserwerk in mir komplett aufdreht. Ich stürze durch den Flur die Treppe rauf.

Zwei Minuten später höre ich die Treppenstufen knarzen, ein leises Klopfen an meiner Tür.

Ich sitze auf dem Boden vor meinem Bett, antworte nicht, schnappe mir stattdessen meine Gitarre und schlage den gesammelten Frust in die Seiten. Ich will nicht, das mich jemand so sieht, kann jetzt nicht reden.

Der Tür ist das egal. Sie geht mit dem typischen Quietschen trotzdem auf. Ich suche neben dem Bett nach Taschentücher. Natürlich keine da. Die hab ich für was anders gebraucht. Schnell wische ich mir mit dem Ärmel über die Augen. Ich luge zur Tür, hoffe es ist Julia, aber nein – da steht meine Mutter.

„Jan?“ Alt sieht sie aus. Für mich war sie früher – v.F., vor Frohnau oder n.M., nach Moabit – immer wie ein blonder Engel. Wenn sie in die WG kam, haben die Beatles gesungen: Here comes the sun. Habibi haben sie Riadh und Omar genannt, Genossin die anderen in der WG. Jetzt sieht sie aus wie eine typisch frustrierte Hausfrau. Graue Sorgenfalten im Gesicht, weil ich ...

Sie kommt vorsichtig herein, setzt sich langsam auf die Bettkante zu mir. Ich will sie wegstoßen, will das sie mich in die Arme nimmt. Ich halte die Gitarre wie einen Schutzpanzer vor mich, zwischen uns.

„Mensch, Jan!“ Sie legt mir die Hand auf die Schulter. Ein warmer Punkt von Geborgenheit. „Wir lassen dir echt viel Freiheit. Kannst du nicht wenigstens Weihnachten mal der Familie statt der Band den Vorzug geben? Julchen würde sich echt freuen, wenn du heute am Heiligabend nicht einfach wieder abhaust. Und ich auch. Weißt du, Gerd hat nicht komplett Unrecht.“ Ich schüttel ihre Hand ab. Sie seufzt. „Du weißt, ich unterstütze dich, aber ...“

Ich atme tief durch, wünschte ich wäre wieder in Tunesien. In der Wüste. Nur Ecky und ich. Das hat sich so verdammt normal angefühlt im Sommer. Das sollte mein Alltag sein. Nicht dieser explosive Stumpfsinn hier. Mein Atem ist noch nicht wieder auf normal. Ich verrate mich durch das stockende Einatmen, dass exzessivem Rumgeflenne folgt.

„Checkst du denn nicht, dass für mich Weihnachten vielleicht nicht dit Gleiche is wie ...“ Meine Stimme bricht. Scheiße. Ich drehe mein Gesicht von ihr weg.

„Ach, mein Großer.“ Sie rutscht von der Bettkante zu mir hinunter auf den Boden und lehnt sich kurz an mich. „Mach es dir doch nicht immer so schwer.“

Warum versteht sie es nicht? Früher war sie doch auch nicht so. Zumindest in meiner Kindererinnerung von Demos und WG und Hippie-Parties. Die waren mein Weihnachten. Nicht der geheuchelte Spießerscheiß hier. Der macht es mir wirklich schwer.

Ein oranges Zelt taucht vor meinem inneren Auge auf. Der Ausflug mit Bela scheint ewig her zu sein, als wir damals für eine Nacht „weggelaufen“ sind. Wenn man mich in Ruhe lässt und mir Freiraum gibt, dann bin ich der fröhlichste Mensch der Welt. Hier mit ihrem Gerd muss ich immer wieder von neuem beschließen glücklich zu sein, mich zwingen und meistens klappt es nicht mal wirklich. Alles Selbsttäuschung, alles fake. Aber ich weiß keine Alternative. Und das obwohl ich jetzt volljährig bin.

Außer weg. Ich will immer weg. Früher hat es gereicht mit dem Garten hinter`m Haus, manchmal der Park, der Wald. Aber das wirksamste Heilmittel war schon immer seit den Falkencamps - raus aus Deutschland.

„Kannst du das Konzert nicht ausfallen lassen für den Heiligabend? Oder ihr verschiebt es einfach. Die Anderen werden doch bestimmt verstehen, dass du Zeit für deine Familie brauchst.“

Ich fange gar nicht erst an zu erklären. Erkläre nicht, dass mein Familienfest im SO 36 stattfindet, dass die Häuserschlucht in der Oranienstraße unser Christbaum sein wird und das Konzert unsere Weihnachtslieder. Oder einfach gar nicht dieses christliche Fest feiern.

„Ick gloob, die verstehen eher, warum man keine Zeit für die Familie haben will.“ Ich lasse meine Worte so kalt klingen, dass sie ein minimales Stück von mir wegrückt. Augenblicklich tut mir meine Zurückweisung leid. Ich sehe vorsichtig hinüber zu ihr, habe Angst, dass ich sie zum Weinen gebracht habe. Das passiert viel zu oft. Meist ist Gerd der Grund – in Kombination mit mir. Oh, wie ich sie vermisse, das Hippiemädchen, dass sie mal war. Arm, aber mit Prinzipien.

„Ick würd ja bleiben – wegen dir. Und wegen Julchen. Aber warum sollte ich mit diesem Arschloch Weihnachten feiern wollen?“

„Du sollst ihn doch nicht so nennen.“ Die Rüge klingt lustlos. Oder desillusioniert.

„Ick bin 18, Mama. Eigentlich wollt ick schon längst weg sein“, nuschel ich.

„Du willst ausziehen?“ Sie sieht mich geschockt von der Seite an. „Aber wohin denn?“

Für mich steht das seit Jahren fest. Aber vermutlich habe ich ihr das nie so mitgeteilt, gedacht, dass ihr das doch klar sein müsste, so wie es läuft. War es wohl nicht.

„Du hast doch gar kein Geld. Wie willst du denn einen Job neben deinem Studium machen? Du wirst doch studieren, Jan?“ Ihre Stimme bekommt etwas Warnendes. „Du hast versprochen, dass du zum Wintersemester einsteigst.“

Oje. Mein Studium. Das ist auf Platz 2, der Themen über die ich nicht reden will, gleichauf mit „meiner Zukunft“. Platz 1 geht immer noch unangefochten an Gerd.

„Das ist doch Quatsch. Natürlich bleibst du hier. Das ist doch viel billiger.“

Klar. Geld. Die große Trumpfkarte – für immer und alles. Das beste aller Argumente. Aber – ich weiß ja tatsächlich auch nicht, wohin ich ziehen könnte, zerbreche mir schon seit dem Scheißabitur den Kopf darüber. Wohin?


SO 36, Kreuzberg



Ah, ich find solche Abende einfach nur geil. Es ist eisigkalt und es ist scheißegal. Die Oranienstraße ist brechend voll mit coolen Leuten und die Luft vibriert in der Häuserschlucht. Es liegt etwas in der Luft. Ich spüre es in jeder Faser: dies ist eine dieser Nächte. Unberechenbar, schön und gefährlich.

Eine Rakete zischt mit einem ohrenbetäubenden Quietschen quer über die Menschenmenge. Jan zieht den Kopf ein und drückt sich an mich. Tja, Pech, nee, wenn man so groß ist.

Irgendwie sieht er heute nicht gut aus. Sein Grinsen ist eher ein Lächeln und selbst das wirkt falsch. Irgendwas bedrückt ihn. Ich weiß nicht, wie ich es aus ihm herauskitzeln kann. Er ist immer super einsilbig, wenn er in so einer Laune steckt. Außerdem bin ich mir nicht sicher, ob ich es gerade überhaupt wissen will. Schließlich ist heute Auftritt und das sind einfach die geilsten Tage im Jahr, aber verdammt wenige.

Zwei Mädels, wohl schon eher jungen Frauen, schieben sich durch die Menge direkt auf Jan und mich zu.

„Hey! Na ihr! Wie geht`s, wie steht`s?“ Sie hat so schwarz gefärbte Haare wie ich. Den Riesenausschnitt ihres zerrissenen, schwarzen T-Shirts halten nur ein paar kunstvoll arrangierten Sicherheitsnadeln zusammen. Der ist echt zum Reinfallen und sie scheint es nich zu stören, dass ich das auch ziemlich hemmungslos mit meinem Blick tue.

Sie tritt auf mich zu, legt mir lässig einen Arm um die Schulter. „Spielste nich bei Soilent Grün?“ Cool. Das ist exakt einer der Gründe, wozu in einer Band sein gut ist – neben der Musik. Kann ja auch mal in der Reihenfolge Sex, Drugs and Rock `n Roll laufen.

Die Blonde von den Beiden beginnt Jan zu umkreisen. Schlagartig bin ich genervt. „Hey, lass den mal in Ruhe.“

„Wat denn, wat denn?“ Sie grinst mich an, dann wirft sie Jan einen Blick zu, sieht mich dann wieder herausfordernd an. „Is da etwa jemand eifersüchtig?“

„Nee. Aber du kannst gleich mal deene Krallen wieder einfahren. Jan hier ist ...“ Schon vergeben? Quatsch. Hat schlechte Laune? Ich weiß nicht, was ich eigentlich sagen will, außer Pfoten weg!

„...noch Jungmann“, beende ich den Satz. Nicht sehr geschickt. Warum erzähl ich das irgendwelchen dahergelaufenen Weibern? Ich hab ja nicht mal `ne „Besoffen!“-Ausrede dafür. Entschuldigend seh ich zu Jan, der ein wenig rot angelaufen ist, was ihm aber ehrlich gesagt gut steht, besser als die Leidensmiene von vorhin.

Ihr Blick wird schlagartig auch sehr viel interessierter. „Jungmann, wa? Süüüß.“ Sie zieht den Reißverschluss seines Parkas mit einem Ruck auf, öffnet ihn, als würde sie ein Paket auspacken und den Inhalt begutachten.

Sie beißt sich auf die Unterlippe und kratzt mit einem schwarz lackierten Fingernagel über Jans T-Shirt. Er zuckt zusammen. Unter dem verwaschenen Stoff werden seine Brustwarzen hart. Scheint er zu mögen.

Die Blonde wickelt sich halb um ihn. Erinnert mich an `ne Schlange. Böses Zeichen. „Hmm. Du weißt schon, dass sich sowas ändern lässt. Oder, Jaaan?“ Jetzt schnurrt sie wieder. „Vielleicht haste ja Bock auf`n Weihnachtsgeschenk.“ Falsche Tussi, ey!

„Stimmt ja gar nich mehr.“ Jans große Klappe ist ziemlich leise gerade.

Ich trete einen Schritt näher auf ihn zu. „Wie jetze? Ernsthaft?“ Die Blonde hängt immer noch an seiner Seite.

Er zuckt mit den Schultern.

„Warum sachste nichts. Dit wär ja nu wirklich `n Grund zum Feiern gewesen. Aber mit wem denn?“

Jan löst sich von der Blonden, die mich böse ansieht, und zieht mich zur Seite in einen Hauseingang, der heftig nach Pisse stinkt.

„Ick wusst nich, wie ick dit sagen sollte.“

„Also, wann und mit wem jetz?“

„Mit Angelika. Bevor ich im nach Tunesien abgehauen bin.“

„Aber ich dachte, ihr wart nich mehr zusammen.“

„Ja, war`n wir och nich. Aber – naja, du hast ja gesagt, dass man für Sex nich unbedingt verliebt sein muss und so.“

Ich ziehe ihn an seinem Parka ein Stück zu mir.

„Hey, ich verkünd nich dit verfickte Evangelium, klar? Dit passt nich für alle. Du kannst machen, was de willst.“ Jan sieht auf mich hinunter, schirmt mich durch seine Größe komplett vom Chaos auf der Straße ab. Auf einmal bemerke ich, wie nah wir einander sind.

„Ick wollt schon och wissen, wie dit is.", fährt er fort, betrachtet dabei interessiert den Gehsteig.

Ich kann meinen Blick nich von seinen schmalen Lippen lösen. Wie kann man nur so einen riesigen Mund haben? Mir wird komisch heiß und schummerig, als ich an unseren Kuss denke. An unseren abgebrochenen Kuss. Tat echt weh damals, aber danach war er wieder so lieb, dass ich keine Zeit hatte mich schlecht deswegen zu fühlen. Außerdem – Jan ist mein bester Freund. Und das ist doch wichtiger. Oder?

Ich strecke mich ein Stück zu ihm hoch. Sein Atem weht als weiße Fahne in den kühlen Raum zwischen uns. Wie damals an der Bushaltestelle. Ich verlier mich in sinnloser Nostalgie. „Wie ... War`s denn okay?“

Er nickt und dann schleicht sich dieses Janlächeln auf seine Lippen, dass ich da irgendwie gerade eigentlich gar nich sehen will, nich in dem Zusammenhang. Um über den kleinen Stich hinweg zu kommen, haue ich ihm viel zu fest auf die Schulter. „Na, freut mich. Willkommen im Club, Alter. Nur so als Tipp: die Blonde steht auf dich. Also, wenn du heute was klar machen willst ...“

Jan sieht zu ihr hinüber. Die beiden tuscheln, werfen uns einen Blick zu. Ich schätze sie auf mindestens Anfang, eher Mitte zwanzig, `n paar Jahre älter als wir. Mhm, das sieht doch mal ganz gut aus für den Abend.

„Nee. Weeß nich. Ick ...“ Jan zieht die Augenbrauen skeptisch zusammen.

„Hey, musste natürlich nich, aber ick dachte, jetz haste vielleicht Blut geleckt – okay, schlechte Wortwahl. Ick meen, haste keen Bock mal wieder flachgelegt zu werden?“

„Jaaaa, schooon.“ Noch gedehnter und zögerlicher geht`s nich. Die roten Flecken auf seinen Wangen sind zurück. Warum sieht das nur so attraktiv bei ihm aus? Versteh schon, warum die Blonde ihn so umgarnt.

„Alter, was ist denn los?“ Ich hebe die Hand will ihm über die Wange streichen.

„Ick gloob, ick bin da nich so jut drin.“

„Warum ... Wie oft haste et denn schon gemacht?“

„Eenmal.“

„Dit erste Mal is selten richtig geil.“

„Ick fand`s ja schon jut, aber ... sie hat danach nich mehr gewollt. Also hab ick wohl wat falsch gemacht. Sie wollte nich ma drüber reden.“ Die Worte kommen jetzt schneller, als würde er sie nicht mehr kontrollieren. „Ick weeß nich mal, ob ick ihr weh getan hab.“

„Hat se denn ... Also, hat se geweint, oder so?“

„Nee.“

„Hat`s geblutet?“

„`N bisschen. ... Ach, scheiße!“

„So traumatisch? Dit soll doch wat schönet sein.“

„War`s ja och. Also, für mich - zuerst, aber dann ... Danach hat se sich am Telefon immer verleugnen lassen und wenn se mich in der Schule gesehen hat, is se immer ganz schnell weg. Dit bedeutet doch wat - und nüscht Jutes.“

„Also, ick kann mir nich vorstellen, dass de allet falsch gemacht hast.“ Ich lege ihm meine Armen um den Hals und ziehe ihn zu mir runter, küsse ihn auf die Wange und lege meine Stirn an seine. „Ick fand`s damals echt jut mit dir.“

Er zuckt kurz einen Hauch zurück. Scheiße, hätt ich nich machen sollen. Eine kühle Hand in meinem Nacken. Jan fährt durch die kurzen Haare in meinem Nacken und mir läuft ein Schauer über den Rücken, der nichts mit der Winterkälte zu tun hat.

„Ick och“, flüstert er mir ins Ohr, leise wie ein verbotenes Geständnis. Sein Stimme hat etwas Beschwörendes. Aber so gerne ich ... Er hat doch klar gemacht, dass er das nicht möchte mit mir, nicht so.

„Sach ma, knutscht ihr oder was?“ Jan und ich springen auseinander. Die Schwarzhaarige hat echt tolle Titten, aber ihre Art ist mehr als gewöhnungsbedürftig. Und ihre Stimme durchschneidet easy das Gebrüll auf der halben O-Straße. Trotzdem – ick mag Frauen, die sich nicht so tussig benehmen. Nur gerade schlechtes timing. „Also, ick hab nüscht dagegen. Is och sexy.“ Sie grinst zu uns herüber und schiebt sich einen Kaugummi in den Mund.

Jans Blick hat etwas Hilfesuchendes. „Ey, das kriegste schon hin.“ Sex ist viel zu gut, um es nicht zu machen. Jan ist viel zu gut, um das nicht zu haben. Ich will, dass er es mag, dass er geil darauf ist. Und sich seiner selbst sicher. Nich so wie jetz. Das ist doch kein Zustand.  

Ich beobachte wie die Blonde Jan hinter seinem Rücken mit Blicken auszieht, auf seinen Hintern starrt. Kurz bin ich versucht meine Hände dorthin wandern zu lassen, damit sie checkt ... Ja, was checkt? Scheiße, jetzt greift Jans Verwirrung schon auf mich über. „Kennste den Spruch, wenn man vom Pferd gefallen ist, muss man gleich wieder aufsteigen?" Ich nicke hinüber zu den beiden Frauen. „Na, da haste doch `ne gute Reitlehrerin.“

Jan dreht sich um und dann wieder von ihnen weg. „Mann, Bela. Also, deene Sprüche sind heute echt ma ...“ Er schüttelt den Kopf, sieht immer noch viel zu verdrießlich und peinlich berührt aus. „Ick hätt dir das nich erzählen sollen.“

„Hey, Jan!“ Ich will nicht, dass er mir wieder entgleitet. Manchmal macht er das, wenn er glaubt, er hat zu viel über sich verraten. Danach lässt er einen gegen `ne Mauer rennen. Tut ganz schön weh.

„Egal.“ Er macht seinen Parka wieder zu. „Wir sollten ma los Hussi und Roman suchen wegen dem Auftritt heute.“ Er dreht sich zur Straße und ist weg. Die Blonde hinter ihm her.

Die Schwarzhaarige hängt sich bei mir ein. „Ick bin übrigens Gitti!“

„Oh. ... Äh, hi! Bela!“

„Wat soll `n dit für `n Name sein?“ Ich seufze, aber sie hat einen wirklich tollen Ausschnitt.

Im SO sind Deutsch-Polnische Aggression gerade bei ihrer ersten Zugabe. In `ner Viertelstunde sollten wir auf die Bühne. Ich sehe Jans wasserstoffblonde Haare ein paar Meter vor mir neben der Treppe zur Bühne. Aber durch die Mauer aus pogenden halbnackten Körpern, bunten Haaren und krass aufgestellten Iros ist gerade kein Durchkommen.

Ich werde angepogt, schubse zurück, würde mich am liebsten mitten rein stürzen, aber jetzt geht`s erstmal auf die Bühne. Etwas wie Magie liegt in der Luft. Okay, Magie, die nach Bier und Schweiß riecht, aber egal. Für mich ist das genau die richtige Mischung, hat eine teuflische Anziehungskraft. Gerade an solchen Abenden, wenn wir auftreten, bin ich immer noch mehr aufgeputscht, taumel knapp an der Grenze zu drüber, dabei hab ich noch nicht mal getankt. Apropos: erstmal ein Bier, bisschen Nervosität runterspülen. Ich öffne mir `ne Büchse. Im SO, dem Punk-Epizentrum in Kreuzberg, spielen ist eine große Sache.


Wir sind heute ein verdammtes Team. Endlich mal. Romans Stimme kommandiert den Raum viel besser als Bernds.

Eine volle Bierbüchse fliegt an Hussis Kopf vorbei und zerschellt spritzend hinter mir an der Wand. Wäh. Bierdusche. Was für eine Scheißtradition sich mit Büchsen abzuwerfen. Egal. Irgendwie auch geil. Punkrock ist halt gefährlich und außerdem ist es cool, wenn die Leute auf uns abgehen. Solange sie mich nicht treffen. Hussi spuckt von der Bühne nach dem Typen, trifft aber den Falschen. Ich muss so lachen, dass ich fast den Rhythmus des Songs verliere.

Ich wische mir den Schweiß von der Stirn und überreiche Jan die Drumsticks, da er für einen Song meine Drums übernimmt und ich seine Gitarre. Unsere Finger berühren sich kurz, wir grinsen uns an, sind wieder voll aufeinander eingespielt. Auftrittsadrenalin ist einfach die geilste Droge. Ich wechsel nach vorne, bekomme jetzt besser wie sehr die Menge auf uns abgeht. Verdammt ist das geil. Aber es ist auch verdammt heiß in dem Laden, Kondenswasser tropft von der Decke. Ich hoffe, die Verstärker kriegen nichts ab. Geld für neue hat keiner von uns. Und `n Stromschlag wär auch nich so geil.

Als ich nach einer Dreiviertelstunde inklusive zwei Zugaben von der Bühne taumel, rutsch ich fast in `ner Bierlache aus. Wo ist Jan? Er ist als erstes von der Bühne runter mit seinem Verstärker.

Ich lasse meinen Blick über die Horde schweifen auf der Suche nach seinem blonden Schopf, rette mich an die Seite der Halle, da ich noch eine Gitarre dabei habe. Die muss jetzt nich unbedingt kaputt gehen.

Am Rand liegen ein paar Leute, über die ich steigen muss. Ich versuche niemandem auf die Hand oder andere Preziosen zu treten.

Ich verstau unser Equipment backstage und hoffe, das keiner lange Finger macht. „Hey, Hussi! Haste Jan gesehen?“

„Nee. Keine Ahnung, wo der ist!“

Ach, scheiße. Aber mein Kopf ist immer noch heiß vom Gig, fliegt durch die Nacht und ich brauch jetz sofort `n Bier. Bin total ausgetrocknet vom trommeln.

Ich kämpfe mich geschlagene fünf Minuten durch das Publikum zum Tresen am Eingang durch und brülle Rohr an, dass er ein Bier rüberwachsen lassen soll. „Keene Apfelsaftschorle wie deen Kollege?“ Rohr grinst mich herausfordernd an. Arsch. „Kennst mich doch! War Jan hier?“

„Klar. Steht da drüben.“ In der hintersten Ecke, die das SO bietet. Nur seine Haare leuchten in der Dunkelheit. Und sein Grinsen als er mich sieht. Ich ziehe ihn in meine verschwitzten Arme. „Alles okay, Alter?“

„Ja, ja. War echt genial heute, oder?“ Wir stehen für einen Moment so da.

„Absolut.“ Jan an meiner Seite, nach einem geilen Auftritt. Das ist der Traum.

Seine blonden Haare glänzen vor Schweiß und ein paar Tropfen rinnen an seinem Hals runter. Ich will sie weglecken, ziehe ihn impulsiv noch ein Stück zu mir hinunter. Unter seinem verschwitzten, dünnen T-Shirt kann ich seinen schnellen Herzschlag fühlen. Ich halte ihn fest, in meinem Kopf dreht sich alles ein wenig: das Gebrüll des Publikums, das ständige angeschubst und hin und her gezogen werden, selbst hier in der Ecke, der Geruch nach Schweiß und Bier und Rauch.

Eine Hand auf meiner Schulter. „Na, du Held?“ Gitti.

Jan wird von mir weggezogen. Die Blonde hat ihn am T-Shirt gepackt und zieht in zu sich, küsst ihn auf den Mund. Jetz weiß ich, was sie mit süß meint. Jan guckt einfach zu verblüfft. Is och irgendwie niedlich, auch wenn ich eigentlich gerade keinen Bock auf die beiden Frauen hab, noch mit Jan reden wollte.

Aber der grinst. Endlich mal. Okay. Vielleicht hilft ihm das. Er beugt sich zu der Blonden runter, schreit über den gigantischen Lärm um uns. „Wie heißt `n du?“

„Bine“, brüllt sie zurück.

„Haste Bock `n bisschen rauszugehen, Bine? Is krass verraucht hier drin.“

„Vielleicht.“ Sie sieht ihn sehr gekonnt von unten her an, spielt mit ihm. Macht sie gar nicht so schlecht. „Muss erstmal die Ware testen.“ Sie zieht ihn wieder zu sich runter, küsst ihn eindeutiger. Ich kann sehen wie Jan seinen Mund für sie öffnet. Ihr Zungenkuss steigert sich, wird wilder. Ich merke, dass ich geil werde, kann nicht mal sagen, auf was genau. Wünsch ich mich an seine Stelle? Oder an ihre?

Jan zieht Bine den letzten Meter zurück an die Wand, wo man nicht die ganze Zeit angerempelt wird.

Eine Hand in meiner. „Also, wenn de dit jut findest, dit kannste bei mir och haben.“ Gitti drückt sich und ihren großen Busen an mich. Ja, das find ich durchaus gut. Sie zieht mich hinter den beiden her.

Gitti fährt unter mein T-Shirt und zwickt mich leicht in eine Brustwarze. Mhm, gefällt mir. Und sie küsst gut, ist voll bei der Sache. Aber ich nicht. Aus dem Augenwinkel seh ich wie Jan Bine an die Wand drückt. Ein tiefes Stöhnen entkommt mir, was Biggi wohl auf sich münzt, denn sie legt meine Hände auf ihre Titten und verdammt, ist das gut. Als ich die Augen wieder öffne ist Jan mit der Frau verschwunden.

Gitti sieht mich an. „Haste Bock auf`n bisschen wat Schnelles?“ Keine Ahnung, was sie genau meint, aber hört sich sehr vielversprechend an.

„Klar.“

Sie zieht mich an der Hand Richtung Klos, öffnet die Tür mit dem schräg hängenden H Zeichen drauf. Ein Punk mit rotem Iro steht am letzten noch nicht zerkloppten Pissoir, rollt genervt mit den Augen. „Mann, Gitti. Schieb ab. Hast deen eijenet Klo!“

„Och, bei euch is et viel gemütlicher.“

„Zicke, ey!“ Der Punker packt ein und trollt sich. Ich bin echt `n bisschen erstaunt, das die Frau hier anscheinend das Sagen hat. Aber find ich auch gut.

Gitti zieht mich in eines der beiden verschließbaren Klos. Die Tür hängt leicht schräg in den Angeln, aber mit `n bisschen Geruckel geht sie dann doch zu. Mein Puls nimmt Tempo auf. `N bisschen fühl ich mich wie in `nem Film über das wilde Berliner Nachtleben.

Gitti geht in die Hocke. Was hat sie vor? Ich muster den Boden. Der riecht definitiv nicht nur schlecht. Egal. Rock `n Roll. Sie packt einen Spiegel aus ihrer kleinen Handtasche, dann ein Tütchen mit weißem Zeugs drin. Oh!

„Wat is `n dit?“

„Na, wat schon? Speed!“ Sie sieht mich prüfend an. „Is jetz aber nich deen erstet Mal, oder? Ick will keene kleenen Jungs anfixen.“

„... Nee. Natürlich nich.“ Ich sollte gehen. Jans Gesicht taucht vor meinem inneren Auge auf. Ich sollte jetzt einfach zu ihm gehen. Das Pulver strahlt weiß wie frisch gefallener Schnee.

„Na, dann is ja jut.“ Ihr Blick bleibt leicht skeptisch und ich will auf gar keinen Fall jetzt `nen Fehler machen.

Sie kippt ein kleines Häufchen auf den Spiegel, zieht eine Rasierklinge aus einer Papierhülle und beginnt die kleinen Kristalle zu zerhacken, teilt dann feinsäuberlich vier Linien ab, leckt die Klinge ab.

Aus der Tasche ihres Lederminirocks zieht sie einen zerknitterten blauen Zehn-Markschein. Der Typ darauf sieht mich mit hochgezogener Augenbraue an, fast wie Jan. Gitti rollt das Gesicht weg, den Schein zu einem festen Rohr zusammen. Er verschwindet in einem Nasenloch, das andere hält sie sich zu. Sie snifft erst eine, dann die andere Line weg, zieht nochmal geräuschvoll Luft ein und drückt ihre Nase zusammen, schließt die Augen. Tut das weh?

Ich versuch zu begreifen, was da gleich passieren wird, dass ich nicht mitbekomme wie sie mit dem zusammengerollten Schein vor meinem Gesicht herumwedelt. Unhygienisch. `N bisschen gruselt`s mir nun doch davor.

„Na, wat is?“ Sie klingt total verstopft.

„... Ja. ... Klar.“ Ich nehm den Schein, mach einfach nach, wie sie`s gemacht hat. Beim ersten Mal schaffe ich es nicht hochzuziehen. Wie ein Pferd, dass vor dem Hindernis scheut. Es ist einfach schräg sich irgendne Substanz in die Nase zu ziehen. Bisher hab ich`s immer nur mit Alk übertrieben. Der schaltet mich immer so angenehm in die oberen Gänge, macht mich größer, stärker, unantastbar, wenn auch `n Ticken aggressiv. Kiffen is nich so geil, zieht mich zu sehr runter, `n Gefühl von halbtot und Zombie. Die Filme sind cool, aber selber muss ich keiner werden.

Ich bin lieber high im Sinne von oben. Speed! Klingt doch jut!

Ich spüre ihren spöttischen Blick auf mir, schließe die Augen und zieh hoch. Das Zeug schießt, als wollte es in mein Hirn, dann läuft es bitter hinten in meinem Rachen runter.

Die zweite Line ist easy. Ich schließe die Augen, warte.

Gitti drängt sich an mich, beginnt mich zu küssen. Ist es dieses heiße Kribbeln schon? Etwas fegt durch mich wie ein verfickter Stromschlag. Nur angenehmer. Die Härchen an meinen Armen stellen sich auf. Und noch etwas. Das Zeug macht geil. Und wie. Jackpot.

„Na, merkste schon was?“ Ihre Hand wandert an meinem Bauch runter, über den Bund meiner Lederhose, tiefer. „Mhmmmm. Na, also! Haste Bock?“ Sie zieht den Saum ihres Minirock `n Stück höher. Ihre Netzstrumpfhosen sind in der Mitte offen. Sie rutscht ihren Slip ein Stück zur Seite. Krass. Eine sehr praktisch denkende Frau.

Ich sollte Gummis nehmen. Ich öffne die Knöpfe meiner Hose.

„Nee, nee, nee, mein Lieber. Erstma wird schön geleckt!“ Sie drückt mich auf die Knie und ich bin dieser Frau einfach verfallen.

„Bela?“ Ich hör wie Jan die Klotür neben uns öffnet. „Bela? Biste hier?“

„Nee.“

„Haha. Ick will los. Kommste mit?“

Gitti zieht mich an den Haaren wieder hoch und grinst mich an. „Habt ihr noch wat vor heute, ihr Beeden?“

„Also, ... Ick wollt nur kurz Tschüss sagen.“ Jan draußen vor der Tür klingt verunsichert.

„Is schon echt süß, dein Großer!“, flüstert mir Gitti ins Ohr. „Komm hol den ma hier rein.“ Ihr Atem an meinem Ohr jagt mir einen Schauer über den Rücken. Alles ist gerade sexy. Aber ... Scheiße, ich will nich das Jan mich so sieht. Wenn ich jetz die Tür öffne, ist doch gleich klar was hier gelaufen ist. Gittis Pupillen sind groß wie Schwarze Löcher im Weltall. Und ich seh mit Sicherheit nich besser aus.

„Hey, also ... Kann ick mich noch schnell verabschieden?“ Er trommelt einen kleinen Rhythmus auf die Tür. Ich erkenne unseren Song „Romantik“, bei dem er immer mein Schlagzeug übernimmt. „Oder stör ick ... bei was?“

„Nee, Quatsch.“ Schnell drücke ich Gitti den Spiegel in die Hand, sie lacht nur. „Mann, pack den weg“, flüster ich und sehe sie beschwörend an, aber die Frau ist einfach ein Gör, grinst nur.

Sie greift nach der Türverriegelung, ich fahre mir vorsichtshalber nochmal über die Nase und dann steht ein sehr verschwitzter und müder Jan vor uns.

„Naaa duuuu?“ Sie zieht Jan an seinem T-Shirt mit in die kleine Kabine.

„Oh. Ick wollt nich stören.“ Jan steht leicht vorgebeugt, so als wollte er sich kleiner machen, als er ist. Oder unsichtbar. Ist mir schon öfter bei ihm aufgefallen. Passiert wahrscheinlich bei Jungs – und auch Mädchen, wenn sie so schnell hochschießen und allein dadurch schon alle Blicke auf sich ziehen. Er macht das meistens, wenn er sich unwohl fühlt.

„Du störst nich, Hübscher.“ Gitti mustert Jan als wäre er etwas Essbares und mein Herzschlag wird schneller, als stünde ich kurz vor einem Kampf. „Willste mitmachen?“ Gitti drängt sich an ihn.

Jan tritt einen Schritt zur Seite, landet aber wegen des begrenzten Platzes nur an mir. „Bei was denn mitma...“ Er stockt, als sich unsere Augen treffen. Gleich kommt die Moralpredigt. Am liebsten will ich mich abwenden, aber irgendwie haben sich unsere Blicke miteinander verhakt.

Jan beugt sich ein Stück weiter zu mir hinunter. „Deine Augen ...“ Seine Stimme ist ganz leise über dem wummernden Bass. „Sie sind gar nich mehr hell.“ Er klingt verwundert, anscheinend begreift er nicht, was los ist. Manchmal ist er echt ein bisschen naiv.

Gitti presst sich an Jans Seite. „Na, wat is?“ Ihre Finger wandern herausfordernd über seine markante Wangenknochen, aber Jans Blick liegt unverwandt auf mir. Selbst das macht mich an.

Gitti schmiegt sich an Jans Rücken, fasst um seine Hüfte herum und streicht über die Knopfleiste meiner Lederhose. Fuck! Ein leises Stöhnen entkommt mir.

Jans Augen werden groß. Gleich flüchtet er. Nein, er bleibt, fixiert mich.  

Das Zeug pulsiert durch meine Adern, macht klar, was ich will. Ich schiebe mich ein Stück näher an ihn. „Küss mich!“

Jan ist einen Moment wie erstarrt. Auf seinem Gesicht stehen kleine Schweißtropfen. Es ist so verdammt heiß hier drin. Dann beugt er sich zu mir hinunter. Seine Lippen schmecken salzig und nach etwas Frischem wie Apfelsaft.  

Gitti hinter ihm drängt uns näher aneinander. Ihre Hand, die gerade noch an meinem Ständer war, ist weg und ich vermisse sie, presse mich dafür an Jan. Für einen winzigen Moment zieht er sich an mich. Er ist nicht wirklich hart, aber ich kann ihn fühlen. Er stöhnt in meinen Mund, schließt die Augen. Dann löst er sich von mir.

Scheiße. Er hat doch heute noch gesagt, dass ihn das alles überfordert. Schon beim letzten Mal.

„Hey, alles okay?“

Er öffnet die Augen wieder, nickt. „Du schmeckst irgendwie anders.“

Fuck. Das Speed. Woher soll ich denn wissen, dass das so verräterisch ist?

Er fährt sich mit der Hand über den Mund, starrt mich mit einem unlesbaren Blick an. „Ick ... ick hau mal besser ab.“

„Och.“ Gitti macht ein wirklich sehr schönes „Geh noch nicht!“-Gesicht, aber mir ist schon klar, dass es vorbei ist. Jan hat eine Entscheidung getroffen. Da gibt es keine Diskussion mehr und da hilft auch kein Bitten und Betteln. „Willste mit Bine los?“

„Nee. Keene Ahnung, wo die is. Ick will nur ins Bett. Muss noch bis Frohnau. Und morgen is Weihnachtsfrühstück um 9:00. Da hab ick am Tisch zu erscheinen.“

Gitti sieht ihn wirklich mitleidig an. Schon ein Runterbringer seine Beschreibung, aber gerade wirkt sogar das nicht bei mir. Fuck, bin ich geil. Meine Augen bleiben wieder auf seinen Lippen hängen, die etwas röter sind als vorher.

Er fängt meinen Blick auf, seufzt, legt dann seine Hand auf die Klinke. „Sauber bleiben, nee!“

Hat er doch etwas gecheckt?

„Hey, Jan!“Ich gehe auf die Zehenspitzen, will ihn nochmal umarmen, nicht so seltsam auseinander gehen. „Dann fröhliche Weihnachten, wa?“

Er beugt sich zu mir. „Dir auch, Bela.“ Ich spüre einen Kuss auf der Wange, ansonsten achtet er sehr genau darauf, dass wir uns an keiner anderen Stelle berühren.

Kaum ist die Tür hinter ihm zu, hat Gitti schon ihre Finger wieder auf mir. Es ist gut, aber ich fühle immer noch Jans Körper an meinem.





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*

 

 

 




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Weihnachten mit Heino im SO 36

Die Heimat der Punkszene - SO 36

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No Future: Punk ist manchmal keine schöne Sache, macht aber doch Spaß. In Kreuzberg, diesem armen Hinterhof West-Berlins mit seinen grauen Häusern und den bröckelnden Fassaden, fühlten sich die Punks zu Hause. Auf diesem Bild sind nicht mehr alle ganz frisch - es entstand bei einem Konzert von Soilent Grün, die Band wurde wenig später als Die Ärzte bekannt.


*

Chapter 4: 1981 - Silvester

Chapter Text

*



* Teenagers in Love *





Lieder und Bilder farbig unterlegt im Kapitel.
Weiterführende Links am Ende.

Triggerwarnung:
Andeutung häuslicher Gewalt.
Mitte / Ende 2. Teil "Senheimer Straße"




 

1981 - Silvester






Senheimer Straße 44, Frohnau - 26.12.1981


„Guten Tag, Frau Felsenheimer!  Hier ist Jan. Ist Be... Dirk da?“

„Dirk? Nee, den hab ich seit Heiligabend nich mehr jesehn.“ Sie hört sich überraschend ruhig an. Oder resigniert.

„Ach so ...“ Mach ich mir jetz mehr Sorgen als seine Mutter? „Ja, also, dann ... Danke!“

„Soll ick ihm denn wat ausrichten?“

„Na, er soll sich eenfach bei mir melden.“

„Sach ick ihm, wenn er auftaucht. Oder anruft.“

Ich atme so laut aus, dass Frau Felsenheimer anscheinend denkt, sie muss mich trösten. „Der taucht schon wieder auf. Ist ja nich dit erste Mal, dass er mehrere Tage um die Häuser zieht.“ Nun seufzt sie doch. „Wahrscheinlich hat er wieder `n Mädchen kennengelernt.“

„Ja, könnte sein. Juten Rutsch, Frau Felsenheimer.“

„Dir und deener Familie och, Jan. Komm doch ma wieder bei uns vorbei.“

„Gerne.“




Senheimer Straße 44, Frohnau - 31.12.1981

Ich hab die letzten Tage nicht so gut geschlafen. Wahrscheinlich schlägt mich Julia deswegen fast zum ersten Mal bei einer Partie Schach. Allerdings lernt sie auch echt exponentiell. Bald besiegt sie mich wirklich.

„Wie bleibste nur so ruhig, Julchen, wenn de verlierst?“

„Ist doch nich so schlimm.“ Sie guckt mich ernst mit ihren großen, braunen Augen an. Ich wünschte, sie hätte die nicht von Gerd vererbt bekommen.  

„Findeste? Ick mag verlieren nich so besonders.“

„Ick weeß.“ Sie grinst so unverschämt, dass ich mir das Kissen vom Bett angel und es ihr gegen den Arm klatsche. Mein König fällt dabei um. Julchen springt auf und reißt die Arme in die Luft. „Schachmatt!“

Ich hebe drohend wieder das Kissen wieder und sie flieht quietschend in ihr Zimmer.

„Jaaaaan! Telefooon!“ Gerd brüllt die Treppe rauf. „Kein Wunder, dass ihr das nicht hört bei dem Affenzirkus denn ihr da oben veranstaltet.“

„Komm ja schon.“ Ich rase die Treppe runter und laufe nach der Kurve direkt in Gerd rein. Keine Ahnung, warum der Wichser da noch steht. Fast automatisch hebt er die Hand.

Ich recke das Kinn nach vorne und funkel ihn an, auf ihn hinunter. Er ist einen halben Kopf kleiner als ich und ich stehe zudem noch auf der Treppe. Ich steige die letzte Stufe hinunter und gehe noch einen kleinen Schritt näher auf ihn zu. Es ist viel zu nah. Seine Aggression strahlt in heißen Wellen von ihm ab, trifft mich im Bauch, aber nachgeben ist keine Option.

Mama kommt in den Flur. „Jan, warum kommst du denn nicht ans ...?“ Sie verstummt, betrachtet die Szene und ihr Gesicht wird grau. „Kommst du Jan?“ Ganz leise.

Ich löse meinen Blick von Gerds kleinen, ekligen Augen und gehe ganz nah an ihm vorbei ins Wohnzimmer.

„Hallo? Hier ist Jan!“

„Ey, Alter. Kommste vom Joggen, oder wat?“

„Was? Nee.“ Ich komme von Gerd, dem Arschloch.

„Hörst dich voll außer Atem an. ... Oder hab ick dich bei wat anderem gestört?“

Schön, dass es ihm gut geht. „Mann, Bela! ... Wo warst du denn überhaupt ...?“ Beinah hätte ich verschollen gesagt, aber hier haben die Wände Ohren.

„Na, ick bin immer noch in Kreuzberg unterwegs.“

„Seit `ner Woche?“ Ich überlege, ob man nur von meinem Antworten verstehen kann, um was es geht.

„Joa. Häng so im BesetzA-Eck rum. Echt geil da. Komm doch heute abend vorbei. Musst nur meinen Namen rufen, dann lass ich dich rein. Kommste? Büdde.“

„Hmmm. Vielleicht. Weeß nich.“ Eine Bewegung neben mir. Ich zucke zusammen, aber es ist nur meine Mutter, die etwas in den Schrank packt und dann wieder geht.

„Außerdem muss ich das Stiefarschloch erstma überreden.“

Ein Schatten hinter mir. Im nächsten Moment entreißt mir jemand den Hörer und knallt ihn auf die Gabel, dass es nur so scheppert.

Er fixiert mich mit seinem stieren Psychopathen-Blick. „Du kannst froh sein, dass du zu groß bist, um dich über das Knie zu legen.“ Seine Finger wandern an seine Gürtelschnalle und mir wird eisig kalt – nur die Stelle mit der Narbe ist heiß als würde sie glühen.

„Wenn de dich DAS noch einmal traust ...“ Ich spreche ganz leise, damit Muttern nix mitbekommt. Oder Julchen. „Dit überlebste nich, Alter!“

Ich werfe ihm einen letzten warnenden Blick zu, geh in den Flur und schnappe mir mit zitternden Fingern meinen Mantel. Nur weg. In den Wald. Wenn ich einen Hund hätte und wenn diese Scheißmauer nicht wäre, dann würde ich einfach immer weiter laufen bis ich irgendwann, irgendwo an einem besseren Ort herauskomme.





Ich steige am Kottbusser Tor mit einem Schwall Feierwütiger aus der Hochbahn. Sofort kann ich leichter atmen. Allerdings sauge ich hier mit der berühmten Berliner Luft vor allem Rauch aus den Kohleöfen ein. Kreuzberg ist echt arm. Zentralheizungen, Toiletten in der Wohnung sind hier am Rande der Mauer sowas wie Science Fiction.

Auf der anderen Seite der Hochbahn Richtung Neukölln stehen ein paar Polizeiwannen. Wirkt fast so als würden sie sich nicht weiter rein trauen nach Kreuzberg.

Allein schon der Weg zum BesetzA-Eck ist ein Spießrutenlauf durch Scherben, vorbei an Kotzelachen, grölenden Ansammlungen von Betrunkenen, dazwischen ein paar junge türkische Männer. Und es ist gerade mal halb neun.

Ich feier schon auch gerne, aber hier brennt die Luft. Irgendwie auch cool. Auf jeden Fall besser als Frohnau. In mir steigt ein Sehnen auf, danach mich auch fallen zu lassen, in die aufgeheizte Stimmung, in diese Menge aus bunten Haaren, Leder und Nieten. Einfach mal meinen Kopf ausschalten, um stumpf einfach nur sinnlosen Spaß zu haben. Manchmal gelingt es mir sogar, meistens auf Konzerten in der poggenden Menge. Oder wenn ich selbst auf der Bühne stehe.

Nach einer geschlagenen Viertelstunde hab ich mich endlich bis vor`s BesetzA-Eck durchgedrängelt. Eine Horde Punks steht vor der Kneipe rum. Drinnen knallt „Beton Combo“ aus der Anlage. Gefällt mir.

Du musst einfach nur hochbrüllen, hatte Bela mich ja instruiert. Eigentlich hab ich auf Bühnen genug öffentlich herumgeschrien. Doch auf einmal bin ich schüchtern. Soll ich jetzt hier einfach so vor allen „BEEELA!“ gegen die Hausfassade brüllen und hoffen, dass er das irgendwie über diesen infernalischen Lärm auf der O-Straße mitbekommt?

Die Haustür geht auf und ein Typ mit langen Haaren und einem rot-schwarzen Palästinensertuch kommt raus. „Hi! Sach ma, weißte, wo Bela ist?“

„Ey, da sind heute gut 100 Leute im Haus. Keene Ahnung. Wie sieht er denn aus?“

Ich deute Belas Größe an. „Schwarz jefärbte Haare. An der Schläfe so `ne Ecke raus rasiert. Und er hat so ganz helle grüne Augen, mit Kajal umrandet.“

„Ah. Der hängt hier seit ein paar Tagen rum. Könnt im 3. Stock Mitte bei Pony un Kruste sein.“

„Besten Dank!“

Ich steige die knarrenden Stufen rauf. Es brennt nur auf dem zweiten Absatz Licht. Jemand hat „keine mAcht für niemand“ an die Wand gesprüht. Das A natürlich groß und umkreist. Daneben steht „Freie Republik Kreuzberg“. Leider sind in dieser traumhaften Idee keine As zu finden. Schade auch.

Die Wohnungstüren sind alle ausgehängt. Nur die Art-Deco-Holzornamente über dem Rahmen deuten an, dass dies nicht immer ein besetztes Haus war. Ich lausch in den dunklen Flur. Hinter der rechten Tür ist alles ruhig. Links streitet sich lautstark ein Pärchen. Da erschallt Belas typisches Lachen hinter einer geschlossenen Tür der mittleren Wohnung. Ich öffne sie vorsichtig.

„Äh, hi!“

„Mann, der Jan is hier!“ Bela springt von der Couch hoch, zieht mich in das Zimmer und schlagartig stehe ich mitten im Rampenlicht. „Dit is Jan“, erklärt er den Anwesenden. Drei Frauen soweit ich das überblicke.

„Wat `n origineller Name“, ätzt eine Frau mit schwarz-rotem Iro.

Ich setze mein Grinsen auf. „Dir och `n schön Abend!“ Sie zieht die Mundwinkel zu einem ironischen Ein-Sekundenlächeln hoch. Immerhin lächelt eine der Frauen netter zurück.

Bela zieht mich in eine lange Umarmung. „Mann, Alter, schön dich und deine breite Fresse zu sehn.“ Ein wenig dezenter Hauch von Patchouli umgibt ihn. Der kommt vermutlich von der Punkette, neben der er gesessen hat. Hängt er wegen der jetzt die ganzen Tage hier rum?

„Und dit is Pony“, stellt er mir die Patchouli-Punkerin vor. Der Name macht mit ihrem rosa Pony echt Sinn. Ansonsten sind ihre Haare komplett auf kurz geschoren. Er deutet auf die Frau mit dem Iro und dem „Crass“-Aufnäher auf ihrem zerrissenen T-Shirt.

„Kruste.“ Ich hoffe, dass bei ihr der Name nicht auch Programm ist. Ich steh nich so auf Crust Punks.

Die Frau in der Ecke hebt eine Hand. Sie hat einen grauen Strickpulli an und ganz normale braune Haare. „Isch bin de Theresa, aber du kosch mi Tessa nenna.“

Ich muss grinsen. Irgendwie ist sie süß mit ihrem Dialekt. Irgendwas aus Westdeutschland. Vermutlich im Süden. Keine Ahnung, wie die hier reingeflogen ist.

„Und dit is der Gemeinschaftsraum“, erklärt Bela mir mit einem stolzen Lächeln. „Is echt geil hier.“ So wie er an Pony hängt, glaub ich ihm das sofort.

Den Gemeinschaftsraum, den Bela so anpreist, schmücken zwei ranzige Sofas und ein Tisch, dessen Charme aus überquellenden Aschenbechern und leeren Bierdosen besteht.

Hinter der Tür steht ein alter Kachelofen. Aber natürlich funktioniert der nicht mehr. Stattdessen stapeln sich vor einem kleinen, verrußten Ofen Kohlebriketts. Hier drin riecht es noch mehr nach Qualm als draußen, aber immerhin ist es warm. Doch natürlich haben fast alle eine brennende Kippe zwischen den Fingern. Mir tränen schon nach den ersten Minuten die Augen. So viel zum Thema sich einfach mal in die Party fallen lassen.

Bela hat es sich wieder zu Pony gesetzt und füttert sie mit Chips. Ich wünschte, ich könnte so glücklich und zufrieden sein wie er.

Die Punkerin mit dem schwarz-roten Iro mustert mich böse. Keine Ahnung, was ich ihr getan hab, vielleicht hasst sie einfach Menschen. Oder so schicke Stoffhosen und das Hemd, das ich trage. Oder sie findet Leute doof, die grinsen. Deswegen feuer ich das noch eine Stufe hoch. Die kann mich mal.

Ich setze mich zu Tessa. „Und? Was machst du so?“

„Eigentlich bin isch zum studiere her komme. Kunscht an der UdK. Aba dann hab i gsehn, dasch es hier in Kreuzberg recht bunt zu geht und des fand i gut.“

Ich schiele auf den Block, den sie auf ihren Knien balanciert. Gefällt mir.

„Is schon speziell hier, wa?“ Sie nickt euphorisch. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie es sein muss West-Berlin zum ersten Mal zu sehen. Wahrscheinlich ziemlich abgefahren, als würde man einen neuen Planeten betreten.  

„Wenn de was trinken willst ...“ Krustes Iro ist ungefähr einen halben Meter hoch, die Spikes hat sie abwechselnd rot und schwarz gefärbt. Sie deutet zum Fenster. „Da is `ne Palette Dosen.“

Ich betrachte das Bier, bin fast schon soweit mir eine Büchse aufzumachen und sie dann unbeobachtet an Bela weiter zu geben, nur um hier nicht aufzufallen. Aber ich will nicht lügen und täuschen. „Haste vielleicht `n Wasser?“

„Wasser? Willste duschen, oder wat?“

„Nee. Halt zum Trinken.“

Sie rollt mit den Augen und schüttelt so stark den Kopf über mich, dass ihr Iro hin und her schwankt. „Komm mit.“ Sie führt mich ins benachbarte Zimmer, dass wohl eine Küche sein soll.

„Da drübn is `n Gartenschlauch. Da kannste dich bedienen.“

„Haste vielleicht `n Glas?“

„Du has ja man Ansprüche, ey? Geh doch zu den Müslis von den Instandbesetzer*innen, wenn die Bock auf Zucht und Ordnung hast.“

Langsam macht mich der Scheiß hier trotzig. Anmaulen lassen kann ich mich auch zu Hause von Gerd.

Sie deutet auf eine Schüssel in der Ecke, in der in einer Schimmelbrühe Geschirr schwimmt. „Da! Kannste och gleich den Abwasch machen, du Schnösel!“

„Soll ick och noch gleich die Blumen gießen und `n Müll runterbringen?“ Ich sehe sie mit einem absolut ernsten Gesicht an.

Sie starrt zurück, dann verzieht sich ihre bittere Miene zu einem fetten Grinsen. Auf einmal sieht sie eigentlich ganz nett aus.

„Ey, sorry, Jan! Ick bin eenfach `n bisschen nervös. Weeß ja kenner, ob sich die Bullen wirklich an dit Räumungsverbot halten. Und ob`s dann nich noch mehr Tote gibt.“ Ihr Lächeln verschwindet, auf einmal hat sie Tränen in den Augen und verschwindet ohne ein weiteres Wort.

Ich sehe auf den „Abwasch“, fische das am wenigsten schimmlige Glas heraus und spüle es mit extra viel Pril ab. Beinahe fasse ich in eine offene Stromleitung, als ich nach einem einigermaßen sauberen Geschirrtuch lange. Krass! Das Wasser schmeckt vor allem nach Gartenschlauch und Spülmittel. Lecker.

Aber noch mehr Sorgen macht mir Krustes schneller Abgang. Ob ich ihr hinterher gehen soll? Aber wo ist sie hin in diesem großen Haus? Also, gehe ich wieder zu den Anderen in den Gemeinschaftsraum. Bela und Pony knutschen. Tessa malt irgendwas auf ihrem Block.

„Äh, Kruste is weg und – sie sah irgendwie nich so gut aus.“

Pony hört auf Bela abzulecken und sieht misstrauisch zu mir hoch. „Was war`n los?“

„Sie hat irgendwie Schiss, dass die Bullen räumen. Und sie hat was von Toten gesagt.“ Ich zucke hilflos mit den Schultern.

„Ach, scheiße.“ Auf einmal sieht Pony ganz traurig aus und schon ist auch sie verschwunden.

Ich setze mich zu Bela. Ihn an meiner Seite zu haben, macht mich ruhiger. „Hab ich ... hab ich irgendwas falsch gemacht?“

„Weeß och nich.“

Ich sehe Bela zum ersten Mal an diesem Abend wirklich an. Tiefe Ringe unter seinen Augen. Aber immerhin wirkt er glücklich und aufgekratzt.

Tessa blickt von ihrer Zeichnung auf. „Dis isch wegen de Räumunga im September. War echt net so leicht die letschten Monate.“ Sie sieht mich fast ein wenig erstaunt an. „Hasch du da gar nix mitbekomme?“

Ich seh zu Bela, der nickt mir vorsichtig zu, scheint mehr zu wissen als ich.

„Doooch. Schon.“ Also, nicht so viel, wenn ich ehrlich bin. Dieses Jahr ist einfach so durchgerauscht mit Abitur, Reisen, Soilent-Grün-Proben und Konzerten. „Da is jemand gestorben, oder?“

Tessas freundliches Gesicht hat auf einmal etwas von Krustes Miene. „Die Bullen habe den ermordet. Der war grade mal 18.“ Sie schüttelt den Kopf. Ich komm mir vor wie ein sehr begriffsstutziger Schüler. „Der wollt doch nur was verändere, der Rattay. Der hat sich ganz Europa angschaut und wollt dann in Berlin bleibe. Des sollt sei neues Zuhause wern. Aber ...“ Sie spricht nicht weiter, vertieft sich stattdessen wieder in ihre Zeichnung.

„Ich ...“ Keine Ahnung, was ich sagen will oder soll. Tut mir leid? Seltsames Gefühl, dass der tote - ermordete Junge, auch so gern gereist ist wie ich.

Die Tür geht mit einem Quietschen auf und Gitti stürmt zur Tür herein. „Na, ihr Revoluzzer“, grinst sie. „Und natürlich Revoluzzerinnen. Äh ... wo sind denn alle?“

„Is grad nicht so gute Stimmung“, erklärt ihr Bela.

Ich bin gerade erst angekommen, aber mir ist nach Luft und Ruhe. Außerdem muss ich pissen. Ich öffne die Tür auf der halben Treppe, wo hier in den Kreuzberger Altbauten die Außentoiletten untergebracht sind. Es scheint kein angeschlossenes Kanalisationssystem mehr zu geben. In der „Toilette“ steht nur ein Eimer. Lecker.

Ich drehe auf dem Absatz um und eile die Treppen runter. Dann piss ich halt in den Hof oder auf die Straße. Bin ich so verweichlicht im schicken Frohnau, dass ich sowas nicht mehr aushalte? Toller Punk!

Unten angekommen, trete ich aus der Haustür. Jemand fällt mir in die Arme und rülpst mir mitten ins Gesicht. Wahrscheinlich sollte ich mich bedanken, dass es nicht mehr als das war. Auf einmal habe ich eine Flasche mit einer klaren Flüssigkeit in der Hand. „Sorry, Alta! Hier! Nimm ma `n Schluck!“

Silvesterbräuche sind meine schlimmste Nemesis. Es ist auch sonst schon heftig, aber an diesem Tag ein aufgedrängtes Alkoholangebot auszuschlagen, kommt bei manchen Leuten einem Sakrileg gleich. Einmal hab ich in der „Music Hall“ eine Flasche mit geschlossenen Lippen angesetzt, weil der Typ einfach nochmal einen Kopf größer war als ich und aus England. Ich hatte so die Vermutung, er könnte extrem ungemütlich werden, wenn ich seine „Gast“freundschaft ausschlage.

Danach hätte ich echt beinah gekotzt, nur von dem bisschen, was an meinen Lippen hängen geblieben ist. Widerwärtig. Alkohol ist ... Ich habe mir geschworen, dass ich den niemals, niemals anrühren werde. Er holt aus manchen Menschen das Tier heraus und ich will gar nicht wissen, ob das auch in mir schlummert, was ich tun würde, wenn ... Ich denke an den armen Micha und die ganzen reichen Scheiß-Psychopathen in Frohnau.

Auch mit Bela ist das super ambivalent. Sowie heute. Ich bekomme dann einfach keinen richtigen Draht zu ihm. Nicht wie sonst, wenn wir allein sind. Er ist in seiner Welt des Rausches und der Nacht, ich in meiner der nüchternen Realität.

Ich blicke mich auf der O-Straße nach einem ruhigen Örtchen um. Nichts. Die Häuserschlucht ist gepackt voll mit feiernden Leuten. Neben mir auf dem Boden knallt es, ich kann die Explosion sogar durch meine dicken Lederschuhe spüren. Eigentlich echt eklig irgendwo so hinzupullern, aber ich muss jetzt wirklich. Erstmal weg von diesem wogenden, hitzigen Chaos auf dem Heinrichplatz.

Schnell drücke ich mich durch eine halboffene Tür in einen Hinterhof. Es ist komplett dunkel hier, nur aus einem notdürftig aus der Brandmauer gehauenen Fenster fällt etwas Licht herunter.

Auf einmal stöhnt vor mir etwas in der Dunkelheit. Noch einmal. Eine Frauenstimme. Das Stöhnen wird schneller, rhythmischer. Eine dunklere Männerstimme legt sich darunter. Ich will es nicht hören, nicht Zeuge sein und doch schießt es mir heiß ins Blut. Scheiße. Ich sollte gehen. Aus dem Stöhnen werden kleine Schreie. Es klingt wie ein Porno. Die Frau scheint wirklich ihren Spaß zu haben.

Ich verschwinde schnell durch die Tür, zurück ins Getümmel.

„Hey, Jaaan!“ Ich drehe mich um. Aus der Menge winkt mir eine blonde Frau zu.

Mann, tut das gut ein bekanntes Gesicht zu sehen. Sie quetscht sich an ein paar Skins vorbei, die ihr irritiert hinterher sehen.

Wir stehen voreinander und ich weiß nicht so ganz, was jetzt, aber da umarmt sie mich schon. „Mann, du Arsch! Du hättst mir mal ruhig deine Nummer geben können.“

„Hi, Bine!“

„Ick wusst ja gar nich, ob ick dich noch mal wieder seh. Wo wills `n grade hin?“

„Ins BesetzA-Eck. Gitti is auch da.“

„Na, dit nenn ick ma Schicksal, wa?“ Sie lächelt mich an und ein kribbeliges Gefühl steigt in mir hoch. Ob sie heute auch wieder mit mir knutschen will? Oder war ich nur so ein Zeitvertreib für sie beim letzten Konzert? Mal den süßen, unschuldigen Jungen antesten.

Meine Blase meldet sich jetzt mit aller Gewalt. „Ey, sorry, aber ick muss erstma janz unromantisch pullern.“

Sie lacht. „Die sanitären Anlagen sin nich so schick da drin, wa? Komm. Ick weeß wat.“ Bine zieht mich an der Hand durch die Menge bis wir am Mariannenplatz vor dem Park stehen. „Hier.“ Schon hat sie ihren Rock hochgezogen und setzt sich neben mich ins Gebüsch. Ich drehe mich extra weg.

Kaum hab ich meine Hose wieder zu, zieht sie mich auch schon weiter – auf den Spielplatz vor dem Bethanien. Sie setzt sich auf eine der beiden Schaukeln.

„Iiiih. Alter, is die kalt. Ick komm uf deene.“ Schon hat sie ihre Beine über meine geschwungen und sich rittlings auf meinen Schoß gesetzt.

Wuah. Schlagartig ist mir Bine sehr nah.

„Hallo, Hübscher!“ Sie fährt durch meine blonden Zotteln, die unter meiner Schiebermütze rausschauen. „Haste mich vermisst?“

Tatsächlich hatte ich ein bisschen Sehnsucht nach ihr, ihrem Schnurren, die Art, wie sie mich ansieht, als würde sie mich gerne vernaschen.

Sie nimmt mein Gesicht zwischen ihre kühlen Hände. Warme Lippen auf meiner Wange in der kalten Nacht. „Also, ick hab dich schon `n bisschen vermisst.“ Durch meinen Bauch rollt eine warme Welle aus Zuneigung – Verliebtheit?

Sie küsst mich energischer, wartet, dass ich reagiere, aber ... Diese Frau macht mich seltsam unsicher. Aber wenn ich nicht bald was tue, dann zeige ich nur, wie wenig ich ihre Aufmerksamkeit wert bin. Ich öffne meine Lippen für sie, schmecke diesen scharfen Zimtkaugummi-Geschmack in ihrem Mund.

Bine gibt einen zufriedenen Laut von sich, presst sich fester an mich und jetzt beginnt mein Körper zu reagieren. Sie nimmt meine Hände, legt sie an ihre Hüften. In dem Moment verliere ich das Gleichgewicht ohne den Halt an den Ketten. Wir kippen rückwärts von der Schaukel.

„Ufff!“ Ich knalle mit dem Rücken in den Sand, auf mir beginnt Bine zu kichern. Zum Glück ist sie nicht schwer. „Schön, dass et für dich bequem is.“ Ich setze mich auf. Ihre Silhouette über mir erscheint gestochen scharf vor den Funken einer explodierenden Rakete.

„Ähm, wolln wir zurückgehen?“

„Ooooh! Nich mehr knutschen?“

„Is zu kalt hier!“

„Ooooookay.“

Hand in Hand laufen wir zurück zum BesetzA-Eck. Die Party vor der Kneipe hat nochmal an Intensität zugenommen. Wenn das so weiter geht, dann können sie schon mal provisorisch den Krankenwagen vorbestellen.

Wir stapfen die knarrenden Treppen hoch. Oben im warmen Gemeinschaftsraum komm ich mir vor, als würde ich von einer Expedition zurückkehren. Kruste und Pony sind auch wieder da – mit einer Flasche Vodka.

Hier im hellen Licht sieht Bine sehr viel älter aus, als im Funzellicht des SO oder der dunklen O-Straße. Also, sie sieht gut aus, aber sie ist bestimmt Mitte zwanzig. Sie fällt Gitti um den Hals, die neben Bela auf der Couch sitzt, Pony auf seiner anderen Seite.

„Na, Süße?“ Gitti küsst Bine auf den Mund, was Bela einen „Och, wegen mir könnt ihr ruhig weitermachen!“ Kommentar entlockt.

„Hättste wohl gern, du Lustmolch!“ Gitti streckt ihm die Zunge raus. „Pony, keene Ahnung, wie de es mit dem aushältst.“ Pony grinst. Sie scheint echt ein bisschen in Bela verknallt zu sein.

Gitti scheint das überhaupt nicht zu stören. Stattdessen sieht sie mit einem wissenden Blick zwischen Bela und mir hin und her. „Aber tu dir keinen Zwang an mit Jan rumzuknutschen, ne. Seh ich auch gern zu.“

Mir wird auf einmal heiß. Bela blickt zu mir hinüber und auf einmal ist da wieder dieses elektrische Flimmern vom SO.

Eine schmale Hand in meiner. „Dit kannste dir gleich ma abschminken, Gitti. Und du och Bela. Der jehört jetz mir.“

„Aha.“ Erstaunt seh ich Bine an.

„Wie jetz? Wat Festes?“ Gitti sieht mindestens genauso überrascht aus. „Na, da kannste dir aber ma wat druff einbilden, Jan!“

„Halt`s Maul, Gitti!“ Bine streckt ihrer Freundin den Mittelfinger entgegen.

Ich bin etwas überfordert. Hab ich jetzt auf einmal wieder eine Freundin? Ich hab definitiv nichts dagegen und Bine ist cool, aber – irgendwie scheint das schon beschlossene Sache zu sein.

„Na, dann herzlichen Glückwunsch.“ Bela grinst mich an. Er schraubt den Verschluss der Vodkaflasche ab. „Prost!“ Er setzt sie erst ab, nachdem sich sein Kehlkopf dreimal hoch und runter bewegt hat. Große Züge. Ich hab schon gestandene Oi-Skins husten und heulen sehen nach so einem Schluck aus der Pulle. Er zuckt nicht mal mit der Wimper.

„Warscht drauße?“ Tessa zupft an meinem Mantel, an dem immer noch Sand hängt. Schnell klopfe ich ihn ab. Auf dem Boden des Gemeinschaftsraums ist der das geringste Problem.

„Sieht man das?“

„Ja. Und du riescht so nach de Rakede“, erklärt sie. „Wie schlimm isch es na?“  

„Willste gar nich wissen.“

Sie nickt nur. „Aba immer noch bessa, als wenn die Bullen heut auflaufe.“

„Ey, die Scheißbullen kotzen mich echt so tierisch an, ey!“ Kruste nimmt Bela den Vodka aus der Hand. „Noch mehr hass ich nur diese scheißreaktionären Hippies, die immer mit`m Senat verhandeln wollen, damit se och möglichst schnell legal ihre eijene, kleene Spießerbude ham.“

„Aber ist es denn ...“ Vorsichtig sehe ich in die Runde. „Is es denn nicht gut, wenn die Häuser für längere Zeit gesichert sind?“

Kruste stellt die Flasche ab. „Dit ändert doch nüscht an dem Scheißausbeutersystem. `N Dach über`m Kopf sollte doch keene Frage von Kohle sein. Dit is `n verficktes Menschenrecht.“

„Mhm.“ Ich sympathisiere durchaus mit der Idee und mit den Zielen der Besetzer*innen, aber so richtig durchdacht, hab ich das alles nicht. Und sie vielleicht auch nicht? „Dit is viel zu krass, wenn die Bullen rein prügeln und Tränengas schießen. Und dann fliegen Steine und alles brennt.“ Das ist zumindest mein Eindruck.

„Klar isch des krass. Isch ja grad a mal a Jahr her seit der Schlacht am Fraenkelufer.“ Tessa erklärt nicht, was diese Schlacht war. Sollte man wohl wissen, wenn man im BesetzA-Eck abhängt. Ich habe nur so eine verschwommene Erinnerung von brennenden Barrikaden im Tagesspiegel. „Desch is halt Revolution. An andere Weg sehe ich do net, um aus dem System rauszukomme.“

Ich checke ihre Augen auf so einen fanatisch glühenden Blick, auf vollkommene Weltfremdheit und Ideologisierung, aber Tessa sagt das so ruhig und normal, wie ich mich mit Bela zur Bandprobe verabrede oder andere ihren Job beschreiben.

„O-okay.“ Das hier ist echt nicht mein Fachgebiet. Ich find`s gut, wenn die Besetzer*innen Kreuzberg verteidigen, aber das Thema ermüdet mich auch. Zuviel Gewalt. „Wie spät is es `n eigentlich?“

Tessa sieht aus dem Fenster. Stimmt. Auf dem Heinrichplatz gibt es ja eine Uhr. „Viertel vor elf.“ Sie setzt sich wieder.

„Oje!“ Ich halte es nicht mehr auf diesem unbequemen Stuhl aus.

„Ey, du wirst doch jetzt nicht schlapp machen, Alter.“ Bela beugt sich zu mir vor und klopft mir energisch auf`s Knie.

„Weeß nich. Hab nich so jut geschlafen die letzten Nächte.“ Auf einmal fühle ich mich nur noch erschöpft.

„Hast dir doch keene Sorgen, um mich gemacht, oder?“ Er grinst sein schiefes Bela-Grinsen und ich würde mich so gerne richtig mit ihm unterhalten.

„Doch." Ich sehe ihn ernst an. „Irgendwie schon.“

Er steht auf und kommt zu mir rüber. „Ey, Jan. Dit musste doch nich. Ick kann schon uf mich selbst aufpassen.“

Eine Ratte huscht durch das Zimmer und Gitti springt auf. „Ey, kann ma jemand dit Viech einfangen?“

„Nee.“ Pony wedelt aufgeregt mit den Händen. „Die is doch bestimmt von Jenny!“

„Siehste die hier irgendwo?“, fragt Kruste trocken. „Außerdem war die echt `n janz schöner Brocken.“

„Wo is`n die jetz hin?“ Gitti steht immer noch auf der Couch.

„Da.“ Bine deutet in eine Ecke, in der zitternd eine große braune Ratte sitzt. „Oh, nee, ey. Die sieht echt megaschwanger aus.“

Kruste steht auf. „Ich mach jetze eenfach die Tür auf. Dann wird so schon nach Hause finden.“

Gespannt starren wir alle auf das Tier mit den großen Knopfaugen. Ich mag definitiv Hunde lieber als Ratten, aber gerade tut sie mir echt leid, wie sie da so in der Ecke kauert.

Kruste schnappt sich eine fast leere Plastiktüte mit Toastbrot vom Tisch und wirft der Ratte ein paar Krümel rüber. Sie schnuppert daran, dann nimmt sie einen zwischen ihre Vorderpfoten und mümmelt daran.

„Na, komm“, sagt Kruste ganz leise und ruhig. Sie legt der Ratte eine Spur bis zur Tür und eine Viertelstunde Tierstudien später ist der Spuk vorbei.

„Uff den Schreck broch ich jetzt erstmal `ne Kippe.“ Gitti klettert vom Sofa und geht hinüber zum Fenster. Doch bevor sie den Griff drehen kann, ist schon Tessa bei ihr.

„Bischde irre? Da drauße isch Krieg.“

„Is doch nur Silvester!“ Gitti wirft Tessa einen leicht herablassenden Blick zu.

Tatsächlich ist es unten auf der O-Straße immer lauter und wilder geworden in den letzten Stunden. Einen Moment später knallt eine vom Nachbarhaus abgeschossene Rakete gegen das Fenster, explodiert in einem sprühenden, goldenen Funkenregen. Wäre definitiv nicht so schön gewesen, wenn das hier drinnen passiert wäre.

Gitti steckt murrend ihr Zigaretten weg.

„Geil!!!“ Jetzt ist Bela so richtig angezündet. Leicht schwankend schält er sich von der Couch hoch. „Lasst uns raus gehen.“

„Oh, Mann, Bela!“ Bine zeigt ihm einen Vogel. „Ich geh da erstmal nich wieder raus.“

Bela setzt seinen Super-Schmollblick auf und zielt damit auf mich. Der zieht eigentlich immer und er weiß das auch ganz genau. „Komms du wenigsens mit?“

Ich kann nicht einschätzen, wie betrunken er ist, obwohl ich ziemlich genau geschaut habe, was und wie viel alle trinken, das mach ich eigentlich immer. Bela hat im Laufe des Abends einen halben Liter von dem billigen Vodka inhaliert plus zwei Bier. Kruste hat fast genauso viel vernichtet, aber auch ihr merkt man kaum was an. Gitti und Bine haben nur dran genippt. Tessa und ich sind die einzigen Nüchternen.

„Ah, ihr Langweila! Gitti, dann komm wenigsens du mit runter!“

„Okay, aber lass uns erst nochmal ...“ Sie macht ein Zeichen, dass ich nicht ganz einsortiert bekomme. Wollen die jetzt auf dieser ekligen Toilette ficken? Und was hält Pony davon? Bela hat schon echt interessante Vorlieben. Vielleicht braucht er deswegen so viel Betankung.

Kruste deutet in Richtung Decke. „Wir könn ja ma kieken, wie die Lage so uf`m Dach ist.“

„Cool.“ – „Geile Idee.“ – „Ja, lass ma rauf jehn.“ Die Euphorie ist groß.

Wir steigen über eine wacklige Leiter auf das Flachdach. Der Ausblick ist echt der Hammer. Überall um uns herum steigen immer wieder Raketen über den Hausdächern hoch. Eine fliegt in hohem Bogen über uns. Ich drücke mich an den Kamin.

Bela hat sich auf den Bauch gelegt und schielt über den Rand des Dachs nach unten auf die Straße. „Ey, da unten ist gerade fett Klopperei. Yeah.“ Schwankend rappelt er sich hoch und ich muss die Augen schließen. Der Tanz am Abgrund.

„Ey, jetzt lasst ma runter gehen.“ Bela steht schon auf der Leiter. „Da ist die wahre Party. Kommt ihr?“

„Ich nich“, presse ich heraus.

„Och, Jan. Echt jetz?“

Ich schüttle den Kopf und komme mir wie ein seltsamer Kauz vor. Gitti beugt sich zu mir. „Ey, mach dir keene Sorgen. Pony und ick passen schon auf deen Liebling uff.“

Ich lächle sie dankbar an, dann sind die anderen weg.

„Hey, Jan?“ Bine sieht mich viel zu prüfend an. „Alles klar mit dir?“

„Ja, ja. Is nur so laut.“ Fuck. Ich bin gerade echt dünnhäutig. „Und ick will momentan nicht nochmal runter auf die Straße.“

„Ich och, aber ... warum denn eigentlich nich?“

„Ist mir zu ...“ Gewalttätig wäre das gesuchte Wort meines persönlichen Kreuzworträtsels. „Betrunken.“

„Is doch och nich anders als bei `nem Konzert. Wie poggen, nur eben nich im SO, sondern davor.“ Bine wirft den anderen nun doch einen fast sehnsüchtigen Blick hinterher. Dabei steht sie viel zu nah am Rand des Daches. Ich bugsiere sie an den Schultern ein Stück davon weg, aber sie versteht das wohl falsch, drückt mich an den Kamin und beginnt mich sehr engagiert zu küssen. Es ist gut, auch wenn sie jetzt ein wenig nach Vodka schmeckt.

Doch nach ein paar Momenten unterbricht sie den Kuss, hält mich ein Stück von sich. „Hey, wirklich alles okay mit dir? Du bist so ernst.“

„Schon okay.“

„Sieht mir aber nich so aus.“

„Hatte `n stressigen Tag zu Hause.“

Ihr Blick wird ganz mitfühlend. Tut gut, irgendwie.

„Der werte Herr Vater? Oder die Mutter? Nervige Geschwister?“

„Ick hab so `n Stiefmonster als „Vater“.“ Ich versuche schnell wieder ein Grinsen auf mein Gesicht zu zaubern, meine Aussage zu relativeren. „Halb so schlimm.“

„Oh, nee. Dit kenn ick. Deswegen bin ick och so schnell wie möglich von zu Hause raus.“ Neben uns explodiert eine Rakete und ich zucke zusammen. „Brauchste was zum Unterkommen? Ick hab nur `ne kleene Bude, aber immerhin ohne Ratten und tausend Leute.“

„Nee. Ja. ... Aber ick kann doch jetz nich einfach ... so ... zu dir ziehen?“ Hab ich sie überhaupt richtig verstanden? Der Hoffnungsschimmer übertrumpft meine Unsicherheit.

„Wieso denn nich? Ich mag dich.“ Sie küsst mich auf die Wange.

Der Druck auf meiner Brust und in meinem Magen wird leichter. „Ich dich auch.“

„Du bist süß.“ Ist das ein gutes Kompliment? „Wir könn ja mal sehen.“ Ihre Hand streicht über meinen Nacken, sie zieht mich wieder an sich. Ihr Kuss ist weniger wild, mehr ein Versprechen. „Komm doch einfach mit! Ick würd mir freun.“

Ihre kalten Hände wandern unter meinen Mantel, dann unter meinen Pullover, mein T-Shirt. Sie küsst mich nun so besitzergreifend, dass mir leicht schwindelig wird. Ich lehne meinen Kopf zurück gegen den Kamin. Über mir leuchten ein paar Sterne durch den sich langsam verziehenden Pulverdampf.

Eine Hand an meinem Reißverschluss. Ich zucke zusammen, schiebe ihre Hand auf meine Hüfte.

„Willste nich?“

„Doch.“ War ja wohl kaum zu überfühlen. „Aber nich hier.“

„Na, denn – auf zu mir.“ Sie klettert die wacklige Leiter runter und ich folge ihr mit einem mulmigen Gefühl von Aufregung und Nervosität.

Der Wahnsinn auf der O-Straße gleicht jetzt kurz vor Mitternacht dem Vorhof zur Hölle. Ich folge einfach nur Bine, die mich an der Hand hindurch zieht. Jetzt ist nicht mehr der Kohlequalm dominierend, sondern die Luft ist geschwängert von Schwefelexplosions-Silvester-Gestank.

„Ick wohn nur `n paar Querstraßen weiter.“ Sie zieht mich wieder zurück zum Mariannenplatz. Wir laufen am Park entlang.

Aus allen Hauseingängen strömen noch mehr Leute auf die schon vollen Straßen, die qualmen wie in einem Spaghetti-Western. Irgendwo über dem Geknalle ertönen ein paar Kirchenglocken. Bine drückt mich an die Hauswand. „Mitternacht! Na, denn – auf ein gutes, neues Jahr.“ Sie küsst mich. Ihre Hände sind schon wieder überall.

Neben uns wankt ein Besoffener aus einer Eckkneipe und übergibt sich lautstark auf den Gehweg. „Uuuah.“ Bine hält sich die Nase zu. „Schnell weg. Sonst reiher ich gleich auch.“

Ich schlinge meinen Mantel um sie und zusammen laufen wir durch die Nacht. Je weiter wir von der O-Straße wegkommen, desto ruhiger wird es.

Ich sehe hinunter zu ihr. Fühlt sich richtig an, sie an meiner Seite. Ein bisschen Bedenken hab ich, was sie jetzt vielleicht gleich von mir will, aber es angenehm, wie sie sich an mich schmiegt. Als gehörten wir zwei zusammen.

Auf einmal ist sie da. Graffitis auf grauem Beton. „Hier lang.“ Bine scheint sie gar nicht wahrzunehmen, zieht mich weiter in eine kleine dunkle Straße genau an der Mauer. Keine einzige Straßenlaterne, nur die Blitze der Raketen werfen bizarre Schatten. Ich bleibe stehen.

„Was is? Willste doch nich mitkommen?“

„Ich ... Du wohnst hier?“

„Ja, klar. Is super billich. Und unverbauter Blick uf `n Todesstreifen.“ Sie lacht ohne Humor. „Direkt unter`m Dach. Dit heißt jetz erstma Treppen steigen.“

Die Treppenhausbeleuchtung erlischt, als wir im vierten Stock sind. „Nur noch eens.“ Sie tastet im Dunkeln nach mir, küsst mich auf den Hals. „Na, komm.“

Schlüsselgeklimper, Schloßgestocher. Warum erinnert mich das an die Nacht in der Seegefelder Straße, als ich bei Bela übernachten musste?

„So, dit is meen kleinet Reich!“

Das Erste was mir auffällt: hier riecht es gut. Ein bisschen nach Parfüm und - Kuchen. Ich scheine etwas zu offensichtlich zu schnuppern.

Sie lacht. „Haste Hunger, Großer?“

„Ehrlich gesagt, ja.“

„Ick hab noch `ne Nudelsuppe da. Oder willste wat Süßes?“ Ein anzügliches Lächeln.

„So süß wie du?“

„Oh, ein Charmeur. Fast so süß. Marmorkuchen.“ Sie knipst das Licht an. Eine Küche. Mit einer Dusche.

„Hä? Wieso haste denn die hier?“ Ich deute auf die riesige Plastikkabine in der Ecke.

„Na, hier is nüscht mit Badezimmer und so. Klo auf halber Treppe.“

„Oh.“

„Dafür is es billich. Nur 115 Mark. Da nehm ick dit gern in Koof.“ Sie schneidet ein Stück vom Kuchen ab und dreht sich zu mir. „Also, wenn de wirklich hier einziehen willst, dann – kannste denn och `n bisschen Miete zu schießen?“

„Ja. Ja, klar. Ick such mir eenfach `n Job.“

„Cool.“ Sie reicht mir einen Teller. „Juten Hunger.“

Ich esse den Kuchen so langsam, dass ich fast jeden Krümel kennenlerne. Mein Herz macht seltsame Sachen.

„Ick dusch noch. Stört dich doch nich, oder?“ Und schon sind die ersten Klamotten runter. Ich verschlucke mich.

„Ey, langsam.“ Sie klopft mir auf den Rücken. Mhm, sie hat echt einen schönen Busen. Ich betrachte sie durch das Plastik der Kabinentür. Es ist als, wäre ich in einen meiner Träume gestiegen, die ich mir manchmal so vor`m Einschlafen ausmale. Mir wird heiß.

Sie dreht das Wasser ab, steigt tropfend aus der Kabine. „Willste och?“

Ist wohl besser für, was immer auch jetzt noch vielleicht passiert. Ich nicke, ziehe mir unter ihrem interessierten Blick langsam die Klamotten vom Leib, zwinge mich vor ihr stehen zu bleiben.

„Hübsch. Wirklich hübsch.“ Ihre Finger fahren über meine Brust, über meinen Bauch, tiefer. Ich atme zitternd ein. Ein Schauer läuft durch mich. „Mach schnell. Ich leg mich schon mal ins Bett.“

Nachdem ich mich gründlich gewaschen habe, tauche ich mit tropfenden Haaren und einem umgebundenen Handtuch in ihrem Schlafzimmer auf. Es ist eher eine kleine Kammer, aber gemütlich. Das breite Bett füllt den Raum fast ganz aus. Nur eine kleine Nachttischlampe auf dem Boden spendet ein bisschen Licht.

Sie schlägt die Bettdecke zurück. Sie ist immer noch komplett nackt.

Ich hänge das Handtuch über die Türklinke und lege mich zu ihr. Sie drängt sich an mich. Mhmmm. Ihr Körper ist warm und weich. Behutsam küsst sie mich auf den Mund, als würde sie spüren, dass ich noch ein bisschen unsicher bin mit der ganzen Situation. Dann wird sie schneller, drängt sich an mich.

„Haste Lust auf mehr?“ Sie angelt unter dem Bett nach etwas, hält mir dann ein knisterndes Quadrat entgegen. Ein Kondom. Sie ist definitiv vorbereitet.

„Schon, aber ...“

„Aber?“ Forschend sieht sie mich an.

„So oft hab ick dit noch nich ...“

„Ich erinner mich. Na, komm. So kompliziert is das nich.“

Aber ist es doch. Ich küsse sie, lasse meine Hand wandern. Sie greift danach, lenkt mich, aber ... Gerade hat sie noch gestöhnt, jetzt passiert nicht mehr so viel. Mache ich schon wieder alles falsch? Wahrscheinlich sollte ich einfach fragen, aber ich traue mich nicht mit Worten in die Stille des Zimmers zu preschen.

„Soll ich dir mit dem Pariser helfen?“

Ist das jetzt das Zeichen, dass sie bereit ist? Ich unterdrücke ein Stöhnen der nicht so guten Art. Kann ich nein sagen? Und wenn sie dann enttäuscht ist? Keinen Bock mehr auf mich als Freund und potentiellen Mitbewohner hat? Mein Kopf funkt viel zu sehr dazwischen.

Ihr Hand rutscht von meinem Schwanz, der klar signalisiert, dass ich überfordert bin. „Hey, wir müssen nich.“ Sie küsst mich, aber sieht auch irgendwie enttäuscht aus oder bilde ich mir das nur ein?

Ich denke an Bela und seine tolle Pferdeanalogie, muss tatsächlich grinsen, fühle mich wieder besser. Irgendwie muss ich das ja lernen. „Nee, ich würde wirklich gerne.“

„Na so, wird dit uf jeden Fall nüscht mit dem Kondom. Komm, ich helf dir.“ Sie schlägt die Bettdecke zu Seite und rutscht nach unten und ... Oh, fuck!!!

Sie streift mir das Kondom über, legt sich erwartungsvoll zurück. Ich komme wahrscheinlich viel zu schnell, weil sie sich viel zu gut anfühlt. Sie vermutlich gar nicht. Ich wälze mich von ihr runter. Das Kondom hängt traurig an mir und ich fühle mich gerade echt beschissen.

„War`s okay für dich?“

„... Ja. Klar.“ Sie sagt es, als wollte sie mich trösten. Mir ist nach Heulen.

Still liegen wir nebeneinander. Ich hoffe, sie schläft.

Eine vereinzelte Rakete zerfetzt die Stille.


Frohes neues Jahr.








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Geschichte der Hausbesetzungen 1980er - West-Berlin

Tagesspiegel Rückblick - 1981 - 1990

Spiegel Rückblick - West-Berlin der 80er - Freaks und Spießer


BesetzA-Eck, Oranienstr. 198

Bild 1

Bild 2

Bild 3

Heute

Nehringstr. 34

Räumung Dankelmannstraße

Wikipedia - Historie über die Legalisierung der besetzten Häuser in Berlin



Der Tod von Klaus-Jürgen Rattay am 22.9.1981, als 8 Häuser zeitgleich geräumt werden

Spiegel Rückblick - Tod unter dem Bus
Warnung: Bild 10 und 11!!!

Panorama Beitrag - Zeitdokument von 1981
ACHTUNG: Super 8 Aufnahmen vom Unfall ab Minute 13:20 bis 15:50!
Bitte wirklich vorsichtig sein, das ist sehr, sehr direkt und ungeschönt gefilmt!

Dokumentation rbb - Häuser, Hass & Strassenkampf - Die Revolte der Westberliner Hausbesetzer


Weitere besetzte Häuser und Projekte in Berlin

Tip Berlin - Fotos und Geschichter (ex-)besetzter Häuser in Berlin



Und nach dem ganzen Schweren, noch was Lustiges:
Punknamen-Generator - ein bisschen generisch



*

Chapter 5: 1982 - Gartenstadt

Chapter Text

*



* Teenagers in Love *





Lieder und Bilder farbig unterlegt im Kapitel.
Weiterführende Links am Ende.

Triggerwarnung:
Andeutungen von häuslicher Gewalt




1982 - Gartenstadt




JANUAR


Rathaus Spandau

Wir stehen mal wieder vor dem Rathaus an der Bushaltestelle. Und es is mal wieder scheißkalt. Wer hat eigentlich sowas Bescheuertes wie den Winter erfunden? Und da glauben Leute auch noch an den lieben Gott. Deutschland hat er oder sie definitiv ausgespart bei den genialen Schöpfungsideen.

„Wieder `ne Stunde.“ Jan rollt mit den Augen. „Nach Kreuzberg is es och nich grad kürzer.“

„Aber dafür haste `n warmes Bett mit `nem hübschen Mädchen drin.“

Das Strahlen auf Jans Gesicht erinnert mich an den Sommermorgen unten an der Havel – nach dem üblen Gewitter. Mann, ist der Junge verknallt. Krass, dass er jetzt in `ner festen Beziehung ist, sogar bei Bine wohnt. Ganz schön plötzlich. Und gewöhnungsbedürftig. Verändert irgendwie auch unsere traditionelle Zeit an der Bushaltestelle. Dabei ist Bine ja gar nich hier.

„Wie haste denn dich jetz mit deinen Ollen geeinigt?“

„Ey, dit war `n Terz. Am Ende hab ick se echt vor die Wahl gestellt: entweder se lassen mich ziehen oder ich bin trotzdem weg, komm dann aber och nich mehr wieder.“

„Wow. Und dann?“

„Wir ham uns drauf jeeinigt, dass ick jedet zweite Wochenende in Frohnau verbring. Ick will ja och Julia sehen.“

„Wenn de willst, kann ich och mal mitkommen. Ick meen so als Schützenhilfe.“ Ich war bisher nur einmal dort und nur für ein paar Minuten, weil wir Jans Verstärker abgeholt haben. Und es war niemand zu Hause. Ich bin so `n bisschen neugierig auf seine Mutter. Und auch auf diesen seltsamen Stiefvater. Unsere Leben sind sich schon recht ähnlich.

„Hm. ... Vielleicht.“ Jans Stimme klingt nicht gerade nach Euphorie.

„Also, ick muss och nich.“ Manchmal ist er mir echt ein Rätsel. Mir ist schon klar, dass das nicht gegen mich geht, denn das ist jedes Mal so. Sobald es um seine Familie geht, Mauer hoch. Dann wird Jan so eisig wie der Januarwind. „Is ja echt am Arsch der Heide.“

„Nee, quatsch. Klar. Wär cool. ... Also, dit wär schon dieses Wochenende. Wie sieht`s denn da aus bei dir? Oder ... wir könnten einfach zusammen nach dem Suurbiers-Konzert nach Frohnau fahren.“

„Ja, cool.“ Ich mag die Suurbiers. Die passen sehr viel besser zu mir als der Politpunk-Verschnitt der Soilent Grün werden soll. Is ja eh nur noch für absehbare Zeit. Die anderen wissen immer noch nichts von unsern Plänen. Auch `n bisschen arschig von uns – vermutlich. „Willste denn dahin?“

„Klar!“ Er sieht hoch zur Turmuhr. „Mann, dieser Scheißbus is schon wieder zu spät - zu spät.“ Er tastet nach seiner Manteltasche. Ein Buch lugt heraus und ich schnappe es mir.

„Hä? Lerne lachen ohne zu weinen. Äh, cooler Titel.“

„Wie man`s nimmt“, meint Jan. „Ick hatte wat anderet erwartet vom Inhalt.“

Mein Blick fällt auf den Autor. „Tucholsky? Ernsthaft? Du musst doch jetz nüscht mehr für die Schule lesen.“

„Ick les einfach gern.“ Er sagt es, als wäre das vollkommen normal. Obwohl – ich les auch gern. Aber eher so Comics. „Tucholsky is sogar `n ziemlich ironischer Zeitgenosse“, fährt Jan fort. „Könnt dir och jefallen. Wenn de willst, kann ich`s dir mal leihen. Hat `ne ziemlich spitze Feder und zieht über das Spießertums in den 30ern her. `N paar Jahre später haben se dann seine Bücher verbrannt.“ Er steckt das Buch wieder in seine Manteltasche. „`N paar Gedichte sind och drin.“

„Echt? Du liest Gedichte?“ Der Junge erstaunt mich immer wieder.

„Ja, klar. ... Sind ja wie Songtexte. Nur ohne Musik.“ Er zieht das Buch wieder hervor, blättert es hinten auf, zeigt mir die letzte Seite, die kein leeres Blatt Papier mehr ist. Unter der funzeligen Straßenlaterne kann ich leider kaum was lesen, obwohl Jan `ne ordentliche Handschrift hat. Irgendwas mit „Vollmilch“. Keine Ahnung wie das zusammenhängt mit Tucholsky, aber bei Jan macht es bestimmt auf genial verdrehte Art Sinn.

„Was steht`n da?“ Ich deute auf etwas, unter dem Oscar Wilde steht.

„Ick wollt dit so als das Motto für unsere neue Band:


Es gibt nur etwas, das schlimmer ist,
als daß Leute schlecht über uns sprechen:
daß sie überhaupt nicht über uns sprechen.


„Ha! Gefällt mir. Lieber skandalös als langweilig, wa? Aber vor allem soll et Spaß machen.“

„Genau.“ Jan strahlt mich an, als wollte er ganz Spandau erhellen. „Es muss witziger werden! Ick kann die „Bullenschwein“-Nummern echt nich mehr ab. Witziger, aber och – mhm, abgedrehter, so `n bisschen Dada.“ Jan sieht mich auf einmal ziemlich ernst an, fast ein bisschen ängstlich. „Vielleicht mehr Pop als Punk, also halt mit richtigen Melodien. Fändste dit schlimm?“

„Weeß ick noch nich. Muss ick mir noch überlegen.“ Damit hatte ich echt nicht gerechnet. Aber ein echter Neuanfang wäre schon auch geil. „Eigentlich bin ick schon Punk ... Aber kann man ja och im Herzen sein, wa?“

„Absolut. Ick hätt och gern `ne Prise versteckte Poesie. Willste noch wat von Oscar hören?“ Ich nicke etwas übereuphorisch und er grinst. „Mhm. ...“ Jan sieht mich nachdenklich an. „Hmmm ... Das könnte dir vielleicht gefallen.


Versuchungen sollte man nachgeben.
Wer weiß, ob sie wiederkommen!



Kurz bin ich echt baff, dann muss ich grinsen. „Steht da vielleicht `ne Widmung für mich drunter?“

„Klar. Für Dirk Felsenheimer, späterer Künstlername: Bela auuuus Berlin.“

„Haha! Aber eijentlich is dit keen richtiget Jedicht.“

„Nee. Sin eher Aphorismen. Den hat er och für dich jeschrieben.


Gib dich jeder Frau gegenüber so,
als seist du in sie verliebt,
und jedem Manne,
als sei er dir überlegen!
Bald wirst du dich im Rufe
des vollendeten Gentleman befinden.


„Dit stimmt aber nich. Ick tu eher so, als wär ick jedem Typen überlegen.“

Jan sieht mich schmunzelnd an. „Wohl wahr, alter Prügelknabe.“ Er zückt einen imaginären Bleistift. „Tauschen wir wo besser ma aus, wa?“

„Aber dit mit den Frauen ... Joa. Passt schon irgendwie zu mir. Außerdem bin ick voll der vollendete Gentleman.“

„Genau. Und vor allem in jede Frau verliebt.“ Jan macht dieses Ding mit einer seiner Augenbrauen, dass sie wie `n perfektes Dreieck hoch geht. Das wirkt immer so `n bisschen diabolisch, aber ich weiß schon, was er meint.

„Na, verliebt bist ja wohl eher du, Alter.“

Sein breiter Mund verzieht sich zu einem Lächeln, kein Grinsen. Ja, der ist richtig verknallt. Es leuchtet aus ihm, hat etwas Hypnotisches, das mich übelst anzieht. Da gibt es irgendso ein Sprichwort mit Motten und Licht. Jan strahlt einfach. Noch mehr als sonst. Fuck.

„Mann, ick mag halt viele Frauen. Aber nich nur.“ Ich sehe Jan ernst an, aber weiß nich, ob er versteht. So ganz kapier ich`s ja selber nich, was er für eine Anziehungskraft auf mich ausübt. Ich bin nich schwul oder so. Ades und seine Clique haben sich wirklich Mühe gegeben damals, mich von den Vorzügen der Liebe zwischen Männern zu überzeugen.

„Mit Oscar ist es übrigens nich so gut ausgegangen. Sie ham ihn eingesperrt, weil er schwul war. Seine Theaterstücke durften nich mehr gespielt werden.“

Mein Atem stockt. „Und ... warum erzählste mir dit jetze?“

„Weil ich`s so krass fand. Echte Scheißzeiten.“

„Mhm. Na, so richtig jut is et immer noch nich, oder? Aber Berlin – also, West-Berlin – is janz okay. Keene Ahnung, wie die das im Osten so damit halten. ... Und du kannst die Aphordings eenfach so auswendig?“

„Sin ja nich so lang. Und die ... die haben so `n Nachhall in mir. Da kann ick se mir eenfach jut merken.“ Jan lächelt. „Dit hier hat er och nur für dich jeschrieben, du Trödeltyp. Der Scheißbus scheint dit auch als Motto zu haben.“


Pünktlichkeit
stiehlt uns die beste Zeit.


„Ja, der jute Oscar is echt nach meinem Geschmack. Aber ick könnt das nie so ausdrücken.“

„Aber du liest doch och gerne so Klassiker.“

„Joah. Wenn de Frankenstein und Dracula meinst schon.“

„Na, also. Kannst es ja mal probieren in deinen nächsten Texten.“

„Wär schon cool, aber ... dit bin irgendwie nich ich. So gestelzt. Ick bin halt schon och eher `n Spandauer Prollpunk. Oder Spaßpunk.“

„Wenn man vom Teufel spricht ...“

„Teufel? Wo?“ Ein helles Licht streift mich. Der Bus steuert auf uns zu. So richtig mag ich es nicht, wenn der Bus Jan fortträgt. Schade, dass der nich auch hier in Spandau einfach um die Ecke wohnt, sondern im schicken Frohnau.

Bevor Jan einsteigt, beugt sich zu mir hinunter und flüstert mir ins Ohr:


„Am Ende wird alles gut.
Und wenn es nicht gut wird,
ist es noch nicht das Ende.“





Stonz, Winterfeldtplatz

Ich steuer durch die Tür des „Stonz“ und mein Radar schaltet sofort auf wasserstoffblond und Zwei-Meter-Typ. Aber als Erstes laufe ich in Micha rein.

„Na, Geröllheimer? Willste was mit mir kippen?“

„Hi Cäpt`n!“

„Komm.“ Micha schleppt mich an die Bar. „Erstmal locker machen.“

Jan hat im Vorfeld eine Ansage gemacht: Wenn ich bei ihm pennen will, soll ich mich heute `n bisschen zurückhalten. Normalerweise macht er mir echt keine Vorschriften. Liegt wohl daran, dass wir bei seinen Eltern sind. Und eigentlich will ich ihm beweisen, dass ich das auch kann. Einfach mal ein Abend ohne Alk oder sonst was. Sollte doch kein Problem sein, oder?

Jetzt hier am Ort des Geschehens ... Ich schlucke. Ob er merkt, wenn ich was schmeiße? Oder doch einfach nüchtern bleiben? Seltsames Gefühl. Das würd ich echt für niemand machen außer ihn.

„Lass ma `ne Flasche Weisswein rüberwachsen“, befiehlt Micha in der ihm sehr eigenen Art dem noch recht jungen Typen hinter `m Tresen.

„Aber ich kann doch nicht einfach ...“

„Ey, ich trete heute hier auf. War so ausgemacht. Also, her damit.“

Der Typ reagiert nicht.

„Hey, soll ich deinen Chef herholen, oder was?“

„Nee. Is ja schon jut.“ Er holt aus dem Regal eine Flasche.

Micha klopft energisch auf den Tresen. „Kalten. ... Bitte!“

Ohne weitere Diskussion wechselt der Typ die Flasche. Ich weiß nicht, ob er Micha kennt oder ob dessen Art ihn so einschüchtert. Dabei ist er eigentlich echt okay. Meistens. Der ist oft auch so angezündet wie ich. Ist mal ganz angenehm, nich der Einzige zu sein, der so abgeht. Neben dem braven Jan wirk ich ja manchmal echt wie `n Irrer.

Ich deute auf die Flasche. „Willste die jetzt noch vor `m Auftritt killen?“

„Nee, nich ganz. `N bisschen Professionalität ist ja schon auch wichtig. Aber du hilfst mir doch bestimmt gerne.“

„Äh ... also, ...“

„Was ist denn mit dir los, Barney? Alles okay?“

„Ja, klar. Freu mich echt auf das Konzert. Aber ... ick mach heut Trinkpause.“

„Seit wann bis du denn so Anti-Alk? Ich dachte, das hätt nur Jan.“ Er mustert mich. „Oh, nein. Hat der große Blonde dich jetzt missioniert?“

„Nein.“ Ich überlege. Tatsächlich sagt Jan nie wirklich was, egal wie drüber ich bin. Allerdings sind seine Blicke auch oft nicht grad subtil.

„Na, dann is ja jut. Bisschen auf Temperatur bringen.“ Micha setzt die Flasche an, reicht sie dann mir. „Kann doch nich schaden.“ Bisschen seltsam sind seine Sprüche aber auch, denn ich weiß, dass Micha ziemlich Anti-Drogen ist.

Ich nippe am Wein. Mhm, lecker. Das fällt ja wohl noch nicht unter komplett dicht sein.

Jan taucht neben mir auf, umarmt Micha zur Begrüßung, mustert kurz die Flasche in meiner Hand, sagt aber nichts.

„Hi, ihr Beeden!“ Er beugt sich zu mir. „Na, wie sieht`s aus? Beehrste heut dit idyllische Frohnau?“

„Na, klar.“ Ich kann gerade noch Jans Lächeln sehen, da erscheint wie in einem schlechten Zaubertrick Bine hinter seinem Rücken. Die scheint in diesen Tagen echt an ihm festgetackert zu sein. `N Schnaps wär schick. Ohne könnt `n bisschen anstrengend werden mit dem Doppelpack.

Außerdem ist Jans Idee eines „reinen“ Belas auch `n bisschen Quatsch. Hier wird geraucht, als säßen wir in `nem Fabrikschlot. Ohne Pegel ist das echt unangenehm. Also zünde ich mir auch erstmal eine an.

„Hi Bela!“ Hinter Bine winkt mir Gitti zu. Erleichtert gehe ich zu ihr hinüber.

„Guten Tag, Herr Felsenheimer. Schön se zu sehen.“

„Hrrrhm.“

„Aber, aber ... Wat ham wir denn heut an diesem schönen Abend für schlechte Laune?“

„Die Turteltäubchen nerven“, grolle ich, vielleicht etwas zu ehrlich.

Sie sieht zu Jan und Bine, die am Knutschen sind. „Da sachste wat Wahres.“ Sie rollt geradezu kunstvoll mit den Augen. „Aber – wart ma ab. Dit ändert sich wahrscheinlich schneller, als de gucken kannst.“

Ich sehe sie verständnislos an. Hab ich was verpasst?

„Na, ick versteh halt nich, wieso sie ihm das angeboten hat mit dem Zusammenziehen. Hat se echt noch nie jemacht.“

„Wie meenst`n dit mit „schnell ändern“?“

„Na, sie ist schon echt verknallt, aber ... Du bist doch och nich so der monogame Typ, Schätzchen, oder? Jenau wie icke.“ Sie legt mir den Arm um die Schultern. „Deswegen komm wir zwee doch so jut miteinander aus. Also, Bine tickt da eijentlich och nich so Richtung traute Zweesamkeit.“

Ich nicke zu den beiden hinüber. „Sieht aber nich so aus.“

„Abwarten.“

„Dit wird Jan dit Herz brechen.“

„Na, warn ihn schon ma besser vor.“ Sie zieht bedeutungsvoll die Augenbrauen hoch.

„Dit is doch och doof. Ick hab den noch nie so gesehen. Der soll einfach ma so richtig schön verknallt sein. Ohne wenn und aber. Passiert ja och nich so oft.“

„Wenn de meinst ...“

Micha hat sich wohl irgendwann in unserem Beziehungsdramagespräch abgeseilt, denn auf einmal steht er mit den restlichen Suurbiers auf der Bühne.

„Wir sind Frau Suurbier“, sagt Micha ins Mikro und das Publikum johlt, pfeift und klatscht. „Hans Suurbier am Bass.“ Der lange Typ verbeugt sich. „Tom Suurbier an den Drums.“ Tom steht auf und winkt mit seinen Sticks. „Und wie immer für euch am Mikro, der Cäpt`n. Hier ist „Teenage Rebell“. Lasst euch nich unterkriegen von euren Alten und vom System.“  

Das Publikum ist nur noch ein einziges Gröllen und ich will rein in diese Menge, mich in den Moshpit stürzen.

Auf dem Weg nach vorne stößt beim Vorbeigehen ein Typ mit seinem Ellbogen gegen mich. Sein halbes Bier schwappt auf mein T-Shirt. Genau der richtige Grund zum Ausflippen. „Hey, Alter!!! Kannste nich besser ufpassen, du Arschloch.“

Der Typ dreht sich zu mir, zusammengekniffene Augen, breites Kreuz, Glatze, Hosenträger. Ah, geil. Ein Skin. Ich blitze ihn an. Als ob sein Aussehen mich einschüchtern würd. Wenn er sich da mal nicht irrt.

„Willste `n paar auf die Fresse, du Wicht!“ Er macht sich größer, spannt sein Kreuz noch mehr auf. Denkt wohl, er spielt in `nem Western mit.

Ah, fuck. Zwei seiner Kumpels sind auf die Szene aufmerksam geworden. Ein kleiner Drahtiger und einer, der jetz schon ein blaues Auge hat. Sehr vielversprechend.

Angriff ist immer die beste Verteidigung. Ich renn dem Biertyp mit Anlauf in den Bauch. Wir fliegen durch die Menge direkt auf die Tanzfläche, auf der es bisher beim ersten Lied noch relativ gemütlich zugegangen ist.

Micha singt gerade passenderweise „wie ein wilder Stier“. Dann bekommt er wohl mit, was vor ihm abgeht. „Yeaaaaaah! Punkrooock!“, brüllt er ins Mikro und springt von der Bühne in hohem Bogen direkt in die Prügelei, erwischt dabei den drahtigen Skin am Arm.

Der Bier-Skin versucht mir die Flasche über den Kopf zu ziehen, aber da ich nichts getankt habe, bin ich echt wendig. Ich lache ihm ins Gesicht. Faust voran stürzt er sich auf mich. Dieses Mal bin ich nicht schnell genug. Einer seiner Ringe bleibt an meiner Wange hängen. Oh, das zeckt. Mir wird kurz schwarz. Ich fasse an die Stelle. Fuck. Blut! Das kriegt er zurück!

Ich trete ihm gegen das Schienbein, er krümmt sich. Der Moment, ihm von unten einen Haken in den Magen zu knallen. Er geht zu Boden. Ich will schon die Arme hochreißen, ob des gelungenen Schlages, aber da sind seine Kumpel zur Stelle – und Micha. Er würgt den mit dem blauen Auge von hinten, tritt ihm die Beine weg.

Ich habe Micha schon oft in Prügeleien gesehen. Irgendwie treffen wir uns öfter in solchen Situationen. Aber zum ersten Mal sehe ich ihn nüchtern. Fast bin ich ein bisschen geschockt von der rohen Gewalt, die er ausstrahlt. Aber auch dankbar gerade.

Lange geht unsere coole Keilerei allerdings nicht. Die Ordner sind Rockertypen mit Kutten. „Auseinander, Leute“, dröhnt einer, dessen Spitzname „Koloss“ ist. Wir kennen uns inzwischen ganz gut. Er wird immer vorgeschickt bei Schlägereien. Tatsächlich kuschen sogar die Skins vor ihm.

„Du!“ Er deutet auf Micha. „Geh mal wieder singen. Immerhin haben die Leute hier Eintritt für eure Combo gezahlt.“ Ich warte darauf, dass Micha jetzt komplett ausflippt, aber anscheinend ist er gerade mal für rationale Argumente zugänglich.

Ich hebe noch mal die Faust in die Richtung der Skins und wir starren uns dramatisch böse an, werden dann in verschiedene Teil des „Stonz“ geschickt.

„Wenn`s heute Abend nochmal Ärger gibt“, erklärt mir Koloss, „dann fliegste raus. Verstanden?“

Ich nicke. Hm. Betrunken macht das echt alles nur halb soviel Spaß. Man spürt die blauen Flecken und Wunden sofort. Echt uncool.

Ich hinke zu den Toiletten und untersuche die Schramme auf meiner Wange, halte dabei Ausschau nach den Skins. Die sind nachtragend, wenn sie denken ihre „männliche“ Ehre wäre beschmutzt worden. Arschgeigen.

Der Spiegel zeigt mir einen langen, blutenden Schnitt. Scheiße. Na, `n bisschen kaltes Wasser drauf. Wird schon wieder aufhören zu bluten.

„Wie siehst du denn aus?“ Gitti reißt die Augen auf, Jan kneift sie zusammen.

„So schlimm?“

„Naja.“ Gitti betrachtet mein Gesicht. „Sieht cool aus, aber tut och weh, wa? Willste `n bisschen wat Schnellet gegen die Schmerzen?“ Sie zeigt auf ihre Handtasche. Echt wunderbar praktisch veranlagt die Frau. Ein Blitz aus Gier läuft durch meinen Körper.  

„Solln wir schauen, ob wir `n Pflaster finden?“ Jan sieht skeptisch auf meine Wange. „Nich, dass sich dit entzündet. Wir wollen schließlich `ne schnieke Popband werden“, grinst er dann.

„Narben formen den Charakter des Erlebnishungrigen“, erwidere ich. „Is och von Oscar Wilde.“

„Hungrig auf Fäuste, wa?“ Er schüttelt leicht den Kopf. Den Rest des Konzerts verbringt er mit Bine, halb knutschend, halb im Takt mit wippend – ich damit nicht zu trinken, das angebotene Speed von Gitti noch mal abzulehnen und mich von den Skins fernzuhalten.

Immer wieder fällt mein Blick auf die beiden Lover. So wie letztes Mal schon drückt Bine Jan an die Wand, eine Pose, die mir viel zu gut gefällt. Anfangs wirkt es etwas einseitig. Ich glaube, Jan steht eigentlich nicht so auf knutschen in der Öffentlichkeit. Aber dann legt er ihr seine Hand in den Nacken und zieht sie an sich. In meinem Nacken kribbelt es. Vielleicht sollte ich doch mal sehen, ob ich Gitti wieder finde oder jemand anderen. Ah, das ist sie ja.

Wir stürzen uns zurück ins Publikum. Mann, liebe ich solche Abende. Mit `ner Prise Speed wär`s noch schicker, aber okay ...

Die Suurbiers sind wirklich gut. Micha ist einfach ein krass charismatischer Frontmann, wenn auch immer wieder an der Grenze zur Durchgeknalltheit schrammend.

Nach der zweiten Zugabe zieht mich Jan aus dem Moshpit, bekommt einen Arm in die Fresse und ich will mich schon auf den Übeltäter stürzen, aber Jan grinst den Typen nur an. Ja, ja, die Liebe. „Hey, wir sollten los zur letzten S-Bahn.“

„Ja, klar.“ Ich will auch los. Konzerte sind nüchtern ganz nett, aber es fehlt die Kompromisslosigkeit, der Taumel, der Sog. Wenn ich ehrlich bin, ist das, glaube ich, das erste Mal, dass ich nüchtern auf einem war.

„Ey, Jan!“ Bine schnappt sich Jans Arm und legt ihn sich um. „Willste nich doch mit zu mir kommen?“ Sie umschnurrt ihn wie eine Katze. Oder wie ein Panther. Und sie macht das viel zu gut.

Ich hake mich an Jans anderer Seite ein, lächle sie über seinen Brustkorb hinweg an: „Tja, leider, leider wird das heut nüscht. Der Jan hat schon eine Verabredung – avec moi.“

„Wat? Wie jetze?“ Bine starrt mich perplex und nun auch ein klein wenig feindselig an, dann sieht sie zu Jan auf. „Läuft da was mit euch?“

Mann, am liebsten würd ich Jan vor ihren Augen abknutschen, aber da ist er wohl nich für zu haben.

Er sieht mich an, als wüsste er was ich vorhab, fast `n bisschen unheimlich. Er zieht die Brauen hoch. „Ja, is ja schon jut.“ Ich wende mich an Bine. „Nee, wir ham aber trotzdem `n Date heute.“

„Na, toll!“

„Hä, dit hab ick dir doch jesacht?“ Jan wirkt irritiert. „Ick bin das Wochenende in Frohnau.“

„Weeß ick ja. Aber - warum darf er mit? Ick würd och mitkommen. Aber mich haste nich gefragt.“ Sie zieht ihn am Ärmel weg, in den hinteren Bereich. Ich beobachte die Szene aus der Entfernung, verstehe nicht, was sie sich mit viel fahrigen Handbewegungen versuchen zu erklären. Schließlich knutschen sie wieder. Halleluja!

Da ich gar nichts konsumiert hab, werd ich in der S-Bahn tierisch müde. Mein Kopf lehnt an der Scheibe. Draußen schiebt sich der düstere Teil von West-Berlin vorbei. Dann der fett ausgeleuchtete Todesstreifen. Deprimierend. Bis in den hohen Norden dauert es echt ewig. Ich rutsche im Sitz zurück, lasse alles an mir vorbeirauschen, die Lichter, die ein- und aussteigenden Menschen. Er werden immer weniger ...

Eine Hand an meinem Arm. „Mhmm?“

„Hey, Bela! Aufwachen.“

„Was `n los?“

„Endstation. Wir müssen raus.“ Jans Worte kommen von direkt über meinem Kopf, ganz nah. Kratzige Wolle an meiner Wange. Der Schnitt tut immer noch weh.

Ich sehe desorientiert auf. Sein Gesicht ist nur einen Handbreit von meinem entfernt. Anscheinend hab ich an seiner Schulter gepennt. Ich richte mich verschlafen auf. „Oh, sorry!“

„Allet jut! Du hast nur so krass geschnarcht, dass de alle Leute vertrieben hast. Siehste?“ Er deutet durch den verlassenen Wagon. „Keener mehr da.“

„Was?“

Er grinst mit seinen 52 Zähnen. Arsch.



Senheimer Str. 44, Frohnau  

Auf dem S-Bahnsteig „Frohnau“ weht ein frischer Wind. Er riecht nach Wald und vermoderndem Laub. Jan lotst mich durch kleine, hübsche Vorortstraßen mit kleinen, hübschen Laternen. Ich gähne. Echt nett hier in der Gartenstadt Frohnau. Kein Vergleich mit den Mietskasernen, wo ich wohne.

„Da sind wir.“ Jan deutet mit großer Geste auf ein zweistöckiges Haus. Jägerzaun, ein paar Erker. Schöne Fenster. Er sperrt die Haustür auf, an der ein Kranz aus Tannen hängt. Vielleicht noch von Weihnachten. Die Tür quietscht und er hält erschrocken inne. „Is schon `n bisschen älter. Noch aus den zwanziger Jahren.“

Im Flur duftet es noch schwach nach Abendessen. Komisch, dass Häuser für Leute so unterschiedlich riechen. Für Jan bedeutet der Geruch zu Hause. Für mich ist es total fremd. Aber es riecht wirklich gut.

Wir schleichen die Treppe rauf. Jan wohnt direkt unter dem Dach. Er zeigt auf die verschiedenen Türen und erklärt flüsternd: „Hier schläft Julchen. Meine Eltern sind unten. Bad ist hier.“ Er öffnet die letzte Tür. Ich bin echt neugierig. Das letzte Mal waren wir nur schnell im Keller.

Jan schaltet die Lampe auf seinem Schreibtisch an. Der Lichtkegel fällt auf vollgekritzelte Seiten und ein paar Zeichnungen. Ich trete näher. „Wow. Die sind echt gut.“ Ich wollte als Kind Comiczeichner werden. Oder Grafiker.

Jan tritt neben mich. „Danke.“

„Ick zeichne och. Die sind echt jut. Wusst ich gar nich von dir.“

„Hab sogar `ne Mappe für die Kunstakademie gemacht.“

„Was? Krass, Alter? Warum sachste denn nichts.“

„Na, weil ...“ Seine Miene verzieht sich fast schmerzhaft. „Sie haben mich mehr oder weniger ausgelacht.“

„Was? Arschlöcher.“ Ich lege meine Hand auf seinen Rücken. „Die werden nich mehr lachen, wenn wir erstmal reich und berühmt sind.“ Damit bekomme ich ihn zum Schmunzeln.

„Na, dit müssen wir erstma schaffen, wa?“

Ich sehe mich weiter um. „Die Beatles, hm?“ Ganze vier Plakate.

„Weeßte doch.“

Daneben noch ein paar Flyer von den Soilent Grün-Konzerten. Und Flyer, auf denen immer wieder das Wort „London“ auftaucht. Und „The Buzzcocks“. „Hasste die echt in London gesehen?“

„Ja. Absoluter Wahnsinn. Ich muss unbedingt mal wieder rüber.“ Er sieht zu mir hinüber. „Warste schon mal in London?“

„Ja, aber dit war nich so erfolgreich. Ick war nur `n paar Stunden in London. Den Rest bei meiner Freundin Tanja auf`m platten Land. Dit is in England och nich schöner als in Deutschland. Und ihre Au-pair-Eltern haben ständig gecheckt, dass wir nichts „Unanständiges“ miteinander machen.“ Ich schüttel den Kopf. „War echt `n ziemlicher Reinfall.“  

„Echt? Ich fand`s Wahnsinn dort. Ecky und ich haben dort so viele Konzerte wie möglich besucht.“

Scheiße. Ich bin echt eifersüchtig – auf Ecky und ihr gemeinsames Erlebnis. „Wenn habt ihr gesehen?“

„Am coolsten waren schon The Buzzcocks. Und The Cramps.“

„Bist du bescheuert?“ Ich schubse Jan und er fällt gegen den Schreibtisch.

„HEY!“

Ich lege die Hand an den Mund und deute auf die Wand.

Jan reibt sich seine Hüfte. „Dit jibt uf jeden Fall `n blauen Fleck.“

„Na, irgendwoher musste sie ja kriegen, wenn de schon nur rumknutscht anstatt mit zu pogen.“

Er verzieht den Mund. Ja, ich nerve. Aber er auch. Neutrales Thema. „Ey, The Cramps? Was glaubst du, wie lange ich die schon sehen will? Als die in Berlin warn, lag ick mit 40, naja 38 Grad Fieber, im Bett. Voll scheiße.“

„Ja, die warn echt janz cool.“

„Ey, die machen genialen Horrorpunk.“

„Ick fand dit war eher so Rockabilly.“

„Ja, dit och. Einfach der Wahnsinn. Die lassen sich nich so in `ne Schublade pressen. Find ick echt prima so wat, sogar besser, als wenn et so einheitlich langweilig is.“

„Versteh schon, du kleener Fanboy. Find ick och jut. Also, wenn wir unsere neue Band haben, dann will och nich so festgelegt sein. Ick find viele Sachen jut.“ Er zeigt auf seine Plattensammlung.

„Comedian Harmonists???“

Jetzt legt Jan warnend den Finger an die Lippen. Dann verschränkt er die Arme und reckt sein Kinn leicht vor. „Ja. Mag ich halt!“

„Ick och.“ Ich bin so begeistert, dass ich ihn umarme. Kurz ist er noch ein wenig starr, dann grinst er.

„Endlich mal jemand, der die och mag. Ey, Bela, ick gloob, dit wird echt jut – dit mit uns beeden.“

Er reckt die Arme nach oben und gähnt. Sein Hemd geht nach oben und ich sehe sehr viel flachen Bauch, den leichten Haarstreifen, der in seine Hose führt. „Wollen wir uns hinlegen?“

Sein Bett steht unter der Schräge und sieht wahnsinnig gemütlich aus, aber schmal.

„Okay, wo ...?“

Er holt hinter einem großen Wandschrank eine Matratze heraus und legt sie neben seinem Bett auf den Boden.

Er öffnet die Balkontür. Krass. Zimmer mit Balkon. Nett haben sie es schon hier in Frohnau. Fast wie auf dem Dorf in der Serie „Neues aus Uhlenbusch“, als wär ick in irgend’ne ZDF-Vorabendserie gebeamt worden.

Ich geh hinaus auf den Balkon. Vor mir steht ein riesiger kahler Baum. Stille. Keine Autos. Auf der Seegefelder brausen die die ganze Nacht durch. Was für eine Idylle. Ich drehe mich zu Jan, der gerade seine Hose öffnet.

Ohne weiter zu überlegen, pfeife ich leise. Jan stutzt, dann grinst er mich an. „Für Sie strippe ich doch immer am liebsten, Herr Felsenheimer!“, säuselt er mit verruchter Stimme.

Ich lehne mich gegen das Geländer und sehe ihn herausfordernd an. Tatsächlich beginnt er aufreizend langsam sein Hemd aufzuknöpfen. Das blöde Spiel macht mich wirklich an. Fuck, ich will ... Schnell dreh ich mich weg, damit Jan nicht sieht wie sehr.

Er tritt neben mich mit einem Kleiderbügel in der Hand. „Ich lass meine Klamotten draußen.“ Er zieht sein Hemd darüber, hängt ihn an der Brüstung fest. „Die stinken sonst echt alles voll. Willste auch frische Klamotten?“

„Gern.“

Er drückt mir sein schwarz-gelbes Langarmshirt in die Hand, dass ich ewig nicht mehr an ihm gesehen habe. Das letzte Mal bei dem Open-Air mit Soilent Grün in Spandau. Er kleidet sich etwas schicker in den letzten Monaten, is nich mehr der junge Punker mit den D.I.Y.-Klamotten. Manchmal vermiss ich den Jungpunk, der er war. Es macht mich ganz nostalgisch und am liebsten würde ich die Nase hinein pressen. „Äh, danke.“

Jan schlüpft in T-Shirt und Unterhose in sein Bett. Ich bin auf einmal fast ein wenig schüchtern mich hier in seinem Kinderzimmer auszuziehen. Aber schließlich liege ich auch im Bett.

„Machste dit Licht aus?“

Ich suche im Dunkeln den Weg zurück zu meiner Matratze, stolper aber darüber und stütze mich gerade noch am Bettrand ab, ohne auf Jan zu fallen.

„Holla, Überfallkommando Bela. Allet jut?“

Soll ich`s probieren? „Hey, kann ich zu dir ins Bett?“

„... Wieso? Ist die Matratze unbequem? Wir könn auch die Betten tauschen, wenn dir dit lieber is. Ick hab keen Problem auf der Matratze zu schlafen.“

„Nee. Is bequem.“

„Is dir kalt?“

„Nee, schon jut.“ Ich lege mich wieder hin. Jetz fühl ich mich noch mehr allein. Scheiße. Keine Ahnung, warum ich immer so andere Menschen brauche, so viel Körperwärme. Und Jan. „Ja. Irgendwie doch kalt.“

„Ich hol dir noch `ne Decke.“

„... Okay.“

Jan breitet eine Wolldecke über mich aus, so wie meine Mutter es früher manchmal gemacht hat. Es wird echt ein bisschen kuschliger.

„Is es besser?“

„Ja.“ Ich mag wie er mich umsorgt. Der Wind drückt gegen das Fenster und lässt die Glasscheibe knacken. „Is schön hier.“

„Gut.“

„Wärste jetz gern bei Bine?“ Wieso mach ich die Stimmung kaputt? Doof.

„Ja. Aber ick find`s och grad schön hier. War `ne jute Idee von dir!“ Er klingt echt zufrieden. „Ick vermiss sie trotzdem, obwohl wir ja fast den ganzen Tag zusammen sind. Sie ist echt toll.“

„Und ansonsten?“

„Was ansonsten?“

„Ist es denn ... Is es mit ihr besser als dein erstet Mal?“

Er stöhnt auf. „Dit lässt dich nich los, wa?“

„Ick will nur helfen.“ Ich versuch, es unschuldig klingen zu lassen. Aber ich bin auch verdammt neugierig. „Wann haste eigentlich dit erste Mal rumgeknutscht?“ Ich erwarte, dass er mich wieder abwimmelt, aber die Antwort kommt echt schnell.

„Mit 9.“

„Waas? Also, ick meen so richtig, mit Zungenkuss.“

„Sach ich doch – mit 9.“

„Ernsthaft?“

„Ja. Mit Lisa und Lisa.“ Er dreht sich oben auf seinem Bett zu mir. Seine Zähne leuchten weiß in der Dunkelheit. Dieses scheiß Grinsen.

„Dit war im Ferienlager in Schweden bei den Falken. Absolute Anarchie. Wir konnten machen, wat wa wollten.“

„Du knutscht als Kind mit zwei Mädels und hast jetz Probleme mit Sex?“

„Mann, jetz tu doch nich schon wieder so, als wär ick die holde Jungfrau, nur weil ick nich jedes Mädchen flachlege, die nicht Nein sagt.“ Jan hört sich auf einmal wieder genervt an. Dann atmet er durch, etwas ruhiger fragt er in die Dunkelheit: „Wann hast du denn das erste Mal rumgeknutscht?“

„Mit 15.“

„Echt? Und wie hieß sie?“

„René.“ Stille. Das hatte ich befürchtet. „Hatteste denn nie was mit `nem anderen Jungen? ... Mit Ecky zum Beispiel?“ Ich sehe die beiden braungebrannten Blonden miteinander irgendwo am Strand - in Italien zum Beispiel. Ein ziemlich hübsches Bild, aber es gibt mir auch einen Stich. Mit Ecky hat Jan eine Ebene, die wir so bisher nie erreicht haben.

„Nee.“ Er schüttelt sich, lacht leise. „Also, ick kann sehen, dass Ecky gut aussieht und ich lieb den echt als Freund und so, aber ... Nee. ... Hast du denn schon viele Jungs geküsst oder ...?“

Wie viel kann ich sagen? Wäre er geschockt, wenn ich ihm alles erzähle? Vielleicht mal vorsichtig vortasten. „Ja. Also ja, ick hab schon viele Jungs geküsst, meen ick.“

„Ha. ... Ich hab nur ... dich bisher.“

Die Atmosphäre im Raum verändert sich. Das es auch noch sein Kinderzimmer ist, elektrisiert mich noch mehr. „Mochtest du es denn?“

Ich glaube, er nickt im Dunkeln.

„War das ein Ja?“, frage ich vorsichtig nach.

„Mhmm.“

Spürt er das Kribbeln auch? „Wenn du ... das mal wieder möchtest, ne, dann ... gerne.“ Ich warte mit angehaltenem Atem. Das kann jetzt in viele Richtungen gehen. Liegen wir gleich knutschend bei ihm im Bett oder weist er mich nun komplett zurück?

„Mhmm. ... Danke.“

Ich sollte es fallen lassen, aber das Thema ... dieses manchmal unterschwellige, dann wieder offene Hin und Her ... „Danke ja? Oder danke nein?“

„...“ Er sieht zu mir hinunter. „Ein Ja ...“

„Aber ...?“

„Na, grad bin ick mit Bine zusammen.“

„Nich zu übersehen. Aber vielleicht solltest du `s och mal mit `n paar anderen probieren.“

„Mit dir?“ Er klingt amüsiert, auf eine nette Art und fast bin ich versucht das Spiel ein wenig weiter zu treiben.

„Jederzeit, weeßte ja jetz. Aber ick meinte jerade vor allem andere Frauen.“

„Wieso denn? Broch ick nich.“

Ich seufze, hoffentlich unhörbar. „Okay. Aber du weeßt, et jibt och andere Frauen außer Bine, ne?“

„Ja? ... Willste mir irgendwat durch `nen Blumenstrauß mitteilen? Ick versteh nämlich echt nich, wat de meinst.“

„Nur ... Lass dir nich dein hübschet Herz brechen, okay?“

„Sehr beruhigend. ... Wat is`n los?“

„Nüscht.“

„Dann halt nich. ... Gute Nacht!“ Er dreht mir den Rücken zu.

Ich setze mich auf. „Hey! Ich mach mir halt Sorgen.“

Er dreht sich wieder zu mir. Seine blonden Haare schimmern in der Dunkelheit. „Worüber denn?“

„Manchmal ... manchmal geht das nich so gut aus, wenn man so krass verknallt is.“

„Gönnste mir dit nich?“ Es klingt eher verzweifelt als böse.

„Nein, Jan. Ick wünsch dir echt allet Jute, aber ...“ Soll ich mit ihm Gittis Einschätzung teilen? Aber das geht garantiert schief. Kill the messenger. „Ick hab dit selbst schon erlebt.“

„Mhmm.“

„Und man denkt immer, einen selber erwischt dit nich, aber ...“

„... Okay. ... Danke, Bela.“



*  *


Tagsüber ist das Haus sogar noch gemütlicher als nachts.

Und - wow. Seine Mutter sieht echt gut aus. Also, wirklich gut - für eine Frau in ihrem Alter. Vor allem wenn sie einen so anlächelt wie gerade. Aber das behalte ich wohl besser für mich. Eine gewisse Familienähnlichkeit ist nicht abzustreiten. Von seinem Vater hat Jan sein gutes Aussehen also vermutlich nicht.

„Guten Tag.“ Ein Typ in Hemd und Wollpullunder kommt in die Küche gestiefelt wie ein Feldherr, hält mir die Hand hin. „Marciniak.“

„Dirk. Dirk Felsenheimer.“ Widerwillig schüttel ich sie, will nich sofort `nen schlechten Eindruck hinterlassen. „Guten Tag.“ Sein Stiefvater starrt auf mein Nietenband am Handgelenk.

Ich bin schon oft abfällig gemustert worden, aber der Typ hat eine Kälte in seinem Blick plus dieses überkorrekte Benehmen – gruselig. Dabei hatte ich mich echt bemüht `nen guten Eindruck zu machen. Hab extra eine Jeans ohne Löcher und einen fast schon spießigen Pulli von früher eingepackt. Jan hat sich kaum das Lachen verkneifen können, als ich mir das heute morgen übergezogen habe.

Herr Marciniak drückt meine Hand nochmal extra fest und ich bin kurz davor es mit einem Au! zu kommentieren, blicke ihm stattdessen direkt in die Augen. Da kann man Menschen echt immer noch am besten verstehen – die sogenannten Fenster zur Seele. Das lässt mir beinahe das nächste Au! entfahren. Ganz schlechte Aura der Typ.

Ich reiße meine Hand los, sehe zu Jan, der das ganze wohl mitgeschnitten hat. Sein Gesicht ist eine einzige Gewitterwolke.

„Was haben Sie denn da an der Wange?“

Scheiße. „Ich ... ich hatte einen kleinen Arbeitsunfall.“

„So, so. Was arbeiten Sie denn?“

„Ich ...“ Bin arbeitslos? Musiker? „Dekorateur.“

„Aha. Noch nie gehört. Was machen Sie denn da den ganzen Tag?“

„Zum Beispiel die Auslage von Schaufenster dekorieren. Schaufensterpuppen ankleiden.“

Seine Augen werden ganz schmal. „So, so. Klingt mir ein wenig ...“ Er belässt es dabei, aber das Wort in seinem Mund war „schwul“. Darauf würd ich `nen Hunni wetten. So wie sich Jans Miene gerade verzieht, teilt er meine Einschätzung. Oder vielleicht würde der feine Herr Oberstudienrat auch „homosexuell“ sagen, aber er ist sogar so fein, dass er es gar nicht aussprechen kann.

Ich habe keinen Bock auf Stress und lächle Jans Mutter an. „Danke, dass ich herkommen durfte.“

„Klar. Freunde von Jan sind hier immer willkommen.“ Sie lächelt zurück und ich fühle mich sofort ein bisschen wohler. Ihr Blick wandert zu ihrem Mann, der jetzt hinter mir steht, etwas Dunkles schleicht sich in ihr Strahlen. Warnt sie ihn? Oder mich? Hat sie Angst, dass er sie gleich zurechtweist?

Der Typ hat definitiv `ne aggressive Grundspannung unter seinem fein gebügelten Bürohemd und dem Strickpullunder. Die Haare in meinem Nacken stellen sich auf. Ist es das, was Jan aus dem Haus treibt? Und wahrscheinlich ist das noch die gästefreundliche Variante.

„Guten Morgen.“ Ein Mädchen mit langen braunen Haaren hüpft in die Küche, bleibt dann abrupt stehen und sieht sich um. „Is was passiert?“

„Nö.“ Jan hebt sie hoch und dreht sich mit ihr im Kreis. „Allet jut, Julchen?“

„Natürlich“, grinst sie. Ah, das Grinsen kommt von Frau Vetter. Das haben sie alle drei. Schön. Jan setzt sie wieder ab.

„Und wer ist das?“ Sie sieht zu mir hoch.

„Hallo. Ich bin Bela!“

„Ich dachte, Sie heißen Dirk?“ Ich schaffe es nicht hinter dem Rücken des werten Herr Marciniak ein Augenrollen zu unterdrücken. Julchen vor mir beginnt zu kichern.

„Das ist der Name, mit dem ich von Freunden lieber angesprochen werde“, erkläre ich ihm im schönsten Hochdeutsch und mit einem fast nicht provozierenden Lächeln.

Jan fasst mich am Ärmel. „Soll ich dir mal das Haus zeigen?“

„Gerne.“

Julchen folgt uns wie ein Schatten durch das Haus. Es ist schön. Hat echt Stil. Ich kann das beurteilen. Schließlich bin ich Dekorateur. Sogar jetzt im Winter sieht es hier gemütlich aus. Mit Sicherheit der Stil von Jans Mutter.

„Krasses Haus, Alter.“ Am Ende stehen wir im Garten vor dem großen Baum, der sich als Kastanie entpuppt. „Und der Garten ist auch echt der Hammer.“ Über Geld haben wir nie so wirklich geredet, aber richtig reich sind sie wohl trotzdem nicht.

Jan nickt, zuckt dann mit den Schultern. „Könnte echt schön hier sein. Sach ma, wat hältste von Kino?“

„Jetz? Heute?“

„Ja. Im Capitol zeigen sie „Quadrophenia“ und ick kenn denn noch nich.“

„NEIN! Echt?“ Ich liebe diesen Film so sehr, dass mein Herzschlag schneller wird.

„Haste Bock?“

„Da fragst du noch?“ Ich freu mich so richtig. „Sollen wir schauen, ob Micha och Bock auf den Film hat?“

„Klar! Wohnt ja nich weit weg. Wir ham aber noch zwee Stunden, bevor wir los müssen.“

Zurück in Jans Zimmer setzen wir uns vor seinem Bett auf den Boden. Eigentlich ist Samstag mein Ausschlaftag. Aber ich war ja nicht bis in die Puppen unterwegs. Ich strecke mich auf dem gemütlichen Wollteppich aus.

„Haste was von den Suurbiers hier?“

„Klar.“ Er hält mir eine Kassette hin. Aus dem Rekorder tönt „Wie ein Kind“. Eines der echt melancholischen Lieder von Micha. Ich mag es und drehe lauter, worauf Jan sofort wieder den Regler runter schiebt. „Gerd“, ist seine einzige Erklärung, braucht auch nicht mehr.

„Weeßte, was ick an dem Lied so lustig finde?“

„Lustig?“ Jan sieht mich auf einmal so verdammt ernst an, dass ich ihn am liebsten in die Arme nehmen will. Oder ihn aufheitern. „Ich find dit irgendwie eher traurig.“

„Ja, aber wenn der singt „fetter Felsen“, dann muss ick immer an uns beede denken.“

Jan stutzt, dann beginnen seine Schultern zu zucken, dann sein ganzer Körper, schließlich laufen ihm fast Tränen runter vor Lachen.

„Wat ... Also, soo witzig is der nu och nich.“ Ich muss trotzdem mitlachen. Wenn Jan mal wirklich richtig lacht, ist das einfach so krass ansteckend, auch wenn ich nicht weiß, über was er sich so beömmelt.

„Ick hab nur ... jrad jedacht wie wir beede ... unsere neue Band als Duo ...  mit so `nem Doppelnamen starten.“

Okay, jetzt hat er mich abgeholt. „So wie die Suurbiers?“

„Genau. Mit so `nem schön verheirateten ... Öko-Spießer-Doppelnamen. Vetter-Felsenheimer.“ Er wischt sich die Tränen aus den Augen und atmet tief durch.

Um 16 Uhr brechen wir auf. Draußen ist es schon wieder dunkel.



Villa Wahler, Frohnau

Wir laufen zwanzig Minuten, stehen dann vor einem Riesenhaus. Ich würde das sogar Villa nennen. Jans Finger schwebt über dem Klingelknopf, dann drückt er drauf.

Es wirkt als würde er den Atem anhalten, als hinter der großen Tür Schritte laut werden.

„Hey!“ Eine kleinere und jüngere Ausgabe von Micha steht in der Tür.

Jan atmet auf. „Hallo, Axel! Is Micha och da?“

„Klar.“ Der Junge hat wache Augen, aber eine seltsam geduckte Haltung. Vielleicht einfach die Pubertät. Die kann ganz schön nerven. „Aber er is ... nich so gut drauf.“ Er beißt sich auf die Lippen, lange.

„Kein Problem.“ Jan dreht sich schon fast wieder zum Gehen.

„Aber ich kann ihn trotzdem holen.“

„O-okay.“

Schritte schlurfen den Flur entlang. Micha steckt in einem weißen Unterhemd und seinen typischen Bollerhosen.

„Hey, ihr zwei!“

„Wir wollten nur fragen, ob du Bock hast mit ins Kino zu kommen.“ Jan sieht an ihm vorbei, nicht direkt auf die blutigen Kratzer unter seinem Auge und die blauen Flecken auf seinem Arm.

„Hört sich echt gut an.“ Sein Gesicht sieht gar nicht so aus. „Ist `n echt astreiner Film. Aber vielleicht nicht heute. Heute passt es nicht so gut für mich.“

„Ist alles okay mit dir? Wo haste denn die Flecken her?“

„Ach, ... Tom meinte nach dem Konzert gestern, dass er aussteigt. Und dann bin ich nochmal auf diese Assi-Skins getroffen. Naja, ... Sie sehen schlimmer aus.“ Ein ganz kleines Lächeln und wahnsinnig traurige Augen.

„Aha.“ Ich werfe Jan einen vorsichtigen Blick zu, er nickt genauso vorsichtig zurück. „Ey, also, wenn ihr einen Schlagzeuger sucht...“ Ich deute auf mich. „Ich bin demnächst wohl erstmal frei.“

Jan wirft mir einen seltsamen Blick von der Seite zu.

„Cool“, sagt Micha ganz leise. „Das wäre echt gut. Ich meld mich, Bela. Also, dann ihr beiden. Vielleicht `n ander Mal mit Kino, hm?“ Heute ist einer der Tage, an dem Micha in einen Mantel aus Dunkelheit gehüllt ist. Kein Vergleich zu dem Mann, der gestern auf der Bühne alle unterhalten hat.

„Ja, ein ander Mal!“, sagt Jan genauso leise. Die Tür geht ganz langsam wieder zu.

Wir gehen durch`s Gartentor. Jan seufzt so tief, dass die Autos am Straßenrand wegwehen müssten.

Ich seufze auch. „Er muss da raus. Wieso wohnt er immer noch da?“

„Ick weeß och nich. Ich gloob wegen Axel. Seit ihre Mutter abgehaun ist ... Er fühlt sich ziemlich verantwortlich. Und bei dem Vater. Gegen den Herrn Doktor ist Gerd `n Pinscher.“

„Verdrischt er sie immer noch?“ Jan neben mir zuckt so hart zusammen, als hätte ich ihn geschlagen.

„Woher weeßte dit?“ Jan fährt zu mir herum. Sein Blick ist seltsam kühl.

„Hat er mir mal erzählt, als wir zusammen komplett abgestürzt sind nach `nem Konzert.“

„... Ach, so. ... Okay.“



Capitol-Kino, Frohnau

Ich lehne mich in den roten, plüschigen Sitz zurück. Eigentlich wollte ich echt mal `n bisschen was von Jans Privatleben mitbekommen. Besonders auskunftswillig war er da nie, aber jetz find ich es doch besser mit ihm hier zu sein. Der erste Eindruck hat mir schon einiges verraten.

Jan schlürft ziemlich obszön an einem Eis. Schlauerweise hat er sich einen Doppellutscher geholt. Inzwischen hat er die Schokoglasur abgeknabbert, aber jetzt schafft er es nicht, beide Eis gleichzeitig zu lutschen, nicht mal mit seinem Riesenmund. Etwas Erdbeereis tropft ihm direkt in den Schritt seiner Jeans und ein leiser Fluch ertönt.

Jan bricht das zweite Eis vorsichtig ab und hält es mir hin. Eigentlich finde ich Januar keine gute Eiszeit, aber dann reizt es mich zu sehr.

Ich schiebe mir das Eis bis in den Rachen und ziehe es dann langsam wieder heraus, schiebe es wieder hinein, halte die ganze Zeit Jans Blick mit meinem fest.

Ah, wunderbar wie sich seine Augen weiten und er im Sessel hin und her rutscht.

Dann dimmt sich die Saalbeleuchtung herunter. Der „Universal“ Schriftzug erscheint. Ich seufze. Filme sind nach Musik einfach das Beste – besonders im Kino. Einfach wegträumen.

Der Film saugt mich sofort wieder rein. Als ich ihn 1979 entdeckt habe, war ich jeden Tag im Kino, habe ihn insgesamt neunmal gesehen – hintereinander. Ist jetzt aber auch schon wieder ein paar Jahre her. Um so mehr freu ich mich. Mein Herz pocht, als wär ich verliebt.

Die ersten Lichtstrahlen des Films zeichnen das Gesicht des Heldens auf die Leinwand. Mann, hab ich mich damals mit Jimmy identifiziert. Inzwischen ist ein bisschen Zeit vergangen und es hat gerade eher etwas Nostalgisches, auch wenn es nur ein paar Jahre her ist. Ich war damals echt sehr viel verwirrter als jetzt. Oder? Hab ich mich wirklich verändert oder trete ich immer noch auf der Stelle?

Jan, der ansonsten ein ganzer schöner Zappelphilipp sein kann, sitzt den ganzen Film vollkommen ruhig und der ist immerhin zwei Stunden lang. Hypnotisiert, hoffe ich mal, so wie ich damals war.

Nur bei der großen Schlägerei in Brighton Beach wird mir so ein bisschen seltsam. Ich sehe Micha mit wutverzerrtem Gesicht vor mir. Gestern wirkte er kurz so, als wäre er nicht mehr wirklich in der Realität. Und heute auch nich.

Als wir aus dem Kino in den tristen, dunklen Januarabend stolpern, knallt mir die Realität wie eine Ohrfeige ins Gesicht. Zum Glück ist Jan da. Mit seinem grünen Parka, dem Schal und seiner Schiebermütze wirkt er fast ein bisschen, als wäre er von der Leinwand gestiegen. Nur die Haare sind anders, wilder und natürlich trägt er auch keinen Anzug mit Schlips und Hemd, wobei - das würde ihm definitiv auch gut stehen.

Sein Blick ist weit weg, scheint die Spießeridylle hier in der Gartenstadt Frohnau gar nicht zu sehen.

„Mal wieder nach London wäre echt cool.“ Ist sein erster Satz. „Kommste mit?“

„Vielleicht.“ Ich bin gerade in anderen Gedanken. „Wenn du in der Zeit jung gewesen wärst, hättste dich da her auf die Seite der Mods geschlagen oder wärste `n Rocker gewesen?“

Jan bleibt stehen. „Mhm, ick weeß nich. Wahrscheinlich wär ick einfach icke jewesen.“ Er überlegt. „Keene Ahnung. Eigentlich mag ich keene Etiketten. Oder wenn schon dann viele. Hey, aber London!“

Oje. Das Strahlen in seinen Augen ist fast so stark wie bei Bine, dann dimmt es auf einmal wieder runter. „Sach ma, von wegen Mods und Amphetamine und so – wie viel nimmst `n du eigentlich so von dem Zeug?“

„Woher ... weeßte dit?“

„Bine hat so `n bisschen erzählt und ... mir fällt halt ab und zu auf, dass du ... so `n bisschen anders bist.“

Scheiße. „Wie anders?“

„Ick weeß nich. Manchmal krieg ich dann keinen Draht mehr zu dir und dabei ... Du weeßt, dass de mir wichtig bist, oder?“

Mein Bauch wird ganz warm. „Mhmm. Ja. Du mir och. ... Sag mal, kann ick vielleicht nochmal `ne Nacht bei dir pennen? Ick fand`s echt schön.“

„Äh, ... ich denk schon. ... Also, ... willste dit wirklich?“ Er sieht unsicher zu mir hinüber.

„Wegen Gerd?“

Er nickt. Alles an ihm wirkt auf einmal schwer. Als wäre er nicht nur drei Meter groß, sondern sein Körper zudem aus Blei gemacht.


Senheimer Str. 44, Frohnau

Natürlich ist „Gerd“ nicht begeistert. Jan könne sich ja auch mal um die Familie kümmern, wenn er schon da sei, verkündet er am Abendbrottisch. Julia sieht aus als würde sie sich am liebsten die Ohren zu halten und seine Mutter bekommt so ein ganz starres Lächeln.

Als wir wieder oben in den Betten liegen, ich auf der Matratze, fängt es draußen an zu stürmen und zu regnen. Das Wasser gluckert in der Dachrinne.

Jan dreht sich zu mir und blickt auf mich hinunter.

„Na, wie fandste denn jetzt die Vetter-Marciniak-Experience?“

„Mhm. Also, Julia ist cool, besonders für ihr Alter. Und deene Mutter is echt schick irgendwie. Wie alt is die `n eigentlich?“

„Alter, bitte. Jetz setz mir nich noch irgendwelche seltsamen Bilder über Muttern in den Kopf. Is echt schon allet schräch jenuch hier.“

„Nee, so meen ick dit doch nich. Also, nich wirklich.“

„Bela!“

„Also, wie alt is se nu?“

„Ähm,... 44, gloob ick. Sie war 25, als se mich gekriegt hat.“

„Das heißt sie ist 1938 geboren, oder? Und Gerd?“

„Pfff. Der ist 8 Jahre älter. Warum willste dit denn allet wissen?

„Na, ick hab mich letztens mit Tessa unterhalten und sie meinte, ein sehr junger Prof von ihr hat gesacht, dass unsere Elterngeneration emotional so `n bisschen ... schwierig ist, weil se halt als Kinder im Krieg ufjewachsen sind.“

„... Mhm. ... Wird schon `ne Auswirkung gehabt haben. Aber sie reden ja nie drüber.“

„Dit is ja genau der Punkt. Sagt Tessa beziehungsweise ihr Prof.“

„Ist ‘n interessanter Gedanke. Reden deene Ollen denn darüber?“

„Na, meen richtiger Vater is ja nich mehr ansprechbar.“

„Der is in Köln, nee?“

„Ja. Also, wahrscheinlich is er da auch immer noch. Ick weiß es nich. Hat sich noch mehr gemeldet seit Diana und ich 14 sind. Ein Jahr später hat er auch nich mehr gezahlt, dann musst ich halt runter von der Schule.“ Wäre mein Leben anders, wenn ich auch die Chance gehabt hätte, Abitur zu machen? „Davor hat er mich immer mal in den Ferien nach Köln geholt. Diana hatte keen Bock auf ihn. Hatte se vielleicht och Recht mit gehabt.“

Ich drehe mich auf die Seite, starre in der Dunkelheit hoch zu Jan, von dem ich nur ein paar glänzende helle Strähnen ausmachen kann. „Aber ick hab dit echt geliebt. Wir waren in so Rockerkneipen unterwegs und ich durfte sogar ab und zu schon `n Bier.“

„Ey, du warst 13.“

„14.“

„Als ob dit‘ n Unterschied macht.“

Ich hass das, wenn Jan so tut, als wäre das Teufelszeug. Und wenn schon. Ich mag Teufelszeug so `n bisschen. Weiß auch nicht warum. Ich schweige.

„Ey, ick wollt nich ... Ick kann dit nur nich ab diese Glorifizierung, weil...“ Jetzt schweigt er. „Krieg gibt`s ja nich nur draußen.“

„Mhmm. ... Wär krass, wenn wir im Krieg leben würden, wa?“

„Na, kann ja noch werden mit der Aufrüstung, Nato-Doppelbeschluss und dem ganzen Scheiß.“

„Keene Ahnung, wie ick dit wegstecken würde. Früher hatten se Fliegeralarm und Bomben und nich jenuch zu essen. Meene Oma hat manchmal `n bisschen wat erzählt. Vom Einmarsch der feindlichen Soldaten.“ Ich vermiss meine Oma. Früher hat die sogar noch mit in unserer kleinen Wohnung gelebt. „Also, die Allys sin ja immer noch da, aber mit denen ist et ja janz anders jetze. Ick hab echt `n bisschen Schiß. Jetze kämen die ja mit Atombomben. Und Berlin wär da bestimmt `ne jutet Ziel.“

„Ick hab och Angst davor.“

„Klar. Du hast ja schon an Silvester Schiß.“ Es ist ein Scherz, um die schreckliche Stimmung fortzulachen, aber einen Augenblick später schießt Jan in seinem Bett hoch. Ich krampfe mich zusammen, als würde er sich gleich auf mich stürzen.

„Sach ma, spinnste, Felse!“ Ich mag es nicht, wenn Jan mich so nennt. Es ist so krass distanziert.

„Ey, pssst!“, warn ich ihn. „Sei ma `n bisschen ruhiger, sonst steht gleich Julchen hier im Zimmer.“

„... Is doch wahr.“ Er klingt, als würde er in die Bettdecke brummeln.“ Was weeßte `n schon über meine Ängste?“

„Na, nich viel, Herr Vetter. Sachst ja nie wat.“

„Muss ick doch och nich. Manche Sachen sin halt ... privat.“

Ich wollte ihn wirklich provozieren, damit er mal was raus lässt.
Jetzt tut es mir leid.

Bevor ich einschlafe, sehe ich Michas lädiertes Gesicht vor mir.




Love reign over me
Reign over me
Love reign over me

Love

 



*
*





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Auszug Meersau S. 74:
„Farin: Mercedes vor der Tür, Gardinen vor den Fenstern und Frau und Kinder im Keller verprügeln: Das war Frohnau!“

Micha Wahler aka Cäpt`n Suurbier

Tagesspiegel - Nachruf Michael Wahler
Nachruf auf Micha
Interview Suurbiers


Trailer Quadrophenia
The Who - I´ve had enough


Interviews

MTV-Interview, 2012 - Senheimer Str. 44

Radio-Interview - Erster Kuss

MTV-Interview, 2001 - Jan über Lesen
btw – Find nur ich das Interview zwischen den beiden sehr flirtig?

Farin zitiert Kurt Schwitters Lautgedicht „Ursonate“


Poesie & Bücher

Wikipedia - Kurz Schwitters Ursonate

Aphorismen Oscar Wilde

FU - Liste "Bücher des Monats"





*

Chapter 6: 1982 - Frühling

Chapter Text

*



 

 

* Teenagers in Love *





Lieder und Bilder farbig unterlegt im Kapitel.
Weiterführende Links am Ende.


Neuer Plan: kürzere Kapitel.
I´m sorry, aber das Wortzahl-Pensum ist echt nicht zu halten.



 

 

1982 - Frühling





APRIL




Seegefelder Straße, Spandau


„Hey, Bela! Hier is Max. Ich bin nächstes Wochenende wieder zurück in Berlin. Haste Bock, dass wir uns treffen?“

„Na, klar.“ Max Müller ist echt `n durchgeknallter Punk.

„Und sag Buttgereit Bescheid Meinst du, wir können einfach wieder bei ihm in der Wohnung abhängen?“

„Ick denk schon. Seinen Vater stört das nich so.“

„Cool. See you.“



Schöneberg

„Jetz nimm doch ma de Kamera weg, Junge!“ Herr Buttgereit steht im Unterhemd vor uns im Flur. Sein Bauch ist wirklich gewaltig. Ich würd dreimal in den rein passen.

Jörg grinst mich an und legt dann seine Super 8 zur Seite.

Sein Vater ist meistens recht gemütlich. Bei der Größe und Breite des Mannes wahrscheinlich keine Kunst. Das Einzige, was schwer vorstellbar ist, dass Herr Buttgereit Jörg echt mal sehr ähnlich gesehen hat, als er noch jünger und schlanker war. Die gleiche beeindruckende Größe mit 1,90 m, die gleichen leicht kantigen Gesichtszüge, die gleichen blauen Augen.

„Na, Dirk? Was machste `n jrad so?“

Party machen, Drogen nehmen. „Wir gründen grad `ne neue Band.“

„Ach. Na, denn wünsch ick ma viel Glück mit deener neuen Kapelle.“

„Danke, Herr Buttgereit.“

„Na, ick werf mich ma für mein Mittagsschläfchen vor die Glotze, wa?“ Er hebt den Zeigefinger. „Nich zu laut, Jungs, ne?“

„Keine Sorge, Papi.“ Jörg grinst mich schon wieder an und kaum sind wir in seinem Zimmer, geht das Gekicher schon los. Bei ihm bin ich echt wieder wie 15. Das war schon in der Berufsschule mit uns so.

„Wann wollte Max noch ma hier sein?“ Jörg sieht auf den Wecker neben seinem Bett.

„Vor `ner halben Stunde.“ Ich schmeiße mich auf Jörgs Bett und betrachte das Frankenstein-Plakat darüber. „Na, is ja nüscht neuet. Max halt.“

„Vielleicht is er ja doch vorher noch zu seinem Bruder?“ Jörg setzt sich neben mich.

„Quatsch. Wolfgang is doch grad gar nich in der Stadt. Der is mit der Band unterwegs.“

„Ah, echt?“

Ich hab im SO letztes Wochenende was gehört. „Ja, die ham „Die tödliche Doris“ zu irgend so `ner Kunstausstellung in Westdeutschland eingeladen.“

„Och nich schlecht. Na, wird schon kommen. Wat machste `n grad so?“

„Ick bin mit Jan an was dran. Wir wollen `n neue Band gründen. Aber bitte sach den andern nüscht. Die wissen dit noch jar nich.“ Das müssen wir echt bald mal ändern. „Ey, Jan hat so viel geile Ideen. `N bisschen wie du in Musik statt Film. Und der kann echt Texte schreiben. So wat haste noch nich gehört. Un der is echt voll gut mit Melodien und so.“

„Weeß ick doch.“ Jörg lächelt mich an. „Der hat eurer Soilent Grün Combo echt jut jetan.“

„Ja, nee. Ick kann`s echt nich abwarten, mit ihm so richtig los zu legen.“

„Schön dich überhaupt mal wieder zu Gesicht zu bekomm, ne?“ Jörg hat eine sehr ruhige Stimme, manchmal fast `n bisschen nuschelig, aber er ist auch sehr offen und ehrlich. „Hab dich echt vermisst.“

„Oh ... Ja, sorry. Mit der neuen Bandidee und mit ...“

„Jan?“

„Wieso Jan?“

„Na, du solltest ma dein Gesicht sehen, wenn de über den redest.“ Jörg grinst mich an. Ich grins einfach zurück, auch wenn mein Gesicht heiß wird.

„Ick mag den halt. Hat den Kopf genauso voller Flausen wie icke. Oder du ... Biste gerade wieder an `nem Film dran?“

„Allerdings. Wenn de Bock hast, kannste och mitspielen.“

„Um wat jeht`s denn?“

„Soll so `ne kleene, ironische Doku über Punks in Berlin werdn! Wenn du magst, könn wir gleich loslegen, während wir uf Max warten.“ Er erklärt mir, was ich machen soll.

„Wieso `n den Schaumkuss? Soll dit wat Symbolisches sein?“ Ich muss grinsen. „Oder haste da och `n Fetisch?“

„Nee. Sin halt grad da. Und so `n bisschen süßer Splatter, is ja och nich verkehrt, wa?“ Jörg stellt die Kamera vor sich auf einen halbhohen Schrank und seine Schreibtischlampe so auf, dass das Licht von seitlich unten auf sein Gesicht fällt.

„Biste bereit?“ Ich nicke. Er positioniert sich vor seinem Regal mit Comics, Modellfiguren und Horrorgummimasken. „Okay – Action.“

Ich warte auf meinen Einsatz. „... von Soilent Grün zu Wort!“ Jetzt! Ich zerdrücke mit Schmackes einen Schaumkuss mitten auf Jörgs Auge. Dessen Grinsen wird fast noch breiter als Jans. Ich muss jetzt schon lachen. Dürfte schwierig werden, bei meiner Szene ernst zu bleiben.

„Okay, super. Dann geh ick jetzt auf so `ne Halbtotale, aber man sieht nur deene Hand und deen Körper. Noch keen Gesicht, okay?“ Er stellt seine Schreibtischlampe um. „Ick mach dit Licht so `n bisschen von unten. Sieht krasser aus.“

„Okay? Action!“ Die Super 8 surrt los.  Langsam, sehr langsam zerdrücke ich das weiche, klebrige Ding. Ein seltsames Gefühl in der Hand, kribbelig, obwohl es ja eigentlich nichts Verbotenes ist. Ich muss trotzdem kichern.

Nach dem dritten Versuch wird klar, dass ich es nicht nach seiner Regieanweisung hinbekomme. Wir haben schon öfter zusammen was gedreht mit mir vor der Kamera, auch viel krassere Szenen mit viel Rumkotzerei und so, aber dieses Mal ... „Ey, sorry, ick hab`s schon wieder verkackt. Ick muss eenfach jedet Mal so lachen.“

„Okay, lass nochma probieren.“

„Na, ihr Punks?“ Auf einmal steht Max im Zimmer.

„Hey! Wo kommst `n du her?“

„Na, dein Vater hat mich reingelassen. Ihr wart hier wohl so ausgelassen, dass ihr nich ma mitbekommen habt, dass ich geklingelt hab. Was macht ihr `n?“

Jörg hält die Kamera hoch. „Och, ick dachte, ick dreh mal `n bisschen wat über Punks.“

Max wirft sich in Pose. „Na, da kannste gleich weiter machen.“

„Klar.“ Jörg sieht sich in seinem Zimmer um. „Aber ick hätt schon jern nochma `n anderet Set dafür. Wenn ick allet hier in mei`m Kinderzimmer dreh, wirkt dit doch nich.“

„Na, oder es ist halt noch mehr Punkrock.“ Max setzt sich zu mir an den komplett überquellenden Tisch. „Aber wir könn das auch bei mir machen.“

„Hört sich jut an.“

„Wie willste denn dein neues Werk nennen, Meister Buttgereit?“

„Hab noch keen Titel. Irgendwat mit Punkrock.“

„Die Vollstarken!“, schreit Max und wirft seine Faust in die Luft. „Wir könnten ja so `ne Bande von Punks sein. Und heute nacht machen wir Berlin unsicher.“ Max hat dieses Funkeln in den Augen, dass immer so `n bisschen irre wirkt – und auf mich sehr anziehend. Ein aufgeregtes Zittern läuft durch mich. Bisher war das hier nur alles Jux und Dollerei. Aber das hat diesen speziellen Sog, nach dem ich immer suche.

„Ey, lass mal losziehen. Im SO machen heut noch die Neubauten Krach. Bis dann können wir ja noch in der O-Straße abhängen.“

Das Neubauten Konzert ist vollkommen abgefahren, haut mich komplett weg. Ich stürze mit ihnen nicht nur ein, sondern auf angenehme Weise auch ziemlich ab.



Seegefelder Straße, Spandau

Irgendwie so um sechs stolpern wir zur Wohnungstür rein. Mutter und Erwin sind schon zur Frühschicht aufgebrochen. Gut.

Wir fallen in mein Zimmer, Jörg und ich auf mein Bett. Mein Kopf dreht sich. Durch meinen Körper strömt immer noch der Trip plus Whisky - und rhythmischer Lärm. Die infernalische Bühnenshow der Neubauten vibriert in meinen Zellen nach. So muss das Leben, nein, die Nacht sein.

Trotzdem sickert Dämmerung von außen in mein Zimmer. Bin nicht müde. Das Geschepper und Gedengel von Eisenstangen auf Blechtonnen, Blixas eindringlich geschrieene, gestöhnte Worte pulsieren immer noch unter meiner Haut.

Max sitzt auf dem Boden und betrachtet einige meiner Zeichnungen. „Ey, die sind echt gut, Dirk.“

„Mhmmmm“, nicke ich an Jörgs Schulter, sacke doch ein wenig weg, aber bin noch nicht bereit jetzt langweilig wegzupennen.

Max dreht das Tuschefläschchen in den Händen. „Boah, ich hätt voll Bock `n Tattoo zu stechen.“ Das Leuchten in seinen Augen saugt mich ein, erzählt mir, was für eine universell grandiose Idee das ist. Das ich das auch will. Will ich das? Ein Ja vibriert in mir, mein ganzer Körper wird heiß von der Idee.

„Wat `n für eens?“

„Na, „vollstark“. Is doch klar!“

„Und `n bisschen Horror“, murmelt Jörg.

„Horror“, wiederhole ich.

Jörg dreht sich zu mir. Is schön sein warmer Körper neben mir, Augen auf halbmast. Er trinkt nicht, raucht nicht, keine Drogen. Ein bisschen wie Jan. Schade, dass der nicht dabei war. Mehr als schade. Ein Ziehen. Vermissen. Hatte noch gehofft ihn einfach im SO zu treffen. Wohl wieder bei Bine versumpft. Ich ziehe meine Gedanken ab von ihm, will nicht aus dem Moment fallen.

Was für eine Nacht! Gemeinsam sind wir Blixa und den Neubauten in`s Fegefeuer gefolgt.

 

 


Auf dem Boden schraubt Max die Tusche auf. „Oder wie bei Piraten, so mit gekreuzten Knochen.“

„Und dann drunter der Name unserer Bande: Vollstark.“

Max fängt meinen Blick ein. „Biste dabei?“ In seinen Augen drehen sich Spiralen. Oder in meinen. Keine Ahnung. Egal. Es ist gut, richtig. Das wahre Leben.

Ich rappel mich neben Jörg auf. „Klar!“ Es gibt keine andere Antwort.

„Haste auch eine Nadel hier?“

Ich versuche, meinen Blick soweit zu schärfen, dass ich das Chaos in meinem Zimmer sortiert bekomme. „Nee. Ick hol ma eene.“

Im Nähkorb von Mutti stech ich mich erstmal heftig am Nadelkissen. Blut quillt dunkelrot aus meinem Zeigefinger, läuft über meinen schwarz lackierten Fingernagel. Leck es ab. Metall. Interessant.

Ich setze mich zu Max auf den Boden, Jörg rutscht, nun wieder etwas wacher, auch zu uns hinunter. „Feuerzeug? Kerze?“ Max sieht mich auffordernd an. Soweit kann ich grad gar nicht denken. „Und `ne Flasche Vodka oder was anderes Hochprozentiges wär gut.“

Ich schleppe den Korn von Erich an. Muss ich mir was einfallen lassen. Später.

Max zündet die Kerze an. Am liebsten würde ich das Tageslicht ausschalten, dass viel zu ungebremst durchs Fenster rauscht.

Fasziniert verfolge ich Max Bewegungen: Nadel in die Kerzenflamme, bis sie vorne rotglühendes Eisen ist. „Sicher?“ Er blickt zu mir auf und ich falle wieder in die Spiralen seiner Augen.

Ich ziehe mein schwarzes T-Shirt aus, deute an meinem rechten Oberarm. Max taucht die Nadel in die Tusche. Ich meine, es zischen zu hören. Die schwarz tropfende Nadelspitze nähert sich meiner weißen Haut und ich zucke zurück.

„Da musste jetzt aber schon ruhig halten, mein Lieber.“ Max hypnotisiert mich mit seinen Hexenmeister-Augen. „Kannst du ihn festhalten, Jörg?“

„Willste dit denn wirklich?“ Jörg rutscht zu mir hinüber.

Alle coolen Leute haben Tattoos. „Ja.“ Ich erkenne meine Stimme nicht, aber Max sagt: „Okay. Halt ihn fest.“

Jörgs riesige Hände auf meiner Haut, Wärme, Stärke, darunter ein wenig Zittern, von mir oder ihm.

Der erste Stich, spitz, scharf. Ich atme zischend aus. Der Schmerz kickt mein ganzes System. Die Tinte fließt von der Einstichstelle durch meine Synapsen – bis in meinen Kopf. Dort explodiert sie wie ein Feuerwerk aus Blut.

„Geht`s?“ Jörg reibt mir über die Schulter. Wärme.

„Weiter.“

Max Zähne lächeln.



Telefunken-Haus - TU Mensa, Ernst-Reuter-Platz

Wir sitzen oben im Telefunken-Hochhaus. 20. Stock. Der Ausblick ist schwindelerregend, als könnte ich einfach durch das Fenster runter auf den Ernst-Reuter-Platz fallen. Einfach in die Fontänen des Brunnens.

Vermutlich ist für andere Montag. Ich bin noch nicht ganz wach und hab auch keinen Hunger. Das Mensaessen sieht gewöhnungsbedürftig aus. Jan dagegen haut ordentlich rein.

Ich ziehe meinen Blick aus der Tiefe. Auch der Blick in die Ferne ist einfach geil, gerade an so `nem strahlenden Apriltag. Auf der einen Seite bis hinüber zum Fernsehturm im Osten.  

Auf der anderen Seite bildet der Funkturm genau eine Blickachse zum Teufelsberg. Den Namen fand ich schon immer geil, auch wenn es eigentlich nur eine Schutthalde für die Trümer des Kriegsberlins ist. Die Abhörstation der Amis darauf sieht auch echt geil aus mit den den weißen Kugeln drauf.

„Sach ma, wat haste `n da?“ Jan sieht mich mit zusammengezogenen Augenbrauen an.

Ich nehme meinen Finger aus dem Mund, merk gar nicht, wenn ich das mache. Blut läuft aus einem Riss in der Nagelhaut. Stört mich nicht. Ich mag den Geschmack irgendwie. Aber dennoch – ich kau zu viel auf meinen Nägeln rum.

„Nee, da!“ Jan deutet auf meinen Oberarm.

„Oh, scheiße.“ Blut suppt durch das große Pflaster auf meinem Oberarm. Zum Glück hab ich `n schwarzes T-Shirt an. „Hat Max am Wochenende gemacht.“

„Was hat er gemacht?“ Jan sieht mich verständnislos an.

„Na, das hier.“ Das Pflaster geht leicht ab, ich brauch unbedingt ein neues. Darunter sieht es ganz schön nach Massaker aus.

„Wow. Krass.“ Jans Augen werden groß. Mir gefällt sein Blick. Ein bisschen ungläubig. Ein bisschen bewundernd?

„Na, `n Tattoo.“

„Okay. ... Krass.“

„Hat Max mir nach dem Neubauten-Konzert gestochen. Ick kann dir och eens machen.“ Der Gedanke für immer etwas auf seiner Haut zu hinterlassen ist elektrisierend.

In seinem Hirn klickert etwas, dann schüttelt er den Kopf. „Nee, ick will dit irgendwie nich auf meinem Körper.“

„Der wär aber sehr schön dafür, dein Körper – ick mein, dafür jeeignet.“

„Danke.“ Jan grinst mich so unverschämt an, dass das mein Herz in Bewegung setzt, dann schüttelt er nochmal den Kopf. „Aber is cool.“

„Ey, ick hab jute Neuigkeiten. Wir haben `n Sänger.“

„Waaas?“ Seine Hand liegt auf einmal auf meinem Arm. Er drückt fest zu. „Wen?“

„Kennste Max Müller? Den Braunschweiger.“

„Von den Honkas?“

„Ja, genau. Die gib`s ja nich mehr. Und er wohnt jetzt in Berlin.“

„Is ja Wahnsinn. Genial.“ Seine weißen Zähne funkeln, strahlen, blenden mich fast. „Dann brauchen wir nur noch `n Bassisten. Oder `n Bassistin. Wär och cool.“

Ich sinke mit der Stirn auf die Tischplatte. „Und Lieder.“ Meine Stimme klingt dumpf. Irgendwie war ich grad noch euphorischer. Ich doch `n bisschen Schiss, dass wir das nicht hinbekommen. Immerhin hängt auch meine Kohle vom Erfolg der neuen Band ab – und von dem Geld auch meine Versorgung jenseits von Lebensmitteln.

„Also, ick könnt mal Hans fragen.“ Jan sieht mich fragend an. „Von den Suurbiers.“

„Wie is `n der so?“

„Ick kenn eijentlich sein Bruder Kröte besser. Hans war `ne Stufe über mir am Herwegh, so wie Micha.“

„Mhm. ... Meinste nich, dass Micha dit scheiße findet, wenn wir ihm den klauen?“

„Na, wär schon besser, wenn er dort nich aussteigt. Muss ja och erstmal zusagen. Aber vielleicht hat er ja Bock in beiden Bands zu spielen.“

„Oh, Mann. Dann können wir uns „Die zwee blonden Riesen und der kleene Punker“ nennen.“

Jan lacht laut auf und einem Typen hinter ihm fällt das Buch runter, dass er beim Essen gelesen hat. Böse sieht er sich zu uns um. Ich strecke ihm die Zunge raus.

Jan hat es gar nicht mitbekommen, grinst mich nur an. „Sooo kleen biste och nich.“

„Na, du könntest mich locker hochheben.“ Der Gedanke macht mich ein wenig schwindelig.

„Meenste?“ Jans Grinsen verändert sich. Ich halte mich am Stuhl fest, aber er steht nicht auf.

Ich lege meinen Kopf wieder auf die Tischplatte. Bin immer noch müde. „Jetzt „nur“ noch Songs, wa?“ Ich schiele zu Jan hoch und seufze. „Haste denn ein paar Ideen? Ick hab bisher nur zwee. Dit eene Lied hat den Arbeitstitel „Tittenmaus“.“

Jan verzieht kurz das Gesicht, grinst dann. „Klingt sehr nach Bela. Dann haste der neuen Band ja schon mal deen Stempel ufjedrückt, wa?“

„Findste nich jut?“ Unsicherheit wabert durch mich. Was wenn wir das zusammen nicht hinbekommen? Was wenn wir uns genauso streiten untereinander wie mit Hussi?

„Nee. Jeder soll machen, auf wat er Bock hat, oder?“

„Ja. Find ick och.“ Ich rappel mich zufrieden vom Tisch hoch. „Dit andere Lied ... Erinnerste dich noch an Romans Freundin?“

„Ach, du Scheiße. Was für ein Ekel.“ Jan gibt leichte Kotzgeräusche von sich und verdreht die Augen. „Schwer zu vergessen. Also bei der Tussi fällt mir nur eins ein: Ekelpack!“

Ich schieße von meinem Stuhl hoch, der mit einem lauten Krachen über den Boden scharrt.

„Geil, Alter! Das ist es.“ Ich beginne zu singen, okay, vielleicht passt grölen besser. „Eiter, Eiter, Ekelpack!“ Schon wieder ernte ich komische Blicke. Langsam kapier ich, was Jan hier so nervt.

„Könntet ihr mal ein bisschen weniger Radau machen? Das ist hier kein Ort, um sich so halbstark aufzuführen.“ Auf einmal steht eine Frau im weißen Kittel mit undefinierbaren Essenspritzern drauf vor unserem Tisch.

„Sie meinen bestimmt „vollstark“, oder?“, grinse ich sie an.

„Wie gesagt, etwas mehr Ruhe, die Herren. Sonst muss ich euch bitten zu gehen.“ Sie sagt es nicht unfreundlich, eher so, als wäre sie darum gebeten worden uns Bescheid zu sagen. Dann fällt ihr Blick auf die Wunde, die mein tolles Tattoo gerade ist. Ihre Augen werden groß. „Und Drogen spritzen können sie hier gleich vergessen. Dann rufe ich die Polizei.“ Sie sieht auf ihre Uhr. „Außerdem schließen wir eh gleich.“

Jan nickt, setzt sein charmantes, braves Lächeln auf. „Natürlich. Ähm, ja danke, dass sie uns Bescheid gesagt haben.“ Oh, da kommt wohl die Vettersche – hoffentlich nicht Marciniaksche – Erziehung durch. Es scheint zu helfen. Die Frau lächelt ihn dünn an und wackelt davon.

Ich setze mich wieder, nehme mir wirklich vor, etwas ruhiger zu sein. Mir bleibt sowieso grad der Mund offen stehen. Eine schwarzhaarige Schönheit stöckelt auf halbhohen Schuhen an uns vorbei. Ich versteh gar nicht, was Jan hat. Er meckert immer nur über die Uni.

Ich folge der Frau mit den Augen und bin kurz vor einem kleinen Pfiff, um ihr mein Wohlgefallen kundzutun. Aber sie kommt mir auf gewisse Art zuvor.

„Sach ma, geht`s noch, du Macker?“ Sie starrt mich kühl an und streckt mir dann den Mittelfinger entgegen.

Oh, Mann. Ein Punk im Körper einer schönen Frau. Ich bin sofort verknallt. „Kann man dit Abitur eigentlich nachholen?“

„Was?“

„Na, es ist großartig hier. Sach ma, biste seit neustem blind für solche Schönheiten? Oder sticht dir Bine etwa gleich die Augen aus, wenn de mal `ner Anderen hinterher kiekst?“

„Für wen soll ick Augen ham?“

„Oh, Mann! Hiermit wären alle Fragen beantwortet, Euer Ehren!“

„Vielleicht hat se ja gar nich so unrecht über mich“, sinniert Jan. Dann bricht das Grinsen doch aus ihm heraus. „Du Macker! ... So, Lieder.“ Er packt seinen Rucksack aus, holt Block und Stift heraus. Jetzt sieht es echt richtig akademisch aus. Auch ein Buch findet seinen Weg auf den Tisch. Goethe. Klar, was denn sonst. Manchmal ist Jan mehr Punk als Punkrock. Keine Regeln! „Legste dit uff`n Tisch, damit die Miezen sehen, dass wir nich nur `n paar unjebildete Punks sind?“

„Was?“ Irritiert sieht Jan auf.

Ich deute auf das Buch. Ich entziffere den Titel „Italienische Reise“. Oh, mir schwant Übles. „Willste wieder los? Nach Italien?“

„Eigentlich schon.“ Seine Mundwinkel ziehen sich ein Stück hoch, dann sinken sie wieder nach unten. „Aber wir müssen ja loslegen mit den Ärzten. Und mit Bine ...“ Ich warte auf das glückliche Strahlen, aber seine Miene verdüstert sich. Oh, oh.

„Ähm ... Allet okay bei euch?“

„Mhm, ja ... Schon. Sie ... Letzte Woche gab`s so `n kleenet Problem, aber ... Is jetz wieder okay.“

„Ja? Wat war los?“

Jans Blick ist weit weg, geht über die Hausdächer von Charlottenburg bis zum Horizont und darüber hinaus. „Ick hab se jesehen, wie se im „Eck“ mit eem von den Besetzern rumgeknutscht hat.“

Das ist der Moment. Ich muss es ihm sagen. „Jan? Ick hab mit Gitti gesprochen und sie meinte, dass ...“ Ich brech wieder ab, weiß einfach nicht, wie ich mit ihm in ein richtiges Gespräch darüber kommen soll. Is auch echt nicht der beste Ort dafür hier. Viel zu öffentlich, als das Jan sich öffnen würde.

„Is schon wieder okay, Bela. Dit war`n Ausrutscher. ... Kann ja ma passieren ... oder?“ In seinem Gesicht lese ich genau die Zweifel, die ich auch habe.

„Meinste?“

„Ja. Sie hat gesagt, sie liebt mich und et wird nich mehr vorkommen.“

Scheiß rosarote Brille. „Okay. ... Dann is ja jut.“ Nichts ist gut. Verdammt. Mein Bauch macht immer noch Alarm. Er muss das doch auch spüren.

„Also, deswegen is es vielleicht och besser, ick fahr mal nich in Urlaub.“

„Aber du liebst das doch so. ... Oder?“

„Ja, schon.“ Da ist das Strahlen wieder, eine traurige Variation davon. „Auf Reisen kommen mir auch oft die besten Ideen für Lieder.“

„Vielleicht finden wir deine Muse ja auch irgendwo hier in der Mauerstadt. Außerdem – ick bin schon auch froh, wenn de hierbleibst.“ Ich beug mich über den Tisch und küss ihn auf die Wange.

Jan zuckt ein Stück zurück und das tut mehr weh als irgendwelche Stiche unter die Haut. Er wird ein bisschen rot, sieht aus dem Fenster.

„Ey ... Bin ick dir peinlich oder wat?“ Ich bin halt einfach ein impulsiver Mensch. Wär besser, er lernt damit umzugehen.

„Mann, Felse.“ Ich mag es nicht, wenn er mich Felse nennt. Klar, ist das auch mein Spitzname, aber wenn er den benutzt, dann bin ich eher der Kumpel. Ich will bei ihm Bela sein. Er war immerhin der Erste, dem ich den Namen verraten hab.

„Nee, aber ... Ick fall hier eh schon viel zu viel auf.“

„Bist doch eh kaum hier.“

„Ey.“ Er sieht mich echt hilflos an. „Nich du och noch. Gerd brüllt, meine Mutter jammert. Inzwischen lüg ich, obwohl ick dit echt nicht leiden kann, aber ... Ick fühl mich hier eenfach unwohl, okay? Is gar nich, was ick erwartet hatte.“ Er wirkt echt bekümmert.

„Na, du musst doch nich in diesen Bunker rin.“

„Da geh ich eh nich rein.“ Er deutet auf die Gebäude der TU gegenüber des Platzes. „Aber die Mensa brauch ick halt schon.“

„Mhm. Verständlich.“ Ich sehe einer weiteren Studentin hinterher. „Der Ausblick ist echt erste Sahne.“

„Wenn ick hier nich esse, dann hab ick noch wenijer Kohle.“

„Keen Geld für gar nüscht, wa?“

„Nee. Wir müssen echt schauen, dass wir das gut hinbekommen. Aber ick brauch echt Kohle. Jetz bin ick erstmal in `ner Fabrik.“

„Krass. Du arbeitest? Wo denn?“

„Bei Storck. Komm grad aus der Frühschicht. Is janz okay. Ick meen, wat soll ick denn machen. Von dem bisschen Unterhaltsgeld von meinem Vater kann ich ja schlecht Bine die Hälfte der Miete zahlen plus Essen und halt noch `n paar nette Sachen. Ey, was allein schon Kondome kosten.“

„Na, dit is aber doch mal `ne gute Investition“, grinse ich und er lächelt tatsächlich ein wenig zurück, nicht ganz so breit, wie ich es gerne hätte. Aber dann auch gerne wieder nicht hätte. Mann, ist das kompliziert in mir.

„Also, wat machen wir nu mit unserer Band?“

Eine andere Frau zieht meinen Blick weg von Jan. Ganz anderer Stil. Faltenrock, hübsche Bluse mit besticktem Kragen und `ner Strickjacke. Ihrer Brille nach geht sie jetzt klischeemässig in die Bibliothek.

„Oooohhh“, seufze ich. „Die sehen aba och echt schick aus hier.“ Die, gar nicht mal mehr so junge, Frau dreht sich irritiert nach mir um und mustert mich über den Rand ihrer Brille, drückt ihre Bücher fester an sich. Irgendwas an ihr macht mich echt an. Wär mal was anderes.

„Wir machen wohl besser ma die Biege.“ Jan erhebt sich, nimmt sein Tablett. „Nach Ihnen, Herr Gröllheimer!“ Er sieht mich eindringlich an.

Wir steigen in den Lift. Die Kabine hat ein Fenster hinaus ins Freie. Ich klebe an der Scheibe, um den Thrill des Hinterfahrens zu genießen.

Jan stützt sich neben meinem Kopf ab. „Wie wollen wir `n überhaupt heißen?“

„Die Chorknaben“, sage ich, ohne wirklich nachzudenken.

Jan bricht in einen echten Lachkrampf aus. „Genial. Ick gloob, dit is es.“

Unten auf dem Ernst-Reuter-Platz laufen wir über durch den fünfspurigen Kreisverkehr, werden massiv böse angehupt, aber zum Glück nicht überfahren. Wir setzen wir uns an den Springbrunnen. Diese gelben und lila Blumen brechen gerade durch das Gras und der Frühling brüllt mir geradezu ins Gesicht. Um uns herum brummt und hupt der Verkehr, aber der Platz ist eine Oase im dreckigen Berlin und die Mittagssonne hat echt Kraft.

Jan zieht seine Jacke aus und legt sich nur im T-Shirt zurück auf den Rasen. Mit hinter dem Kopf verschränkten Händen sieht er in den blauen Himmel über uns. „Ick hab `ne Idee, wie man „Teenagers in Love“ umschreiben könnte.“ Jan beginnt eine Melodie zu singen. „De – de – de – de – deeda / de – de – de  – de - deeda / de – de – de – de – deeda / da, da, da, da.“Er sieht mich von unten erwartungsvoll an.

„Klingt jut, also, zumindest, dit wat ick hören kann über dit janze Motorenjebrumme hier.“ Ich lehne mich zu ihm hinunter. „Mach noch ma.“

Ich bin ihm so nah, dass sein Brustkorb an meinem vibriert, als er die Melodie nochmal summt. „Haste schon `nen Text?“ Ich drehe meinen Kopf zu ihm. Er nickt. „Sing mal.“

 


Teenager Liebe, Teenager Liebe, Teenager Liebe, Teenager Liebe

Ich liebe sie - Teenager Liebe
Ich träum‘ von ihr - Teenager Liebe
In meinen Träumen - Teenager Liebe
Tanzt sie mit mir - Teenager Liebe


Mann, ich mag seine Stimme. Die hört sich sogar ohne Instrumente schon echt astrein an. Fast zu gut für Punk. Vielleicht passt „Die Chorknaben“ wirklich zu uns. Andererseits soll ja Max singen, aber eigentlich ist Jan besser.

 

 


Doch wenn ich aufwach‘ - Teenager Liebe
Dann fällt mir wieder ein - Teenager Liebe
Sie liebt einen Anderen - einen anderen
Und ich bin allein - einen Anderen


Ich hoffe wirklich, dass das kein Omen in Bezug auf Bine ist. Jan blinzelt gegen die Sonne zu mir hoch. Die Strahlen verfangen sich in seinen blondierten Haaren, die glänzen wie ein Weizenfeld.

So eine Sommersehnsucht steigt in mir hoch – auf Abenteuer. Ich will wieder hinter ihm auf Eckys Moped sitzen, nur wir beide. Unterwegs.

Vielleicht seh ich ihn etwas zu lang an, vielleicht etwas zu ernst. Gegen den blendenden Sonnenschein hebt er schützend eine Hand vor`s Gesicht. Sein Blick liegt immer noch auf mir, in meinem. Er beißt sich auf die Lippen und die Bewegung läuft wie in Zeitlupe in meinem Kopf ab. Mein Atem wird schneller ...

„Wie fandste denn dit Lied jetz?“

„Was? ... Ähm, jut. Dit is richtich jut!“

„Ja? Cool.“ Jan strahlt mal wieder wie die Sonne und ich kann nicht genug davon bekommen. „Ick hab mal so `ne olle Kassette von mir mitgebracht.“

„Angst und Spaß“ steht auf dem Cover. „Klingt cool. Da war doch auch dit „Kleine Kinder schmecken gut“ druf.“

„Ja. Vielleicht findet sich ja noch wat Verwertbares. Hier zum Beispiel: „Ein überdimensionales Meerschwein frisst die Erde auf“.“

„Sehr vielversprechender Titel. Der hier och: Der lustige Astronaut. Lass ma hören.“ Jan spult die Kassette an die passende Stelle.

Ich setz mich rüber zu Jan. Er schaltet seinen Walkman an. Wir müssen supernah die Köpfe zusammenstecken, um beide aus den Kopfhörern die Musik zu verstehen.

Ich versenke meine Nase in seinen Haaren. „Boah, riechst du gut!“ Ich rieche an seinem Hals.

„Hey!“ Jan rollt sich lachend zur Seite und aus meiner Reichweite. Aber ich krabbel einfach hinter dem verführerischen Geruch nach Schokolade her, packe ihn am Nacken und lecke seinen Hals ab. Salzig und süß. Ich kann das Zittern unter der dünnen Haut spüren.

„Beeela!“ Er lacht, wischt sich über den Hals. „Ick hab och Knoppers dabei. Da musste nich gleich mich fressen.“ Er fischt aus seinem Rucksack etwas Quadratisches. „Hier, du Raubtier!“ Er hält es mir hin und ich ziehe es mit den Zähnen aus seiner Hand, lasse es dann auf den Rasen fallen.

„Wenn ick aber lieber dich fressen will ...“ Ich sehe ihn lauernd an.

„Keene Chance.“

„Wenn sich der Herr Vetter da ma nich überschätzen tut.“ Ich stehe auf und gehe in Angriffshaltung.

„Was wird dit?“

„Willste jetz sehen, wer stärker is oder haste etwa Schiss?“ Damit kriegt man ihn immer.

„Fein. Du hast es so gewollt.“

Was er nicht weiß: Ich habe einen orangen Gurt in Judo. Aber – er hat verdammt lange Arme. Dennoch landet als Erster er auf dem Boden mit einem schnellen und geschickt platzierten Seoi-Otoshi.

Verdutzt sieht mich Jan vom Rasen an, dann zieht mir auf einmal etwas meine Beine weg und ich knalle halb auf ihn drauf. Er wälzt sich unter mir weg, hält mich an den Armen fest.

„Alter! Au! Runter, runter. Dit zeckt voll am Tattoo.“ Sofort lässt Jan von mir ab. Tja, selber Schuld.

Schnell rappel ich mich hoch und schmeiße mich auf ihn. Ich setze mich auf seinen Brustkorb und knie mich auf seine Oberarme. Er fletscht die Zähne, was bei ihm echt krass gefährlich wirkt. Ich bin kurz unachtsam und er kämpft einen Arm frei, nimmt mich damit in den Schwitzkasten.

Mein Gesicht wird an sein Schlüsselbein gedrückt. Mhm. Er riecht gut: nach seinem Deo, angenehm verschwitzt, nach Schokolade – und nach Jan. Fuck! Wie kann es sein, dass mir sein inzwischen vertrauter Geruch so zwischen die Beine schießt?

Ich entwische ein Stück aus dem Schwitzkasten nach unten, rutsche über Jans Schoß und – Fuck! Ich bin definitiv nicht der Einzige, der so eine kleine Rangelei geil findet. Ich kann nicht still liegen. Ein kleines Stöhnen entkommt mir.

Jan unter mir schließt kurz die Augen, reißt sie dann wieder auf. Schlagartig lässt er mich los, schmeißt alles in seinen Rucksack und springt auf.

„Ähm, ey, sorry, also ... Ick sollt dann ma los – zu Bine.“



 

 



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Jörg Buttgereit

Bild 1

Bild 2

Film-Interview Buttgereit, 1997

Zeitschriften-Interview, 2015


Bela, Jan und Jörg Buttgereit im SO 36


Bela und Jörg Buttgereit

Bild 1

Bild 2

Manne, the Mowie, 1981

Bela in Captain Berlin, 1982


Max Müller

Interview - die ärzte von ihren Anfängen bis zur Auflösung, 2018
Zuerst hatten wir ja vor, jemand anderen singen zu lassen. Max Müller, war damals frisch in Berlin und mein Freund. Max war so ein junger, gutaussehender, hibbeliger, charismatischer Typ, und wir hatten uns das mit dem Singen am Anfang selbst nicht zugetraut. Max’ Bruder war mit seiner Band „Die tödliche Doris“ ja auch szeneprägend, also hielten wir das für eine gute Idee. Max Band DIE HONKAS gab es nach ihrer Single schon nicht mehr.

Info Tattoo: Das Timing ist leider sehr off. Max hat Bela das Tattoo mit 15 gestochen!

Film – der Trend - Punkrocker erzählen aus ihrem Leben - Max Müller

Das Leben des Sid Vicious, 1981
Gespielt von einem 2 ½ jährigen und einem jungen Mädchen.
Tendenziell verstörend. Oder Kunst!???
Gedreht von Max Müller und Nikolaus Utermöhlen / „Die tödliche Doris“

Making of Videoclip von Jörg Buttgereit für Mutter – Nur eine Zeit, 1997


Short Doku - Einstürzende Neubauten


Die Ärzte

lyrics - die ärzte - Teenager Liebe

Die Ärzte - Tittenmaus 21.05.2019 Ljubljana Kino Siska"
Mit vertauschten Instrumenten! Und recht wenig Text ;-)

 

Ernst-Reuter-Platz - Filmaufnahmen, 1977


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Chapter 7: 1982 - Tränengas

Chapter Text

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* Teenagers in Love *





Lieder und Bilder farbig unterlegt im Kapitel.
Weiterführende Links am Ende.


Trigger: Demo-Gewalt



1982 - Tränengas




11. JUNI 1982, Kreuzberg

Mein innerer Wecker klingelt. Ich sehe auf den Echten neben dem Bett. 4:55 Uhr. Zum Glück bin ich ein Morgenmensch und stehe gerne früh auf. Bine pennt noch. Ich würd mich gerne nochmal an ihren schlafwarmen Körper kuscheln. Es ist immer noch so neu neben jemandem aufzuwachen. Süß sieht sie aus, wenn sie schläft.

Aber ich muss los zu Storck – eine Weltreise von hier in den Norden. Von Frohnau wäre es so viel näher dorthin, aber egal. Kreuzberg ist ein anderer Planet. Hier im Epizentrum von allem zu wohnen, ist wie ein Rausch, auch wenn ich noch nie einen hatte. Hier ist immer was los, das richtige Leben.

Ich gehe hinüber in die Küche und mache Kaffee für Bine, die auch gleich raus muss. Seit einer Woche hat sie einen Job im Supermarkt um die Ecke. Früh morgens die Regale einräumen, bevor der Markt um 8 Uhr aufmacht.

Ich schlage Faulkners „As I lay dying“ beim Lesezeichen auf. Der erste Schluck Tee. Friede, Stille, nur die Küchenuhr tickt. So viel Ruhe hatte ich in Frohnau nie. Der erste Sonnenstrahl fällt auf die Wand über dem Herd.

Mein Blick wird wieder eingefangen von der Dystopie vor dem Küchenfenster, der vollkommen bizarren Szenarie des Todesstreifens. Vor zwei Monaten war es um die Zeit noch dunkel, aber die Flutlichter schienen so grell in die Küche, dass man bei ihrem Licht ohne Probleme lesen konnte.

Jetzt schiebt sich die Sonne gerade über den Streifen aus Nichts zwischen Ost und West, über die weit entfernten Häuserfronten im Osten. Leben da wirklich Menschen? Berliner*innen? Manchmal scheint Ost-Berlin von hier aus betrachtet nur aus Grenzern und ihren Patrouillenwagen zu bestehen. Einmal hatte ich das Gefühl, dass die uns ernsthaft von ihrem Wachturm mit den Ferngläsern beim Knutschen in der Küche beobachten.

Ich höre den Wecker nebenan scheppern, dann das unvermeidliche Schimpfen von Bine. Ich muss grinsen. Mit verstrubbelten Haaren, noch ohne das ganze Make-Up für ihr Alltags-Jobgesicht, kommt sie in die Küche und setzt sich auf meinen Schoß.

„Kaffee?“ Zu mehr Wörtern außer den Weckerbeschimpfungen reicht es um die Tageszeit bei ihr noch nicht.

Ich reiche ihr galant die Tasse. Ein Kuss auf meine Wange. Sie sieht mich verschlafen über den Rand des dampfenden Kaffees an. „Biste am Wochenende wieder in Frohnau?“

Ich streiche über ihre nackten Oberschenkel. „Ja. Julchen ma wieder sehen. Willste mitkommen und sie endlich ma kennenlernen?“

„Schon okay.“

„Aber ich dachte, du wolltest gern ma mit?“

„Hat keene Eile.“

„Okay.“ Manchmal verwirrt sie mich mit ihren ständigen Stimmungswechseln. Langweilig wird es mit ihr definitiv nie.

Ich sehe auf die Küchenuhr. „Verdammt!“ Ich hebe sie von meinem Schoß, stelle die noch halbvolle Teetasse in die Spüle, schnappe mir meinen Rucksack. Ich küsse Bine auf die Stirn, morgens mag sie nicht wirklich rumknutschen, zumindest nicht bevor wir Zähne geputzt haben. Schade, aber da ist sie eigen.

„Hey, Jan?“

Ich kämpfe gerade mit einem Schuh, sehe vom Flur zu ihr. Die Sonne scheint durch ihr Schlaf-T-Shirt und zeichnet ihre Silhouette viel zu verführerisch nach.

„Pass bei der Demo auf, ja?“

„Klar. Und du trink nich so viel, du Schluckspecht.“ Ich versuch, es leicht klingen zu lassen. „Letztes Mal warste die halbe Woche unausstehlich, weil de so `n Kater hattest.“

„Mann, Jan.“ Sie kommt in den Flur, sieht genervt zu mir auf, dann grinst sie. „Ick bin höchstens unwiderstehlich. Also, dann sehen wir uns Montag Abend wieder.“ Sie küsst mich auf die Nase.

„Ich lieb dich“, flüster ich ihr ins Ohr, weil es so ist und ich will, dass sie es weiß.

„Mhmm.“ Ich nehme das als ein „Ich dich auch“.


Kreuzberg schläft noch um die Zeit, kaum Autos und Leute unterwegs. Vor dem Kiosk steht der Zeitschriftenständer schon draußen. Automatisch lese ich die Überschriften. Bei der BILD kann ich das immer schon aus 200 Meter Entfernung entziffern. „Reagan-Besuch: Chaoten kündigen Randale an“.

Die taz schreibt: „You are not welcome, Mr. Reagan!“ Ich überfliege den ersten Abschnitt. „In Europa wächst die Besorgnis vor einem Atomkrieg. Die massive Aufrüstung der USA unter Reagan könnte zur Eskalation des Kalten Krieges mit Russland führen.“ Ein kalter Schauer läuft mir über den Rücken. Gerade deswegen will ich wirklich heute zu den verbotenen Proteste. Schnell eile ich weiter Richtung U-Bahn.

Eigentlich bin ich immer pünktlich in der Arbeit. Aber heute kommt am Anhalter Bahnhof die Scheiß-S-Bahn einfach nicht, wahrscheinlich weil sie die halbe Stadt abgesperrt haben für den Herrn US-Präsident. Endlich fährt sie ein. Zwanzig Minuten zu spät.

Der Steuber wird sich freuen, lässt mich bestimmt nacharbeiten. „So geht das nicht Herr Vetter. Pünktlichkeit ist eine Tugend.“ Manchmal denk ich das insgeheim bei Bela auch, aber ... Mit dem bin ich später für die Demo verabredet. So ein bisschen Muffensausen hab ich schon davor. Aber auch wenn ich nicht super politisch bin, irgendwann ist das Mass voll. Gerade in Berlin mit all den Amis hier und den Russen drüben ist die Gefahr noch präsenter.

Auf der S-Bahn steht „Frohnau“ als Endhaltestelle drauf. Ich bin immer wieder schockiert, wie wenig Sehnsucht ich habe einfach weiter zu fahren – „nach Hause“. Zu Hause ist jetzt hier.



Schöneberg

Gegen 15 Uhr mache ich mich auf den Weg zurück in die Innenstadt. Aus dem Fenster der S-Bahn sehe ich an fast jeder Kreuzung Polizeiwannen stehen. Ich steige um nach Schöneberg. Als die U-Bahn aus dem Untergrund hoch fährt auf den Nollendorfplatz, toben unter mir bürgerkriegsartige Szenen. Rauch steigt vor dem Metropol auf. Menschenmassen wogen hin und her. Der eine Teil schwarz vermummt, der andere in grünen Uniformen. Der Platz von Stacheldraht umzäunt.

Ausgerechnet dort hab ich mich mit Bela verabredet. Soll ich wirklich aussteigen? Das sieht aus wie Bürgerkrieg da draußen. Aber gerade deswegen kann ich ja Bela da auch nicht einfach stehen lassen. Wer weiß, was der dann wieder anstellt?

Ich stehe mit leicht wackligen Knien von meinem Sitz auf, aber die Bahn hält nicht, fährt einfach weiter zur Bülowstraße. Dort sieht es auch noch besser aus. Blaulicht, laufende Menschen.

Die Türen gehen auf. Vorsichtig steige ich aus. Das Geheul der Sirenen ist schlagartig viel lauter, der Bahnsteig voller Polizei. Ich habe immer noch meine blauen Arbeitslatzhosen an, weil ich viel zu spät dran war, hab ich mich nicht mehr umgezogen. Ich setze schnell meine Schiebermütze auf, verdecke meine Haare.

Eigentlich sollte ich seit einer Viertelstunde am Metropol sein. Die Polizisten lassen mich als einen der wenigen ohne Probleme durch. Ich entscheide mich, einen Umweg über die Hinterhöfe zu nehmen. Die Situation in der Bülowstraße sieht einfach nur gefährlich aus.

Als ich gerade an einem großen Wohnblock vorbei gehe, zieht mich auf einmal jemand am Arm. Ich zucke zusammen, meine Beine bereiten sich auf Weglaufen vor. „Hey, Jan!“ Der Mensch vor mir ist vermummt, aber ich erkenne sie trotzdem ohne Probleme. „Wir sind hier drüben!“ Gitti deutet auf eine kleine Gruppe, die sich durch eine offene Haustür geflüchtet hat.

Bela winkt uns hinüber. „Hey, Jan!“ Seine Augen funkeln vor Adrenalin. „Mann, jut, dass Gitti dich gesehen hat. Es geht voll ab hier.“ Ich kenne ein paar der Leute vom Sehen aus dem BesetzA-Eck. Immerhin ist der Kerl nicht dabei, mit dem Bine rumgeknutscht hat.

Auf einmal rennt vor dem Haus eine panische Menschenmasse vorbei. Eine Polizeiwanne schießt direkt vor der Haustür mit mörderischer Geschwindigkeit über den Gehsteig, dann ist der brutale Spuk wieder vorbei. Einen Moment später knallt es. Schüsse, ist mein erster Gedanke. Dann geht ein Steinhagel auf der Straße nieder. Klingt fast wie Maschinengewehrfeuer aus Granit. Stiefelgetrappel nähert sich.

„Wir müssen hier raus.“ Einer der Typen zeigt auf die Haustür. Eine Hand mit großen Ringen in meiner, hab wohl nach Belas gegriffen. Wir laufen los. Ein Stein knallt vor mir auf den Asphalt. Aus der anderen Richtung. Schmeißen die Bullen jetzt auch mit Steinen?

Ich renne weiter, ziehe Bela hinter mir her, laufe, laufe. Nur weg. Ich werfe einen Blick über meine Schulter zurück. Circa dreißig behelmte und mit ihren Knüppeln und Schildern bewaffnete Polizisten setzen uns nach. Wir tragen keine Helme wie ein Teil der Autonomen. Wieder fliegt ein Stein aus Richtung der Bullen, verfehlt uns knapp. Sind die irre?

Wir laufen an einem umgeworfenen Auto vorbei. Tiefschwarzer Rauch steigt davon auf. Es stinkt nach verbranntem Gummi und Plastik.

Auf einmal sind wir an der Kreuzung Potsdamer / Bülow. Eine blaugraue Wolke weht aus einem Metallkanister auf der Straße.

„Fuck. Tränengas.“ Gitti ist so schnell weg, dass ich nicht mal weiß, in welche Richtung sie gelaufen ist. Hilflos sehe ich Bela an. Ich bekomme alles nur noch verwischt mit wie in einem Zeitraffer.  

„Allet okay, Jan?“ Bela sieht mich ernst an.

„Ick weeß nich.“ Ein harter Druck auf meiner Brust. „Dit is so krass chaotisch hier.“ Auf einmal ist es, als hätte ich Glasscherben geschluckt. Ich huste und huste, aber es wird nur noch schlimmer.

„Wir müssen hier weg.“ Bela zieht sich sein T-Shirt über Nase und Mund, deutet mir an, dass ich das auch machen soll. Dann schielt er um eine Hausecke, schreckt sofort wieder zurück. Ein Trupp Bullen stürmt vorbei mit Schildern und gezogenem Schlagstock.

„Jetzt!“ Bela zieht mich hinüber auf die andere Straßenseite, weiter, weiter. Die Straßen werden schmaler, Sandweg, Bäume, eine weite Fläche, Gleise. Bela zieht mich zu einem kleinen wilden Wäldchen, einen Trampelpfad entlang, dann lässt er sich auf eine kleine Lichtung fallen, die zu gleichen Teilen mit Gras und Müll bestückt ist. Egal.

Ich falle neben ihn, bin ein einziges Keuchen. Meine Lungen brennen so übel, vom Laufen, vom Tränengas. Uns läuft beiden Wasser aus den Augen, aber wir sind jetzt auf einmal nur noch umgeben von zartem Grün, Sonne und Vogelgezwitscher.

Bela sieht mich mit einem schiefen Grinsen an. „Ick gloob ... dit is gar nich schlecht ... dit rauszuheulen“, stöß er schnaufend hervor.

„Super.“ Ich versuch, die Tränen trotzdem wegzuwischen, aber Bela hält meine Hand fest. „Besser nich wischen. ... Dit wird nur schlimmer ... davon. Haste Wasser dabei?“ Er deutet auf meinen Rucksack.

Ich nicke und hole eine Flasche raus, halte sie ihm hin. Er trinkt einen Schluck, nickt dankbar. „Ick hätt wahrscheinlich nur ... Bier dabei gehabt. Wär aber leckerer.“ Wie kann der nur so blöde Witz reißen grad?

„Haste da auch wat drin ... dit nich tränengasverseucht is?“ Ich reiche ihm mein T-Shirt. Er wischt sich die Hände daran ab, gibt es mir zurück. „Schütt ma `n bisschen Wasser hier druf!“ Er hält mir seine Hände hin, wischt sich damit über das Gesicht, den Hals, die Haare. „Na, also. Schon besser.“ Er grinst, obwohl seine Augen immer noch laufen wie ein Wasserfall.

Ich durchlaufe die gleiche Prozedur, aber meine Haut und alle Schleimhäute brennen immer noch genauso – wie der Wagen vorher. Ich spucke aus, trinke einen Schluck, spüle meinen Mund aus.

„Wat is?“ Bela sieht mich mit knallroten, begeisterten Augen an. „Sollen wir wieder zurückgehen?“

„Bist du irre?“

„Na, is halt `n großer Moshpit. Dit Tränengas is och nich schlimmer als der Zigarettenqualm im SO.“

„Irre!“ Ich schüttel den Kopf, muss dann doch fast lachen über so viel Tolldreistigkeit. „Also, viel Spaß, ey, aber ... Nee.“

„Ooooch. Echt?“ Sein bettelnder Hundeblick kommt mit den roten Augen nicht ganz so effektiv rüber. „Mit dir macht et viel mehr Spaß!“

„Spaß? Also, ick dacht immer, wir hätt`n den gleichen Humor, aber für mich is da echt Schluß mit lustig. Ey, da kannste froh sein, wenn da heut keener stirbt.“

„Dit trau`n se sich nich.“

„Meinste? Wirkte nich so, als die Polizeiwanne über den Gehsteig geheizt ist.“

Bela wird kurz nachdenklich. „Wir könn ja vorsichtig sein.“ Seine Miene ist viel zu fasziniert.

„Ey, Mann.“ Ich will ihn in die Arme schließen, einfach festhalten, vor sich selbst beschützen. Mach ich natürlich nicht, schüttel über mich selbst den Kopf. Jan, die Mutterglucke. „Nee, sorry, Alter. Ick ... ick mach ma rüber nach Kreuzberg. So komm ich besser ma nich meener Mutter unter die Augen.“

„Och. Echt schade. Na, okay! Ey, bis bald, wa?“

„Pass auf dich auf, ja?“ Ich strecke meinen Arm aus, will ihn umarmen. „Ick brauch meinen Chorknaben schließlich.“

Er lacht, klopft mir auf die Schulter, dann ist er weg.

Ich laufe den ganzen Weg zurück nach Kreuzberg, weil ich Schiss hab, dass mich ein Bulle an der S-Bahnstation kontrolliert und das Tränengas bemerkt. Ich brauche eineinhalb Stunden. Hoffentlich verfliegt das Tränengas aus meinen Klamotten durch die frische Luft. Bine ist bestimmt nicht begeistert, wenn ich ihr damit die Wohnung verpeste.


Kreuzberg

In Kreuzberg ist auch richtig viel Polizei unterwegs, aber die Proteste scheinen sich heute vor allem auf Schöneberg zu konzentrieren.

Kinder hüpfen auf einem abgewrackten Auto rum. Ein Polizist geht zu ihnen hinüber. „Wat soll der Radau? Habt ihr keen zu Hause? Haut ab hier."

Die meisten Kinder springen kreischend auseinander und hauen ab in einen Hinterhof.

Nur ein kleiner Junge mit Iro und Mini-Lederjacke bleibt stehen und streckt  dem Wachtmeister die Zunge raus. Dann leckt er wieder an seinem Lolli. Super frech, der Kleene. Gefällt mir, schockt mich aber auch irgendwie. Ich warte kurz, ob der Kinder-Punk nicht noch ernsthaften Ärger mit den Bullen bekommt, aber der uniformierte Typ schüttelt nur den Kopf. „Kreuzberg“, murmelt er laut vor sich hin.

Am Heinrichplatz haben Leute vor einem Haus zwei riesige Transparente aufgestellt. „Wir sind die Terroristen“ steht auf dem Ersten. „Und grüßen die Touristen.“ auf dem zweiten.  Darunter hat es sich eine Kinderbande auf einer Campingliege und einem Sessel bequem gemacht. Ich winke ihnen zu und sie grinsen zurück. Einer reckt die Faust zum Kampf. Die neue Generation. Wird interessant, was die wohl so machen, wenn sie groß sind.

Eine Straße weiter werfen zwei Mädchen einen Ball hin und her. Langsam wird es hier im hinteren Kreuzberg ruhiger, als wäre der Bürgerkrieg in Schöneberg nur ein Alptraum gewesen.

Am Bethanien laufe ich fast einen Mann mit einem umgeschnallten Kind um, weil ich so in Gedanken bin, mir Sorgen um Bela mache. Ich entschuldige mich bei ihm, grinse das Kind an und bekomme ein zahnloses Lächeln zurück. Schon irgendwie süß, so Babys. Zumindest wenn sie nicht schreien. Mit Bine könnt ich mir sowas vielleicht sogar vorstellen. Irgendwann später. „Schönen Tag noch!“, wünsch ich dem langhaarigen Hippie.

Endlich sehe ich die bekannten Graffitis an der Mauer. Zuhause. Aber bevor ich die Haustür aufschließen kann, höre ich Motorengeheul. Zwei Militärjeeps schießen auf dem schmalen Weg an der Mauer lang. Aufgebockt in der Mitte davon stehen Maschinengewehre, hinter denen jeweils ein Soldat steht. Ich springe zur Seite. Mein Herz rast. Ich flüchte in den Hausflur, die Treppen hoch.

„Bine?!“ Niemand da. Naja, es ist Freitag Nachmittag und eigentlich ein echt schöner Junitag. Wahrscheinlich ist sie unterwegs.

Ich ziehe mich vor der Badewanne aus und weiche die ganzen Klamotten im Waschbecken ein, stelle mich dann unter die Dusche. Das Tränengas pikst immer noch so heftig auf der Haut – wie Glaswolle. Ätzend. Ich muss das Wasser auf kalt stellen, denn das Warme ist gar nicht auszuhalten. Durch die geöffneten Poren dringt das Gas nur noch mehr unter meine Haut. Ich spüle meine Augen aus, wasche mich dreimal mit Seife ab, bis ich langsam eine Linderung bemerke.

Danach trinke ich einen Liter Wasser. Oh, tut das gut. Augen, Nase und Hals kratzen trotzdem immer noch.

Ich nehme Faulkner und lege mich ins Bett, das angenehm nach Bine duftet. Hoffentlich geht es Bela gut. Mann. Das denn die Gefahr immer so anzieht. Wenn das nicht irgendwann mal böse ausgeht. Mein Herz setzt einen Schlag aus.

Ich lese zum fünften Mal den gleichen Absatz. Die Worte springen mechanisch in mein Hirn, aber hinterlassen keine Botschaft. Ich versuch, nicht auf die Uhr zu sehen, das verstärkt nur meine innere Zappeligkeit.

Nach dem vierten Kapitel werde müde, sehe auf den Wecker. 22 Uhr. Eigentlich hätt ich echt gern noch mit Bine geredet. Was für ein krasser Tag. Als ich die Augen schließe, fliegen wieder die Steine an mir vorbei und Uniformen rennen mit gezogenem Knüppel auf mich zu. Ich wäre echt dankbar für Ablenkung. Wo ist Bine nur? Ich kann nicht pennen.

Ich hol mir einen runter, um auf andere Gedanken zu kommen. Gar nicht mal so einfach. Ich drücke mein Gesicht ins Kisse, rieche Bine dort. Ja. Besser. Danach kann ich endlich einschlafen.


Gepolter weckt mich. Die Wohnungstür klappt zu. Endlich. Die Leuchtziffern des Weckers zeigen 2:34. Ich stehe auf und gehe zur Tür. Gelächter aus dem Flur. Schritte. Und noch mehr Schritte, bolleriger, schwerer. Die Küchentür knarrt, dann scharrt ein Stuhl über den Boden.

„Haste noch wat zu trinken da?“ Eine dunkle Männerstimme. Noch nie gehört.

„Na, klar, Süßer.“ Ihre zwischen attraktiv und süß geschaltete Flirtstimme. Immer ein bisschen rau vom Rauchen.

„Komm mal her!“, sagt der Typ. „Magste dich auf meinen Schoß setzen?“ Der Stuhl kratzt wieder über den Fliesenboden. Sie lacht, dann wird still, viel zu still. Mir wird schlecht.

„Wollen wir nich zu dir ins Bett gehen?“

T-Shirt, Jeans. Ich werfe alles, was ich in der Schnelle als meins identifizieren kann, in meinen Rucksack. Was hab ich übersehen?

„Ma nich so hastig, der Herr“, kichert Bine. „Die Nacht is ja noch jung.“

Das Zimmer dreht sich vor meinen Augen.

Weg, weg, weg!

Ich pack meinen Gitarrenkoffer, den Rucksack und öffne so leise wie möglich diese scheißknarrende Tür.

In der Küche wird es schlagartig ruhig.

Schuhe an, dauert viel zu lang, ich nehme sie in die Hand, reiße die Jacke vom Haken und schleiche zur Wohnungstür.

„Hey, was is `n ...?“ Die angelehnte Küchentür öffnet sich. „Jan!!! Wat machst `n du hier?“ Bines Oberteil ist offen, viel zu viel Haut, ihr Lippenstift verschmiert. Sie sieht mich mit großen, erschrockenen Augen an.

Unter die heiße Wut und die eisige Traurigkeit mischt sich Genugtuung. Sie schmeckt bitter. Mein Magen dreht sich um, ich schlucke hart.

„Wer is `n dit?" Ein Mann, ein paar Jahre älter als ich, mustert mich erstaunt.

„Das is ...“

Ich will gar nicht wissen, ob ich jetzt ihr Bruder oder „einfach nur ein Freund" oder was auch immer bin. Ich will gar nicht wissen, wer er ist: der Typ, der jedes zweite Wochenende bei Bine ist oder einfach nur ein Aufriss aus der letzten Bar, vom letzten Konzert.
 

Ich taumel die vier Stockwerke runter, auf die dunkle Straße. Die Mauer starrt mich an. Ich fühle mich genauso grau und aus Beton, kann mich nicht rühren. Hinter mir poltert es im Treppenhaus und meine Füße beginnen über das Kopfsteinpflaster zu fliegen, ohne mich mitzunehmen, denn ich warte noch vor der Tür, ob es nicht vielleicht doch ein Mißverständnis war.

„Jaaaaaan!“

Mein Instinkt reißt mich fort, meinem Körper hinterher. Weg!

Ich höre sie noch ein paar Meter hinter mir herlaufen, dann nur noch meine eigenen Schritte auf den Asphalt schlagen. Neben mir Bäume, wahrscheinlich bin ich am Park vorm Bethanien. Meine Beine werden immer schwerer. Ich hab keine Kraft. Kreuzberg ist ein dunkles Niemandsland. Nur mein Autopilot trägt mich hindurch.

Auf einmal wird es lauter. Viele Menschen. Die O-Straße. Feierende Betrunkene. Wochenende. Aber zur U-Bahn muss ich da durch. Wo will ich mit der überhaupt hin? Außerdem fährt die jetzt nur einmal die Stunde. Was für eine Scheiße.

Ich lasse mich fallen, setze mich auf den Randstein des Bürgersteigs, lege den Gitarrenkoffer auf meinen Schoß und lasse den Kopf darauf fallen. Alles an mir ist bleiern. Müde. Nur mein Magen ist heiß und ...

Ich stolper hoch und kotze an die nächste Hausmauer. Jemand hält mir eine Flasche hin. Ich trinke ohne hinzusehen. Woah, Bier. Ich spucke den Schluck aus.

„Na, dann nich, Alter.“ Die Stimme kommt mir bekannt vor. Ich sehe hoch. Rosa Pony.

„Ey, weißte, ob Bela hier irgendwo is?“

„Mann, was `n los? Du siehst echt nich jut aus.“

„Bela?“

„Hab ick vor `ner Stunde in der Oranienbar gesehen. Keene Ahnung, ob der da noch is. Soll ick dich hinbringen?“ Sie fasst mich unter der Achsel, zieht mich hoch. Ich schwanke.

„Ey, Jan, scheiße. Biste besoffen?“

„Nhnnn.“ Ich kann den Kopf nich schütteln, nich sprechen. „Bela?“

„Ja, is ja jut. Pass ma uff, ick bring dich jetze ins Eck und dann such ich ihn, okay?“

„Mhmm.“

So schwer. Pony schleppt mich drei Stockwerke hoch, setzt mich auf eine Couch. Ist wohl das Zimmer von Silvester. Ich kippe zur Seite, rolle mich zusammen.

„Ey, Jan, echt! Du machst mir Angst. Haste irgendwat jeschmissen? Dit kannste mir sagen. Ick petz nich, okay?“

„Nhnnn. ... Bela? ... Bitte!“

„Ja. Mach ick.“ Wolldecke über mir. Riecht nach Hund. Meine Augen fallen zu. Wenn ich das auch mit meinem Herz machen könnte. Das ist nur noch ein schwarzes, abgrundtiefes Loch - genauso wie meine Zukunft. Das Einzige, was ich gerade weiß, ist: Das Loch bleibt – für immer. Ich an seinem Rand balancierend. Oder einfach reinfallen?


Jemand kniet vor der Couch, eine Hand streicht über meine Wange. „Hey!“ Seine Stimme ist so leise und weich, als wäre jemand gestorben. „Wat is `n los, Jan?“ Seine Augen so besorgt, voller Angst. So hab ich Bela noch nie so gesehen. „Hey, bitte. Sach doch, wat los is.“ Bela streicht durch meine Haare.

Ich will ihn nich erschrecken, will`s ihm erklär`n, aber kann nicht.

Er beugt sich über mich, flüstert mir ins Ohr. „Lass dit raus, Jan.“ Bela klingt so verzweifelt. So hab ich mich vorher gefühlt in den dunklen Straßen, jetzt bin ich warmer Stein, fühlt sich weniger gefährlich an, aber ich bin nicht sicher, ob ich noch lebendig bin.

„Jaaan?“ Bela streicht mir immer behutsam über einen Arm, über die Schulter, lässt aber trotzdem nich locker. „Jan, dit is nich jut, wenn de dit so ... wegdrückst.“

Ich öffne die Augen. Sein Blick liegt so warm auf mir. Bela ist da. Ein Riesenseufzer bricht aus mir. Ich versuch das Wort „Bine“ zu formen, aber es explodiert in Tränen.

Er drückt meine Hand, ist weg - Warum ist er weg? - dann wieder da, wischt mir das Gesicht ab, hält mir ein Glas Wasser hin, aber ich kann nich.

Mühsam hebe ich die Decke an und er versteht sofort, zieht seine Lederjacke aus, legt sich neben mich. Vorsichtig schiebt er seinen Arm unter meinem Nacken durch, zieht mich an sich. Er riecht nach Kneipe. Mein Gesicht landet an seinem warmen Hals. Ich bin ein zitterendes Erdbeben aus Schluchzen und Rotz und Schmerzen. Eine Hand in meinen Haaren. Sogar die sanfte Berührung tut weh.

Ich lege seine Hand auf das Loch in meiner Brust, leg meine drüber, versuch zu atmen, aber will nich, kann nich. Meine Nase ist verstopft, Kopfweh.

Er küsst mich auf die Wange, legt sein Gesicht an meins und ich will das nich, denn das gehört doch Bine. Er küsst mich nochmal. Meine Wangen brennen. Er küsst mich auf die Stirn. Seine Lippen sind kühl, meine Haut heiß und verschwitzt. Hab ich Fieber?

Ich ziehe ihn fester an mich, versinke im Geruch aus Rauch und Bier und Bela wie in einem tiefen Brunnen. Ist nicht schlimm das Sinken. Ist ruhiger dort. Hauptsache er ist da.  

„Es tut mir so leid.“ Bela weiß nicht, was los ist, aber er hält mich.


„As I lay dying, the woman with the dog’s eyes
would not close my eyes as I descended into Hades.“






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Lyrics: Madness - It must be love

Lyrics: Reagan Youth - I hate hate

Lyrics: Kurt Cobain and Mark Lanegan (RIP) - Where did you sleep last night?

Lyrics: Ton - Steine - Scherben - Halt dich an deiner Liebe fest



Reagan in Westberlin

Photos Umbruch Bildarchiv

rbb – Reagan visits West Berlin, June 11, 1982

Film Super 8 - Proteste am Nollendorf- und Winterfeldtplatz in Schöneberg
Achtung: Viel Polizeigewalt, viel Feuer, nackte Menschen mit Sturmhauben.
Ich merke immer wieder in der Auseinandersetzung mit der Zeit, dass es damals wirklich ganz anders und sehr viel gewalttätiger zu ging, als heute.



Kreuzberg & die Mauer

Wolfgang Krolow - Photographien aus Kreuzberg

Photo - Naunystraße, Kreuzberg

Film - Mauer Waldemarstr, Kreuzberg

Film - Militärjeeps in Westberlin

Tagesspiegel - Todesstreifen Berliner Mauer




Jörg Buttgereit: So war das SO / 36 Wessi Fan Club


Ton Steine Scherben - Halt dich an deiner Liebe Fest | DiaShow internationale Hausbesetzer & Autonome / Anarcho Szene




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Chapter 8: 1982 - Sommer

Chapter Text

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* Teenagers in Love *





Lieder und Bilder farbig unterlegt im Kapitel.
Weiterführende Links am Ende.




 

 

1982 - Sommer




JULI


Charlottenburg

Pünktlich betrete ich die Eingangshalle, versuche mich für einen weiteren Arbeitstag im Büro zusammen zu reißen. Bisher habe ich das ganz gut geschafft, aber heute ... ich habe von ihr geträumt und alles ist wieder aufgerissen.

Ich haste die Treppen hoch. Über mir schicke Jugendstilelemente. Sie befremden mich, sind aber für die alten Charlottenburger Häuser, die den Krieg überstanden haben, wohl nicht ungewöhnlich.

Ich stoße sofort mit ihm zusammen, da er gerade hinter der Eingangstür seinen Mantel aufhängt. „Wie siehst du denn aus, Junge?“

„Na, super. Wie immer.“ Ich muster ihn genervt. So sieht man halt aus, wenn man einen emotionalen Autounfall gehabt hat. Aber von solchen Dingen hast der ja keine Ahnung, der Gefühlsanalphabet.

„Sehr witzig. Hast du Fieber?“ Er tritt tatsächlich auf mich zu, fasst mir an die Stirn. Seine Hand ist groß und kühl. Bin ich echt so heiß?

Er sieht auf mich hinunter, erleb ich nicht so oft. Er ist sogar noch ein gutes Stück größer als ich, genauso dünn. Das Einzige, was ich vermutlich von ihm geerbt habe. Nichts von seinem sonstigen Aussehen. Wäre okay gewesen, denn er ist ein recht stattlicher Mann, aber mich verbindet einfach nichts mit ihm.

Es wäre seltsam, einem Fremden ähnlich zu sehen, seine stechend blauen Augen zu haben, dunkelbraune Haare. Es ist schon seltsam genug, wieder so nah bei meinem Vater zu sein. Mein richtiger Vater, naja, wohl eher der Mann, der mit meiner Mutter geschlafen und sie dann geheiratet hat. Der Herr Ingenieur. Der Abwesende, immer unterwegs, immer noch ein neues Projekt in möglichst fernen Ländern, nur keine Zeit für die Familie. Der große Unbekannte.

Jetzt ist er wieder in Berlin gelandet, vermutlich nur wegen seiner Malaria, weil sie die hier besser behandeln können als in Brasilien. Und jetzt tut er so, als wäre das ja auch wegen mir gewesen. Ich hasse Lügen.

Und trotzdem ist da so ein Kindheitsgefühl übrig geblieben aus Sehnsucht und Respekt – aber vor allem Sehnsucht. Sehnsucht danach, wie es hätte sein können. Hat er nie erfüllt. Auch jetzt nicht. Aber bisher war es okay mit uns. Zum Arbeiten geht`s. Ich war ehrlich gesagt auch neugierig auf ihn. Und zudem zahlt er ganz okay, sogar zusätzlich zu den Unterhaltskosten für mich. Na, genug Geld hat er ja auch. Wenn es ihm wieder besser geht, ist der doch sofort wieder weg. Oder er bleibt wegen Sandy. Es wirkt als würde da was laufen.

Seine Sekretärin - „Nenn mich einfach Sandy!“ - ist jung. Älter als ich, aber jung, viel zu jung. Ob er wirklich was mit ihr hat? Sie lächelt allerdings auch mich seit ein paar Tagen so merkwürdig an. Sie ist hübsch auf eine sehr nicht-punkige Art.  

Ich lehne mich gegen ihren Schreibtisch, reiße ein paar blöde Sprüche. Sie lacht tatsächlich über sie und es rollt angenehm warm durch mich. Fast reizt es mich ja, mit ihr anzubandeln. Ob die mich mit ihren Anfang dreißig wohl nehmen würde? Der Gedanke regt wirklich etwas in mir unter all den blutenden Wunden. Warum steh ich eigentlich immer auf ältere Frauen? Wahrscheinlich würd das eh nicht klappen. Wunschdenken. Aber meinem Vater eins auszuwischen, ist schon reizvoll. Und Bine gleich mit, selbst wenn die das gar nicht mitbekommen würde.

„Jan?“ Sandys Stimme ist auf einmal viel tiefer, ihre Finger liegen leicht auf meinem Unterarm. „Wollen wir zusammen Mittagspause machen?“

Erschrocken stoße ich mich ab, ihre Hand verschwindet, auch ihr Lächeln, nur für einen Moment, dann setzt sie es wieder auf, aber die Stimmung ist auf einmal wieder professionell, distanziert. „Ähm, danke, aber ... Ich hab grad keinen Hunger.“ Mann, ich stell mich echt dumm an! Bela hätte dieses Angebot innerhalb eines Wimpernschlags klar gemacht.

„Natürlich. Kein Problem.“ Sie lächelt etwas gezwungen. „Vielleicht ein andres Mal.“

Kompliziert ist auch noch etwas anderes: wie spreche ich meinen Vater an. Er möchte wohl, dass ich ihn irgendwas in der Richtung von Papa nenne, was ich wohl in meinen ersten Lebensjahren noch gemacht habe, vermutlich, weil mir gesagt wurde, dass ich das tun soll. Aber das ist jetzt vollkommen unmöglich.

Am ehesten ginge noch Vater, aber das klingt echt nach Jahrhundertwende. Joachim, als wäre er so eine Art entfernter Verwandter, geht mir am einfachsten von der Zunge und wär am ehrlichsten, aber das hält er für Hippiekram. Also, am besten immer nur „Hallo!“ – „Mach`s gut, bis morgen!“ Mit ein bisschen Konzentration kein Problem. Aber gerade hab ich davon nicht viel übrig.

Ich bin angeschossen. Versuche, alles zusammenzuhalten an mir, meine Eingeweide, mein Herz.

Meine Mutter hat mich einfach nur in die Arme genommen, als ich bei ihnen in Frohnau angekrochen bin und sie meine roten Augen gesehen hat. Ihr Mitgefühl hat echt weh getan, weil sie mir auf einmal wieder so nah war - bis zu dem Moment, in dem Gerd seine Meinung loswerden musste. „Na, hatt sie dich sitzen lassen, deine Kreuzberger Schlampe?“ Ein ungewohnter Ausrutscher seinerseits in die Fäkalsprache. Lässt tief in seine Abgründe blicken! Aber ... Hat er vielleicht sogar recht? Nein, ich will so nicht an sie denken, egal wie sehr alles in mir schmerzt.

„Sag mal, Jan, was sind denn das hier für Aufkleber im Drucker?“ Joachim hält mir einen Bogen Adressaufkleber entgegen und liest vor: „Bald: Die unvergleichlichen, phänomenalen, fantastischen, übersinnlichen, charismatischen, genialen, todeswitzigen, heißen ÄRZTE.“ Was soll das sein?“

Oh. Mir wäre lieber gewesen, er hätte sie nicht gesehen. „Mhm, die sind für einen befreundeten Arzt, der gerade eine Praxis aufmacht.“

„Ah. Seltsame Werbung, aber ... Schön zu hören, dass es in deinem Umfeld auch Freunde gibt, die eine Karriere anstreben.“

„Mhm. Ja, der Hans ist echt ein ganz ...“ Ich lasse offen, was Hans ist. Aber zu dem Bild, das Joachim gemalt hat, passt er von meinen Freunden noch am besten und schließlich ist er ja auch Teil der Ärzte. Somit ist es nicht komplett gelogen.

„Und du willst echt schon wieder abhauen, Jan?“

„Ja. Übermorgen geht es los – nach Italien.“

„Aber ich habe dich doch gerade erst hier eingearbeitet.“

Ich muss ganz stark schlucken, wenn ausgerechnet er das Thema „Abhauen“ anschneidet. „War ja nich viel einzuarbeiten.“

„Ja, blöd bist du wirklich nicht, m...“ Es wirkt fast so, als hätte er ein „mein Sohn“ anhängen wollen, aber ... Hat er dann wohl selbst gemerkt. „Echt helles Köpfchen, nicht nur wegen den blondierten Haaren, warum auch immer das sein muss. Aber du hast wirklich eine gute Auffassungsgabe.“ Stellt er mir jetzt ein mündliches Arbeitszeug aus? Es schmeichelt mir und nervt mich tierisch. „Das du dich am Computer so schnell ausgekannt hast... Schade, dass du damit nicht mehr anfangen willst, Jan! Wirklich.“ Er legt seine fremde, große Hand auf meine Schulter, ich bemühe mich nicht so zurück zu zucken wie bei Sandy vorhin. „Naja, du hast wohl auch so ein unstillbares Fernweh. Vielleicht hast du das von mir geerbt.“

Kurz ist mir nach Ausspucken - vor seine Füße.


Hermsdorf

Die Fahrt nach Hermsdorf wirkt, als würd ich eine Landpartie unternehmen – entlang des Todesstreifens.

Bisher haben wir immer in Kreuzberg geprobt in einem Raum, den ich von ein paar Freunden bekommen hab. Die Hälfte der Zeit häng ich eh in dem Kiez rum, Spandau ist einfach so krass langweilig. Ich war total stolz darauf, dass ich den Raum bekommen hab, aber Hans will nicht mehr so weit in die Stadt fahren.

Tja, und weil Jan ja nun auch wieder hier oben im Norden ist, hab ich schließlich zugestimmt. Jetzt bin ich derjenige, der weit fahren darf. Aber okay, Jan hat das für Soilent Grün lang genug gemacht.  

Am Telefon meinte er, dass er mich am S-Bahnhof Hermsdorf abholt. Und tatsächlich wartet er schon auf dem Bahnsteig. Oh, oh. Ist er geschrumpft? Bisher hat er seinen Kummer unter einer fast schon stählernen Rüstung abgeschottet. Aber heute steht er vollkommen gekrümmt da, als läge das ganze Leid der Welt auf seinen Schultern. Kaum wieder zu erkennen. Ich steige aus. Er hat mich noch nicht entdeckt.

Seine Miene ist ein grauer Novembertag. Ein Wunder, dass er damit nicht den sonnigen Julitag um sich herum einnebelt. Scheiße. Der Junge tut mir so leid, aber ...

„Hey!“ Vorsichtig gehe ich auf ihn zu. Schnell richtet er sich auf, drückt seinen Rücken durch, setzt ein Lächeln auf, dass so falsch ist, dass es schmerzt. Seitdem er sich bei mir in der einen Nacht im BesetzA-Eck ausgeheult hat, ist er so ein bisschen wie die Berliner Mauer – grau und abweisend, als hätte er zu viel von sich verraten. Am Anfang hab ich noch versucht zu ihm durchzudringen, aber da war am anderen Ende niemand zu Hause.

Nachdem ich mir damit ein paar Mal echt weh getan hab, hab ich auf Selbstschutz umgeschaltet und bin gerade viel mit Jörg unterwegs. Nur zu den Proben sehen wir uns.

Eigentlich sollte auch Max hier sein. Ich hatte gehofft, dass er dieses Mal auftauchen würde, aber auch bei den letzten Proben hat er schon mit Abwesenheit geglänzt. Jan und Hans haben ihn schon aufgegeben. Naja, dann singen halt wir. Vielleicht ist das auch ganz gut, so `ne Art Therapie für Jan. Wenn er singt, dann bricht sein Panzer so ab dem dritten Lied ein wenig auf.

„Hey, Bela!“ Ich würd ihn so gerne umarmen, aber er geht einfach vor mir zur Treppe. Warum mag ich diesen langen Kerl nur so? Einfach ist es wirklich nicht mit ihm.

„Hier!“ Er zeigt auf sein charmantes Schrottrad. „Kannst dich hinten drauf setzen.“

„Hält dit?“

„So `n Fliegengewicht wie dich immer.“ Seinem Witz fehlt die Schärfe. Ich mag meinen Körper so. Das eigentlich Schlimme ist, dass er abgenommen hat, noch dünner ist als sonst. Sein Gesicht wirkt geradezu eingefallen. Seine ganze Körperspannung, das Fiebrige unter seiner Haut, dass uns die letzten Monate so vereint hat, ist vom Winde verweht.

„Wir könn och laufen.“

„Nee, ick will pünktlich sein.“

Ich salutiere. Ein müdes Grinsen. Immerhin. Ich schwinge mich auf den Gepäckträger, traue mich nicht, mich an Jan festzuhalten, so distanziert wie er gerade wirkt. Also, klammer ich mich an der Stange, die den Sitz hält, fest, werde mehrfach fast vom Kopfsteinpflastergerüttel herunter geschüttelt.

„Biste hier nich auf`s Gymnasium gegangen."

„Ja. Auf`s Herwegh. Zusammen mit Micha und Hans. Und Ecky.“ Er verstummt wieder.

Nach endlosen fünf Minuten sind wir da. Mein Hintern tut echt gut weh, `n bisschen mehr Fett an manchen Stellen wär wohl doch gut. Vom strahlenden Sonnenschein geht es eine Außentreppe hinunter in dunkle Kellerkatakomben. Jan klopft an eine leicht rostige Eisentür.

Die Tür schwingt auf und Hans grinst uns an. „Hey, ihr beiden! Schön, dass ihr da seid. Also, das ist mein Proberaum. Naja, also, der von Frau Suurbier, aber Micha meinte, wir können den gerne mitbenutzen.“ Die beiden blonden Riesen stoßen fast mit dem Kopf an die spinnwebenverhagene Decke. Nichts gegen Spinnen, aber gerade bin ich froh, `n gutes Stück kleiner zu sein als Jan und Hans, vor allem mit den hochgestellten Haaren. Lecker!

„Super!“ Ich will nicht unhöflich sein, aber besonders begeistern tut mich der Keller nicht. Es riecht muffig, wahrscheinlich weil es nur ein Fenster gibt. Das ist auch noch vergittert. Vielleicht besser, dann wird wenigstens nichts geklaut. Ich gehe hinüber, vermisse die warme Juliluft, den Sonnenschein. Es lässt sich nicht öffnen. Aber meckern ist auch zickig, also gute Stimmung machen. Ist schon schlimm genug, dass Jans sonst so auf Sonne gepolte Weltsicht wie ausgeschaltet ist.

Jan schlägt Hans auf die Schulter. „Echt cool, Hans. Toll, dass wir hier proben können.“ Auf einmal wirkt er viel lebendiger, fast ein bisschen aufgedreht. Warum kann er jetzt auf einmal wieder einen auf „Alles okay und Sonnenschein!“ machen? Ich muster ihn genauer. Maske! Eindeutig. Das ist fast noch schlimmer als vorher. Mann, Jan!

„Sollen wir loslegen?“ Er schnappt sich eine Gitarre, die von Micha kenne, und beginnt dieses zu stimmen.

Hans kommt hinüber. Im Tonfall eines Gastgebers weist er mich in die Ecke unter dem Fenster. „Hier, Dirk. Du kannst Toms Schlagzeug ...“

„Bela!“

„Was?“

„Kannst du mich Bela nennen?“

„Äh, ... Ja, klar. Also, Bela, du kannst das Schlagzeug von Tom benutzen.“

Ich setze mich dahinter. Fremd. Seltsam. Aber geschenkter Gaul und so ...

Wir spielen die Lieder durch, die wir bisher haben. Sechs. Nicht gerade viel, aber bis zu unserem ersten Auftritt wird das bestimmt noch. Jan ist echt ein Garant für gute Melodien und clevere Texte. Ich hab auch schon zwei, drei Songs fertig, mit denen ich zufrieden bin.

Von Hans kam bisher nichts, aber vielleicht wird das ja noch, wenn wir ihn weiter inspirieren. Er scheint ganz zufrieden zu sein, neben den Suurbiers nun noch eine zweite Band zu haben. Und er ist auch ganz scharf auf einen Gig.

Als wir unser Ärzte-Repertoire durchgespielt haben, breitet sich ein leichtes Grinsen auf Jans Gesicht aus. Das erste Echte an diesem Tag. „Ick hab noch `n neuen Song.“

„Echt? Na, los.“ Ich warte gespannt auf sein Intro. Die mag ich bei seinen Liedern immer besonders gern.

„Is so `n bisschen Surfsong mäßig. Hoffe, dit is für euch okay?“

„Klar.“ Ich versuche, auf Jans kleiner Welle der Euphorie mitzureiten, sie zu verstärken. „Ick find dit jut, wenn wir die Leute überraschen.“

Auch Hans nickt. „Klar. Lass hör`n!“

 

 



Nach der Probe haut Hans ab zu seiner Freundin.

Oh, Mann, tut das gut, die Sonne wieder zu sehen. Warme Luft, die nach Sommer riecht, meine kalten Knochen wieder aufwärmt und den Mief des Kellers wegweht. Meine Hände summen noch von den hämmernden Rhythmen auf den Drums. Ein sehr befriedigendes Gefühl.

Jan steht unschlüssig vor mir, sein Fahrrad in der Hand. „Willste gleich zurück?“ Er scharrt mit den Schuhen im Schotter.

„Nee. Hab noch Zeit.“

„Jut. ... Ähm, ick wollt mit dir reden.“

Mein Herz findet das nicht gut. „Okay.“

„Wollen wir wohin, wo es ruhiger ist?“

Mein Herz beginnt das Ganze nicht mehr ganz so schlecht zu finden. Mhm, vielleicht ...

Drei Minuten rumpeln wir über diese schrecklichen Vorstadtstraßen, dann biegt Jan ab, fährt an einem Uferweg entlang. Unter einer großen Weide hält er. Wir sind auf einem schmalen Streifen Land zwischen zwei kleinen Seen.

Jan deutet auf das Wasser vor uns. „Der Hermsdorfer See.“ Dann in Richtung des Geschreis und Gekreisches hinter uns. „Strandbad Lübars.“ Er legt sich unter die Weide ins Gras.

„Oh, ick hab voll den Ohrwurm.“ Jans Stimme dreht in meinem Kopf Kreise. ,Sommer, Palmen, Sonnenschein, was könnt schöner sein.`

„Hey, Bela. ... Also, ick ... muss dir was sagen.“ Gerade war sein Gesicht entspannter, ein Hauch von Sommer, und Sonnenschein, jetzt ist der November zurück, als er zu mir aufsieht.

Ich lasse mich neben ihn sinken. Will er keine Ärzte mehr? Es fühlt sich so verdammt nach Schluss machen an.

„Die Semesterferien an der Uni fangen morgen an.“

„Äh, okay. ... Schön?“

„Also, ... Ecky und ich wollen wieder los.“

„Aha. ... Wohin?“

„Wir trampen morgen los. Richtung Süden.“

Der Sonnenschein wird schwarz. Ich hätt es wissen müssen.

„Ey, Bela?"

Ich hole vorsichtig Luft.

„Sag doch was."

Kann nur schlucken.

„Bitte! ... Joachim hat sich och schon ufjeregt.“

„Wie ... wie lang?“

„... So zwei Monate.“

Fuck. „... Deen Erzeuger hat nich janz unrecht.“

Jan verschränkt die Arme vor der Brust, seine Miene wird bockig, dann fallen seine Schultern wieder runter. „Bitte, versteh das doch! Ick halt dit hier jrad nich aus.“

„... Ick dachte, wir starten jetze voll durch mit den Ärzten. Ick meen, Soilent Grün is Geschichte und ick hab nu gar keene Gigs, mit denen ick mal `n Fuffi verdienen kann." Als ob das das wirkliche Problem wär. „Wenn de jetz wirklich abhaust für zwei Monate, dann ...“

„Komm doch einfach mit.“ Er sieht mich so hoffnungsvoll an. „So wie an der Havel. Aber ohne Mauer.“

Ja, nur wir zwei, denk ich. Ich beiß mir auf die Lippen, so fest, dass ich kurz Blut schmecke, schüttel den Kopf. „Ick weeß nich.“

„Warum denn nich?“ Jan setzt sich auf. „Wir machen `n bisschen Straßenmusik, hängen mit den Punks rum, lernen Italienisch, Bella Italia, belle ragazze ...“

„Was?“

„Schöne Mädchen.“ Endlich klingt Jan ein wenig enthusiastisch, seine Augen bleiben trotzdem traurig.

Ich weiß, dass er weg muss, weg will. Aber - ich kann nicht mit dem eingespielten Gespann Ecky und Jan unterwegs sein. Ich will nicht das dritte Rad am Wagen sein. Mich zieht es auch nicht so in die Ferne wie ihn. Hat es noch nie. Durch Westdeutschland, über die Alpen, ins schöne Italien. Ich mag Berlin. Hier ist alles, was ich brauche, nur bald anscheinend kein Jan mehr.

Auf einmal bin ich nur noch Unruhe. Wenn wir was zu kiffen hier hätten, Bier, ein paar Downers, irgendwas, ging`s vielleicht. Aber die Aussicht das Jan morgen weggeht, ist, als würde die Sonne für den Rest des Sommers untergehen. Scheiße.

„Ey, hier is es doch och schön. Wir könn an `n Strand vom Wannsee fahren und ....“ Warum kämpfe ich überhaupt? Wenn Jan etwas entschieden hat, dann kann nur eine Alieninvasion seine Meinung ändern.

Er beugt sich zu mir hinüber. „Es ... es tut mir echt leid, Bela. Du weißt, manchmal muss ick eenfach raus.“ Er ist so nah, riecht verschwitzt.

Ich will das Salz von seiner Haut lecken. „Schon okay, Jan. Dann fahr in Urlaub. Tut dir bestimmt jut.“ Blut auf meinen Lippen.

„Du bist also nich sauer?“ Hoffnung in seinen Augen.

Schon klar, was er hören will – und er braucht gerad echt nich noch mehr Stress, aber ... Ich beiß mir wieder auf die Lippen. „... ... Doch.“

In meinem Kopf läuft. ,Sommer, Palmen, Sonnenschein, was kann schöner sein? Mit dir allein kann es noch schöner sein!`

„Weiß Hans Bescheid?“

„Ja, mit dem hab ick jestern jeredet. Is okay für ihn.“

Na, super. Er sieht es mir wohl an. „Ick wollt dir dit nich am Telefon sag`n.“

Ich erheb mich. „Vielleicht sollt ick los.“

„Was?“

„Ja, ick muss noch ... Treff mich mit Jörg.“

„O-okay, dann ... Ick fahr dich zur S-Bahn.“

„Mhm.“

Hinter ihm auf dem Gepäckträger denken die Tränen, dass jetz ein guter Moment für einen Auftritt wär. Ich schluck die Enge im Hals, das Bittere im Rachen hinunter. Vorsichtig leg ich meine Arme um Jans Bauch. Warm, lebendig. Er legt seine Hand kurz auf meine, dann strampelt er los.

Die Abendsonne berührt über uns nur noch die Kronen der Alleebäume. Ich leg meine Wange an seinen Rücken, nur ganz leicht, so dass er es nicht merkt, so dass es Zufall sein könnte, genieß die Wärme seiner Haut durch das T-Shirt, den salzig-intensiven Geruch, den der Fahrtwind mir ins Gesicht weht.

Mein ganzer Körper kribbelt von der Nähe. Ich lass eine Hand an seine Hüfte wandern, spür den Knochen. Er wirkt fast zart hier oder so abgemagert, aber seine Muskeln arbeiten, tragen uns vorwärts. Erinnerungen an die Fahrt auf dem Moped vor einem Jahr strömen warm in mir hoch, dann Verzweiflung, obwohl er ja noch da is. Ich sollt ihn einfach nicht loslassen. Oder mitfahren?

„Ick komm noch mit hoch zum Bahnsteig.“

„Musste nich.“

Jan sperrt sein Rad an eine Laterne. Oben auf dem Bahnsteig checkt er die Uhr. „Noch zwei Minuten.“ Er sieht mich so traurig an, wie ich mich fühle. Aber es is seine Entscheidung, dass hier abzubrechen. Und wenn er gar nich wiederkommt? Fuck, fuck, fuck.

Die Gleise beginnen zu singen von Näherkommen und Abschied, dann rauschen die Wagons an uns vorbei. Ich weiß nich, ob ich es aushalt mich wirklich zu verabschieden von ihm, hebe die Hand.

Jan greift nach ihr, zieht mich an sich. Unsere Körper fließen ineinander, ganz nah, und da ist kein Begehren, nur das Verlangen, dass er bleibt. Sehnsucht, so tief, dass sie mir Angst macht. Ich zieh mich mühsam aus dem Magnetismus zurück, den er auf mich ausübt, aber Jan hält mich fest. Seine Hände streichen über meinen Rücken, groß und warm.

Hinter uns steigen Leute aus. Ein Kind schreit. Behutsam schiebt er mich ein Stück von sich, beugt sich ein Stück zu mir runter, legt seine Stirn gegen meine. „Ich komm wieder, Bela. Versprochen!“

Warum fällt mir nichts Witziges ein, dass dieses Drama hier auflockert? Stattdessen steigt mir schon wieder Wasser in die Augen. Nein. Nein. Nein. Ich nicke. Er schiebt mich langsam rückwärts und auf einmal stehe ich im Wagon. Ich schmeiß mich in einen leeren Vierersitz, will am liebsten mein Gesicht in den Händen vergraben, aber Jan steht draußen vor dem Fenster. Ein großer Mann, mit traurigen Augen, allein auf dem Bahnsteig.

Die Türen schließen sich, die S-Bahn fährt an. Er bleibt zurück, obwohl ja eigentlich er derjenige ist, der wegfährt. Das Gefühl von allein und zurückgelassen reißt an mir. Von einem Tag auf den anderen. Grad spinnen wir noch Songideen, proben und dann ... Als wär er aus meinem Leben geschnitten.

Also, ich hab`s schon irgendwie geahnt, aber ... Fuck, tut das weh! Seine Abwesenheit is jetzt schon wie ein dunkler Schatten neben mir, das Wissen ihn überhaupt nicht erreichen zu können, wühlt alles hoch, holt es für mich unübersehbar nach oben. Jan hat Recht!

 

 


Liebeskummer ist echt so ein Scheißgefühl,
macht einen viel zu verletzlich.




 

 



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Lyrics: Blondie - Heart of Glass

Lyrics: die ärzte - Sommer, Palmen, Sonnenschein

Lyrics: Lou Reed - Perfect Day

 

Interview zur Namensgebung "die ärzte" und die Aufkleberaktion



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Chapter 9: 1982 - Azzurro

Chapter Text

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* Teenagers in Love *





Lieder und Bilder farbig unterlegt im Kapitel.
Weiterführende Links am Ende.

Englische und italienische Dialog-Einsprengsel
wegen der Authentizität. Ich hoffe, es bleibt dennoch verständlich.

Und für Meerschwein-Besitzende:
S. 73 - Ecky und Jan auf einem Moped und
braun gebrannt in südlichen Gefilden am Meer!



 

1982 - Azzurro





5. JULI


On the road again
Goin‘ places that I’ve never been
Seein‘ things that I may never see again
And I can’t wait to get on the road again



Es ist seltsam, Berlin zu verlassen, unsere kleine Insel der Glückseligen, umgeben von grauer DDR. Aber meine Glückseligkeit liegt gerade begraben unter Trümmern und dafür gibt es nur ein Allheilmittel bei mir.

Allein schon mit Ecky an der Avus zu stehen, ersetzt den Trübsinn mit Reiseadrenalin, jagt Fernweh durch meine Adern. Als hätte sich mein Blut von zähem Teer endlich wieder in lebendiges Fließen verwandelt. Leben macht wieder Sinn, als wäre Berlin ein dunkles Tuch, unter dem ich herausschlüpfen muss, um es von mir und meiner Welt zu ziehen.

Bei unseren Proben in den letzten Tagen hat das auch ein bisschen geklappt. Aber kaum hab ich die Gitarre abgeschnallt, dann ... Und Bela. Bela mit seinen mitfühlenden Augen, mit seinen vorsichtigen Worten und einfühlsamen Händen. Bela war wirklich da für mich. Zumindest hat er es versucht, aber ich ... ich konnte nicht. Alles fühlt sich lebensgefährlich an – wie eine Zeitbombe. Die Hülle ist ja schon explodiert. Aber immer noch tickt etwas tief in mir und ich weiß nicht, was in dieser drin steckt.

Bela. Es ist, als könnte ich sein schlagendes Herz, seine Schritte in den Straßen Berlins noch spüren. Heimweh ist ein Gefühl, das selten in mich kriecht, aber jetzt zieht es einen Teil von mir zurück, kämpft gegen den Sog der Ferne, verlangt hierzubleiben.

Ein großer LKW blinkt und hält schnaufend vor uns. Auf dem Nummernschild hinter der Windschutzscheibe steht "STEFF". Ich öffne die große Beifahrertür und kletter ein paar Stufen nach oben. Eine Frau hinter dem Steuer. Ich starre sie vermutlich unangemessen lange an.

„Na, Jungs!“ Sie grinst, ist sich wohl bewusst, dass sie ein ungewohnter Anblick ist. „Wo soll`s hingehen?“

Ecky stößt mich wenig dezent in die Seite. „Richtung Süden“, sagt er schließlich.

„Ihr seid ja echt mal Glückspilze. Ich hab `ne Ladung Süßkram für Verona.“

„Oje. Von Storck?“ Ich rieche wieder diese fast widerlich Süße in den Produktionshallen.

„Genau. Also, was ist? Bella Italia!!! Wollt ihr mit oder doch lieber hierbleiben?“ Tatsächlich sieht mich Ecky ernst an. Das ist noch nie passiert. Wirke ich so zögerlich? Mit Schwung werfe ich meinen Rucksack in das Führerhaus nach oben und kletter hinterher. Und schon brausen wir davon.

Bye, Berlin.

Bela, bis bald!

Steff ist gerade mal Mitte dreißig und erfüllt sich ihren Traum von endlosem Asphalt und Horizont. Naja, gerade stehen wir nur – im Stau vor dem Checkpoint Dreilinden.

„Irgendwann mach ich das mal in Amerika“, grinst sie, als wir endlich über die Transitstrecke holpern. Die kleinen Trabanten und Wartburgs vor uns wirken wie Ameisen auf der Straße von hier oben im Führerhäuschen. So wie Steff aussieht, trau ich ihr das mit den USA sofort zu. Sie imponiert mir. „Und von was träumt ihr?“

Ecky legt mir eine Hand auf die Schulter. „Er will Popstar werden.“

„Mann, Ecky!“ Ich haue ihm mit Schmackes auf den Oberarm.

„Au, du Proll.“ Er reibt sich die Stelle. „Stimmt doch.“

„Kein schlechtes Ziel. Na, gut aussehen tuste ja schon mal. Wenn du jetzt noch singen und spielen kannst, dann könnte das mit ein bisschen Glück ja sogar klappen.“

Mit Glück hat das wahrscheinlich nicht so viel zu tun, denke ich, sondern mit üben und Konzerte geben. Na, dem hab ich ja grandioserweise gerade den Riegel vorgeschoben, ich Idiot.

„Sein Schlagzeuger sieht sogar noch besser aus“, grinst Ecky. Ich drohe ihm mit der Faust und er hebt beschwichtigend die Hände.

Ich sehe ihn den riesigen Rückspiegel neben mir. Ich bin ein Arschloch dafür, dass ich Bela so hängen lasse. Meine gute Laune verfinstert sich wieder. Das war nicht der Plan, verdammt!

Ich atme vorsichtig durch, entscheide mich dann, das erstickende schwarze Berlintuch wirklich abzuwerfen, entscheide mich, für das Getragen werden von der Straße, Schnauze Richtung Meer und die Leichtigkeit des Reisens.

„Wie heißt denn eure Combo?“

Warum reden wir jetzt die ganze Zeit über das, was ich gerade zurücklasse. „Die Ärzte!“

„Witziger Name. Werd ich mir merken.“ Steff löst ihren Blick von der Fahrbahn und mustert mich. „Ehrlich gesagt, hab ich auch wegen dem Gitarrenkoffer gehalten. Na, Herr Popstar, willste ein kleines Brummikonzert geben?“

So richtig fühl ich mich nicht nach singen, aber ich will nicht undankbar sein und Steff ist echt cool. Ich fische den Gitarrenkoffer von der Pritsche hinter uns und lasse die Schnallen aufschnappen.

Erst als ich vor dem ersten Vers stehe, ihn singen soll, merke ich, dass ich das komplett falsche Lied gewählt habe. Ich würge sie heraus.


On the road again
Just can’t wait to get on the road again

The life I love is making music with my friends


Ecky scheint zu merken, dass was nicht stimmt und so gut wie er mich kennt, weiß er auch genau, was das Problem ist. Er legt kurz seine Hand auf mein Knie. Bei Ecky hab ich aufgehört, mich zu wehren dagegen, dass ich so gläsern für ihn bin. Wir kennen uns einfach zu lang dafür, haben schon zu viel zusammen erlebt – vor allem auf unseren Reisen euphorische Höhen und knapp am Tod vorbei Tiefen, von denen meine Mutter niemals was erfahren darf.

„Wow! Das klingt echt gut.“ Steff merkt zum Glück nichts von meiner emotionalen Befangenheit. „Könnt, was werden, wenn du dran bleibst. Kann ich mir was wünschen?“

„Jan kann fast alles“, erklärt Ecky stolz. „Der hat früher auf den Feriencamps immer das ganze Lagerfeuer mit seiner Klampfe unterhalten.“

Ich will ihm schon sagen, dass er mich vielleicht besser nicht so über Wert verkaufen soll, aber seine Augen liegen so warm auf mir und nun steigt auch in mir so eine Nostalgie auf. Schweden, Frankreich, wir waren echt viel unterwegs damals. Die besten Wochen meines Kinderlebens.

„War echt schön bei den Falken, hm?“ Er nickt, lehnt sich ein Stück gegen mich.

„Kannst du Country Roads?“ Anstatt zu antworten, fange ich einfach an zu spielen. Steff fällt mit ein, sie hat eine schöne Stimme und auch Ecky versucht, sein Bestes zu geben, aber in der Hinsicht ist er einfach nicht gesegnet. Ansonsten hätte ich ihn schon längst zum Ärzte-Sänger erkoren.

Nach ein paar Stunden sind wir kurz vor dem Grenzübergang Rudolphstein. Auf der Transitstrecke hoppelt der LKW besonders krass. Mein Kopf knallt immer wieder gegen das Fenster. Wir halten noch einmal zum Tanken an einem Intershop und Ecky holt sich glücklich eine Club Cola. Sein persönliches Reiseritual.

Als die Grenze hinter uns liegt, fällt noch mehr Anspannung von mir ab. Ich habe die letzten Wochen so schlecht geschlafen, dass ich einfach wegpenne. Eine Hand an meinen Schultern leitet mich in die Waagrechte. Ich wache mit dem Kopf auf Eckys Oberschenkel wieder auf. Meine Wange ist heiß und verschwitzt. Ecky sieht auf mich hinunter. „Alter, du hast echt geschlafen wie ein Stein.“

Ich setze mich auf. Obwohl mir alles weh tut, fühle ich mich so erholt wie seit Wochen nicht mehr. Berge im Dunst vor uns. Ein Adrenalin-Kick geht durch meinen ganzen Körper. Nur noch da rüber.

Steff hält auf einem Rastplatz mit genialer Aussicht auf die Alpen. Ein echter Geheimtipp und für Frauen sicher, erklärt sie Ecky und mir. Wir richten uns für die Nacht ein. Sie schläft auf der Pritsche hinter den Sitzen. Ecky und ich breiten im nah gelegenen Wäldchen unsere Schlafsäcke aus.

„Dir geht`s besser, oder?“

Nachts im Schlafsack unter freiem Himmel, das ist, seitdem ich neun bin, mein Freiheitsgefühl. Und Ecky ist genauso lang schon Teil davon.

„Hmmm. Ja. Es hilft echt, wieder unterwegs zu sein.“


Am nächsten Tag geht es im Stau über den Brenner und dann sind wir wirklich in Bella Italia, das uns mit dem tiefsten Himmelblau begrüßt.


In Verona angekommen, ist es nach zwei Tagen tatsächlich sogar ein bisschen traurig sich von Steff zu verabschieden. Ein typischer Abschied, wenn man Leute beim Reisen ins Herz schließt und dann doch einfach weiter zieht.

„Macht`s gut, Jungs! Genießt eure Jugend.“ Sie lässt die gewaltige Hupe des LKW dröhnen. Die Lachfalten lassen sie selber jung aussehen. „Und viel Glück mit deinen Ärzten, Jan!“

Ja, meine Ärzte. Ich seufze und winke ihr zum Abschied hinterher.


Es ist nicht weit bis in die Innenstadt. Dort gehen wir als erstes in den McDonalds und holen uns von den abgegebenen Tabletts die Essensreste runter. Am Anfang fand ich das noch echt eklig, McDoof schmeckt schon im frischen Zustand nicht wirklich geil, aber kalt ... Naja, der Hunger treibt es rein. Es ist gratis und hat genug Kalorien. Passt.

Danach stehen wir draußen vor der großen Arena. „Und jetze?“ Fast ein wenig ratlos sehe ich zu Ecky. „Verona kennen wir ja schon zur Genüge.“ Irgendwie scheinen wir jedes Mal als erstes hier zu landen bei unseren Italienabenteuern. „Nochma muss ick die Arena und Julias Balkon nich sehn.“

„Ich auch nich“, lacht Ecky. „Was hältst du von Venedig?“

„Is bestimmt krass voll da.“

„Das sagste jedes Mal, aber ... ich würd echt gern hinfahren.“

„Okay, mein Lieber. Dann machen wa dit.“


VENEZIA

Ja, Venedig ist krass voll. Ich unterdrücke ein „Hab ich doch gleich gesagt.“, als wir uns an der Piazza San Marco an einer Gruppe lauter deutscher Tourist*innen vorbei drücken. Ich muss nicht mal hören, welche Sprache sie sprechen, die weißen Socken in den Sandalen sind beredet genug.

Aber je voller es ist, desto größere Chancen haben wir Geld zu verdienen. Und das brauchen wir dringend. Auf Betteln stehen Ecky und ich nicht so und machen das nur im absoluten Notfall.

Deswegen packe ich meine Gitarre aus und Ecky seine Kreiden. In London haben wir damit immer gutes Geld verdient. Ich stimme „Yesterday“ auf der Gitarre an.

Hier in Italien scheint es etwas weniger üblich zu sein Geld in den Gitarrenkoffer zu werfen. Vielleicht bin ich über das babylonische Gewirr aus Sprachen aber auch einfach nicht zu hören. Einen Verstärker hab ich schließlich nicht mitgeschleppt. Oder kennen die die Beatles nicht? Alle kennen die Beatles.

Ich werfe einen niedergeschlagenen Blick auf die paar traurigen Lire und den Dollarschein, die sich bis jetzt im Koffer befinden.

Ecky erhebt sich von seiner Zeichnung des venezianischen Löwen. Die goldene Mähne sieht echt wild und flauschig aus, bringt auch ein paar Leute dazu, ihm ein paar Minuten zu zu sehen. Dann gehen sie weiter und wir stehen wieder allein, also, allein in der Menge.

„I get by with a little help from my friends!“, krächzt Ecky bewusst noch falscher als sonst und bringt mich damit zum Lachen. „Ey, tut mir echt leid, Jan, dass ich nicht singen kann. Aber warum singst du eigentlich nicht?“

„Ist doch viel zu laut hier!“

„Haste Schiss?“

Wenn ich es nicht schon gewusst hätte, dann wäre es wieder die Bestätigung für Eckys telepathische Fähigkeiten gewesen.

„Die Beatles sind heilig.“

„Dann fang halt mit was anderem an.“

„Mit was denn? Soll ich Sommer, Palmen, Sonnenschein singen?“ Ich habe Ecky das Lied vorgesungen und er fand, dass das echt ein guter Start für die Ärzte ist. Und ein Soundtrack für unsere Reise.

„Na, wenn dann müsste das jetzt „Estate, palme, sole“ sein.“ Ecky lacht. Er und ich haben immer so einen kleinen Wettbewerb laufen, wer besser und schneller eine Sprache lernt.

„Dann also O Sole Mio!“ Schon läuft es ein bisschen besser, auch wenn meine Künste bei so einem fast operettenhaften Stück nicht wirklich gut sind und ich mir als Deutscher ein wenig seltsam dabei vorkomme, das Lied ausgerechnet hier zum Besten zu geben. Aber endlich bleiben ein paar Tourist*innen stehen und es bildet sich eine kleinere Menge. Was Warmes zu essen, wär schon auch mal wieder ganz schön. Mein Appetit ist zurückgekehrt, seit dem wir Deutschland hinter uns gelassen haben.

Nach zwei Stunden sieht Ecky vom Zählen auf. „11.850 Lira. Sin so gut 17 Mark. Nich schlecht, aber auch nicht genug für ein richtiges Essen.“

„Außerdem sollten wir die besser sparen, wenn`s ma echt eng wird, wa?“

Ecky nickt.

Ein paar junge Typen und eine Frau, die mit ihren zerrissenen Hosen und Nietengürteln Punks sein könnten, stehen ein wenig abseits, sehen aber immer wieder tuschelnd zu uns hinüber. Ich kann ihr Alter schlecht schätzen, aber sie sind wohl ein, zwei Jahre älter als Ecky und ich.

Einer hat so schwarze Haare wie Bela, aber vermutlich nicht gefärbt. Langsam kommt er zu uns hinüber. Auch seine Figur ist Bela ähnlich, dünn, fast zierlich. Nicht an Bine denken! Als er zu mir aufsieht, bleibt mir fast die Luft weg. Bela hat so katzenhaft hellgrüne Augen. Die von dem Typen sind ein wenig dunkler, aber nicht sehr – und er trägt keinen Kajal. Dafür hat er lange schwarze Wimpern.

„You know The Clash?“, fragt er vorsichtig.

Ich stimme die Akkorde von „Should I stay or should I go“ an. Er strahlt mich an, seine Freund*innen johlen und kommen nun alle herüber, setzen sich zu uns, so dass Ecky und ich auf einmal Teil einer sehr bunten Gruppe sind.

Der schwarzhaarige Punk deutet auf sich. „Gianni.“ Der Iro heißt Paolo, grüne Haare Marietta und mit dem Leopardenmuster Leo, was Sinn macht. So richtige Punkernamen scheinen sie nicht zu haben. Ich ja auch nicht und Ecky ist auch eher ein Punk im Herzen.

Die entsprechenden Songs sind definitiv das Ende des Geldsegens, aber es macht so viel mehr Spaß. Es ist fast wie damals am Lagerfeuer im Falkenzeltlager, alle singen wild durcheinander und ich spiele dazu Gitarre. Dafür reise ich, nicht zum Geld verdienen.

Paolo besorgt Bier und Wein, die Ecky und ich dankend ablehnen. Stattdessen spiel ich lieber noch eine Runde. „Teenage Kicks“ von den Undertones und „Ever fallen in love with someone you shouldn`t have“ von den Buzzcocks. Gianni sitzt neben mir. Er kann den Text nicht ganz, hat aber dafür ein gutes musikalisches Gespür und kann die zweite Stimme singen.

Nach dem Lied beugt sich Gianni zu mir und sagt andächtig: „You cool.“ Es rührt mich ganz seltsam, dass er mich so sieht. „Grazie. Anche tu sei molto cool“, grinse ich.

„Ah, you speak Italian.“ Gianni strahlt, als hätte ich ihm ein echtes Geschenk gemacht.

„Puoi parlare con noi in italiano“, antworte ich und bin mir relativ sicher, dass es grammatikalisch korrekt ist.

„But me wanna learn more Inglese.“ Er strahlt noch mehr. Gut sieht er aus - und er weiß es auch. Aber nicht auf die unangenehme Weise.

Die Piazza wird langsam leerer und die Straßenlaternen gehen an. Gianni sieht mich an: „You know, where sleep? Hostel?“

Ich sehe Ecky an, der mit den Schultern zuckt. „We have no money. Maybe at the beach.“

Giannis Augen beginnen zu leuchten. „I know good place. Now, come, come!“ Es hört sich sehr charmant nach kome, kome an. „But first – we go eat.“

Ecky nickt begeistert und ich packe meine Gitarre ein. Die Venedig-Punks führen uns durch ein Labyrinth aus kleinen Gassen. Aus einer riecht es sehr verführerisch. Sie ziehen uns hinein.

„Pizzeria of friend.“ Gianni strahlt zu mir hoch. „You hungry?“

„Yeah, I am actually very hungry.“

Gianni klatscht in die Hände. „I give you food, yes?“

Wir bekommen aus der Hintertür frische, ofenwarme Pizza gereicht. Alle reden wild durcheinander, Ecky fachsimpelt mit Leo über Zeichentechniken, was mich prinzipiell auch sehr interessiert, auch wenn ich wohl nicht mehr Kunst studieren werde, aber gerade bin ich einfach nur satt, müde und zufrieden.

Genau danach hatte ich Sehnsucht. Einzigartige und doch vergängliche Begegnungen und Momente an fremden Orten, die dadurch auf einmal zu vertrauten Plätzen werden. Die einzige Konstante Ecky.

Die Punks beginnen miteinander zu diskutieren. Paolo und Marietta müssen los, aber Leo und Gianni wollen uns wohl zu einem schönen Ort bringen.

„Come, come! We go to Lido now!“

Wir steigen auf ein Vaporetto, dass uns hinüber zu einer anderen Insel bringt. Die Hitze des Tages ist nun am Abend angenehm lau geworden. Das Wasser riecht hier draußen auf der offenen Lagune auch viel besser und frischer. Ein leichter Fahrtwind fährt durch meine Haare, über meine Haut.

Hinter uns bleiben die Lichter von Venedig zurück. Jetzt in der Dämmerung wirken sie nochmal spektakulärer, spiegeln sich auf dem wogenden Wasser. Die Silhouette der alten Gebäude sind wie ein Trip ins Mittelalter. Ich lege Ecky einen Arm um die Schulter. „War echt `ne gute Idee herzukommen.“

„Ja, ne?“ Er legt seinen Kopf kurz an meinen.


LIDO

Der Lido ist nach den vielen Touris und der Lichtshow auf den historischen Gebäuden drüben an der Piazza San Marco direkt dunkel, die Häuser niedriger, die Straßen verlassener. Leo winkt uns am Anleger zu. „I go home now. I will bring food in morning, okay?“

„Okay, cool.“ Ecky und ich verabschieden uns. Gianni sieht uns erwartungsvoll an. „You wanna go to sea?“

Ecky winkt ab. „Hey, Jan! Ich bin echt müde. Sorry, Gianni, I am a bit tired.“

„No problema.“ Gianni steuert auf eine Mauer zu. „Cimitero.“ Er lehnt sich gegen die Mauer und faltet seine Hände, deutet auf sein Knie. Ecky klettert über die Räuberleiter hinauf, ich werfe ihm seinen und meinen Rucksack zu und schwinge mich mit Giannis Hilfe auf die Mauer, ziehe ihn hoch, was erstaunlich leicht ist.

Auf dem Friedhof suchen wir eine Stelle hinter einem großen Busch, rollen unsere Isomatten und Schlafsäcke aus. Ecky geht nochmal pinkeln, putzt seine Zähne und legt sich dann hin. „Good night, you two!“

Gianni setzt sich zu mir auf den Schlafsack. „You want see Adria, Jan?“

„Okay.“

Wir klettern den Weg wieder zurück auf die Straße und folgen ihr dann zehn Minuten. Ein kleiner Weg führt ins Dunkle. Feiner Sand unter meinen Schuhen. Ein halber Mond leuchtet uns den Weg bis hinunter ans Wasser. In der Ferne brennt ein Lagerfeuer. Fetzen von Gesang wehen zu uns hinüber.

„See.“ Gianni zeigt auf die Adria, klingt so stolz, als hätte er diesen Ort geschaffen und es ist ein bisschen süß. Und wirklich schön. Der Halbmond zieht eine silbern glänzende Straße auf dem Wasser bis zum Horizont.

Ich ziehe meine Schuhe aus und wate ein Stück ins lauwarme Wasser. Die Adria ist hier an der Lagune direkt zahm. Ganz anders als das Mittelmeer. Die Wellen schwappen eher an den Strand, als das sie rollen. Ab und zu leuchtet etwas grün-bläulich auf.

„What is the light in the waves?“

„Ah, luci del mare. Beautiful, no?“

„Yes. It really is.“ Ich versinke im Anblick des farbigen Meeresleuchten, kehre dann zu Gianni zurück, der mich gefühlt aufmerksam beobachtet hat.

„Eh, Jan? I have question. ... Is Äky your friend?“

„Yeah. He`s my friend.“

„Mhm. ... I mean, he your boyfriend?“

„Ecky?“ Warum denken, das eigentlich ständig Leute? Wir sehen eher aus wie Brüder. „Ah, no!“

„No problema, if he you boyfriend.“ Er wirft mir einen scheuen Blick zu.

„Why do you ask?“

„Because ... I like you.“

„... Okay.“ Irgendwas schwebt in der Luft, aber ich bin mir nicht sicher, wohin es führen könnte. „I like you, too, Gianni.“ Ich bin neugierig. Wer ist der junge Mann, der mich so umwirbt? „What are you working as?“

Seine Miene und Stimmung wird kurz sehr abweisend. „Work? Eh ... I ... you not like me.“

„What?“

„I say – you think, me bad person.“

Jetzt bin ich wirklich neugierig. „You are Cosanostra!“ Schlechter Witz. Ich würde ihn auch definitiv nicht weiter südlich in Italien machen.

„Ah, sei stupido.“ Seine Hand rauft spielerisch durch meine Haare. „No. My job more onore – eh, more class? You understand.“

Ich schüttel den Kopf.

„Ah, Jan. ... Bene. I work for pleasure, okay?“

„Hä?“

„With men!“

Was? ... Oh. „Ah. Is ... Is this, why you like me?“ Okay, ich bin wahrscheinlich einfach nur eine Einnahmequelle für ihn. Passiert. Touris, sogar so Abgeranzte wie Ecky und ich, sind einfach Geld auf Beinen. Und er macht seinen Job wirklich gut. Beinahe hätte ich wirklich ...

„No.“ Er sieht mich ganz geschockt, dann traurig an. „No, Jan, no. I like you play the Clash and you punk, too, si?“

„Si.“

„You ... too like me?“ Seine Augen leuchten hell im Mondlicht. Im Dunkeln ist die Ähnlichkeit mit Bela noch schlimmer, verwirrender. Das orange Zelt taucht in mir auf. Das Gewitter. Wenn er nun wirklich Bela wäre? Mein Kopf beginnt komplizierte Gedanken zu spinnen. Der Strand, die Adria, die Nacht verschwinden in meinem Kopf, im Nachdenken.

„Sorry. I stupid.“ Gianni rutscht ein Stück von mir weg. „I not say this things to you.“

Ich hab ihn verletzt. Und irgendwie mich selbst auch. Ich muss aufhören, alles zu zerdenken, mir selbst im Weg zu stehen. Ich beschließe loszulassen, aufzuhören alles zu kontrollieren. Ich beschließe, glücklich zu sein - zu werden.

„What if, I like you, too?“

„Really?“ Sein Lächeln leuchtet weiß unter dem Mond. „Then ... I kiss you?“

Ich halte die Luft an, atme aus. „... Okay.“

Er kniet sich in einer fließenden Bewegung vor mich. „You kissed boy before?“

Ich nicke. „One. ... A little.“

Sein Gesicht nähert sich meinem. Er riecht unerwartet angenehm für einen Punk, nur ein bisschen nach Bier, aber nicht nach Rauch. Stattdessen nach einem guten Aftershave. Seine Hand in meinem Nacken. Er zieht mich zu sich, ganz leicht, so dass ich ihn jederzeit stoppen könnte. Aber das tu ich nicht. Seine Lippen sind weich, im Gegensatz zu den leichten Bartstoppeln, die ungewohnt, aber aufregend auf meiner Haut kratzen.

Es dauert dennoch einen langen Moment, bis ich mich traue, meinen Mund für ihn zu öffnen. Es ist anders. Anders als mit Bine – klar, aber auch anders als mit Bela. Er ist fast vorsichtig, als könnte er mich beschädigen. Vielleicht denkt er, ich bin mir doch nicht sicher. Bin ich auch nicht.

Er legt eine Hand auf mein T-Shirt. „Your heart? Very heavy.“

Ich drehe mich zur Seite. Das ist viel zu nah an der Wahrheit für den gerade noch leichten Moment.

„You love someone?“

Ich nicke, ohne nachzudenken, seufze.

„You sad?“

Ich nicke wieder, kann nicht reden.

„We not kiss then, bene?“

Ich atme durch, sehe wieder zu ihm. Er ist ein schwarzer Schatten vor dem mondbeschienen Meer. Seine Hand berührt meine Wange leicht und ich schmiege mein Gesicht an sie. Es ist schön. Und traurig, weil ... Er nicht der ist, nach dem ich mich sehne, vor dem ich weggelaufen bin? Aber bin ich nicht wegen Bine weg?

„Sono molto confuso in questo momento, Gianni.“

„Capisco. We go back?“

„Yes. Maybe, that`s better.“

Vor der Mauer sieht er mich vorsichtig an. „I go to Leo?“ Das Fragezeichen schwebt deutlich zwischen uns.

Ich denke an Bela in Berlin, an Ecky auf der anderen Seite, zucke innerlich zusammen. Aber bei wem, wenn nicht bei ihm, sollte es mir egal sein? Was will ich? Keine Ahnung. Du willst glücklich sein, Jan!, sagt eine Stimme in mir.

„If you want, you can stay with me?“

Gianni lächelt vorsichtig. „Sei sicuro?“

„Sì, sono sicuro.“ Wirklich sicher bin ich mir nicht, aber ich werde es wohl auch nicht herausfinden, wenn ich ihn wegschicke.

Ich breite den Schlafsack über Gianni und mich aus. Es ist schön, seinen warmen Körper neben mir zu spüren. Und verlockend. Wie viel will er? Wie viel will ich? Oder macht er das doch nur, weil es sein Job ist?

Seine Küsse werden intensiver. Giannis Hände wandern zu den Knöpfen meiner Jeans und ich will ... Dann ziehe ich sie behutsam zurück, er hört sofort auf.

„Solo baci, okay?“, flüster ich. Küssen ist okay.

„Qualunque cosa tu voglia.“ Gut. Er scheint es zu akzeptieren. Seine Stimme ist dennoch ein atemloses Hauchen an meinem Ohr. „Mi piace anche baciare con te.“

Ich mag es auch ihn zu küssen. Nach ein paar Minuten schlüpfen seine Hände unter mein T-Shirt. Okay. Aber dann wandern sie langsam wieder tiefer. „Gianni?“ Ich ziehe seine Hände zurück, auch wenn es mir schwerfällt, es nicht doch mehr werden zu lassen. Verdammt, er macht das echt gut.

Aber das Ecky ein paar Meter neben uns liegt, hilft zusätzlich. Würde ich mehr zulassen, wenn wir alleine wären? Nein. Oder? Ich sollte mich nicht einfach so in etwas stürzen.

„Mi scusi, Jan.“ Gianni küsst mich auf die Wange. „Non ho un uomo così spesso perché lo desidero. I really like you.“

Es tut mir echt leid. Gianni scheint nicht nur professionell auf Männer zu stehen. Aber da kann er sich ja nicht nur die aussuchen, die er wirklich attraktiv findet, vermut ich. Wahrscheinlich ist das insgesamt nicht ganz so einfach, hier in Italien schwul zu sein. Ist das überhaupt jemals einfach?

„Dormiamo, si? Come si dice dormire bene in tedesco?“

„Schlaf gut!“

„Slaf gutt, Jan!“ Er kuschelt sich vor mir zusammen und ich halte ihn, kann nicht wirklich schlafen, weil die Endorphine in mir summen und das Gedankenkarussell sich blinkend dreht. Bela ...

Am nächsten Morgen wirft Ecky kurz einen Blick zu uns hinüber. Gianni schläft noch. Fragend sieht Ecky mich an, dann nickt er. „Buongiorno.“

Tatsächlich bringt Leo frisch gebackene Cornetto und in einer Thermoskanne Cappuccino. Fast bin ich versucht etwas davon zu trinken, um mich für seine Geste dankbar zu zeigen, aber ich habe noch nie Kaffee getrunken. Ecky ist dafür um so glücklicher darüber.

„You stay in Venezia?“ Gianni scheint sich für meine Antwort zu wappnen.

Es war schön, aber ich weiß nicht, ob es eine gute Idee ist zu bleiben. Ich sehe hilfesuchend zu Ecky.

„We are really sorry, but we have to be in Rome tomorrow to meet friends.“ Ich bin echt froh, dass Ecky das übernommen hat, obwohl ich auch ein wenig geschockt bin, wie locker mein bester Freund lügen kann.

„Ah ...“ Gianni sieht mich traurig an. „Maybe you come back other time?“

„Yeah. Maybe.“

„Arrivederci, Jan.“ Gianni küsst mich zuerst auf die eine Wange, dann auf die andere. „Buon viaggio. Prenditi cura di te.“

„I will. You take care, too, Gianni!“

Als wir an der Ausfallstraße stehen, ärgere ich mich, dass ich kein Photo von ihm gemacht hab. „Fandste eijentlich och, dass Gianni so `n bisschen wie Bela ausgesehen hat?“ Ich versuche, es sehr beiläufig klingen zu lassen. Eigentlich wollte ich gar nichts dazu sagen, aber ich will so unbedingt Eckys Meinung dazu wissen.

Er nickt ernst. „Ja, sehr. Echt krass, dass der hier einen Doppelgänger hat und sich dann auch noch unsere Wege kreuzen.“ Eckys Augen liegen sehr nachdenklich auf mir und ich vertiefe mich schnell wieder in unserem zerfledderten Straßenatlas.


SIENA

Ein paar Stunden später fahren per Anhalter an Bologna, dann an Florenz vorbei. In beiden Städten waren wir schon. Dieses Mal wollen wir uns Siena ansehen. Auf unserem Atlas suchen wir nach einem guten Nachtquartier. Der Cimitero Comunale sieht gut aus. Außerhalb, aber genau daneben ist die Uni. Das ist immer gut. Ein bisschen Infrastruktur – vor allem Trinkwasser.

Wir fahren ohne Ticket mit einem klapperigen Linienbus dorthin. Ein großes Tor mit einem Gitter. Am schwierigsten ist immer der Moment, wenn wir mit unseren großen Rucksäcken hinein müssen. Wir sitzen auf dem Bordstein und warten, bis der Pförtner verschwindet. Um Punkt achtzehn Uhr steht er nach den ersten Glockenschlägen auf und geht am Gebäude entlang, öffnet eine Tür und ist weg.

Wir huschen durch das große, noch offene, Tor und verziehen uns in den hintersten Teil, versichern uns, dass wir nicht zufällig gleich neben dem Hauptquartier der Friedhofspfleger*innen campieren, wie wir das aus Versehen einmal in Genua gemacht haben. Zum Glück ist dieser Friedhof wirklich groß.

Die folgenden Morgende verstecken wir immer unsere Rucksäcke mit Isomatten und Schlafsäcken in einem dichten Strauch. Ein bisschen Restsorge bleibt, dass sie abends nicht mehr da sind, aber bisher hat es noch nie damit Probleme gegeben auf unseren Reisen.

Am Pförtnerhäuschen heißt es jedes Mal warten, bis der Wächter abgelenkt ist. Dieses Mal dreht er sich auf einen Plausch mit einer Frau weg. Ecky und ich haben uns schon überlegt, ob wir unsere strohblonden Haare nicht besser dunkel färben. In Norditalien geht es noch, aber weiter südlich fallen wir immer auf wie bunte Hunde und die Leute erinnern sich viel zu gut an uns. Manchmal ist das von Vorteil, aber nicht immer.

Was an diesem Friedhof nochmal besonders geil ist: Die Universität. Der Campus beginnt direkt vor den Toren des Friedhofs. Und dort gibt es Toiletten. Trinkwasser, Klos, Klamotten waschen. Jackpot!

Ich hab mich gerade in einer der Toiletten komplett ausgezogen, als ich draußen Eckys höfliches „Buona giornata!“ höre. Zum Glück steht er Schmiere. In Windeseile raffe ich meine Klamotten zusammen und fliehe in eine der Kabinen. Schon geht die Tür auf, jemand pinkelt in eins der Pissoirs, Hände waschen wieder weg. Das war knapp.

Vor zwei Tagen sind wir zwei leicht verranzten Typen schon Mal des Gebäudes verwiesen worden. Seitdem gehen wir ein Stück weiter durch, in den hinteren Teil.

„Duschen“ unter einem Wasserhahn ist echt eine Kunst. Danach sieht die Toiletten aus, als hätte jemand eine Wasserbombenschlacht darin veranstaltet. Um keine Aufmerksamkeit auf unser Schnorrertum zu lenken, sind Ecky und ich deswegen immer besonders darum bemüht so viel wie möglich aufzuwischen und wieder in Ordnung zu bringen. Das hat mit Punk gar nichts zu tun und wahrscheinlich wären nicht alle so umsichtig. Einer der vielen Gründe, warum ich so gerne mit Ecky unterwegs bin.

Wir gehen hinüber zur Mensa, um unauffällig weitere Tabletts abzuräumen. Dorthin führt ein langer Gang, in dem verschiedene Gesteinsbrocken in Vitrinen liegen. Mein italienisch ist definitiv nicht geeignet für den akademischen Betrieb. Dennoch interessiert mich, um was es da geht.

Ecky tritt neben mich und stupst mich an. „Vielleicht wäre ja Geologie was für dich.“

„Vielleicht.“ Der Gedanke schlägt tatsächlich ein paar Wurzeln in meinem Kopf.

Auf dem Friedhof gibt es einen Nachtwächter. Hund hat er zum Glück keinen. Der Strahl seiner Taschenlampe streift in unsere Richtung, wir hören ihn husten, dann entfernt er sich wieder. Er scheint seine Aufgabe auch nicht allzu genau zu nehmen und Ecky und ich sind ja leise, feiern hier keine Party oder entweihen Gräber. Wir brauchen einfach nur einen sicheren, kostenlosen Ort zum Schlafen.

Neben uns im Gras besingen die Zikaden die laue Sommernacht. Leider tun sie es so laut, dass es nicht einfach ist, neben ihnen zur Ruhe zu kommen.

Ecky pennt normalerweise sogar neben der Autobahn ausgezeichnet, aber heute wälzt er sich hin und her.

„Spuck’s endlich aus!“

Ecky dreht sich zu mir. Der Mond ist nur noch eine Sichel am. Horizont und ich fühle seinen Blick eher, als das ich ihn sehe.

„Hey, Jan! Es tut mir echt leid, aber ich muss übermorgen wieder zurück nach Berlin. Nicole hat heute am Telefon gesagt, das sie für uns eine Wohnung gefunden hat und – ich muss jetzt leider für die Miete Geld ranschaffen in den Semesterferien.“

„Oh. ... Also, herzlichen Glückwunsch. Dit ... sin ja echt Jute Neuigkeiten.“

„Ja.“ Er klingt wirklich glücklich. So wie ich damals mit Bine. Aber Nicole ist eine tolle Frau, die beiden schon seit drei Jahren zusammen. „Jan? Du kommst nicht mit, nee?“

Wieder mal ist es mir unheimlich, wie gut Ecky mich kennt. „Ick könnt schon und wahrscheinlich sollt ick och, aber ... ick brauch noch `n bisschen mehr Abstand. Mir jeht`s echt besser seitdem Deutschland hinter uns liegt.“

„Was willste machen?“

„Weiter Richtung Süden. Vielleicht wieder rüber nach Tunesien.“

„Ich würd echt gern mitkommen. Scheiß Geld verdienen!“

„Kannste wohl sagen.“

„Aber du kommst alleine klar, nee?“

Ich nicke im Dunkeln, verschweige, dass ich mich jetzt schon ein Stück mehr alleine fühle. Es ist immer gut, besser, wenn Ecky dabei ist. Nicht nur, wenn Probleme auftauchen. Ich hab ein so krasses Grundvertrauen in diesen Typen. Es ist fast erschreckend.

„Du machst keinen Scheiß, oder?“

Dass er so ernst klingt, erschreckt mich. „Wie kommst du darauf?“

„Ist so ein komisches Gefühl. Du bist irgendwie so weit weg.“

Ich versteh nicht wirklich, was er meint.

„Sag mal, Jan ... Was ist das eigentlich mit dir und Bela?“

„Wie kommste denn jetze auf den?“

„Na, über diese Bine, die ich nie kennengelernt hab, haste grad mal gesagt: Es is aus! Und als ich dann weiter gebohrt hab: Sie hat mich betrogen.“

„Ja, und?“ Es klingt viel zu beißend, aber Ecky kann das ab.

„Fahr ma wieder runter. Ich kenn dich ja – was im Übrigen nicht bedeutet, dass ich das super finde, deine spezielle Art damit umzugehen und mich anzupampen.“

„Ja, ja, schon jut.“

„Ehrlich gesagt, nicht wirklich. Also, was ist mit Bela?“

„Wat haste denn jetze für `ne Obsession mit Bela?“

„Also, ich hab keine, aber ...“ Ecky lacht und das macht mich jetzt echt wütend.

„Wat is `n so witzig?“

„Na, ich weiß nicht, ob du das selbst nicht merkst, aber obwohl du nie wirklich viel über ihn sagst, so ist der trotzdem die ganze Zeit präsent.“

Oh. „Er is halt ... ziemlich faszinierend. Und wir ham so `ne Ebene, die ... Bei dir is et dit Vertrauen – unter anderem. Bei ihm ... Unser Humor und wat wir mit unserer Musik machen wolln, dit hat eenfach so geklickt - wie zwei Puzzleteilchen.“

„Du bist also nicht verknallt in ihn?“

„Ich ... weiß es nicht. Okay?“ Ich lasse es versöhnlicher klingen, als meinen vorherigen Ausbruch.

„Ist das neu, dass du Jungs magst?“

„ ... Ist das `n Problem?“

„Das ist jetzt knapp an einer Beleidigung vorbei, Jan!“

„Okay. `tschuldige. Ick bin da eenfach so `n bisschen empfindlich. Und `n bisschen verwirrt. Ick weeß ja nich ma, ob ick Jungs generell mag. Oder eenfach nur Bela.“

„Das musst du vielleicht gerade auch einfach gar nicht wissen, Jan. Lass dir Zeit.“ Ich fühle, wie er seine Hand nach mir ausstreckt, meinen Arm kurz drückt. Wenn ich religiös wäre, wäre es wie eine Absolution. So tut es einfach gut.


Am übernächsten Tag laufen wir morgens direkt vom Cimitero Comunale zur Strada Statale. Zum Glück ist es nicht weit. Ich muss noch unter der Autobahn durch, Ecky steht schon perfekt Richtung Norden – zurück nach Berlin.

„Hey, Jan! Du bist sicher, nee, dass du nicht mitkommen willst?“ Ecky sieht traurig aus.

Ich nicke nur. Der Gedanke an Berlin, an Kreuzberg drückt mir die Kehle zu.

„Okay.“ Er umarmt mich, fest und lange. „Pass auf dich auf.“

„Klar. Kennst mich doch.“ Ich versuche, Zuversicht auf mein Gesicht zu zaubern. „Unkraut vergeht nicht.“



Irgendwo auf der Welt gibt’s ein bißchen Seligkeit
Und ich träum‘ davon schon lange, lange Zeit.

Wenn ich wüsst‘, wo das ist, ging‘ ich in die Welt hinein
Denn ich möcht‘ einmal recht, so von Herzen glücklich sein.






*
*




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ZITATE Farin Urlaub

„Das Leben ist schön, und wenn es grad’ mal nicht schön ist, dann mach ich’s mir schön. Und wenn es dann immer noch nicht schön ist, dann red’ ich’s mir schön.”
Viva-Interview für die Sendung “feat.”

„Ich mach so ein bisschen Musik wie die Comedian Harmonists, nur viel, viel lauter und ein bisschen düsterer.”
Interview mit deutschrockbands.de, 7. April 2005

„Nicht dazu zu gehören, ist ein tief empfundenes Gefühl von mir.”
Interview der Zeitschrift “Galore”, 25. Februar 2005


LYRICS

Lyrics: Willie Nelson - On the road again

Lyrics mit Übersetzung: Adriano Celentano - Azzurro / Himmelblau

Lyrics mit Übersetzung: Vasco Rossi - Vita Spricolate / Waghalsiges Leben

Lyrics: Comedian Harmonists - Irgendwo auf der Welt


Die Falken

Falken-ABC

Skandal Falkencamp 1969

Spiegel - Gemischte Zelte


*

Chapter 10: 1982 - Electric

Chapter Text

*



 

* Teenagers in Love *





Lieder und Bilder farbig unterlegt im Kapitel.
Weiterführende Links am Ende.


Ganz leichte Triggerwarnung für:
Drogenkonsum und dubious consent Sex.
Nicht detailliert ausgeführt.



 

 



 

JULI



4. Juli

Erstmal zu Jörg. Ich brauch jetzt echt alle Unterstützung, die ich kriegen kann. Obwohl wir verabredet sind, habe ich Angst, dass er unterwegs ist. Ich falle beinah seinem Vater um den Hals, als der sagt, dass Jörg in seinem Zimmer rumlärmt.

Jörg setzt sich neben mich auf sein Bett. Er ist echt lieb und ein wenig überfordert mit meinen überschwappenden Emotionen. „Liebeskummer!“, presse ich raus. „Und außerdem ist auch noch Jan weg."

Mehr kann ich gerade dazu nicht sagen, bin selber noch so durchgeschüttelt von der Erkenntnis.

Jörg sagt, dass bestimmt alles wieder gut wird, dass Jan doch gesagt hat, er kommt wieder. Unbeholfen streicht er mir vorsichtig über den Rücken. Er scheint ziemlich klar zu wissen, das und wie die beiden Dinge zusammenhängen. Oje. Ich muss wirklich krass auffällig gewesen sein, in meiner Schwärmerei.

Ich versuch, seinem Optimismus zu glauben, aber kann es nicht fühlen.

Außerdem ist Jörg groß und blond. Ich kann ihn fast nicht ansehen und doch nicht weg. Wenn ich durch die Tränen blinzeln, ist die Täuschung gar nicht mal so schlecht.

Er lässt mich einfach bei sich ihm Bett schlafen, was ich ihm echt hoch anrechne. Es hilft und ist trotzdem ganz schlimm, weil er falsch riecht. Ich fühle mich roh, als hätte mir jemand die Haut abgezogen.

Es kam einfach zu unerwartet. Gerade waren alle Zeichen auf gemeinsam und Go! - dann ist er weg.

Aber – ich hätt`s wissen können ...



5. Juli

Nach Kreuzberg. Ich brauch Ablenkung. Zu Gitti.

„Du siehst echt nich jut aus, Bela!“

Ich versuche, mit ihr zu schlafen, aber es geht nicht. Das ist das erste Mal in meinem Leben, dass ich keinen hoch bekomm.

„Was `n mit dir los? Du wirkst fast so wie Jan, in der Nacht als er Bine mit Kalle erwischt hat. Is dit jetzt ansteckend, oder wat? Nich, dass de mir dit och noch anhängst.“

Ich lache bitter.

Trotz ihrer großen Klappe sieht sie mich eher mitfühlend an und irgendwie ist sie diejenige, der ich mich anvertrauen will – gerade weil sie schon so viel davon mitbekomen hat.

„Ick gloob, ick hab mich so‘ n bisschen in den verguckt."

„In wen?... Jan?“ Ihre Augen werden viel zu groß. „Oh, scheisse.“

„Na, danke.“

„Wollt er dich denn nich?“

„Keene Ahnung, wat der will. Vor allem wohl nich in Berlin sein. Is eenfach in Urlaub abjehaun. Außerdem - ick hab ihm dit nich so direkt uffe Nase gebunden. Ich kapier`s ja selbst nich.“

„Och. Komm ma her, Süßer. Dit tut mir echt leid.“

Es los geworden zu sein, es nicht nur mir selbst eingestanden zu haben, befreit mich ein klein wenig aus den Klauen meines Gefühlschaos und ihr Mitgefühl tut gut.

Beim zweiten Mal klappt`s, aber es befriedigt nicht mal meinen Körper wirklich.

Trotzdem bleib ich bei der Formel: Speed und Sex - vor allem aber Vergessen.

Gitti und ich gehn feiern. Vermutlich drei Tage. Die Details sind mir ab `nem gewissen Zeitpunkt nich mehr so ganz klar.

Einmal reißt mich ein große, starke Frau aus einem Haufen Skins, die es sich zum Ziel gesetzt haben, mir den Kopf von den Schultern zu reißen. Ich hab sie wohl „hohle Glatzen“ genannt. Nicht sehr schlau, aber typisch, wenn ich auf Pegel bin.

Das Einzige, was ich von dieser Amazone behalten habe, ist ihr super cooler Name: Dada!



Montag?

Schlaaaaaaafen.



Vermutlich Mittwoch.

Oh, shit, wirklich.

„Mann, Bela, wieso bist du denn nicht zur Probe gekommen?“ Ausgerechnet wenn ich mal wirklich in Spandau bin, erwischt mich Hans am Telefon.

„Ähm, ja, tschuldige. Ick bin grad an `nem Gig dran für uns.“

„Echt? Super.“

Puh. Immerhin hat die Ablenkung geklappt.

„Wo denn?“

„Im BesetzA-Eck!“ Das ist wahrscheinlich noch die realistischste Möglichkeit.

„Hm. Okay. Zahl`n die denn auch was?“

„Da bin ick noch am Verhandeln.“ Das sollte ich dann wohl schnellstens wirklich tun.

„Super. Toll, dass du das machst. Jan scheint es ja echt egal zu sein. Hast du was von dem gehört?“

„Nee. Du?“ Ich fürchte mich echt vor der Antwort, halte die Luft an.

„Nee.“

Gut. „Ja, echt voll blöd.“

„Was machen wir denn jetzt mit den Proben und so? Sollen wir warten, bis Jan wieder da ist? Aber irgendwie bringt das ja auch nicht wirklich was, ohne Gitarre und Gesang und neue Lieder.“

Jetzt verlier ich auch noch die letzte Struktur. „Hast recht, Hans.“ Immerhin versetz ich ihn dann nicht wieder aus Versehen. Das kommt echt immer scheiße rüber.

Mutter und Erich haben Urlaub. Den nutzen sie dazu mir am Mittagstisch eine sehr gut eingeübte und choreographierte Rede mit den Inhalten Zukunft und Beruf, Zukunft und Geld zu halten.

Zum Glück ist mein Kopf noch wattig von den Benzos, die ich genommen hab, um überhaupt schlafen zu können. Ich bin schon froh, dass es keine Kommentare zu meinem Aussehen gibt. Vielleicht wirk ich ja echt besser. Immerhin hab ich mit den Benzos gefühlt 36 Stunden durch geschlafen. „Leichte Sommergrippe“, war meine Erklärung.

Ja, natürlich bin ich auf der Suche nach einem neuen Job. Ja, bei dem einen sah es echt ganz gut aus, netter Abteilungsleiter.

Tatsache ist: Ich brauch wirklich Kohle. In manchen Kneipen kann man echt gut umsonst saufen, vor allem wenn man die Leute hinter der Theke kennt, und ich kenn viele, nicht nur weil ich so viel unterwegs bin, sondern auch weil ich einfach gern neue Leute kennenlern.

Am Abend mache ich mich auf nach Kreuzberg ins Eck. „Ey, Pony, meenste wir könn mit unserer neuen Band hier unten in der Kneipe spielen?“

„Denk schon. Die Leute fand`n euch doch janz jut.“

„Na, dit wird `n bisschen anders als mit Soilent Grün.“

„Na, ihr werdet ja keene Schlager zum Besten geben, wa?“

„Und so `n bisschen Honorar wär echt schick.“

„Oh. Dit könnt schwierig wer`n. Also, `n Kästen Bier jeht immer, aber Kohle ham wir hier och nich im Überfluss. Die Einnahmen sin eigentlich immer für‘s Haus selbst.“

„Vielleicht `n Fuffi?“ Ich komm mir echt scheiße vor, Freund*innen nach Geld zu fragen. Das is richtig unsexy. Aber wahrscheinlich gehört das dazu, wenn man Popstar werden will. Fühlt sich trotzdem schlecht an. Gar nich glamourös.



19. Juli

Ich küsse ungewollt den Gehsteig vor dem „Ex `n Pop“, schlage mir dabei zum Glück nicht die Zähne aus.

„Du blöder Wichser!“ Ich rappel mich auf und strecke Micki den Mittelfinger entgegen, versuche nochmal in den Laden reinzukommen, aber Micki schubst mich einfach weg und ich hab keine Kraft wirklich gegen ihn zu kämpfen.

„Komm wieder, Bela, wenn de wieder alle beisammen hast!“ Er sagt es ganz ruhig, was mich nur noch wütender macht. „Und nicht mit jedem hier drin Streit anfängst.“

Die Worte sitzen. Er hat recht. Ich muss runterfahren. Mit hängendem Kopf klopf ich an der Eisentür vom „Risiko“ und Holger lässt mich rein. Es ist nicht viel los. Manchmal bleiben die Leute an einem Dienstag Abend sogar in Berlin zu hause.

Blixa sieht hinter der Bar von seinem Buch auf. „Du warst immer noch nicht schlafen“, ist sein erster Kommentar.

„Is doch egal.“

„Ich bin nicht deine Krankenschwester, aber ich sehe das dennoch anders.“

Das ausgerechnet er das sagt, gibt mir noch mehr zu denken. Der Mann ist dünner als eine Stecknadel und mit Nadeln hat das eventuell auch zu tun.

„Ich geb dir jetzt ein Bier aus und dann gehst du – wo auch immer hin – und lässt dich mal für ein paar Stunden - oder Tage – in Morpheus Arme sinken.“

„Mit Morpheus selbst ginge das leichter.“

„Was brauchst du?“

„`N paar Benzos wären gut.“

„Ich glaube, Schnalle ist im Hinterzimmer. Vielleicht haste ja Glück – insofern das überhaupt möglich ist bei so etwas.“ Blixa drückt mir ein Bier in die Hand und ich mache mich auf die Suche nach dem Glück. Mit Erfolg.

Die nächsten Tage bleib ich bei Gitti im Eck.

Einmal schaut auch Pony vorbei und da ich wieder etwas ausgeruhter bin, wohl auch wieder besser aussehe und rieche, schlagen die Damen vor, ob wir nicht mal was zu dritt ausprobieren wollen. Und das – das ist sogar besser als Pillen schmeißen.

Abends tauchen wir wieder unter in die flirrende Nacht. Irgendwann verliere ich die beiden, erwache nackt bei einem Typen im Bett. Keine Ahnung, ob was gelaufen ist und was. Totaler Filmriss! Hat er mir irgendwas gegeben? Ich befürchte fast, dass ich selbst dafür zuständig war.

Als ich versuche aufzustehen, tut mir alles weh. Fuck. Auf meiner Haut sind rote Striemen, einer blutet.

Der Typ, Markus, ist eigentlich ganz nett, sagt, dass ich es wollte. Tja, keine Ahnung. Sex hätten wir nicht gehabt, aber das könnten wir jetzt gerne nachholen.

Mir ist immer noch etwas seltsam. Ich weiß nicht mal, was ich genommen hab. Er scheint das zu bemerken. „Ich kann dir auch einfach nur einen blasen, wenn du magst!“

Das Angebot kann ich echt nicht ausschlagen.

Zum Abschied küsst er mich sanft, sagt, dass es schön war mit mir und ich doch mal wieder vorbei kommen soll.

Die Striemen schmerzen, aber nicht komplett unangenehm. Vielleicht schau ich echt mal wieder bei dem vorbei – aber besser, wenn ich nüchtern bin. Keine Ahnung, wann das mal wieder der Fall sein wird, eigentlich ist das nicht Teil des Plans.



 

AUGUST



3. August

Auf einmal hab ich eine Freundin oder sowas in der Art, also zumindest schlafe ich neben einer Frau in ihrer Wohnung und das mehrere Nächte nacheinander. Ich hab sie im „Sound“ aufgerissen oder vielmehr sie mich. Tamara ist älter als ich und echt ein verdammt, heißer Feger.

Bis ich sie mit einer Nadel im Arm in ihrem Badezimmer finde. Deswegen immer nur langärmlig und Licht aus beim Sex. Scheiße.

Ich schlage ihr vorsichtig mehrmals ins Gesicht. Sie kommt langsam zu sich. Ich fang an zu heulen, auf ihrem Gesicht nur ein seliges Lächeln.

„Oooooh, Beeeelaaaa!“ Sie schwebt jenseits meiner Sphäre.

Ich ziehe ihr die Nadel aus der Vene, öffne den Gürtel um ihren Oberarm. Blut schießt aus dem Stich, alles überfordert mich. Dennoch glänzt mich der angekokelte Löffel mit den gelb-weißlichen Rändern verführerisch an.

Ich geh besser.

Und komm nicht mehr zurück.


17. August

Dann treff ich zufällig Ades wieder. „Dirk! Krass. Hätt dich fast nich erkannt. Wirkst irgendwie ganz anders, aber steht dir auch. Hey, komm doch mit ins „Andere Ufer“. Die Clique ist bestimmt mehr als begeistert, dich mal wiederzusehen.“

„Klar.“ Mal was anderes. Immer gut. Ich bin Berlin so dankbar, dass es mir endlose nächtliche Abenteuer wie Weihnachtsgeschenke am Fließband reicht. Ich will nirgendwo andres sein, als hier in der niemals endenden Berliner Sommernacht.

Fast schafft sie es, dass ich den großen Blonden für ein paar Tage, für ein paar Stunden vergesse. Fast.

René ist auch da. Und seine Augen werfen mir auch nach vier Jahren noch Sternchen zu. Gut sieht er aus. Das älter werden steht ihm. Mit fünfzehn waren wir beide so schlaksige Typen. Jetzt füllt er sein Oberteil sehr vorteilhaft aus. Auch wenn ich nie in ihn verknallt war, so war er doch der Erste, mit dem ich sexuell herumexperimentiert hab. Hab ich auch nicht vergessen, war ziemlich spannend damals.

Ich geh mit ihm nach Hause. Er hat seitdem einiges dazu gelernt, Dinge, die auch ich noch nicht kenn. Wir probieren Poppers aus. Fuck, macht das Zeug heiß.

Ich bin kurz davor mich von ihm ficken zu lassen, aus Neugier und weil ich gerade einfach nicht genug bekommen kann von solchen Kicks und neuen Erfahrungen. Aber dann kann ich es doch nicht durchziehen. Sogar in meinem poppersgeilen Hirn merke ich, dass etwas Entscheidendes fehlt, auch wenn ich nicht sagen könnte, was das genau ist.

Letztendlich ficke ich ihn.



19. August

Ganz unerwartet flattert auf eine Postkarte aus Venedig ins Haus. Vom 15. Juli. Darauf sind Gondeln im Nebel zu sehen.


„Hallo Bela!

Ecky und ich sind gut in Italien angekommen. Schade, dass du nicht dabei bist. Mit deiner Unterstützung könnten wir hier bestimmt mehr verdienen. Das wär dann schon die erste Auslandstournee der Ärzte. Die Venezia Punks sind auch echt nett. Also, wär echt cool mit dir unterwegs zu sein. Ich hoffe, du hast auch einen schönen Sommer in Berlin. Auch von Ecky liebe Grüße an dich.

Dein Jan



21. August

Wieder eine Postkarte. Aus Siena.

 


Estate, palme, sole, cosa c’è di più bello?
Può essere ancora più bello con te da solo?

Vado in spiaggia con il Walkman
E stendimi sulla sabbia con la musica pop

Semplicemente non entro in acqua
Perché il mio Walkman non è impermeabile

E ancora mi manchi
Perché non sei qui?
perché sei a casa
Sai a volte devo solo uscire
E ancora mi manchi

Dein Jan


Ich starre minutenlang auf Jans ordentliche Handschrift, als würde mir das weiter helfen. Schön, dass er jetzt anscheinend fließend Italienisch kann.

Mir ist schon klar, dass es vermutlich ein Songtext ist, aber was soll ich damit? Ich versteh kein Wort außer „Walkman“. Sole ist Sonne, oder? Oder ist das „solo“? Nee, das heißt allein. Hmmm.

Die Karte löst die exakte Balance zwischen genervt und sehnsüchtig in mir aus. Dann beginnt sie zu kippen, erst in die eine Richtung – Ich könnte Roberto fragen. Der ist echt gut in Italienisch und Französisch. – Dann in die andere: Ich hab keinen Bock auf Jans Spiele mit meinen Gefühlen. Wahrscheinlich hatte der schon längst kapiert, was mit mir Phase ist. Ist er aus dem Grund weggefahren?


23. August

„Corse“ steht auf der Karte. Ich nehme einfach mal an, dass es sich dabei um Korsika handelt.

„Hi Arzt-Drummer,

Es ist echt tierisch teuer hier. Allein diese Karte mit Porto war schon fast 3 Mark, das ist in Straßenmusik ungefähr eine Stunde spielen. Gerade macht es auch nicht so viel Spaß. Ecky ist leider schon wieder zurückgefahren und jetzt bin ich allein unterwegs. Na, ich hoffe, dir geht`s gut und du stellst keinen Unsinn an.

Dein Jan"


Super, dass er das mit dem Unsinn so schön offen für meine Ollen auf die Karte schreibt. Naja, ... Eigentlich kann ich mich echt nicht beschweren. Sie lassen mir wirklich meine Freiheit. Oder sind sie einfach froh, wenn ich nicht zu Hause bin? Mhm.

Aber vor allem ... Ach, du Scheiße. Jan ist jetzt allein unterwegs? Wahrscheinlich ist das okay. Es muss okay sein. Der kommt schon klar. Oder?

Obwohl ich oft so leicht eifersüchtig war, wüsste ich Ecky nun doch lieber an seiner Seite.

Ich schnappe mir meinen alten Diercke-Schulatlas, versuche, Jans Reiseroute zu rekonstruieren. Die Karten treffen bisher anscheinend nach Absendedatum ein - ungefähr einen Monat später. Was in der Zwischenzeit alles passiert sein kann ...


25. August

Ich fahr von Gitti wieder nach Spandau. „Seit wann bist du eigentlich ständig zu Hause?“ Diana sieht mich mit schräg gelegtem Kopf an, als ich die Post durchwühle. „Warteste wieder auf `nen Liebesbrief von Jan?“

„Schnauze, Schwesterchen!“

„Na, dann willste die ja bestimmt nicht!“ Sie wedelt mit einer Postkarte.

Nach fünf Minuten Kampf, in dem die Karte fast zerreißt, halte ich sie endlich in der Hand. Aus Sardinien. Klares, blaues Wasser. Über die Vorderseite ziehen sich ein paar Zeilen.

 


G
Ich lieg hier auf meinem Handtuch,
                    D
doch ich finde keine Ruh!
C                     e
Diese eine Liebe wird nie zuende geh’n!
C                 D
Wann werd ich sie wiedersehen?



„Hey Bela,

ich hab grad so eine Idee für ein Lied über die Insel Helgoland. Aber vielleicht könnten wir es auch San Salvador nennen und doch ein paar politischere Songs machen? Kannste dir die Akkorde vorstellen? Mehr hab ich leider noch nicht, aber ich wollt dir das trotzdem unbedingt schicken.
Wie sieht es denn bei dir mit neuen Liedern aus? Wahrscheinlich wieder nur Schweinkram, was? Na, is schon okay! Hey, bis bald, ja?

Dein Jan“


Ich pinne die Karte zu den anderen. Fein säuberlich hängen sie neben meinem Bett, mit der Schrift zu mir.

Was willst du mir sagen, Jan? Willst du mir überhaupt etwas sagen?


29. August

„Hey, Bela!“ Pony ist am Telefon. „Ick hab dit nu klarjemacht im Eck. Am 27. könnt ihr euer Debüt als die Ärzte dort gebn. Finden alle echt cool. Die machen sogar `n bisschen Kohle locker.“

„Super.“ Dann stehe ich vor Hans wenigstens nicht als Aufschneider da. „Äh, wie viel denn?“

„Na, ihr kriecht `n Fuffi, plus `n Kasten Bier.“

„Und zwee Liter Milch für Jan.“

Pony lacht. „Alles klar.“

Schön wär`s. Fuck. Wo ist Jan?

Dagegen hilft nur Ablenkung, aber eigentlich habe ich mir geschworen, mal wieder `n bisschen langsamer zu reiten. Vor zwei Tagen bin ich nachts mit heftigem Nasenbluten aufgewacht.

Drei Tage hänge ich in Spandau rum, glotze mit meinen Alten fern, die scheinen sich sogar zu freuen, dass ich mal da bin, versuche ein Buch zu lesen, höre alte Platten und warte auf Inspiration für neue Songs.

Es kommen keine weiteren Postkarten. Ach, ich komm auch ohne den Idioten klar. Soll er doch bleiben, wo der Pfeffer wächst.

Der Rest des August gestalte ich als eine einzige, exzessive Sommernacht unter dem Motto: Sex, Drugs and Rock `n Roll. Vielleicht sollte ich mir das mal von Max tätowieren lassen. Wo ist der eigentlich abgeblieben?

Na, irgendwo werden wir uns schon über den Weg laufen, so viel wie ich unterwegs bin.



 

SEPTEMBER



3. September

Was schon September? Krass.

Zwei Monate hat er gesagt. Entweder Jan taucht jetzt auf oder ich muss das Konzert absagen.

Mit zitternden Fingern wähle ich die Nummer. Schon lange nicht mehr gemacht, aber ich kann sie immer noch auswendig.

„Vetter-Marciniak.“

„Hallo Frau Vetter! Hier ist Bela.“

„Ah. Hallo! Du willst vermutlich wissen, was mit Jan ist, hm?“

„Ähm, ... ja. Hat er mal angerufen?“

„Er hat sich am Mittwoch gemeldet. Er ist wohl in Neapel und wollte dort länger bleiben.“

„Was? Ick meen, ... wat heißt länger?“

„So ganz genau hab ich das auch nicht verstanden. Er hat dort wohl jemanden kennengelernt.“

„... Ach ...“ Ich setze mich mitten im Flur auf den Boden.

„Bist du noch dran, Bela? Die Verbindung scheint auf einmal schlecht zu sein.“

„Nee, also ... Ick bin ... noch hier. ... Heißt dit, er ... er kommt nich zurück?“

„Doch, doch. Der kommt schon wieder. Keine Angst.“

„Aber ... wann denn?“

„Ja, das hat er leider nicht gesagt.“

„Wir spielen am 27. unser erstes Konzert mit der neuen Band.“

„Oh, das wusste er wohl nicht.“

„Nee, das weeß er wirklich nich. ... Frau Vetter, können Sie ihm das bitte das nächste Mal sagen, wenn er anruft. Es ... es wär echt schön, wenn er dann da ist. Und ... wir müssen ja auch noch üben.“

„Aber selbstverständlich sag ich ihm das. Er ruft vermutlich in ein paar Tagen wieder an.“

„Danke.“ Ich will wirklich dankbar klingen, aber es kommt sehr kläglich raus.

„Mach dir keine Sorgen. Jan ist zuverlässig. Wenn er sagt, dass er etwas macht, dann tut er da auch wirklich.“

„... Mhm. ... Okay.“



5. September

Als ich die Tür zu meinem Kinderzimmer öffne, liegt auf meinem Bett eine Postkarte. Mein Herz schlägt schneller. Ein rauchender Berg ist darauf zu sehen. Ätna / Sizilien steht darunter.

Sieht echt krass aus, ich bin so gefangen von dem Motiv, dass ich sie erst nach ein paar Minuten umdrehe. Vor drei Wochen abgeschickt.

„Hi Bela!

Der Ätna ist echt heftig. Also, er sieht gerade nicht so aus, aber irgendwie scheint die Erde hier trotzdem zu beben. Ein bisschen fühle ich mich auch wie der Vulkan, so als würde ich irgendwie brodeln und bald ausbrechen. Ist kein gutes Gefühl, ehrlich gesagt. Sorry, kann`s nicht besser erklären.
Aber vielleicht ist das auch nur der Streß hier wegen den Anschlägen der Mafia. Ich bin wohl echt zu einer blöden Zeit hier aufgeschlagen. Außerdem ist hier alles voller Heroinjunkies. Wahrscheinlich schwer vorstellbar, dass das noch schlimmer ist als in Berlin. Deswegen schaue ich jetzt auch, dass ich so schnell wie möglich weiter komme. Mein Ziel ist momentan Tunesien.“


Seine Schrift wird immer kleiner, damit er noch alles drauf bekommt, dann winden sich seine Worte am Rand entlang. Ich kann es zum Teil kaum entziffern.

„Dort besuche ich die Verwandten von Riadh aus Berlin. Ich hoffe, dir geht`s gut. Vermiss dich. Bis bald.

Dein Jan“


Mann, scheiße, Jan. Wenn`s dir nich gut geht, warum kommst du dann nicht zurück? Vor allem, wenn du mich vermisst. Du vermisst mich? Wirklich?

Der Typ ist mir echt ein Rätsel.



7. September

„Hey, Bela!“ Im SO steht auf einmal Micha vor mir. „Wie sieht`s aus? Tom ist jetzt echt abgehauen. Willste bei uns Schlagzeug spielen?“ Er strahlt mich an. Heute ist ein guter Tag. Und dann Nacht. Wir stürzen zusammen ab und durch Berlin. Einmal rette ich ihn aus `ner Schlägerei, dann er mich vor ein paar Zivis.

Mit Micha mache ich die erste Nacht durch, dann wechselt die Crew und ich kenne nicht mehr alle, die dabei sind.



11. September

Hans treffe ich nur während der Proben der Suurbiers. Ich bin echt heilfroh, dass ich jetzt bei denen untergekommen bin, sorge sogar dafür, dass ich an den Proben-Donnerstagen nüchtern und pünktlich bin.

Ab und zu unterhalte ich mich mit Hans über die Ärzte. Ist ganz okay der Typ, nich ganz meine Wellenlänge, aber harmlos.

Wir entscheiden, dass wir den Gig im BesetzA-Eck mit den Suurbiers machen, wenn dieses Arschloch von Jan nicht auftaucht.


 



*
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Lyrics: Sisters of Mercy - Body Electric



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Chapter 11: 1982 - Vulkan

Chapter Text

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* Teenagers in Love *





Lieder und Bilder farbig unterlegt im Kapitel.
Weiterführende Links am Ende.

Mafiagewalt und Drogenmissbrauch -
nur kurz angerissen.

Viele italienische Dialogstücke.
Ich hoffe, es bleibt dennoch verständlich.


 

 

 

1982 - Vulkan




 

 

 

JULI



19. Juli

An meinem ersten Tag allein ohne Ecky, schaffe ich 340 Kilometer die Küste runter. Riccardo, der Fahrer eines kleinen Lastwagens mit Mehlsäcken, ist ein gemütlicher Mann mit einem kleinen Bauch, der viel lacht und mir in kleinen Anekdoten seine ganze Familie vorstellt. Stolz deutet er auf Fotos, die sein Armaturenbrett zieren. Ein kleines Mädchen mit Locken lächelt mich an.

„Anche io lo facevo. Senza soldi, non c’è altro modo.“ Ich kann es mir fast nicht vorstellen, dass dieser nette Familienvater früher auch so einem Trampen-Hippie-Lifestyle gefrönt hat. Aber ich bin natürlich auch nicht der Erste, der das erfunden hat. Oder kein Geld hat, um anders zu reisen. Wobei – ich liebe es, diese Zufallsbekanntschaften, zu denen mich die Straße trägt.

Riccardo bringt mich tatsächlich noch ein Stück von der Landstraße weg, in eine Art Naturschutzgebiet. Er deutet in Richtung eines Pinienwäldchens. "Laguna!“Er nickt aufmunternd und macht eine Bewegung, dass ich da lang gehen soll.

Es ist seltsam, dass Ecky nicht bei mir ist, nicht neben mir schläft, ich mich mit ihm nicht über den Tag austauschen kann. Die einzigen Geräusche kommen von Vögeln, die auf den Ästen der Kiefern den Sonnenuntergang besingen.


Korsika

Ohne Ecky brauche ich zwar auch nur die Hälfte des Geldes, aber seine Pflastermalerei hat immer dafür gesorgt, dass noch mehr Leute stehen geblieben sind. Außerdem scheinen die hier nicht so auf Lieder mit englischen Texten zu stehen.

Und Korsika teuer. Viel zu teuer, sogar eine simple Postkarte. Dennoch will ich Bela unbedingt ein Lebenszeichen schicken. Ist nur fair, nachdem ich verduftet bin. Wird wahrscheinlich ewig dauern, bis die mal in West-Berlin landet, falls sie auf dem Weg nicht komplett verloren geht. Aber irgendeine der Karten wird es ja wohl schaffen.

Ferngespräche kosten ein absolutes Vermögen, aber meine Mutter besteht darauf, zahlt sie sogar extra. Also rufe ich alle fünf Tage in Frohnau an, „weil sie dann besser schlafen kann.“

Richtig scharf bin ich dennoch nicht darauf, auch wenn es manchmal schön ist, eine vertraute Stimme zu hören. Im besten Fall ist Julchen dran, die traurig und euphorisch fragt, wie das Meer aussieht. Aber immer wieder erwische ich Gerd. Dann beschließe ich, niemals wieder nach Berlin zurückzukehren.

Der Kontakt mit der Insel West-Berlin reißt mich insgesamt jedes Mal viel zu viel aus meinem Reisegefühl. Wenn ich weg bin, bin ich weg. Das gehört dazu, ist Teil des Fernwehs. Heimweh ist bei mir die Ausnahme. Schon immer gewesen und gerade jetzt nach dem ganzen Scheiß, der dort passiert ist ...

Wegen diesem Bine-Horror konnte ich dieses Mal auch in den ersten Tagen kaum abschalten. Mit Ecky ging es noch, aber jetzt bin ich wieder allein mit meinen Gedanken. Eigentlich wollte ich denen doch auch Urlaub gönnen, aber immer wieder wandern sie den weiten Weg über die Alpen zurück, springen über die Mauer mitten hinein nach Kreuzberg und dem Schmerz.

Es wäre wirklich gut, wenn Ecky noch da  oder Bela einfach mitgekommen wäre. Schade, dass wir diese Leidenschaft nicht auch teilen. Ob er wohl an Songs sitzt? Ich sollte auch endlich mal anfangen, ein paar zu schreiben. Aber die Muse ist gerade zickig. Oder genauso unglücklich wie ich.

Lieder über Liebeskummer kann ich nicht schreiben, wenn er so fucking akut ist.

Und jetzt stehe ich hier auf Korsika. Eigentlich bin ich nur rüber auf die Insel, um mein Französisch vor Tunesien wieder ein bisschen aufzupolieren, aber ... irgendwas passt hier für mich nicht, so schön es auch landschaftlich ist. Mich zieht es wieder rüber nach Italien.


 

 

 

AUGUST



Sardinien

Kaum habe ich die paar Seemeilen mit der Fähre übergesetzt, geht es mir wieder besser. Dabei sieht es hier nicht wirklich anders aus. Aber ich mag das Raue, Felsige der Küste.

Ich hab von anderen Backpackern viel gehört über Bella Sardegna, aber es übertrifft meine Erwartungen. Am ehesten lässt es sich wohl noch mit dem klaren, tiefblauen Wasser der jugoslawischen Küste vergleichen.

Ich wandere stundenlang durch Kiefernwälder, über hohe, steinige Küstenwege und durch ein paar Schluchten. Am Strand braten die Leute wie Hähnchen in der Sonne, aber das ist so gar nicht meins. Ich versuch es sogar einmal. Tatsächlich inspiriert es mich zu einer netten Melodie und einem kleinen Vers, von dem ich nicht weiß, woher die Worte kommen.

 

 

 

Ich lieg hier auf meinem Handtuch,
doch ich finde keine Ruh!
Diese eine Liebe wird nie zu Ende geh’n!
Wann werd ich sie wiedersehen?


Keine Ahnung, wenn ich mit der unendlichen Liebe meine. Mit Sicherheit nicht Bine. Au, tut das immer noch weh, wenn ich nicht schnell genug den Gedanken abschneide. Zurück will ich ja auch ich nicht wirklich. Stattdessen weiter, weiter, weiter – Richtung Süden.

Nach zwei Wochen setze ich mit der Fähre von Cagliari nach Palermo über. Bis Sizilien haben Ecky und ich es bisher noch nie geschafft und ich bin neugierig, ob der tiefe Süden Italiens wirklich so anders ist, wie die Norditaliener*innen immer behaupten.

Außerdem geht von Palermo aus auch die Fähre nach Tunis.


Sizilien

Allein und mit meinen blonden Haaren ist es gar nicht mal so einfach hier, aber es tut so gut die Sprache wieder zu verstehen und selbst relativ gut zu beherrschen.

Was mich wirklich schockt, ist die extrem blutige Anschlagsserie, die gerade wegen der Mafia über die Insel rollt. Ich lese weggeworfene Zeitungen.

Heute gibt es einen großen Artikel über ein Auto mit zwei Leichen, das direkt vor einem Revier der Carabinieri abgestellt wurde - als Warnung gegen den Präfekt Dalla Chiesa. Der hat wohl früher schon mit den linksextremen Brigate Rosse aufgeräumt und soll nun das gleiche Wunder mit der Cosa Nostra vollbringen.

Während ich versuche, den Artikel zu verstehen, werde ich fünfmal angebettelt. Die Bettler sind jung, aber sehen echt fertig aus – dünn, mit grauer Haut. Bei einem fallen mir Geschwüre in der Armbeuge auf, die wirklich grausam aussehen, aber alles erklären.

Die Atmosphäre in Palermo ist wie der Ätna. Immer kurz vor einem Ausbruch. Eigentlich sollte ich am besten wieder abhauen aus Sizilien und endlich rüber nach Tunesien, aber ich würde wirklich gerne mal einen Vulkan von nahem sehen.

Auf den Gipfel trampen ist gar nicht mal so einfach, stelle ich am nächsten Tag fest, aber schließlich hält ein österreichisches Ehepaar.

Ich packe meine besten Manieren ihnen gegenüber aus, bin mir gleichzeitig bewusst, dass ich nicht besonders frisch rieche hier auf der Rückbank ihres Opels. Aber der Ätna stinkt definitiv schlimmer. Durch das offene Fenster ziehen immer wieder leichte Schwefelschwaden hinein. Momentan drohe kein Ausbruch, sagen die beiden. Beruhigend.

Das Ehepaar, die Liesl und der Wolfi aus der Steiermark, sind echt nett zu mir. Ich erinnere sie an ihren eigenen Sohn, sagen sie und schenken mir zum Abschied nach einer Stunde Fahrt hinauf zum Gipfel noch einen Liter Wasser und ein halbes Brot. Dann bin ich wieder auf mich allein gestellt.

Der Anblick ist wahnsinn, im wahrsten Sinne des Wortes. Kurz bin ich echt überfordert mit der Fremdartigkeit, dann zieht es mich vollkommen in den Bann. Ich bin auf dem Mars. Oder in einem Science Fiction Roman gelandet. Nur viel zu viele Menschen stören das Bild.

Die erstarrte Lava ist spitz und und bizarr und leider auch sehr unwegsam. Immer wieder tauchen auf meinem Weg Spalten auf, in denen glutrotes, flüssiges Gestein brodelt. Allein das Geräusch - wie ein Grollen und Atmen aus dem Erdinnern. Ich möchte gar nicht wissen, was für ein Sound das ist, wenn der Ätna erstmal so richtig loslegt.

Hierher gekommen zu sein, ist definitiv eines der bisherigen Highlights meiner Reise. So etwas faszinierend Gefährliches habe ich noch nie gesehen und jetzt wünsche, ich mir wirklich jemanden, mit dem ich das teilen kann, jemand, der mir etwas bedeutet. Nicht diese Horden in ihren bunten Tourijacken. Obwohl so eine wäre wohl gerade wirklich empfehlenswert. Es ist tierisch kalt hier oben. Ich ziehe alles an, was ich in meinem Rucksack finden kann, auch einen Pulli, der dringendst mal wieder gewaschen gehört.

Dennoch möchte ich hier oben die Nacht verbringen. Als es dunkel wird, verschwinden auch die letzten Leute in ihren Autos. Ich halte mich hinter ein paar Felsen versteckt, denn irgendwie habe ich das unangenehme Gefühl, dass das nicht ganz erlaubt ist, was ich vorhabe.

Ein letztes Röhren eines kaputten Auspuffs in der Ferne, dann bin ich vermutlich komplett alleine. Ich mag Einsamkeit, bin gerne autonom, aber gerade greift sie mich anders, nicht als Freundin, sondern als wäre ich auf einem anderen Planeten fern ab der Erde ausgesetzt worden.

Ich wandere vorsichtig mit einer Taschenlampe im Dunkeln ein paar hundert Meter weiter, bis ich die Lichter von Catania wieder sehen kann.Der Ausblick hinunter auf die große Stadt ist tröstlich und vor allem atemberaubend. Wie können die Leute im Schatten des Ätna nur ihrem Alltag nachgehen?  

Zwischen ein paar Felsen suche ich mir ein Nachtlager – möglichst weit ab von den Schwefelschloten. Hier im Explosionsgebiet ist es gar nicht so einfach, eine halbwegs ebene Stelle zu finden.

Weit entfernt von mir leuchten in einem gedimmten Rot die Felsen der Caldera, als wäre im Inneren des Vulkankessels ein Sonnenuntergang gefangen.

Ich breite meinen Schlafsack aus, esse etwas von dem Lieserl und Wolfi Brot. Wenn ich das nächste Mal so ein Abenteuer unternehme, muss ich echt besser ausgerüstet sein. Ich hab mich wohl zu sicher gefühlt, dadurch dass bisher immer alles gut gegangen ist.

Ausgerechnet hier oben auf dem Vulkan friere ich die ganze Nacht bitterlich. Ich hatte unterschätzt, wie sich die Temperaturen auf über 3.000 Meter ändern. Ich versuche mir einzureden, ich könnte die Hitze der riesigen Kammer aus Magma unter mir spüren, aber das verstärkt nur das Gefühl absoluter Surrealität.

Einmal habe ich sogar den Eindruck, dass das Gestein unter mir bebt. Ich halte die Luft an, aber mehr passiert nicht.

Auch wenn ich dieses Abenteuer echt wollte – ich bin echt froh, wenn ich morgen hier wieder runter bin. In meiner Anspannung fühle ich mich dem Ätna richtig nah: immer unter ständigem Druck durch das Magma.

Bilder ziehen in mir hoch. Ich stehe am Ufer eines großen Sees und will auf die andere Seite. Ein Boot liegt vertäut an einem Anleger. Als ich an Bord gehen will, hält mich auf einmal etwas – jemand zurück. Ich drehe mich um und blicke in Belas hellgrüne Kajalaugen. Seine Finger liegen heiß auf meinem Arm und er lässt mich nicht los, zieht an mir.

Er ist stark, unnatürlich stark, kann mit mir machen, was er will und ich komme nicht von ihm weg, komme nicht zum Boot, komme nicht zur anderen Seite des Sees. Es macht mich echt wütend und ich kämpfe härter gegen ihn, habe aber einfach keine Chance.

„Warum machste `n dit?“ Ich bin jetzt richtig sauer, aber Bela schweigt, sieht mich nur unverwandt aus seinen katzenhaften Augen an. Schließlich gebe ich den Kampf gegen ihn auf, gebe den Plan mit dem Boot auf. Da zieht er mich an sich. Ich erwarte den fast schon obligatorischen Rauch und Alkoholdunst, aber er riecht wie die Essenz seiner selbst, als wäre er kein Mensch mehr mit Körper, sondern eine Art Wesen, in das ich eintauchen könnte.

Alles ist Dunkel. Wo ist der See hin? Wo ist Bela? Ein seltsamer Schmerz sitzt in meiner Brust. Ein Traum, nur ein Traum. Mir ist fast ein bisschen schlecht. Die Bilder, die Nähe war so intensiv.

Ich drehe mich im Schlafsack zum Himmel. Über mir ein überirdischer Sternenhimmel. Meine einzigen Begleiter. Was sollte das? Ich habe noch nie von Bela geträumt. Und jetzt ausgerechnet allein auf einem Vulkan, nachdem ich ihn über einen Monat nicht gesehen habe?

Eigentlich will ich in zwei Tagen die Fähre von Palermo nach Tunis nehmen, aber jetzt ... Ich bin wirklich nicht abergläubisch, aber ich werde nicht fahren.  

Ich kann nicht wieder einschlafen, sehe zu, wie der Himmel von Dunkelblau zu Samtblau zu Orange wechselt. Die Sonne. Endlich. Ihre Wärme ist wie eine Umarmung.

Unten in Catania schreibe ich als Erstes eine Postkarte an Bela.

Ein schlafender Vulkan. Fühle ich mich immer noch so? Ja, ehrlich gesagt, ist es schlimmer als zuvor. Warum hab ich das bloß auf die Postkarte geschrieben? Bela hält mich vermutlich für verrückt. Hoffentlich geht die Karte verloren.

Ich lese noch ein paar Tage weiter die aktuellen Zeitungen, um herauszufinden, ob etwas passiert ist mit einer der Fähren, ob das wirklich eine Warnung war, von was auch immer einer höheren Macht. Dabei glaube ich überhaupt nicht an solchen Humbug. 

Und natürlich gibt es keine Nachrichten über im Mittelmeer untergegangenen Fähren, Militärputsche oder verschleppte Tourist*innen in Tunesien. Dennoch – es war einfach zu seltsam. 

Nach dem Ätna will ich nun auch den Vesuv sehen. 

Erst eine Woche später traue ich mich, die Fähre von Palermo nach Neapel zu nehmen. 




NEAPEL

Der Golf von Neapel ist wirklich schön, aber etwas skeptisch betrachte ich die zwei dreieckigen Gipfel in der Silhouette des Vesuvs. Im Gegensatz zum Ätna schläft dieser Vulkan, aber – ich traue denen nicht mehr. Die Faszination bleibt dennoch.

Neapel wirkt fast so arm wie Sizilien. Die Stadt ist schön, aber in Teilen wirklich heruntergekommen. Überall stapelt sich der Müll und sein verrottender Gestank liegt wie eine Glocke über der Stadt.

Ich stelle mich an die Piazza del Plebiscito und spiele umgerechnet 9 Mark ein. Kein Vermögen, aber immerhin kann ich mir an einem kleinen Stand, etwas Warmes zu essen kaufen.  Mein Versuch im nahegelegenen Park zu schlafen, wird allerdings rüde vom Wächter des nahegelegenen Yachthafens unterbrochen.

In der nächsten Nacht versuche ich mein Glück in einem größeren Park direkt an der Promenade. Dennoch weckt mich in der Nacht ein Geräusch, dass nicht von der nahen Straße kommt. Gebell und Knurren. Hunde. Einer kann okay sein, aber das scheint ein ganzes Rudel zu sein. Scheiße.

Nacht Nummer drei meines Neapelbesuchs lasse ich mich in einem Garten, dem Giardini Pensili, einschließen, der einen unglaublichen Ausblick hinüber zum Vesuv hat.

Ich wache davon auf, dass mich etwas in die Seite sticht. Als ich hochfahre, steht ein ein Typ mit einer grünen Schürze vor mir, einen Rechen wie eine Waffe von sich gestreckt.

„Scusa. Scusa.“ Ich packe schnell alles zusammen. „Sono davvero dispiaciuto. Per favore non farmi del male. Vado subito.“

Mit einem Grollen, dass dem Ätna Konkurrenz macht, wirft er mich hinaus. Langsam bin ich wirklich erschöpft von diesen stressigen Nächten.


 

 

 

SEPTEMBER



Der nächste Morgen ist der bisher härteste. Vor mir stehen Soldaten. Oder Polizisten in Militäruniform. Ich hebe die Hände. Unter ihren Helmen mustern sie mich feindselig.

Einer richtet sein Maschinengewehr auf mich, deutet dann in Richtung des Parkausgangs. „Vattene, sporco barbone.“

Italienisch ist eigentlich eine schöne Sprache, die auch viele Schimpfwörter kennt, aber sie jagen mir wirklich Angst ein. „Der dreckige Penner“, also ich, hebt nun beide Hände, versucht das Zittern zu unterdrücken. Ich hab ernsthaft Schiss, dass sie mich mit auf ein Revier nehmen. Oder noch schlimmer mich in eine Zelle sperren mit vielen Kleinkriminellen und Familienmitgliedern der Camorra.

Die bewaffneten Typen lachen über mich. Ich bin aus Berlin eigentlich ständige Militärpräsenz gewohnt, aber ein Maschinengewehr hat dort noch nie jemand auf mich gerichtet. Und ja, auch Demütigung kann eine Waffe sein. Unter ihren fiesen Blicken schlüpfe ich aus dem Schlafsack, ziehe mich fertig an und packe meine Sachen.

Neapel scheint mich nicht zu mögen, aber ich will, nachdem ich endlich mein Ätnaabenteuer verdaut habe, nun auf den Vesuv, und wenn ich mir einmal etwas in den Kopf gesetzt habe, dann ...

Ich gehe wieder an eine andere Piazza und halte Ausschau nach Jugendlichen, die ein wenig nach Punks oder zumindest einer anderen Jugendkultur aussehen. Aber in Neapel scheint die Innenstadt nicht gerade deren bevorzugtes Gebiet zu sein. Dennoch bin ich mir sicher, dass es sie gibt. Gianni hat über die Napoli punks gesagt, dass sie echt toll sind.  

Ich setze mich auf den Boden, kann vor lauter Müdigkeit kaum mehr stehen. Ohne mich bewusst dafür zu entscheiden, beginne ich ein Lied zu spielen.

„Sing das nochmal!“

Ich schrecke zusammen, werde mir jetzt erst bewusst, dass ich wohl beim Singen, die Augen geschlossen habe. Eine junge Frau, so Mitte zwanzig, steht vor mir. Sie wirkt nicht wie eine Touristin, sieht eher nach einer Neapolitanerin aus, mit ihren langen dunklen Haaren.

„Du sprichst deutsch?“

„Ich hab bis ich zwölf war in Hamburg gewohnt.“ Die junge Frau reicht mir ihre Hand. Es fühlt sich gut an und ich halte sie viel zu lange fest.

„Los, spiel nochmal das Lied.“

„Welchet denn?“

„Na, das, bei dem alle stehen geblieben sind!“ Die junge Frau zieht eine Augenbraue hoch, sieht mich an, als wäre ich ein bisschen bescheuert. Sie ist hübsch, was auch von ihrem kleinen, spöttischen Lächeln kommt, das mich reizt.

„Hä?“ Ich hab die kleine Menge vor mir gar nicht mitbekommen.

„Ich glaub, es war „Norwegian Wood“.

Oh. Nochmal schaffe ich das nicht. Das Lied tut weh. Aber sie hat recht, ich habe mehr Scheine in meinen Gitarrenkoffer als vorher.

Ich lege noch mit „Hard Day`s Night“ nach, um wieder auf andere Gedanken und Gefühle zu kommen, dann packe ich die Gitarre weg, will nicht, dass die junge Frau verschwindet. Sie steht immer noch etwas abseits, scheint tatsächlich auf mich zu warten.

Als ich auf sie zugehe, grinst sie. „Nicht schlecht, biondo alto. Wie heißt du denn?“

„Jan. Aus Berlin.“

„Ciao, Jan! Ich bin Felice!“

„Du heißt glücklich?“ Was ist das denn bitte für ein Zufall? Ich muster sie ein bisschen genauer. Sie ist ein paar Jahre älter als ich, aber in ihrer Art, wie sie mit mir redet, fällt das nicht wirklich auf. 

„Ah, du kannst ein bisschen Italienisch. Eccellente!“ Bei ihr macht es mich besonders stolz. „Aber ich würde gerne mal wieder ein bisschen Deutsch sprechen!“

Ich lächle sie an, nicke, sie ist toll und ich würde mich echt gerne länger mit ihr unterhalten, aber ... ich bin so unglaublich müde. „Äh, Felice, ick hab `ne vielleicht etwas aufdringliche Frage.“ Sie zuckt zusammen, mustert mich misstrauisch. Falsche Wortwahl. „Also, ick brauch unbedingt `nen sicheren Schlafplatz. Heute morgen haben mich so `ne Art Soldaten geweckt im Park.“

„Oh. Das ist wegen dem Alarm wegen der Camorra. Ich kann dich zu Mariana bringen. Sie kümmert sich um – oh, wie heißt das auf deutsch? Bambini di strada.“

Bin ich ein Straßenkind? Eigentlich nicht. Aber ich brauche gerade wirklich Hilfe. Ich nicke.

„Komm. Ich bring dich hin. Es ist besser, du brauchst jemanden, der für dich – ah, wie heißt das? Ich muss ihnen zeigen, dass du kein Spion bist.“

„Es ist aber nicht La Vele, oder?“ Von allen Seiten habe ich Warnungen bekommen, bloß nicht zu diesen Bauten nach Scampia zu fahren.

„No, no, no!!!“ Entsetzt sieht mich Felice an. „Es ist ein bisschen ähnlich - heißt Bronx.“ Sie sieht mich fast entschuldigend an. „Aber es hat eine andere politische Struktur. Mehr communisti. Dort bist du sicher.“

„Wo wohnst du denn?“

„Nicht dort, sondern in der Nähe – bei meiner Nonna.“

„Oh. ... Okay. Weil ...“

„Ein schlimmer Unfall. Meine Eltern ... Ich rede nicht so gerne drüber.“

„Das ... Das tut mir leid.“

Wir schweigen und ich folge ihr durch die kleinen Gassen Napolis. Auf einmal bekomme ich kalte Füße. „Hey, Felice. Vielleicht schlafe ick doch eenfach wieder im Park.“

„Ist nicht sicher. In der Bronx ist es okay, wenn du unter Marianas Schutz stehst.“

„Schutz? Ist sie auch Mafia?“

Felice sieht sich schnell um und legt einen Finger an ihren Mund.

„Wir sagen das Wort nicht. Sag „il sistema“ oder gar nichts.“ Sie sieht mich abwägend an, dann setzt sie sich auf eine kleine Mauer. „Das ist jetzt eine längere Geschichte, aber vielleicht ist es besser, du kennst sie. Also, Marianas Vater ist ein sehr hoher Mann im System des Mazzarella Clans, ein reicher Baufabrikant. Aber sie hat ihm den Rücken gedreht, als sie volljährig geworden ist. Verstehst du?“

Ich nicke, bin mir nicht sicher, ob ich das wirklich verstehe, verstehen kann.

„Nach dem großen Erdbeben 1980 haben viele Leute Wohnungen gebraucht. Und er hat sie gebaut - mit viele Subventionen vom Staat. Aber – sie sind nie wirklich fertig gemacht worden. Keine Toiletten, kein Strom. Trotzdem wohnen jetzt viele, viele Leute dort in San Giovanni a Teduccio.“

Ich komme mir super dumm vor. „Aber ist das nicht gefährlich, wenn man die Camorra gegen sich hat?“

„Es ist ... kompliziert. Also, ja, er hat sie weggestoßen, aber er würde ihr niemals etwas tun, besonders nicht jetzt, wo er einen Enkelsohn hat. Der Clan hilft Mariana nicht, aber sie vertreiben sie auch nicht aus dem Haus. Und wenn ihr jemand etwas tun würde, dann würde er sehr viel Ärger bekommen. Mazzarella ist ein Mafiosi alter Schule und tut gerne so, als hätte er wirklich so etwas wie - onore ...“

„Ehre?“

„Ja, genau, Ehre.“

„Aha.“ Ich zucke mit den Schultern. Soll ich dem jetzt einfach glauben? Oder bin ich dann einfach nur naiv? Ich wünschte, ich könnte wieder unbehelligt in einem Park schlafen, unabhängig sein. Aber ich bin so müde. Wer weiß in der nächsten Nacht passiert? Kehle durchschneiden? Vergewaltigung? Die Alternativen sind endlos.

Wir fahren mit der Tram 2 entlang des Golfes zum Stadtteil San Giovanni a Teduccio. Trotz der krassen Geschichte bin ich auch neugierig auf den Alltag der Neapolitaner*innen. Und ich mag Felice und irgendwie vertraue ich ihr.

Das schwindet recht schnell, als ich vor den Häusern „Der Bronx“ stehe. Zögerlich folge ich Felice durch ein Gewirr von Fluren und Treppenhäusern. Irgendwo brüllt ein Kind. Wir gehen genau darauf zu.

„Questa è Mariana! E Luca.“ Felice geht auf eine zierliche Frau zu, die ein kleines Kind auf den Armen hat und küsst sie auf beide Wangen. Durch die ganzen Erzählungen hatte ich mir Mariana wie eine Amazone vorgestellt.

„Ciao! Chi è questo?“

„Sono Jan di Berlino“, stelle ich mich vor, weiß nicht, ob ich hier meine Hand reichen soll, lasse es dann, lächle stattdessen das Kind an, dem noch ein paar Tränen von seinem Wutanfall runterlaufen, aber es hat aufgehört zu schreien und grinst zahnlos zurück. Marian wischt ihm die Tränen ab. „È un piacere conoscerti.“

Sie wechselt einen belustigten Blick mit Felice. Vermutlich habe ich es mit der Höflichkeit ein klein wenig übertrieben. „Oh, Jan da Berlino parla italiano“, grinst sie Felice an.

„Sto cercando un posto dove dormire per qualche giorno“, frage ich, ob ich hier ein paar Tage schlafen kann.

„Certo, può dormire qui. Gli amici di Felice sono sempre i benvenuti.“

Als Mariana uns über ein Treppenhaus, einen Stock höher führt, frage ich Felice: „Woher kennt ihr euch eigentlich?“

„Wir waren auf der gleichen katholischen Mädchenschule. Sie hat mich damals in Schutz genommen, als sie die anderen über la tedesca, die Deutsche, lustig gemacht haben.

Mariana bleibt vor einem Apartment stehen, dass keine Eingangstür hat. Es riecht nach Essen, Schimmel und Pisse, also ungefähr so wie in der Oranienstraße. Auf dem Boden liegen zwei Leute in Schlafsäcken. In der Ecke sitzt ein junger Typ. Er wirkt super weggetreten. Drogen, weiß ich inzwischen den Blick mehr als gut zu deuten.  

Ich sehe zu Felice. „Eh, grazie.“ Ein riesiges „Aber“ macht sich in mir breit.

„Du musst keine Angst haben. Wenn alle wissen, dass du bei Mariana zu Besuch bist, dann fasst dich keiner an.“

„Okay. Und wie wissen das alle?“

„Das haben sie schon mitbekommen.“

Als ob die Wände Augen hätten. Ich find es wirklich gruselig, beginne mit mir innerlich zu debattieren, ob es das wert ist. Ich sollte abhauen. Aber Felice gefällt mir und ich will ihre und Marianas Gastfreundschaft nicht mit Füßen treten. Außerdem wäre es schön, mal wieder länger mit jemandem zu reden, einfach auf Deutsch - ohne groß nachdenken zu müssen.

„Okay. Ich probiere es für eine Nacht.“

„Bene. Ich komme morgen wieder vorbei nach der Uni, okay, und schaue, ob du noch lebst.“

„Super.“ Ich versuche, es ironisch klingen zu lassen, bin mir absolut nicht sicher, ob das hier alles wirklich super ist.

Auf einmal kommt sie mir ganz nahe, küsst mich auf beide Wangen. Sie riecht gut nach einem angenehmen Parfüm. Ich vermisse ihre Anwesenheit schon, als ich ihre Schritte noch im Treppenhaus hören kann.

Abends kommt Mariano mit dem kleinen Luca vorbei. „Tutto bene per te, biondo di Berlino?“

„Grazie. Mariana? Sono davvero al sicuro qui?“ Ich versuche, es so nett wie möglich zu sagen, aber die Unsicherheit, ob ich hier wirklich sicher bin, zerrt immer noch an mir.

„Si, si.“ Sie sagt es, als ob ich gefragt hätte, ob morgen wieder die Sonne scheint.

Tatsächlich stört mich niemand in der Nacht, auch wenn ich nicht wirklich gut schlafe.



3. September

Morgens sind die beiden Leute im Schlafsack weg, dafür trinken zwei junge Männer Kaffee.

„Buongiorno“, grüße ich und setze ein extra freundliches Lächeln auf. „Io sono Jan.

„Sì, sì“, lachen sie zurück. „Il biondo di Berlino.“

Okay, das ist jetzt wohl mein Spitzname hier. Aber vielleicht nicht verkehrt, dass mich die Leute kennen. Ich stehe auf und die beiden starren zu mir hoch. „Pazzo, sei alto!“ Ja, für italienische Verhältnisse bin ich wohl wirklich groß. Kann hier auch nicht schaden, denke ich mir.

Als die beiden, wo auch immer hin verschwunden sind, hole ich meine Gitarre heraus und beginne ein paar Lieder zu spielen. Auf einmal höre ich Gekicher. Ich war so vertieft, dass ich gar nicht mitbekommen habe, dass sich einige kleine Kinder im Türrahmen versammelt haben.

Sie bestehen darauf, mir ein italienisches Lied über eine Schildkröte – La Bella tartaruga – beizubringen. Danach schlafe ich noch eine Runde.


Abends taucht Felice wieder auf und ich merke, wie angespannt ich die ganze Zeit war. In ihrer Gegenwart ist der Tag sofort besser. 

„Was hältst du davon, wenn Mariana und ich dich heute in die Untergrundszene von Neapel einführen? Du musst mal die guten Seiten von Napoli sehen.“

Da bisher alles gut gegangen ist, bin ich wieder zuversichtlicher. „Ich bitte darum.“ Ich setze mein Grinsen auf und zum ersten Mal fühlt es sich wieder echt an.

Felice und Mariana leiten mich durch die Altstadtgassen. An einem alten Haus bleiben wir plötzlich stehen. Marina klopft an die Holztür und wir werden eingelassen. Es geht ein paar Treppenabsätze hinunter in den Untergrund, vorbei an zwei Typen. Bei einem steht „Diamond Dogs“ auf dem T-Shirt. Er grinst uns an, besonders mich. Ich mag seinen Style.

Felice deutet auf seine Brust. „Das ist der Name des Clubs.“

Auf einmal stehe ich in einer Art Höhle mit hübschem Fliesenboden – mit einer Bar und einem DJ. Die Wände scheinen direkt aus einer Art Lavagestein geschlagen zu sein. Wahrscheinlich sind wir in einem der alten Aquädukte aus dem römischen Reich. Krass.

Mir fällt auf, dass überall kleine Grüppchen zusammen stehen, die aufgeregt diskutieren. Zuerst versteh ich gar nicht, was los ist. Dalla Chiesa, höre ich immer wieder. Und il prefetto.

Auf der Bühne steht eine Band, aber niemand spielt.

Mariana schwärmt aus. Ganz blass kommt sie schließlich wieder zu uns. „Hanno assassinato Dalla Chiesa a Palermo“. Dann bricht sie in Tränen aus, Felice legt ihr einen Arm um die Schultern und zieht sie an sich.

Irgendwie sagt mir der Name etwas. „Wer?“

Felice sieht mich an – und auf einmal merke ich, dass ich doch ein Außenseiter bin, der Deutsche, der keine Ahnung hat.

„Ach, Jan. Du warst doch in Palermo. Wer wohl? Der neue Präfekt, auf den alle ihre Hoffnung gesetzt haben. Er sollte aufräumen mit der Cosa Nostra, aber – er hat nicht mal 100 Tage überlebt. Seine Frau ist auch tot.“

Die Betroffenheit liegt geradezu greifbar in der Luft. Keine Musik. Kleine Gruppen reden total aufgeregt miteinander oder ganz leise über „il sistema“.

„Auf einmal ist das alles wieder so akut. Deswegen ist nun auch schon seit Monaten soviel Polizei auf den Straßen.“ Felice seufzt.

Mariana sieht mich an, sie wirkt Jahre älter: „In Sicilia si dice: Cu è surdu, orbu e taci, campa cent’ anni ’mpaci.“

Wer taub, blind und stumm ist, lebt hundert Jahre in Frieden, übersetze ich im Kopf.

„Es ist echt zum Kotzen.“ Felice atmet tief durch. „Manchmal denke ich, dass ich vielleicht doch wieder nach Deutschland ziehen sollte.“

 

„Ick würd mich freuen", sage ich, bevor ich wirklich nachgedacht habe. Aber es wäre echt schön, sie in meiner Nähe zu wissen. 

Über das ganze Drama vergesse ich fast über die Besucher*innen zu staunen. Nicht, dass die jetzt total ungewöhlich wären. Wir könnten auch in Berlin sein. Aber hier gibt es nicht die typische subkulturelle Aufteilung. Es ist echt eine spannende Mischung aus allem. Ich fühle mich wirklich wohl, trotz der aufwühlenden Nachricht.

Anschließend gehen wir zurück zur Bronx. Die Atmosphäre auf der Straße hat sich tatsächlich geändert. Noch mehr Polizei, weniger Autos. Ein Gefühl, als hätte jemand ein Streichholz an eine Lunte gehalten.

Ich will Felice noch nach Hause begleiten.

„Ich komme schon klar. Das ist viel zu gefährlich für dich, Biondo di Berlino. Wenn meine Nonna dich sieht, dann holt sie ihre Schrotflinte.“ Ich kann ehrlich gesagt nicht einschätzen, ob das wirklich ein Scherz ist.

Auch die nächsten Abende sind wir unterwegs, Immer wieder im Diamond Dogs, dass sich langsam zu einem zweiten zu Hause hier entwickelt. Und in der Bronx fühle ich mich inzwischen auch immer sicherer. Gewöhnungsbedürftig sind vor allem die Junkies, die überall herumliegen. Was für ein Teufelszeug.

Einmal stellt sich mir ein Mann entgegen, als ich das Treppenhaus betrete, aber er wird sofort von einem anderen zurückgepfiffen. Ich warte, dass mehr passiert, aber das war`s.

An einem anderen Abend kommt Mariana mal wieder in dem kleinen Apartment vorbei. Sie bittet mich „Anarchy in the UK“ von den Sex Pistols zu spielen. Auf meiner Wanderklampfe klingt es eher nach Heino. Wir müssen beide lachen. Ich erzähle ihr von unseren Plänen Popstars zu werden.

„No punk?“ Sie sieht echt traurig aus.

„Si punk. Ma anche altre cose. Rockabilly, Pop, Rock, Chansons. Tutto - tranne il Schlager.“ Wir wollen alles spielen – außer Schlager. Sie lacht und erzählt, dass sie als Teenager auch davon geträumt, selbst auf der Bühne zu stehen. Jetzt kann sie sich das nicht mehr so gut vorstellen mit ihrem kleinen Luca, aber sie liebt Musik.

Am nächsten Tag bin ich mit Felice wieder im Diamond Dogs. „Was hältst du davon, wenn wir am Wochenende endlich deinen Vesuvtraum verwirklichen?“

„Echt?“

„Ja. Am Samstag hab ich Zeit und muss nicht arbeiten.“ Sie küsst mich auf beide Wangen, verharrt an meinem Gesicht. Der Wunsch sie wirklich zu küssen steigt in mir hoch, aber da ist so schon mit einem "Ciao" davon gesprungen. 

 


VESUV

„Und?“ Felice sieht mich stolz an.

„Also, janz ehrlich – der Ätna war spektakulärer.“

„Du bist so ein testa di cazzo.“

Ich finde es immer noch etwas befremdlich mit „Schwanz“ beschimpft zu werden, aber der Schlag den Felice mir auf den Oberarm knallt, lenkt mich schnell davon ab.

„Au.“

„Stupido. Das ist unser Vesuv.“

„Okay, okay. ... Es ist wirklich außerordentlich schön hier.“

Das bringt mir den nächsten Knuff ein. Ich fordere es aber auch heraus. Wenn ich so weiter mache, habe ich morgen ein paar hübsche blaue Flecke.

Wir nehmen die Seilbahn nach unten. Im Sitz rückt Felice auf einmal ein Stück an mich.

„Ich find dich ziemlich nett, Jan.“

„Na, nicht mehr sauer wegen vorhin?“ Ich wackel mit den Augenbrauen, um die plötzlich so aufgeladene Situation zu entspannen.

Sofort funkeln ihre Augen wieder. Ich mag es, wenn sie mich so ansieht und muss fast ein wenig grinsen, was sie nur noch mehr funkeln lässt. „Doch. ... Aber ...“ Sie rutscht noch ein Stück näher. Das kann sogar so ein gefühlsblinder Typ wie ich nicht falsch deuten. Sie ist nah, sehr nah, knisternd nah. 

Ein kleiner Blitz fährt durch meinen Bauch. Warum verguck ich mich eigentlich immer in ältere Frauen? „Ick ... mag dich auch.“ Ihre Nähe tobt durch meinen Körper. Ich blicke zur Seite und seufze leise. „Aber ick weeß nich, ob dit `ne gute Idee ist.“

„Wir mögen uns. Warum sollten wir nicht eine schöne Zeit zusammen haben?“

„Was meinste ... genau damit?“

„Na, hast du keine Lust mit mir Sex zu haben?“

Okay. Klarer kann man es nicht sagen. „Deine Nonna wird mich mit Betonblöcken an den Füßen ins Meer schmeißen.“ Ich deute auf den Golf von Neapel unter uns.

„Quatsch. Das machen sie nur in Sicilia. ... Sie wird ein kleines, sehr scharfes Küchenmesser benutzen. Ist viel unkomplizierter. Aber vertrau mir, ich bin das wert. Außerdem wirst du sie eh nie kennenlernen. Viel zu gefährlich. Sie wirft einen Blick auf dich und sperrt mich in meinem Zimmer ein wie diese Rapunzel und wir sehen uns nie wieder.“ Sie greift nach meiner Hand. Es fühlt sich verdammt gut an. „Also, hast du Lust?“

„Vielleicht.“

Sie drückt meine Hand. „Ts, ts, ts. Ich glaube dir nicht.“

„Außerdem ...“

Seltsamerweise beginnt sie zu lachen. „Du gefällst mir.“

„Warum lachst du?“ Es macht mich unsicher.

„Glaub mir, von meinen männlichen Freunden würde hier niemand eine Ausrede suchen, um mit mir zu schlafen.“ Sie küsst mich auf die Wange. „Hm, das macht dich echt noch – wie sagt man das auf Deutsch?“

„Blöder.“

„Nein.“ Sie lacht noch mehr. „Wenn man jemanden sehr will? Attraktiv?“

„Begehrenswert?“

„Esattamente.“

„Aber ick ...“

„Genau, das mein ich.“ Sie streicht über meine Wange. Ihre Hand ist kühl oder mein Gesicht so heiß. „Also, was ist deine Ausrede, um mit mir keinen Sex haben zu müssen?“, grinst sie. Dann wird sie auf einmal ernst. „Du magst keine Frauen. Ist es das?“

„Ick ... ick glaub nich." Giannis Gesicht wird abgelöst von Belas und auf einmal sind sie da, die Scheißtränen. Wo kommen die denn jetzt her? Ich bekomm keine Luft. „Also, ich mag Frauen“, murmel ich schließlich.

„Oh, Jan.“ Sie wischt mir mit ihrem Ärmel über`s Gesicht und mir ist es nur noch peinlicher. „Das ist doch nicht schlimm. Also, bei euch in West-Berlin ist das nicht schlimm, oder?“

„Ich mag wirklich auch Frauen.“ Und ich mag Felice, aber gerade bin ich ein wenig überfordert. Das liegt nicht mal an ihr, sondern einfach an dieser elendigen Vorgeschichte. Ich schlucke so hart gegen die Tränen an. Es ist mir krass peinlich, mich hier vor ihr so aufzulösen. Ich mag das, selbst wenn ich allein bin, nicht. 

„Das ist doch gut. Also, dann ... magst du nur mich nicht?“ Sie sieht mich so traurig an, dass ich fast noch mehr heule.

„Nein.“ Ich fahre mir mit dem Handrücken über`s Gesicht und nehme ihre Hand, will ihr zeigen, dass diese Tränen nicht wegen ihr sind, im Gegenteil - ich find sie verdammt gut. „Ich hab einfach ein bisschen Pech mit Frauen, glaube ich.“

„Warum?“

Ich habe da schon so eine Vermutung, aber die will ich mir nicht mal selbst eingestehen.

„Hast du viel Erfahrung?“

Sie sieht mich neugierig an, hat definitiv kein Problem, dass alles ziemlich genau zu benennen. Ich wünschte, ich könnte das auch.

Ich hole tief Luft, atme aus. „Du meinst im Bett, oder?“ Sie nickt. Ich sehe zur Seite. „Nich so viel und ... Ich bin da, glaube ich, nicht so gut drin, also für die Frau.“ Fuck. Das war ehrlich. Ich warte darauf, dass etwas Übles passiert, dass zum Beispiel der Vesuv hinter uns ausbricht. Ich sehe sie vorsichtig an. Sie wirkt nachdenklich. „Du?“

„Ich? Ein bisschen. Nicht so viel. Ist nicht so einfach hier. Aber ich ... bin echt neugierig auf dich. Ich mag dich Jan! Wirklich."

Als wir unten wieder angekommen sind, lässt sie das Thema fallen. Und ich bin mir nicht sicher, ob ich deswegen froh bin oder es schade finde. Aber ich traue mich auch nicht, es selbst wieder anzuschneiden. 

Wir gehen hinunter an den Strand von Torre del Greco. Vor uns brennt das Meer im Licht der letzten Sonnenstrahlen. 

„Musst du nicht bald los nach Hause?“

„Ich hab meiner Nonna gesagt, ich schlafe bei Chiara.“

„Aha.“

„Jan?“

Oje und Ja! Ich hab Schiss und hoffe gleichzeitig so sehr, dass sie mich noch einmal fragt. Dieses Mal würde ich ja sagen.

„Es ... hat mich echt traurig gemacht, dass ... Du bist so ein netter Typ, siehst gut aus, warum hast du so Angst?“

„Ich hab keine Angst. Es ist nur ...“ Ich breche ab. Mir ist es immer noch unendlich peinlich. „Ich kann das einfach nicht.“

„Du brauchst nichts machen. Ich zeige es dir, okay?“

„Weil du so viel Erfahrung hast?“ Macht Felice das mit jedem Typen? Was für ein Scheißgedanke. Aber auch von mir, dass ich ihr das zu traue.

„Nein. Hab ich doch schon gesagt.“ Sie funkelt mich kurz böse an, dann grinst sie. „Aber – ich hab ziemlich viel Erfahrung mit mir selbst.“

„... Oh. ... Okay.“

„Ist das ein Ja?“ Meine Güte kann diese Frau strahlen. Ehrlich gesagt, scheint sie ähnlich dickköpfig zu sein wie ich, wenn sie etwas will und anscheinend will sie gerade mich. Irgendwie schmeichelt mir das auch.

„Aber ... Wo willst du ... das denn machen?“

Felice zieht mich ein Stück den Strand entlang. Dort stehen in Reihen die typischen Umkleidehäuschen der italienischen Lidos.

„Und du bist dir sicher, dass hier niemand ist?“

„Naja, es schlafen schon immer ein paar Leute da darin.“ Sie zieht mich an sich, küsst mich auf die Wange. „Oder machen andere Sachen.“

„Warst du schon mal mit jemandem hier?“ Ein hässliches Gefühl, aber ich will es dennoch wissen.

„Klar. Ich gehe oft hier baden. ... Jetzt schau nicht so. Du und deine blöden Fragen. Ich dachte, du bist nicht so ein Macho.“

„Das ist mehr ... Unsicherheit oder so.“

„Okay.“ Sie sieht wieder zufriedener aus. „Nein! Ich hab das noch nie gemacht.“

Sie zieht an den Türen, aber alle bleiben verschlossen.

Ich sehe mich nach Nachtwächtern um. „Vielleicht fahren wir doch besser zurück.“ Bei meinem bisherigen Glück in Bella Napoli steht hier gleich eine ganze Carabinieri-Einheit.

Mit einem Quietschen öffnet sich die nächste Tür. Vorsichtig schaut Felice hinein. „Niemand da.“ Sie zieht ein Feuerzeug aus ihrer Tasche. „Schau mal, die haben sogar eine aufgeblasene Luftmatratze. Und ein paar Decken. Perfekt. Komm.“ Sie zieht mich in die kleine Hütte, schließt die Tür hinter uns.

Das erste Mal, dass ich wirklich mit ihr allein bin, ansonsten waren da immer – immer – andere Leute. Sie lässt das Feuerzeug verlöschen. Einen Moment stehen wir uns nur im Dunkeln gegenüber. Ich höre nur ihren Atem und weit weg gedämpft die Wellen am Strand.

„Jan?“

„Mhm?“

Sie streicht mir ganz sanft mit einem Finger über das Gesicht. „Kann ich dich küssen?“

Ich nicke. Ich spüre ihren Atem auf meinem Gesicht, bevor ich ihre Lippen fühle. Ihr Mund ist so anders als der von Bine, aber vor allem ihre Art zu küssen, ganz vorsichtig.

Ich fahre durch ihre Haare. Die wollte ich schon seit dem zweiten Tag berühren, so wie sie in der Sonne geglänzt haben. Sie sind dick und fest. Ich will nicht alles mit Bine vergleichen. Mein Körper tut es dennoch, die Synapsen erinnern sich. Mein Atem geht schneller, nicht nur weil ich sie spüre, sondern auch wegen der Erinnerung, ein wenig Panik von diesem grauenvollen Abend in Kreuzberg kocht in mir hoch. Vielleicht ist es wirklich gut, den endlich mal zu überschreiben. Das mit Gianni – das war irgendwie etwas anderes.

Sie nimmt mein Gesicht in beide Hände und ich versuche mein Hirn auzuschalten, nur ihre Küsse zu fühlen. Ich lasse meine Hände über ihren Rücken wandern, spüre unter ihrer zarten Figur die Muskeln. Ich löse mich aus dem Kuss und vergrabe mein Gesicht in ihren Haaren. Gut, aber nicht vertraut. Mein Körper findet, dass das vollkommen unerheblich ist.

Sie löst sich ein Stück von mir. „Va bene per te?“

„Sì. È molto piacevole.“

Sie kichert. „Also, ein bisschen mehr als angenehm, wäre schon schön.“

Ich ziehe sie behutsam an mich, lasse sie spüren, dass es mehr als angenehm ist.

„Ah. Schon besser.“ Ihr Atem geht nun auch schneller. Ihr Mund wieder an meinem, heißer, entschiedener.

„Jan, wollen wir uns hinlegen?“

Das folgende Herumhantieren mit der Luftmatratze ist wenig sexy. Der kleine, schmale Raum ist so vollgestellt mit Liegen und Strandsachen, dass kaum Platz ist.

Ein Geräusch draußen. Wir verharren beide. Eine Vespa dröhnt oben auf der Straße vorbei. Dann wieder Stille. Ich atme auf.

Ich gehe in die Knie, taste im Dunkeln nach der Luftmatratze und lege mich drauf. Eine Bewegung und - uff – Felice hat sich rittlings auf meinen Bauch geschwungen.

„Ha, jetzt hab ich dich besiegt“, höre ich sie in der Dunkelheit über mir grinsen. Ich könnte sie mit Leichtigkeit hinunter werfen, aber es fühlt sich viel zu gut an. Allerdings macht die Luftmatratze echt seltsame Geräusche, wenn man sich auf ihr bewegt.

Felice klettert wieder von mir hinunter und zündet ihr Feuerzeug nochmal. Schön sieht sie aus. Ihre Augen glänzen, ihr Gesicht ist ein bisschen verschwitzt. Auf einmal begehre ich sie wirklich, ohne Wenn und Aber.

„Vielleicht legen wir uns doch besser auf den Boden.“ Sie gibt mir ein großes Handtuch und ich breite es aus. Aber sogar das bisschen freier Platz auf dem Boden ist nicht breit genug. Sie legt sich neben mich, presst sich an meine Seite. Ihre Hände wandern unter mein T-Shirt, über meine Haut. Meine Brustwarzen stellen sich auf. „Mhmm." Sie spielt mit einer. „Du fühlst dich gut an.“

Das kann ich mir kaum vorstellen, so abgemagert wie ich in den letzten Wochen bin. Aber sie kuschelt sich an mich, schnurrt fast wie eine Katze dabei, küsst mich wieder, lässt ihre Hände wandern, über meine Haut, über meine Jeans. Ein leises Stöhnen entkommt mir.

Sie greift nach meiner Hand. „Magst du mich auch anfassen?“

„Ja.“

Ich höre einen Reißverschluss. Sie nimmt meine Hand, führt sie an den Bund ihrer Jeans. „Hier“, flüstert sie. „Ich führe dich, okay?“

Am Anfang ist es so schwierig, wie ich es schon kenne. Ich höre extra auf die Zeichen wie schneller atmen, stöhnen. Bisher kam da immer wenig. Oder - fast noch schlimmer – es klang komplett vorgetäuscht. Bine hat das manchmal gemacht, glaube ich. Wir haben nie wirklich drüber gesprochen.

„Hier.“ Sie führt meine Finger und auf einmal kommt Bewegung in ihren Körper. Ein leichtes Zittern. Ein tiefes Stöhnen. Sie wird feucht. Oh, fuck, fühlt sich das gut an.

„Okay?“

„Ja, mach weiter“, keucht sie an meinem Hals, küsst mich dort. Ich presse mich an ihren Oberschenkel, merke, dass ich das nicht zu sehr machen sollte, denn sonst ist das hier für mich schnell vorbei.

Ich bewege einen Finger und sie keucht laut auf, hält sich schnell den Mund zu. „Ja, so. Genauso“, presst sie zwischen ihren Fingern hervor. Ihr Atem wird immer schneller. Aus ihrem Keuchen wird ein rhythmisches Stöhnen, dass stoßweise kommt, komplett aussetzt. „Jan!“ Mein Name ist nur noch ein Seufzen. Ihr ganzer Körper zittert. Sie atmet gar nicht mehr, dann zieht sie tief die Luft ein.

„Oh.“ Sie nimmt meine Hand und zieht sie aus ihrer Hose. Habe ich etwas falsch gemacht?

„Warte einen Moment“, keucht sie.

So viel habe ich noch nie geredet beim Sex. Ist ziemlich ungewohnt. Aber vor allem eine Frage lässt mich nicht los, obwohl sie wahrscheinlich echt dumm ist. „Bist du ...?“ Wie fragt man das?

„Ob ich einen Orgasmus hatte?“

„Ähm, ja.“

„Mhmmm.“ Sie greift wieder nach meinen Fingern. „Kannst du weiter machen?“

„Aber ...“

„Ich kann noch mal kommen.“

„Ernsthaft?“

„Ja. Frauen können mehrere haben.“ Sie lacht nun wirklich. „Tut mir echt leid für dich, du armer Mann.“

„Das ... das wusst ich wirklich nicht.“

„Ich sag doch, armer Mann." Sie schiebt ihre Hose ein Stück hinunter. „Magst du deine Finger in mich schieben – sagt man das so?“

Ich muss leicht grinsen. „Ja, das kann man so sagen.“ Sie hilft mir. Ah, hab ich das vermisst, mein Schwanz zuckt sehr hoffnungsvoll.

Sie nimmt meine andere Hand. „Streichel mich weiter.“

Ich konzentriere mich auf jede ihrer Reaktionen, wie ihr Stöhnen wieder tiefer wird und schneller. Ich schiebe mich fester an sie, ihr Oberschenkel landet wieder zwischen meinen Beinen. Oh, fuck.

Sie zieht mich an sich, küsst mich wild, zeigt mir mit ihrer Zunge in meinem Mund, was ich mit meinen Fingern bei ihr machen soll.

Auf einmal wird ihr ganzer Körper steif, dann bäumt sich ihr Oberkörper auf. Ich spüre, wie sie sich zusammenzieht um meine Finger, einmal, zweimal, dreimal.

Fuck, fuck, fuck. Es ist wie ein Rausch, mein Kopf ist nicht mehr Teil des Geschehens. Ich presse mich an sie, reibe mich an ihrem Oberschenkel und komme in meinen Jeans.

„Oh, mein Gott, war das gut.“ Sie küsst mich auf die Nase. „Soll ich dir helfen?“ Sie fasst an den Knopf meiner Jeans.

„Äh, das ... hat sich schon erledigt.“

Sie lacht und es ist so schön und leicht. „Okay.“

Ich bin schon wieder fast am Heulen, einfach weil Sex auch so sein kann. Nicht dieses verkrampfte, stille Ratespiel bei dem ich mich am Ende jedes Mal wie der letzte Verlierer gefühlt habe.

Der Boden ist brutal hart, aber wir pennen trotzdem weg. So gut, hab ich schon lange nicht mehr geschlafen, auch wenn mein Rücken am nächsten Tag echt weh tut und meine Hose unangenehm an mir klebt.


Die nächsten Tage organisiert uns Felice ein Zimmer bei Mariana, in dem wir komplett ungestört sind. Die Uni kann warten, meint sie.

Nachts muss sie immer zurück nach Hause. Am dritten Abend sieht sie mich auf einmal sehr nachdenklich und traurig an.

„Hey.“ Ich küsse sie und sie erwidert den Kuss, aber irgendetwas stimmt nicht. „Alles okay?“

„Ich wollte nicht, dass das passiert.“

„Das, was passiert?“

Felice sieht auf den Boden. „Ich mag dich gern, aber ... Vielleicht ist es besser, du gehst jetzt wirklich zurück nach Berlin.“ Mein Herz wird eisig kalt. Ich kann sie fast nicht verstehen über das üble Rauschen in meinen Ohren. „Bevor ... bevor ich dich noch mehr mag? Und will, dass du hierbleibst?“

Es ist, als ob sie mir eine Tür ins Gesicht geworfen hat. Aber – ich verstehe verdammt genau, was sie meint. Und – ich will nicht gehen.

 

 

 

 

*



„Du sollst Bela anrufen!“, teilt mir meine Mutter als Allererstes mit.

Bela. Ein kleiner Blitz zuckt durch mich. „Warum?“

„Er hat ein Konzert für euch organisiert.“

„Okay. Wann denn?“

„Am 27.“

„September?“

„Ja, ich denke schon.“

Spinnt der? Das sind gerade mal noch zehn Tage bis dahin. „Waaas?“

„Er meinte, er konnte dich nicht erreichen.“

„Ja, weil ich unterwegs bin. Der kann doch nicht einfach ohne mit mir zu reden ...“ Ich breche ab. Meine Mutter kann ja nichts dafür.

„Ruf ihn doch einfach an, Jan.“


Bis Frau Felsenheimer Bela endlich ans Telefon geholt hat, ist die Hälfte meines Kleingelds im Schacht des Münztelefons verschwunden.

„Ey, sach ma, spinnst du, Bela?“

„Äh, dir och `nen schönen Tag.“ Dass Bela so ruhig klingt, macht mich nur noch wütender.

„Wie kommst `n du auf die Idee ohne Rücksprache eenfach so `n Konzert zu organisieren?“

„Hey, jetz pass ma uff! Du bist weggefahren, als wir gerad voll durchstarten wollten, mit der Ansage, dass de zwee Monate weg bis.“ Ich habe Bela schon oft wütend erlebt, aber das war immer Gewitter und Rumgeschrei und am besten noch eine auf`s Maul. Die Verbindung rauscht und knackt, aber dennoch kann ich sehr deutlich hören wie wahnsinnig ruhig, kühl und kontrolliert er klingt. Laut bin nur ich. „Vielleicht sollteste mal ab und zu - nur so zum Spaß - `n Blick in `nen Kalender werfen, Jan.“

Ich beiße mir auf die Lippen. Es fallen wieder 200 Lire durch.

„Also, der Deal ist: Entweder du bis in `n paar Tagen wieder hier und wir fangen endlich an zu proben und Lieder zu schreiben. Oder - Hans und icke spielen den Gig am 27. mit Frau Suurbier. ... Wie sieht`s aus?“

Mir bleibt die Luft weg. Eigentlich hätte ich wissen können, dass das kein netter Smalltalk wird. Die Stille in der Leitung zwischen Berlin und Neapel knistert.

„... Jan?“

Ich knirsche mit den Zähnen. Ich hasse es, so die Pistole auf die Brust gesetzt zu bekommen. Aber noch mehr hasse ich es, dass er recht hat.

„Jan?“

Die Lire rauschen nur so durch den Automaten und ich kann mich kaum darauf konzentrieren sie ständig nachzuschieben und gleichzeitig dieses miserable Telefongespräch zu führen.

Auf einmal klingt Bela wieder normal, fast ein wenig ängstlich. „Du kommst doch zurück ... oder?“

Mein letztes Lirestück fällt durch, dann ist da nur noch Tuten.



 

 

 



*
*





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LYRICS

Übersetzung: Celentano - Il tempo ne se va

Farin Urlaub - Unter Wasser

die ärzte - El Cattivo

Beatles - Norwegian Wood

Übersetzung: Gianna Naninni - Il Maschi

Übersetzung: Riccardo Fogli - Storie di tutti i giorni


SONG

Lauzi - La Bella Tartaruga


INTERVIEW

Profil: Einen Gutteil Ihrer Zeit verbringen Sie auf Reisen. Sammeln Sie dabei auch Songideen?
Urlaub: Ja, hauptsächlich. Mein Lebensmittelpunkt ist nicht mein Zuhause. Ich habe ein altes Diktiergerät, das aussieht, als wäre es von einem Kriegsreporter. Darauf singe und spreche und ich all meine Songideen und manchmal sind die Aufnahmen so schlecht, dass ich nichts mehr damit anfangen kann.

profil: Gibt es bestimmte Reiseziele, die Sie besonders inspirieren?
Urlaub: Die Wüste hat einen großen Reiz. Wüste und Dschungel, die beiden extremen Gegensätze. Außer Japan und Italien, die beiden häufigsten von mir bereisten Ziele, gibt es kein Land, das besonders hervorsticht obwohl: Mali vielleicht und Brasilien.

profil: Sie reüssieren seit einigen Jahren auch als Reisefotograf. Ein Teil der Länder, die sie bereist haben, versinkt aktuell in Krieg und Chaos. Wie gehen Sie damit um?
Urlaub: In einigen der umkämpften Länder war ich vor nicht allzu langer Zeit. Wenn man die aktuelle Nachrichtenlage verfolgt, wird einem ganz anders. Ich durfte ja viele dieser Menschen kennen lernen, war zu Gast bei Familien, die jetzt versklavt, geflohen oder tot sind. Das macht mich nicht nur traurig, sondern auch aggressiv.


ÄTNA

Breaking News : Etna Volcano in Italy erupts again, Causes Volcanic Storms to Lightning Strikes


NEAPEL

DIAMOND DOGS

1

2

3
The Diamond Dogs was the classic kind of Downtown Club that can still be found in areas of the historic centre today, housed in underground spaces typically consisting of sequences of small rooms and cellars in old buildiging! In the case of The Diamond Dogs, there was a creative use of the disused cisterns of the ancient greek and roman aqueduct! These are hidden spaces, rarely visible from the street, often hidden in courtyards, where passing through a small door and down a flight of stairs you can acess such hidden worlds. ... The whole place was carved out of porous tuff rock. ... The walls were not plastered. We covered them with lime, which was cheaper, but soon the high rate of humidity in the caves mixed with the warmth of the bodies liquified the lime and got onto the clothes of anyone who touched the walls. Walls on which everyone of us drew things, dancing bodies, shooting stars. They were primitive frescoes, narrating our wishes, the desire to meet. Even these drawings would not last long, time slipped away, like dreams in the morning. ... The Diamond Dogs was a disturbing space from a left wing political point of view! It was a topographically anomalous space, uncodified, a heterotopia that questioned the trad"itional references of social conflict, at least in the Italian context! ... The Diamond Dogs lasted until 1988, but before its closure it collaborated with one of the first occupied squats at the time,  Segnali di Accellerazione, located in the province of Acerra! ... Unfortunately, in this magma of creativity and confusion, heroin reared its ugly head! The drug undermined the creative push from the inside and the possible evolution of what was taking place as it gained the upper hand in these years, becoming a very serious social problem! In the early eighties heroin was much more widespread in the suburbs and organised crime groups had distriution centres located primarily in Ercolano, an area in the shadow of the Vesuvius!




CAMORRA

Camorra by Francesco Patierno, 2018

Trailer 1

Trailer 2

Camorra War In Naples - Raffaele Cutolo (1982)

„Bronx“ San Giovanni a Teduccio

The story of Scampia

Wikipedia - Zweiter Großer Mafiakrieg 80er Jahre



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Chapter 12: 1982 - Farin

Chapter Text

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* Teenagers in Love *





Lieder und Bilder farbig unterlegt im Kapitel.
Weiterführende Links am Ende.



 

 

 

 

 

1982 - Farin





 

 

 

 


Proberaum, Hermsdorf

Seit drei Tagen laufe ich durch die Stadt wie eine tickende Zeitbombe. In der S-Bahn starre ich einen Skin nieder. Feiger Arsch! Warum lässt sich der nicht provozieren? Einfach eine wohltuende Prügelei, rohe, körperliche Gewalt, irgendwas.

Ich bin kurz vor `ner Explosion. Dementsprechend haue ich bei der Suurbiers-Probe auf meine Drums, als wollte ich sie verdreschen. Irgendwann deutet Hans mir an, etwas runter zu fahren. Gar nicht so einfach.

Er und ich haben beschlossen, dass wenn dieses Arschloch von Jan nächste Woche nicht zurück ist, wir Micha einweihen. Der freut sich bestimmt auch über einen bezahlten Gig mit den Suurbiers.

Allein an Jan, den Verräter, zu denken, bringt mein Blut zum Wallen. Zuerst halte ich das Grollen für mein eignes Genervtsein, aber dann höre ich es noch einmal aus Richtung des Kellerfensters. Na, geil. Es scheint sich draußen etwas zusammen zu brauen. Den ganzen Tag über war es schon seltsam stickig, viel zu heiß für Mitte September. Jetzt muss ich nich nur ewig wieder zurück in die Stadt fahren, sondern werd wahrscheinlich auch noch klitschnass dabei.

Endlich sind wir durch mit der Probe. Micha war seltsam ruhig heute. Manchmal schreit er rum. Zum Beispiel wenn ich mal wieder zu spät bin. Eigentlich hätte ich mich heute gerne mit ihm angelegt, aber er scheint mit den Gedanken ganz woanders zu sein. „Hey, danke, ihr Beiden.“ Er schließt den Proberaum ab. „Ich muss los. Axel ging es vorher nicht so gut.“

„Alles klar!“ Hans umarmt ihn kurz, sieht dann mich an. „Soll ich dich zur S-Bahn fahren?“

„Ja, das wäre super.“ Wir gehen die Kellertreppe nach oben. Über unseren Köpfen kreisen dunkle Wolken wie Raubvögel. Sie haben ein fast giftiges Schwarz.  

Als wir hinüber zu Hans gelben VW-Bus gehen, löst sich auf einmal eine große Gestalt von der Hauswand. Hans reagiert als erster. „Was machst du denn hier?“

„Ick dacht, ick soll wieder kommen. Also, hier bin ick.“ Komplett neutraler Tonfall, auch wenn die Wortwahl trotzig ist.

„Ja, also, äh ...“ Hans sieht hilfesuchend in meine Richtung, aber ich kann den Blick nicht von Jan lösen. „Also, gut, dass du endlich wieder da bist", fährt Hans etwas unbeholfen fort. „Aber heute ist doch Suurbier-Probe?"

„Ja. ... Ja, ick weeß.“ Jans Augen liegen ebenfalls unverwandt auf mir. Er scheint nicht mal zu blinzeln. Obwohl unsere Blicke so ineinander hängen, kann ich seinen nicht lesen. Jetzt mit dem Objekt meines Ärgers vor der Nase brodelt es so richtig in mir. Ohne Hans anzusehen, sage ich: „Es ist vielleicht besser, du fährst schon.“

„Was?“

„Ich lauf zur S-Bahn.“

„... Okay, wenn du meinst.“

„Ja.“

Hans zuckt zusammen bei meinem harten Ton. „Also ... Sehen wir uns dann morgen zum Proben, oder was?“ Er blickt verwirrt zwischen Jan und mir hin und her.

Ich löse kurz meinen Blick von Jan und sehe zu Hans. „Wahrscheinlich.“

„Okay, dann bis morgen.“ Er trollt sich. Ein paar Augenblicke später dröhnt der knatternde Sound des VW-Busses durch den Hof.

Ein Windstoß fegt über den Hof und wirbelt Staub auf. Langsam gehe ich auf Jan zu. Der dunkle Himmel über uns lässt seine Haut noch brauner wirken, seine Haare heben sich fast weiß dagegen ab.

„Du bist also wieder da.“

„Wenn ick wat versprech, dann halt ick dit.“ Seine Stimme ist kalt, aber darunter vibriert etwas. „Dafür muss ick aber och wissen, dass Gigs überhaupt jeplant sind.“ Er tritt ebenfalls einen Schritt auf mich zu. „Mach das nich noch mal!“

Innerlich bin ich schon auf 180, aber ich will nicht derjenige sein, der als Erstes ausrastet. „Ick sach nur zwee Monate, Vetter!“

Er antwortet nicht, beißt sich auf die Lippen. Fuck! Ich ärger mich, dass ich es sexy finde. Insgesamt sieht er zum Fressen aus, abgerockt und gleichzeitig wie der Posterboy für Gesundheit und Urlaub.

Er ist so braun gebrannt wie vor zwei Jahren, als wir uns im Ballhaus Spandau kennengelernt haben. Ich würd ihn am liebsten ablecken, aber vor allem bin ich immer noch so verdammt wütend. „Willste jetz gelobt werden, oder was?“ Ein Lichtblitz am Horizont. Passt perfekt – ich bin das Gewitter. „Warum rufst `n nich eenfach an, anstatt hier so dramatisch aufzulaufen? Ach, stimmt! So wat machste ja nich.“

Dröhnender Donner. Er fährt zusammen, sieht mich dann einfach nur weiter an. Er macht mich so unfassbar wütend. Fuck!!! Ich trete noch einen Schritt auf ihn zu, packe ihn am T-Shirt, er schreckt zurück. Gut. Ich sehe zu ihm auf, will nicht ausflippen, aber seine plötzliche Nähe sorgt für den finalen Kurzschluss in meinem System. Ich schüttel ihn. „Du verdammtes Arschloch!“ Eigentlich will ich brüllen, aber es wird nur ein Zischen.

„Lass mich los!“ Er blickt auf mich hinunter. Jans Augen mit der undefinierbaren Farbe können arktisch sein.

Ich stoße ihn zurück, warte, dass er sich wehrt, damit ich wirklich zu hauen kann. Aber er stolpert nur ein Stück rückwärts, ist auf einmal viel zu weit weg. Verdammt! Ich will ihn fühlen, es ist fast schon egal wie, ob per Schlägerei oder ...

Ein weiterer Blitz zuckt über den Hof. Die ganze Szenarie hat etwas Apokalyptisches.

Wie oft hab ich in den letzten Wochen davon geträumt, ihn wieder zu sehen? Und jetzt? Was für eine Scheiße! Ich hab keinen Bock mehr auf dieses seltsame Spiel hier zwischen uns. „Wir sehen uns morgen.“ Ich drehe mich um und gehe zur Straße, die Allee entlang zum S-Bahnhof.

Ein Scheppern hinter mir. Er fährt auf dem Fahrrad neben mir her, aber sagt nichts. Schließlich steigt er ab und schiebt.

Wir laufen schweigend nebeneinander her – er auf der Straße, ich auf dem Gehweg. Dass ich auf seinem Gepäckträger gesessen habe, war in `nem andren Jahrhundert.
Ein heftiger Windstoß, das Grollen kommt näher.

„Im September jibt`s doch gar keen Gewitter“, sagt der große Abenteurer Jan und das Zittern in seiner Stimme, befriedigt mein Blut. Dann erinner ich mich an das Zelt. „Du hast doch Angst vor Gewitter, oder?“

„... Ja.“

„Warum gehste denn raus, wenn klar is, dass es gleich knallt?“

„... Ick wollt dich sehen und ...“

Ein ohrenbetäubendes Knacksen. Donner, denk ich, aber dann fällt ein großer Ast vor uns auf die Straße. „Scheiße. Ick gloob, deene Gewitterphobie is gar nich so unberechtigt.“

Ein Blitz knallt auf uns nieder und Jan zuckt so heftig zusammen, dass ihm das Rad aus der Hand fällt. Ich hebe es auf.

„Hey, vielleicht sollten wir uns besser unterstellen.“ Ich deute auf eine Bushaltestelle ein paar hundert Meter vor uns. Jan nickt und wir laufen los.

Wir stehen gerade mal zwei Minuten in der Bushaltestelle, da bricht der Regen los. Also, Regen kann man das eigentlich nich nennen, eher Sintflut. Ein Blitz peitscht auf uns nieder, gefolgt von üblem Grollen. Jan drängt sich in die hintereste Ecke. Unter seiner Bräune wirkt er wirklich blass.

„Kannst du ...?“ Vorsichtig greift er nach mir.

Ich kann viel zu sehr. Das ist das eigentliche Problem, wenn ich ehrlich bin. Dabei bin ich doch sauer.

Ich stelle mich vor ihn, sehe zu ihm auf. Er hat die Augen geschlossen. Vorsichtig lege ich ihm eine Hand auf die Schulter. Er zuckt zusammen, dann entspannen sich seine Muskeln unter meinen Fingern.

Ich trete noch ein Stück näher. Seine Wärme strahlt bis zu mir ab, dringt unter meine Haut und ich kann nicht anders, ich muss ihn jetzt einfach fühlen. Jan ist wieder da. Er ist wirklich wieder da. Ich lege meine Wange ganz leicht an seine Brust. „Bushaltestellen scheinen irgendwie unser Ding zu sein, wa?“, murmel ich.

Sein Lachen vibriert durch seinen Brustkorb. Es ist das schönste Geräusch der letzten zwei Monate. Ich vergrabe meine Nase in seinem T-Shirt. „Gloob mir, dit hättste dich heute morjen nich getraut. Meene Mutter hat mich mit`m Gartenschlauch abjespritzt, bevor ich ins Haus durfte.“

DOOONNER röhrt auf uns hinunter und ein Zittern geht durch ihn.

„Biste erst heute morgen anjekommen?“

„Mhmm. Bin zwee Tage komplett durchgetrampt von Neapel.“

„Haste deswegen nich mehr angerufen?“ Ich schaff`s fast nicht mehr, wütend zu sein. Fast.

„Auch. ... Nur so zur Info, Bela: ick bin immer noch echt sauer.“

„Hm.“ Ein Blitz zuckt grell zu uns hinein und Jan zieht mich fester an sich. „Ick och.“

Der Weltuntergang vor unserer kleinen halbwegs trockenen Insel hält an, aber langsam verabschieden sich Donner und Blitz wieder in die Ferne. Auch der Wind lässt nach.

„Willste ... mit zu mir kommen?“ Jan sieht auf mich hinunter. „Morgen haben wir eh Probe.“

Verlockend. Mehr als verlockend. Ich nicke, bevor ich wirklich den Entschluss gefasst habe. „Solln wir fahren?“ Er deutet auf sein Fahrrad.

Ich sehe hinaus in den Regen. Der lässt die nächste Stunde wohl eher nicht nach. Und so gemütlich es hier auch gerade ist, ich hab seit Stunden nichts mehr gegessen und `nen Mordshunger. „Wie weit ist es denn bis zu dir nach Hause?“

„So zehn Minuten.“

„Dit wird lustig.“

Jan lacht. „Also, los, oder?“

Der Regen ist hart und unerwartet kühl nach der Hitze, aber mir eigentlich auch vollkommen egal. Ich sitze wieder auf dem Gepäckträger, meine Arme um Jan. Ich kann seine Rippen spüren am Rücken, jeden Muskel.


Senheimer Str. 44, Frohnau

Jans Mutter erwischt uns im Flur, bevor wir uns in Jans Zimmer trocken legen können

„Oh, mein Gott. Euch hat`s ja ganz schön heftig erwischt. Das du bei dem Gewitter raus gehst, Jan!“ Sie blickt ihren Sohn erstaunt an, dann mich. „Du bist ja auch so abgemagert, Bela!“ So wie das nasse T-Shirt an mir klebt, gibt es echt viel preis. Frau Vetter mustert mich viel zu intensiv. Nett, aber intensiv. Meine Eltern sehen mich dann wohl doch zu oft, als dass sie einen Vergleich haben. Oder sind die einfach nich so aufmerksam?

„Jungs, ihr müsst definitiv mehr essen.“ Fast höre ich Jan ein bisschen heraus mit seinem übertriebenen Gesundheitstrip und muss grinsen, entspanne es schnell zu einem Lächeln.

„Ähm, ja, gerne, Frau Vetter.“

„Zieht euch mal um, ich mach was Schnelles.“

Ich will nur noch raus aus den nassen Klamotten, die eklig kleben und kalt sind. Ich bin voll am Zittern inzwischen. Jan hat wohl die gleiche Idee, denn auf einmal stehen wir beide halb nackt in seinem Zimmer.

Ich kann nicht wegsehen. Seine Arme sind knallbraun, seine Beine und der Oberkörper auch, aber nicht so stark. Wahrscheinlich hat er die weniger unter der Mittelmeersonne spazieren geführt. Am Rand seiner schwarzen Unterhose sticht weiße Haut heraus - und seine Hüftknochen. Eine Gänsehaut läuft über seine Brust und seine Lippen sind fast ein wenig bläulich. Am liebsten würde ich über seine Haut streichen, ihn wärmen.

Aber so viel nackter Jan ruft in mir auch andere Bilder hoch, ziemlich explizite Bilder. Ich hab mir in den letzten Monaten nicht nur einmal vorgestellt, wie das mit uns beiden wohl so wäre, hab nicht vergessen, wie es ist ihn zu küssen, mich gefragt, wie sich wohl mehr mit ihm anfühlt.

Ein Kribbeln wandert durch meinen Körper. Das sind die absolut falschen Gedanken, wenn man in einer nassen Unterhose herumsteht, die mehr offenbart als verdeckt. Oder soll ich ihn das einfach sehen lassen? Ein Moment bin ich versucht, dann halte ich mir unauffällig mein nasses T-Shirt vor. „Du bist echt krass dünn geworden.“

Er mustert mich. „Du auch.“ Er sieht mich genauer an, kommt einen Schritt auf mich zu und deutet auf etwas an meinem Rücken. „Wat is `n das da?“

„Äh, wat meenst `n?“

Er kommt noch näher. „Sieht aus wie `n ganz langer Bluterguss?“

Oh. Der Typ und die Filmriss-Nacht. „... Echt? Tut gar nich weh. Keene Ahnung, wo der her is. Vielleicht zu krass gepogt im SO.“ Ich grinse. Wenn ich nicht so marmorweiß wäre, sondern so knackig braun wie er, wär das Überbleibsel gar nicht aufgefallen. Tja.

Jan geht zu seinem Schrank und gibt mir eine Jeans heraus, die ziemlich an mir schlackert und die ich zweimal umkrempeln muss bis meine Füße sichtbar werden. Und ein altes Sweatshirt, das warm und gemütlich ist. Es riecht nach ihm.

„Jungs? Essen ist fertig!“, ruft Frau Vetter die Treppe hinauf.

Der Tisch im Esszimmer ist so richtig gedeckt. Aus zwei Töpfen dampft es verführerisch. „Das sieht echt toll aus. Vielen Dank, Frau Vetter.“

„Oooooh! Spaghetti!!!“ Julchen strahlt über das ganze Gesicht.

Jan schiebt sich den ersten Löffel in seinen Riesenmund. „Also, nich wirklich italienisch ...“, beginnt er, aber seine Mutter droht ihm mit dem Servierlöffel.

„Kein Problem, mein Sohn. Ab morgen kannst du selber kochen.“

„Ja, schon jut. Sach ma, is es okay, wenn Bela die nächsten Tage hier übernachtet?“

Überrascht schaue ich ihn an. „Äh, davon wusst ick ja noch jar nüscht.“

„Mhm.“ Er sieht mich mit einer gezückten Augenbraue an. Er kann das wirklich perfekt. „Toll, wenn Leute Pläne machen ohne das man gefragt wird, wa?“

Ich rolle mit den Augen, aber so, dass es nur Jan mitbekommt.

„Aber wenn du nicht willst.“

„Nee, also, wenn das für Sie okay is, Frau Vetter?“

„Du kannst mich gerne Uta nennen, Bela, und ja, das ist okay. Nur – kochen, einkaufen, abwaschen und so weiter, das müsst ihr selber machen. Gerd und ich müssen arbeiten. Und bitte kümmert euch auch ein bisschen um Julchen, ja? Die hatte schon wirklich Sehnsucht nach ihrem großen Bruder.“

Julchen nickt wild. Ihr Mund ist wunderbar verziert mit Spaghettisoße. Schnell wische ich mir über meinen Eigenen. Dieses Talent hab ich auch.

Das Essen liegt wunderbar warm in meinem Bauch. Es ist richtig harmonisch, fast wie `ne kleine Familie.


Als wir nach dem Essen wieder in Jans Zimmer gehen, ist es bereits dunkel. Draußen regnet es immer noch, was es hier unter dem Dach besonders gemütlich macht. Jan holt wieder die Gästematratze hinter dem Schrank hervor.

„Ey, sorry, Bela. Ick bin so krass müde, hab bloß zusammengekrümmt uf irgendwelchen Rückbänken jepennt die letzten beeden Nächte.“

„Keen Problem.“ Das waren die Nächte, die ich unter dem Motto „Nicht an Jan, das Arschloch, denken“ durchgemacht, nur tagsüber ein paar Stunden gepennt hab. „Ick bin och müde.“

Aber als wir im Bett liegen, kann ich dann doch nich schlafen. Ich höre wie er sich in seinem Bett bewegt. „Du, Jan?“

„Mhm?“

„Schön, das de wieder da bist.“

„Hm. Find ick och.“ Trotzdem klingt er traurig. „Wat hast`n du eijentlich so jemacht in den zwee Monaten?

„Zweieinhalb Monaten.“ Ich versuche, Zeit zu schinden.

„Ja, ick weeß.“ Sein Augenrollen ist hörbar.

„Wann wärste denn wieder gekommen, wenn ick nich dit Konzert orjanisiert hätte?“

Er atmet tief durch. „Wahrscheinlich gar nich sooo viel später.“

„Aha. Weil?“

„Weil sie ... Also, ... “

Oje. Es gibt – gab? – eine Sie. „Du ... bist wieder verliebt?“

„... Jein. ... Ick hab sie in Neapel getroffen und ... Also, sie hat mir irgendwie über Bine hinweg geholfen ... und so. Aber dann ... dann haben wir angefangen, uns ernsthaft ineinander zu verlieben und ...“ Er seufzt wieder.

„Und dit war so schlimm?“ Natürlich ist das schlimm, jault mein verknalltes Herz.

„Eigentlich sollte et was Unkompliziertes bleiben. Sie hat mich dann mehr oder weniger weggeschickt, meinte, dass würde doch eh nichts mit mir, dem Biondo di Berlino.“

„Dem was?“

„Ach, die hatten in Neapel so `nen Spitznamen für mich entwickelt. Der Blonde aus Berlin.“ Er lacht, aber es klingt eher unglücklich, wahrscheinlich vermisst er es dort zu sein.

„Ist es denn okay jetze wieder in Berlin zu sein?“

„Ick weeß nich.“ Der Typ ist echt gut mir immer wieder einen Messerstich in die Brust zu versetzen. „Es ist echt merkwürdig“, fährt er fort. „Aber das is oft so, wenn ick zurück bin. Vor allem wollt ick ... dich wiederseh`n. Deswegen bin ick heut in Hermsdorf vorbeigekommen.“

Ein warmes Ziehen in meinem Bauch, der Messerstich verschwindet. „Mhm.“ Ich wünschte, ich wäre so mutig ihm zu sagen, dass ... Aber wir haben uns gerade erst wieder getroffen, gerade erst wieder zusammen gerauft und er ist in eine Frau verknallt. Außerdem - bester Freund, Band und Liebe? Bisschen viel auf einmal. Das geht unter Garantie grandios schief. „Dit ist schön. ... Aber ick bin immer noch sauer“, grolle ich ihn vom Boden aus an.

„Ick weeß. ... Ick och.“

Dann müssen wir beide lachen.

„Sach ma, willste dir nich „Biondo di Berlino“ als deen Künstlernamen zulegen?“

„Hm. Irgendwie witzig. ... Aber hier klingt dit so affektiert. Außerdem is et irgendwie belegt mit den Jeschichten in Italien. Wat Neues wär mir lieber. Vielleicht lass ick sogar dit Jan drin. Ick mag den Namen.“

„Ick och. Jan Vollmilch wär cool. Und sehr passend für deen Trinkverhalten.“

„Also, wenn dann Jan au lait. Also, dit Französische für mit Milch.“

„Nich Jan Olè, dit Spanische mit dem Stier?“

„Doofkopp.“

„Nee, Witzkopp.“

„Haha.“

„Wie wär`s denn mit Jan Wanderschuh?“

„Bin ick Heino oder wat? ... Aber so `n bisschen wat mit Reisen wär schon jut. Jan Ferien. Nee ... Jan Holiday. Doc Holiday.“

„Meenste den Freund von Wyatt Earp?“

„Genau. Yippie ya yeah, Cowboy! ... Irgendwie echt cool, aber dit bin ich nich. ... Oder was mit Urlaub.“

„Jenau. Dit machste doch am liebsten: in Urlaub fahr`n.“ Zum ersten Mal seit dem wir uns wieder getroffen haben, hört es sich aus meinem Mund nicht bitter an.

„Ja, ick bin halt echt gern weg oder fahr in Urlaub.“ Er stockt. „Fahr in Urlaub. Farin Urlaub. Wie findste denn?“

„Farin Urlaub? ... Ähm, also Jan is da nich drin, aber Farin passt irgendwie zu dir.“

„Na, wunderbar.“ Jan gähnt herzhaft. „Müde ...“

„Gute Nacht, Farin!“

„Schlaf gut, Bela!“


 

 

 

 

 

21. September


Seegefelder Straße, Spandau

Am nächsten Tag hol ich ein paar Sachen zu Hause ab. „Ick bin die nächste Woche in Frohnau.“

„Wieso das denn?“ Meine Mutter sieht mich erstaunt an.

„Wir haben in `ner Woche unsern ersten Auftritt mit der neuen Band und müssen jetzt echt nonstop üben. Ick kann bei Jan pennen.“

„Is das der nette Große?“

„Ja, Mutti. Der ist waaahnsinnig nett.“ Die hat ja keine Ahnung, wie schwierig „der Große“ sein kann.. Außerdem nervt es, dass Jan so `n Schwiegermutterliebling ist. Also, nich, dass ich ihn jetz direkt heiraten will, aber meine Mutter war wirklich seeehr begeistert von ihm, nachdem er ein paar Mal hier war. „Sooo höflich“, hat sie danach geflötet. Und da ist es auch schon wieder. Dieses Leuchten in ihren Augen. Igitt.

„Bring den doch ma wieder mit. Der ist wirklich nett.“

„Und hat hoffentlich mal `n besseren Einfluss auf dich.“ Erwin sieht mich viel zu prüfend an. Scheiße, dem Typen ist wohl nicht entgangen, dass ich in den letzten Monaten nich immer so ganz fit war. „Na, dann hau ma ab ins Villenviertel. Immerhin een hungriget Maul wenijer zu stopfen hier.“

„Erich, jetz lass doch den Jungen!“

„Is doch wahr. Der is 19, keene Arbeit, immer nur Party, aber die Füße noch bei uns unter`n Tisch strecken. Zumindest Miete könnt er doch ma zahlen.“

Sind eigentlich alle Väter so scheiße? Ach, weiß ich ja schon. Ja!

„Wo habt ihr denn den Auftritt?“ Meine Mutter versucht das Thema zu wechseln, wofür ich ihr echt dankbar bin.

„In Kreuzberg. Gibt sogar `n bisschen Gage dafür.“

„Wat ihr da immer wollt in Kleen-Istanbul ....“ Erich schüttelt den Kopf. „Na, wenn`s Jeld jibt, warum nich.“


 

 

 

 

 

22. September


Proberaum, Hermsdorf

Es regnet und regnet und regnet. Eine echte Sintflut. Der Keller riecht noch muffiger durch all die Feuchtigkeit.

Hans grinst Jan an. „Du hast ja gar nichts mehr mitbekommen. Die Stickeraktion hat echt fast `n bisschen zu gut funktioniert. Die Szene ist total heiß auf uns.“ Auf einmal wirkt er nachdenklich. „Aber die erwarten doch bestimmt so `ne Soilent Grün Fortsetzung und nicht das, was ihr vorhabt.“

Mich wundert, dass er ihr sagt, aber irgendwie sind die Ärzte ja tatsächlich mehr Jans und meine Idee.

„Hm. Kann schon sein.“ Ich stütze meine Hände in die Hüften. „Aber dann müssen se halt umlernen.“ Die Spießerpunks können mich mal.

„Und dann dit erste Konzert ausgerechnet im BesetzA-Eck!“, stöhnt Jan. „Dit kann ja lustig werden.“

Ich stehe hinter den Drums auf und stelle mich vor ihn. „Kannst nächstes Mal gern du organisieren, Jan.“

Hans nickt neben mir. Tut sogar ein bisschen gut, die Unterstützung. Aber dann meint er: „Wir können ja ein, zwei Songs machen, die denen auch gefallen.“

„Nee.“ Jan und ich schütteln beide entschieden den Kopf. Jan wird neben mir gleich nochmal `nen halben Meter größer. „Wir ham doch nich eene Band aufjelöst, nur um dann mit der Neuen wieder dit Gleiche zu machen.“

„Ja.“ Ich sehe entschuldigend zu Hans. „Da hat er sogar mal recht, der Besserwisser.“

„Wie sieht`s denn jetze aus mit Liedern?“ Jan blickt mich erwartungsvoll an.

„Naja, jeht so. Meene Muse war wohl och im Urlaub.“

„Haste jar nüscht?“ Jan wirkt echt enttäuscht. „Und dann organisierste `n Konzert? Mutig, Alter!“

Wir können`s wohl beide nich lassen, den noch nicht komplett ausgetragenen Streit immer wieder anzuschneiden.

Aber ich hab auch keinen Bock, dass er so der super tolle Songschreiber ist und ich nur der Schlagzeuger. „Also, een Song hab ick dabei über ...“ Jetzt werd ich doch nervös, muss deswegen grinsen. „Über mein Teddybär.“

„Hä?“

Ich singe es ihm vor, warte danach atemlos auf seine Meinung – und der große Blonde strahlt. Die Sonne scheint wieder in Hermsdorf. Wir üben „Mein Teddy“ ein paar Mal bis es sitzt.

„Wat habt ihr noch im Angebot?“

Jan sieht Hans erwartungsvoll an, aber der macht eine merkwürdig unentschiedene Geste mit seinen Händen und Schultern. Vermutlich, dass wir von seiner Seite mit nichts rechnen sollen. Aha!

„Okay.“ Jan wendet sich von Hans ab und zieht ein Heft aus seinem Rucksack. „Ick hab heut morjen noch eens jeschrieben.“

„Ernsthaft?“ Der Typ ist irre. Zum Glück. Sonst hätten wir vermutlich ein Set mit nur fünf Liedern.

„Ja und du warst sogar meine Muse dafür, so wie de heute morjen rumjemecker hast, als ich dich geweckt hab – wie `n kleener Giftzwerg.“

Ich strecke ihm die Zunge raus. „Pffff.“

 
Morgens, wenn der Hahn kräht, heißt es guten Morgen
Und wenn der Wecker klingelt, dann müssen wir raus

Nachdem er es auf seiner Gitarre vorgespielt hat, muss ich doch lachen. Der Text ist witzig und die Melodie ist einfach geil. Macht gute Laune. Genau das wofür Die Ärzte stehen sollen! Perfekt.

„Wat is `n nu eijentlich mit Max?“ Jan runzelt die Stirn. „Sollte der nich hier sein zum Proben, wenn wir am 27. uf de Bühne sollen? Dit sin nur noch fünf Tage.“

Ich mach mir auch Sorgen deswegen. „Ick weeß och nich. Der ist voll auf Tauchstation, hab ihn seit Wochen nich mehr gesehn.“

„Ick dachte, der wollt dabei sein. Was machen wir denn, wenn der nich auftaucht?“

„Tja, dann bleibt uns wohl nüscht anderet übrig, als das wir singen.

„Mhm.“ Jan verzieht unglücklich das Gesicht.

Um 17 Uhr machen wir Schluss und brechen auf.


Senheimer Str. 44, Frohnau

Rückfahrt auf dem Gepäckträger. Wieder nass, wieder umziehen. Das scheint ein Punkt auf unserer täglichen Ritualliste zu werden. Genauso wie das kochen. Jan steht da nich so drauf, aber ich mach das gerne. Es ist nur `n bisschen ungewohnt, dass es in der Küche so ruhig ist. Eigentlich überall hier im Haus.

Bei uns zu Hause läuft den ganzen Tag das Radio und ab spätestens 18 Uhr der Fernseher. Abendbrot gibt es auch vor der Glotze. Das ist hier echt anders. Aber auch schön.

Wir spielen mit Julchen wieder „Mensch ärger dich nicht!“.und es ist auch wieder eine Freude zu sehen, wie sehr sich Jan aufregen kann, wenn man ihn kurz vor seinem Haus rausschmeißt.

Julchen gewinnt sogar einmal, was sie mit einem sehr expressiven Freudentanz um den Tisch feiert.

Das ändert sich schlagartig, als die Haustür aufklappt. Herr Marciniak ist von der Arbeit zurück. Das ganze Haus wirkt schlagartig zehn Tonnen schwerer.

„Jaaan!“, dröhnt es aus der Küche. Jan erhebt sich. Seine Miene und sein Körper sind die eines Fremden. Keine Sonne mehr.

„Warum hast du den Abwasch nicht gemacht?“, höre ich Herrn Marciniak ihn zurechtweisen. „Du glaubst wohl, du bist der heimgekehrte, verlorene Sohn und brauchst das jetzt nicht mehr zu machen, oder was?“ Die Stimme seines Stiefvaters wird immer schärfer. „Seitdem du bei deinem Herrn Vater, dem Ingenieur gearbeitet hast, bildest du dir anscheinend ein, etwas Besseres zu sein. Wer hat dich denn all die Jahre hier mitversorgt?“

„Mit Zuneigung?“ Jans Stimme ist ganz harmlos. „Hm, lass mich nachdenken. Keiner von euch beiden.“

Etwas scheppert in der Küche und ich schrecke zusammen. „Trau dich noch einmal frech zu werden, Jan, dann ...“

Julchen steht auf und geht hinüber. Am liebsten würde ich sie zurückhalten oder Jan aus der Küche ziehen.

„Wir wollten den Abwasch nach dem Spiel machen.“

„Das ist mir egal, Julia. Den macht ihr jetzt. Eure Mutter und ich arbeiten den ganzen Tag hart, da kann man ja wohl erwarten, dass ihr ein wenig mithelft.“

„Machen wir ja auch“, sagt Julchen.

Jan erscheint im Türrahmen zum Wohnzimmer. „Geh schon mal hoch. Ich komm gleich nach.“ Seine Miene ist aus Marmor. Sein Gerd-Gesicht.


Als Jan nach einer halben Stunde hochkommt, schmeißt er sich ohne ein Wort auf sein Bett und vertieft sich in ein Buch, flüchtet.

Ich setze mich neben ihn. Er reagiert nicht. Gerade ist er wie ein Igel, mit spitzen Stacheln: Achtung! Nicht berühren.

Ich lehne mich trotzdem vorsichtig an ihn und schiele auf die Seite. „Was liest`n du da?“, frag ich mit Kinderstimme.

Er versteift sich, dann heben sich seine Mundwinkel ein wenig. „Huckleberry Finn.“

„Is dit ju-uut?“ Ich ziehe die Piepsstimme voll durch und merke, dass das sehr effektiv an seiner Schutzmauer rüttelt.

„Ja. Vor allem, weil der och so `n Streuner mit `nem Scheißvater is.“

„Kannste mir büdde was vorlesen?“

Mit einem riesigen Seufzer hebt er schließlich einen Arm und ich darf mich tatsächlich an seine Seite kuscheln. Wenn ich `ne Katze wär, würd ich schnurren.

„Von vorn?“

Ich nicke eifrig.

„Okay.

Kapitel 1

Ich lerne Moses und die Schilfer kennen

Ihr wisst nichts von mir, außer ihr habt das Buch mit dem Namen Tom Sawyers Abenteuer 1 gelesen, aber das macht nichts. Das Buch hat Mark Twain geschrieben, und er hat die Wahrheit erzählt – fast. Es gibt Dinge, die er nicht so genau genommen hat, aber fast immer hat er die Wahrheit gesagt. Da ist nichts dabei. Ich hab noch keinen gesehn, der nicht ab und zu gelogen hat, außer Tante Polly oder die Witwe oder vielleicht Mary. Über Tante Polly – Toms Tante Polly ist das – und Mary und die Witwe Douglas steht alles in dem Buch, das fast immer wahr ist; mit ein paar Schwindeleien, wie ich schon gesagt habe.

„Du musst hier weg!“, sage ich danach mit meiner normalen Stimme.

Er nickt. „Ick weeß. Aber wohin?“

„Meine Mutter arbeitet doch bei `ner Wohnungsbaugesellschaft. Ick kann ja ma fragen, ob se vielleicht wat hat - ick meen, für uns beede.“ Ich trau mich nicht ihn anzusehen, komm mir echt verletzlich vor, als hätt ich Jan grad `nen Antrag gemacht.

„Echt? Das wäre ... genial.“ Er beugt sich zu mir rüber und gibt mir einen dicken Schmatzer auf die Wange. Ich glaub, mein Antrag ist angenommen.

Ich kann das Phänomen nicht wirklich erklären oder verstehen, aber – Jan neben mir leuchtet wieder.



 

 

 

 

23. September


Als ich am nächsten Morgen aufwach, sitzt Jan an seinem Schreibtisch und kritzelt fieberhaft was in das Heft von gestern. Ich erhebe mich von meiner Matratze und beuge mich über ihn.

„Wat machste `n da?“

„Ick überarbeit die eene Strophe, die ick auf Sardinien geschrieben hab.“ Er sieht auf. „Die hab ick dir doch geschickt.“ Er sieht mich sehr erwartungsvoll an.

„Ja – auf Französisch, Alter!“ Mehr als neugierig les ich die Zeilen auf deutsch.

 

 

 

 


Beim Milchshaketrinken denk ich an dich
Abends in der Disco amüsier ich mich

Ich hab beim Tanzen meinen Walkman auf
Denn da ist deine Stimme drauf

Die Sonne brennt heiß, das Meer ist spiegelglatt
In meinem Walkman ist Bandsalat

Die Nächte sind warm, ich spüre das Glück
Doch die Batterien sind alle, darum komme ich zurück
Und trotzdem fehlst du mir


„Hm. Hört sich nach Liebeskummer an.“

„So wat Ähnliches. ... Ehrlich gesagt, hab ick an dich jedacht, als ick dit geschrieben hab. ... Ick fand`s halt so schade, dass de nich dabei warst.“

Das Geständnis haut mich nun wirklich um. Ich find gar keine Worte.


Am Nachmittag Tag schaffen wir noch drei weitere Songs. Jan ist echt `ne Kreativmaschine. Jetzt haben wir immerhin 13 und durch das tägliche Üben sitzen sie auch wirklich. Ich könnte sie im Schlaf trommeln.

Das ist `n ganz okayer Grundstock. Zum Glück, denn mir fällt das sehr viel schwerer. Lieder zu zaubern, obwohl Termindruck hilft.

Und von Hans ist wohl überhaupt nichts zu erwarten. Der zieht sich voll auf seine Rolle als Bassist zurück. Echt, super.

Aber okay: Jan und ich sind einfach auch die Ärzte in ihrer reinsten Form. Unsere Idee, unser Humor, unsere Chemie miteinander. Wahrscheinlich ist es auch gar nich so einfach, da mitzuhalten.



 

 

 

 

24. September



„Kann ick vielleicht heut Nacht in deinem Bett schlafen?“


„Äh, ... okay! Die Matratze ist scheiße, wa?“

„Geht schon, aber ...“ Manchmal tut es in diesen Nächten in seinem Zimmer doch echt weh, dass er so nah und doch fern ist. Eigentlich hatte ich gemeint mit ihm in seinem Bett zu schlafen, so wie damals – vor einer gefühlten Ewigkeit – bei mir. Aber ... „Ja, is `n bisschen unbequem.“

„Klar. Mir macht dit nüscht aus. Da hab ick auf der Reise viel schlimmer Nachtquartiere gehabt.“

Es ist genauso schön und ein bisschen schmerzhafter, als ich gedacht hab, so umgeben von seinem Geruch auf dem Kissen, an der Decke. Draußen hat nach einer längeren Pause der Regen wieder eingesetzt.

„Was haste eigentlich gemeint auf der Postkarte?“

„Was meinste genau?“

„Das mit `m Vulkan.“

„Ick war eenfach so ... traurig und wütend und enttäuscht und ...“ Ich kenn das Gefühl – nur zu gut. „Aber ick glaub, dit hat sich jetze erledigt.“

„Okay. ...“ Keine Ahnung, was er meint. Eigentlich würd ich gern nachfragen. „... Vermisst du das Mädchen in Neapel?“

„Naja, Felice ist eher schon eine Frau. Sie ist schon 25.“

„Oh, wow. Du stehst echt auf Ältere, wa? Felice, also?“

„Hm. ...Ja. Also, ja ick vermiss sie.“

„Und? ... Hattet ihr Sex? Oder geht das da unten nich wegen ultra katholisch und so?“

„Nein, Bela, das geht trotzdem.“ Er spricht sehr überdeutlich. Dass ich das ein bisschen doof gefragt hab, ist mir selber klar. Mein Scheiß Verknalltsein in ihn macht mich einfach manchmal so unsicher. „Und ja, wir hatten Sex.“

Ich schalte auf Angriff. „Jetze tu doch nich so. Ick bin halt neujierig. War`s denn gut mit ihr?“

„Mhm, ja. Es war wirklich gut.“ Er hört sich verdammt glücklich an – und traurig.

„Dit freut mich. Wirklich! Du magst dit jetze also mit Sex und so, ja?“

Nun lacht er wirklich. „Ja. Schlaf jut, du Voyeur.“

Er pennt schnell weg, aber ich lausche noch ewig dem Regen und seinem Gesang in der Dachrinne und Jans ruhigen Atemzügen.

Ich liege in meinem eigenen Bett. Aber nicht allein. Jan ist bei mir – und er ist fast nackt. Seine Haut ist so heiß. Er drängt sich an mich, ich kann ihn überall spüren. Sein Atem geht schwer. Er beißt mich in den Hals und das ist echt geil. Trotzdem - irgendwie ist die Szene seltsam, denke ich, dann sinke ich wieder zurück in den Moment. Er fasst in meine Schlafanzughose. Seine Hand um meinen Schwanz ist einfach perfekt. Es scheint ihn auch anzumachen, denn er keucht über mir. „Ja“, stöhne ich. „Mehr.“ Noch ein kleines bisschen mehr. Ja! Ich komme in seine Hand.

„Bela? Hey!“ Eine Hand an meiner Schulter. Ein sanftes Rütteln. „Wach auf, Bela!“

Ich bin halbwach, aber mein Körper ist immer noch weg. War das echt nur ein Traum? Enttäuschung macht sich in mir breit, aber der Orgasmus jagt noch durch mein System – und Jans Hände auf mir. Ich will ihn auf mich ziehen.

„Hey, Bela, bitte wach auf. Du hast `nen Alptraum.“ Er klingt echt verzweifelt.

„Moin.“ Ich kämpfe immer noch meinen Atem wieder unter Kontrolle zu kriegen.

„Mann.“ Er fährt zurück. „Du hast mir echt Angst eingejagt.“

„Ja? Was hab ick denn gemacht?“

„Na, du hast dich voll herumgewälzt und so ...“

„Ja?“

„Gestöhnt und ...“

Hab ich seinen Namen gestöhnt?

„Allet jut. Ick ... Dit war keen Alptraum. ... Also, ehrlich gesagt, eher dit Gegenteil.“

„Was?“

„Noch nie `n feuchten Traum gehabt?“

„Was? ...  Oh, Mann, Bela. Wirklich? In meinem Bett, ja?“

„War schön. Sollteste och ma probieren.“

„Kenn ick schon.“

„Mhm. Ick geh, mich ma umziehen.“

Als ich wieder in Jans Bett krieche, bin ich immer noch peinlich berührt und elektrisiert. „Biste noch wach?“

„Nee.“

Manchmal gehe ich in die Offensive, wenn mir was peinlich ist. „Ey, also wenn du mal ... Zeit für dich brauchst, dann sach einfach Bescheid, okay?“

„Mann, Bela! ... Schlaf endlich. ... Träum was Schönes. Also, vielleicht nich mehr ganz sowas Schönes.“

„Nee, gerne jederzeit wieder. War echt großet Kino.“

„Okay. ... Wat haste denn geträumt?“

Glatteis. Oder eine gute Möglichkeit? „Von einem sehr tollen Menschen, den ick mag.“

„Aha.“

„Träum du och wat schönet, Jan“, flöte ich, bevor er genauer nachfragt. Dann lieg ich wieder ewig wach. Vielleicht brauch ich hier doch noch `n paar Downer, um neben Jan Schlaf zu finden.



 

 

 

 

25. September


Am nächsten Morgen verfolgt mich der „Alp“traum immer noch. Jan ist aber auch verdammt nah diese Tage. Und vor allem Nächte. Unsere Chemie, unsere Verbindung ist wieder voll am Funken.

Ich schnappe mir meine Klamotten. „Ick spring ma unter die Dusche.“

„Okay. Wie lange brauchste ungefähr?“ Er sieht mich dabei nicht an. Interessant.

Ich ahne, was los ist. „Warum? Haste wat Besonderet vor?“ Jep, er wird ein bisschen rot.

„Ähm, nö. Nur so.“

„Keene Angst. Ich lass dir schon Zeit für deine ... Morgenroutine.“

„Mann, Bela.“

„Viel Spaß.“ Kichernd verschwinde ich ins Bad.

Das Geplänkel hat mich echt angemacht und ich hol mir in der Dusche einen runter. Das ist ohne Privatsphäre echt zu kurz gekommen in den letzten Tagen. Außerdem – das Jan, dass wahrscheinlich gerade dasselbe tut, heizt mich noch mehr an. Und ich habe den Vorteil, dass das fallende Wasser mein Stöhnen überdeckt.

Ich klopfe sogar, als ich später wieder vor seiner Tür stehe.

„Ja?“

Ich stecke den Kopf zur Tür rein. „Und? War`s gut?“

Jans leicht verschwitzte, rote Wangen, verraten ihn. Verdammt, ist der Kerl hübsch. Vor allem so.

Dieses Mal sieht er mir gerade in die Augen. „Ja!“



 

 

 

 

26. September


Proberaum, Hermsdorf

„Sach ma, Bela, wat is `n nu eijentlich mit Max? Morgen is Auftritt! Wär ja schon jut, wenn der och ma mitproben würd so als unser Sänger, oder?“

„Er hat sich nich gemeldet, ick kann ihn nich erreichen, also müssen wir wohl selber singen. Geht das, Jan?“

„Muss ja wohl. Mann, ey. Als wär ick nich schon aufjeregt jenuch.“

„Hätt ich och nicht gedacht, dass der uns hängen lässt. Aber wir kriegen dit schon hin. Wir ham doch allet super geprobt hier, oder, Hans?“

Hans nickt. Na, also.

 

 

 

 

*


Bei den Vetters müssen wir uns erstmal mit einer wirklich wütenden Julia auseinandersetzen.

„Ick will aber dit Konzert sehen!“

Jan geht vor seiner Schwester in die Knie. „Julchen, dit is nich so wie dit Open-Air letztes Mal in Spandau. Es is spät abends und in dem Raum rauchen die Leute, wat echt super eklig is.“

„Ja, aber du gehst doch och da hin.“

„Ja, weil ick unsere Musik spielen will, nich weil ick dit rauchen und saufen so toll find.“

„Du bist doof.“

„Och, Julchen.“

 

 

 

 

*


Jan ist merkwürdig ruhig, als wir uns oben in seinem Zimmer hinlegen, dabei hat es dies Mal mit Mr. Arschloch gar keinen Streit gegeben.

Trotz des kleinen Zwischenfalls gestern Nacht darf ich wieder in seinem Bett schlafen. Ich kuschel mich in die Decke. Jan liegt absolut starr und ruhig auf der Matratze unten auf dem Boden. „Allet okay bei dir?“

„Ja. ... Ick weeß nich. Irgendwie hab ick jetze doch Schiss wegen morgen.“

„Echt? Dit wird total geil, Jan ... äh, Farin!“

Ich kann seine Zähne im Dunkeln schimmern sehen. Ein Lächeln. Immerhin.

„Wir geh`n eenfach uf die Bühne, quatschen viel Blödsinn, so wie immer, spieln die geilen neuen Songs und verklickern den ganzen Punks, dit wir Popstars sin.“

„Und krieg`n paar uf`s Maul.“

„Quatsch. Die wer`n uns lieben.“

„Ja, klar.“

„Och, Jan. Jetze verdirb dir und vor allem och mir nich die Vorfreude.“

„Du freust dich wirklich, wa?“

„Ja, na klar. Dit is doch unser Traum, unser Baby und morjen stell`n wir`s der Verwandtschaft vor.“

„Oh! Also mit dem Vergleich wird meen Lampenfieber nich wirklich besser.“

„Ey, Farin und Bela rocken dit Ding. Mit dir an meener Seite hab ick echt keene Bedenken.“

„Okay. Ick hoff, ick kann schlafen.“

„Wenn nich kannste gerne zu mir in deen Bett kriechen, nee!“

„ ... Danke!“



 

 

 

 

27. September



Proberaum, Hermsdorf

„Haben wir alles?“ Hans hat eine Hand an der offenen Heckklappe und blickt nachdenklich in seinen vollgestopften VW-Bus. Wir haben alles von unten hoch geschleppt. Ist echt gut voll jetzt. Schon praktisch so `n großer Wagen.

Wir düsen los Richtung Innenstadt, bleiben im Feierabendverkehr hängen. Jan ist immer noch verdammt ruhig, Hans brummelt am Steuer vor sich hin und schreit ab und zu Fußgänger*innen, ahnungslose Menschen auf`m Rad und andere Autofahrer*innen zusammen. Wahrscheinlich ist auch er nervös.

Bin ich jetz echt der Einzige, der sich freut? Mein Blut summt und rauscht wunderbar aufgeregt durch mich. Fast so gut wie Drogen. So abstinent hab ich in Bezug auf Sex and Drugs seit Monaten nicht mehr gelebt wie die letzte Woche. War gar nicht mal so schwer, hat echt Spaß gemacht mit den konzentrierten Proben und dem Songs schreiben und vor allem so viel Zeit mit Jan.


BesetzA-Eck, Kreuzberg

Als wir mit dem VW-Bus auf den Heinrichplatz rollen, ist vor dem BesetzA-Eck großes Gegrölle.   Eine Horde Punks hüpft vor dem Laden auf dem Gehsteig herum. Die sind auf jeden Fall schon gut in Stimmung. Interessant das mal nüchtern von außen zu betrachten. Tja, vor denen spielen wir heute Abend dann Songs wie „Zitroneneis“. Wird bestimmt gemütlich.

Pony, Kruste und Gitti kommen aus dem Eck. Die andere Punkette kenn ich nich.

Gitti drückt mir einen fetten Kuss auf die Wange und Pony grinst. „So, die Herren Rockstars. Dann geht`s heute wohl los mit der großen Karrjiere, wa?“

„Janz jenau“, grinse ich zurück. „Ey, danke, dass de dit allet geregelt hast.“

„Wat man nich allet tut als Groupie, wa?“ Ich mag Pony. Und Gitti.

„Wo sollet ma denn de ganze Sache hinbringe?“, fragt die vierte Punkerin.

„Ey, krass.“ Jan geht auf sie zu. „Bist du Tessa?“

„Ei, ja klar.“

„Äh, so klar find ick dit ehrlich jesacht nich. ... Aber stehen dir echt jut die kurzen Haare. Trotzdem – krass, die Veränderung!“

„Desch is nur äußerlich. Ansonste bin isch imma noch de Gleiche.“

„Dit is schön zu hörn.“ Jan lächelt sie an.

Pony kommt zu uns hinüber. „Wenn ihr allet ufjebaut habt, dann könnt ihr euch jerne im 3. Stock oben fertich machen. So `n richtijen Backstage ham wir hier nich in der Kneipe.“

 

 

 

 

*


Als wir alles aufgebaut und auch `nen Soundcheck gemacht haben, gehen wir nach oben in de Gemeinschaftsraum. Seltsam wie voll dieses Zimmer schon ist mit Erinnerungen. Das letzte Mal hatte ich hier einen komplett zerstörten, heulenden Jan in den Armen. Es war eine schreckliche Nacht, aber es war auch schön, dass er mich so nah an sich herangelassen hat - bevor er dann abgehauen ist.

„Sag mal, kannste mir den Strich über`m Auge ziehen?“ Ich halte Jan meinen Kajal hin. „Ohne Spiegel krieg ich das selbst nich hin.“

„Ähm, hab ick noch nie jemacht.“ Vorsichtig nimmt er den Stift und versucht es. Sein Gesicht ist meinem so nah, sein Blick konzentriert auf mir, dann lässt er auf einmal die Hände sinken.

„Ick kann dit nich. Ey, sorry, aber ick bin so krass ufjeregt. Meene Finger zittern viel zu sehr. Ick hab echt angst, dass ick dir ins Auge stech.“ Er atmet tief durch und hält seine Hände vor sich. Ich bin immer wieder erstaunt darüber, was für lange Finger er hat. Gerade zittern sie tatsächlich ziemlich. „Ick weeß gar nich, wie ick so Gitarre spielen soll.“

„Echt? Ick bin eher ...“ Ich bin geil, also wirklich geil. Mein Körper scheint Adrenalin mit Testosteron zu verwechseln. Am liebsten würde ich einfach Jans Hand packen und ihm zeigen, wie ich mich fühle. Stattdessen umarme ich ihn, halte meinen Unterleib auf Abstand.

Sogar sein Körper zittert. Oje.

Er sieht mich leicht bleich an. „Wir mach`n hier grad keen Fehler, oder?“

„Was? Wir? Niemals.“ Ich übertreibe so, dass er Lachen muss.

„Du bist schon `ne Marke.“ Er zieht mich nochmal in seine Arme. „Danke, dass de dit Konzert organisiert hast, Bela.“

Ich mache einen theatralischen Diener vor ihm. „Is janz mein Vergnüjen, der Herr!“

Als ich wieder hoch komme, beugt sich Jan vor und kurz denke ich, er will mich küssen. Meine Lippen kribbeln und mein Herz jagt erwartungsvoll los.

Aber Jan hält inne vor mir, sieht mich nur an, dann fährt er mit seinen Fingern ganz leicht über meine Augenbraue, unter meinem Augenlid entlang. Dann sieht er auf seine Fingerkuppe, die nun schwarz ist. „Hm, steht dir echt gut, sieht ... schön aus.“ Er beugt sich ein kleines Stück weiter vor und ...

„Hey, wollen wir jetzt ma ...?“ Hans steht in der Tür und sieht erstaunt von Jan zu mir. „Äh ...“

 

 

 

 

*


Und los geht`s!

Das zweite Lied in unserem Set ist eine Überraschung.

NATHALIIIIIE, schreit Roberto mehr als das er singt. Chanson geht anders.

Ich mag das Lied echt gerne, Jan auch – aber vielleicht doch eher im Original. Robertos Französisch ist super. Seine Gesangskünste – naja, er hat Spaß, das Publikum hat Spaß. Überraschung gelungen. Allet jut!

Oder auch nicht, denn im Publikum wartet eine böse Überraschung auf Jan. Ich sehe sie in der dritten Reihe, blicke zu ihm hinüber an der Gitarre. Er hat sie eindeutig noch nicht entdeckt. Wie kommt diese blöde Tusse auf die Idee, dass wir sie hier haben wollen?

Ein Verspieler. Jan ist aus dem Takt. Ja, er hat sie nun doch gesehen. Verdammt. Wir kämpfen uns durch das Lied. Gerade hatte Jan noch so ausgesehen, als würd er endlich Spaß haben am Konzert. Nun ist er blaß und unkonzentriert.

Ich bin so sauer, dass ich mich nicht mehr an die Setlist halte: „Dit nächste Lied is jemand ganz Besonderem gewidmet, och wenn dit echt keen Kompliment.“ Ich sehe Bine direkt an. „Da kannste dich schon mal anschnallen, Bi...“

Mit einem Schritt ist Jan bei mir hinter`m Schlagzeug und hält mir den Mund zu. Sie hat es trotzdem kapiert, geht weg. Keine Ahnung, ob sie ganz verschwindet von hier, die blöde Kuh. Wenn Jan nicht dazwischen gegangen wäre, dann ... Es haben wohl trotzdem einige kapiert. Nicht mal Gitti ist ihr hinterher gegangen. Geschieht ihr Recht.

Das ist "Sie quält mich. Ein, zwei, drei, vier!

Nachdem Bine aus unserem Sichtfeld verschwunden ist, wird es auf der Bühne wieder entspannter und zwei Lieder später ist Jan wieder an Bord.

Als ein Typ eine halbvolle Dose Bier auf die Bühne wirft, trinkt er einen ordentlichen Schluck von seiner Milch und spuckt den zurück.

Die Schlacht ist eröffnet und ich sehr zufrieden. Auch wenn wir Popstars werden wollen, wir sind trotzdem auch Punks.


Fast noch geiler als unser erstes Konzert ist die Nachricht von meiner Mutter. Sie hat eine Wohnung für Jan und mich. Eine bezahlbare Wohnung in der Stadt.


 

 

 

 



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LYRICS & SONGS

Lyrics: Fehlfarben - Paul ist tot

die Ärzte – Mr. Sexpistols (früher: So hilflos wie ich
Lyrics

Lyrics: Buzzcocks - Ever fallen in love with someone (you shouldn`t have)

Lyrics: die ärzte - Uns geht`s prima

Lyrics: The Feelies - What goes on

Gilbert Becaud – Nathalie
Übersetzung Lyrics


Farin: Wir haben uns damals auch bei unserem allerersten Konzert im Besetzer-Eck auf die Bühne gestellt und gesagt: wir sind Popstars. Das war unser Selbstverständnis.


die ärzte - 2. Konzert Music Hall bootleg


Doku – Bela Spandau

 


MAX Müller

Bela: Zuerst hatten wir ja vor, jemand anderen singen zu lassen. Max Müller, war damals frisch in Berlin und mein Freund. Max war so ein junger, gutaussehender, hibbeliger, charismatischer Typ, und wir hatten uns das mit dem Singen am Anfang selbst nicht zugetraut. Max’ Bruder war mit seiner Band „Die tödliche Doris“ ja auch szeneprägend, also hielten wir das für eine gute Idee. Max Band DIE HONKAS gab es nach ihrer Single schon nicht mehr.

Farin: Als Max dann zum dritten Mal einfach nicht zur Probe gekommen ist, haben wir gesagt, na gut, dann singen wir halt selbst. Schon irre, an welchen Kleinigkeiten sich letzten Endes die Richtung dieser Band entschieden hat.

Bela: Max hat dann recht bald MUTTER gegründet. Er und ich, wir haben übrigens das gleiche Tattoo, ein Herz mit gekreuzten Knochen, das Zeichen der Vollstarken, unserer Quatschbewegung. Haben wir uns als Teenager selbst gepikert, im Wohnzimmer meiner Mutter.



LITERATUR

Mark Twain: Die Abenteuer des Huckleberry Finn


*

Chapter 13: 1982 - 38 b

Chapter Text

*



 

 

* Teenagers in Love *





Lieder und Bilder farbig unterlegt im Kapitel.
Weiterführende Links am Ende.



Vorspann

Wohnung(en) wohl so um 1985.
Vermutlich nicht alles Niebuhrstraße -
aber für den ersten Eindruck.


Google Maps - Niebuhrstr. 38 b


Leichte Triggerwarnung:
* Halluzinationen
* Insekten



 

 

1982 - 38 b




Niebuhrstr. 38 b, Charlottenburg - 27.Oktober


Zm-Zm-Zmmm-ZZZZZZZZZiiiiiiiiiiiiiiii-tschk-am-tschk-am-tschk-am.


Ich schrecke von meiner Matratze hoch und sehe mich einen Moment orientierungslos um. Dann sinke ich zufrieden wieder zurück. Mein neues Zimmer. Da werd ich mich wohl erstmal dran gewöhnen müssen. Die S-Bahn ist gerade mal 200 Meter Luftlinie von unserer WG entfernt.

Draußen ist es noch dunkel. Ich sinke wieder zurück.

DÄÄÄÄNG.

Dieses Mal ist das Geräusch nicht draußen vor dem Fenster. Es kommt vermutlich aus der Küche und vermutlich ist es Bela, der gerade von seinem nächtlichen Streifzug nach Hause kommt und nach was Essbarem sucht.

Es ist immer noch dunkel. Kurz vor sieben verkündet mein Wecker. Ich drehe mich um und versuche, nochmal einzuschlafen. Der Radau in der Küche geht weiter.

Ich bin fast wieder weggepennt, als es auf einmal an der Tür klopft. „Äh, ja?“ Erstaunt setze ich mich auf.

Die Tür geht langsam auf. Darin steht Bela mit einem Teller in einer Hand und einer Kerze in der anderen.

„Happy Birthday to you. Happy birthday to you. Happyyyy Biiiirthday, lieber Farin, happy birthday to youuuuuu!“

Oh. Im ganzen Umzugsstress hab ich es glatt vergessen.

Wir wohnen jetzt seit einer Woche hier zusammen. Die Wohnung war komplett außer planmäßig frei, weil der vorherige Mieter plötzlich einen Job im Westen gefunden hat und Hals über Kopf abgehauen ist.

Viel zum Umziehen hatten wir beide nicht und so war das alles dank Hans VW-Bus schnell organisiert. Es ist schon echt genial jetzt mitten in Berlin zu wohnen – auch wenn Charlottenburg nicht direkt Kreuzberg ist.

„Ey, sorry, ick kann nich backen. Dafür hab ick Eierkuchen gemacht.“ Vorsichtig stellt Bela die Kerze auf den Boden vor meine Matratze und setzt sich auf deren Rand.

„Allet Jute zum 19., wa?“ Er beugt sich vor und gibt mir einen dicken Schmatz auf die Wange, dann drückt er mir den Teller mit gerollten Pfannkuchen in die Hand. „Hau rin! Eener mit Erdbeermarmelade, eener mit Zimt und Zucker und eener mit Apfelmus.“

Meine Kehle ist auf einmal so eng vor lauter Rührung, dass ich gar nicht essen kann.

„Tee hab ick och noch jemacht!“ Bela steht auf und kommt mit einer Tasse wieder. Hm, Pfefferminz. Es riecht so lecker, dass ich jetzt echt Hunger hab. Sie sind nich ganz so wie ich sie von zu Hause gewohnt bin, aber dass Bela sich extra die Mühe gemacht hat ... „Haste keenen Hunger?“ Ich halte ihm einen Eierkuchen hin und er beißt ab, knapp vor meinen Fingern. „Nich mich mitessen“, quietsche ich. Das Gefühl von seinen Zähnen an meinen Fingern blitzt durch meinen ganzen Körper.

„Och, also, wenn ick die Wahl hätte zwischen denen und dir: ick würd dich nehmen!“ Er sieht mich lange an und grinst dabei so unverschämt, dass mir heiß im Gesicht wird. Der Kerl flirtet aber auch echt mit allem und jedem.

Ich esse den Eierkuchen mit Erdbeermarmelade, tut echt gut, was Warmes im Magen zu haben, halte ihn auch Bela hin. „Erstaunlich, dass de so früh wach bist!“

„Hab mir sogar `nen Wecker gestellt“, strahlt er mich an. „Auf sechs Uhr.“ Seine Miene wird tragischkomisch. „Dit is eher die Zeit, an der ick sonst pennen geh.“

Ich denke an die letzten Tage zurück. „Is mir nich entgangen.“

„Is es denn okay bisher ... also, so mit mir zusammen zu wohnen?“ Bela sieht mich fast ein bisschen ängstlich an.

„Hey, na klar. Wobei ich echt nüscht von deinem Nebenjob als Nachteule wusste.“

„Und du bis die Lerche, wa?

„Das du noch so viel Enerjie hast. Oder haste schon gepennt?“

„Nö“, grinst Bela.

Ich muster ihn. „Und was ist mit deinen Augen passiert?“ Die sehen irgendwie ungewöhnlich aus, aber betrunken wirkt er auch nicht. Eigentlich sieht er gerade seltsam normal aus, als würde er gleich ins Büro aufbrechen.

„Och, ick hab mich nich jeschminkt. Um sechs Uhr morjens war ick eenfach zu faul dafür.“

„Muss ick mir Sorjen machen?“

Er lacht. „Quatsch.“

„Wo warste denn heut Nacht?“ Es macht mich schon neugierig, wo er denn ständig unterwegs ist. Ab und zu bin ich ja auch dabei, aber er ist fast jede Nacht unterwegs.
„Ick war bei Pony und Gitti.“

Ich schnupper an seinen Klamotten. Erstaunlich wenig Rauch. „Und ihr wart nich unterwegs?“

„Na, hör mal! Dienstag Nacht?“

„Als ob du Wochentage kennen würdest? ... Sach ma ... Biste eigentlich mit Gitti zusammen?“ Ich überlege, war er nicht eigentlich mit ... „Oder mit Pony?“

„Nö. Die ham dit Beede nich so mit festen Beziehungen. Ick ja och nich.“

„Aha.“ Wie Bine. Sind die alle so in der Szene? Nee, oder? Ich kenn das eher so wie Ecky, der mit seiner Nicole schon drei Jahre zusammen ist.

„Dit is janz jut, um eenfach zusammen Spaß zu haben“, fährt Bela ungerührt weiter, sieht mich dann mit einem Grinsen zu. „Oder zu dritt.“

Mhm? ... Oooh. „Okay ...?“

„Woah. Is dit kalt hier in der Bude.“

„Mhm. Der Kohlenmann war jestern wieder nich da. Ick hoff echt, der kommt heut endlich. Dit wär och `n jutes Geburtstagsgeschenk.“

„Find ick och. Sach ma, haste in deinem Wollpulli jeschlafen?“

„War so kalt.“ Es war sogar bitterkalt die Nacht. Und es ist erst Ende Oktober.

„Ja. Draußen ist Raureif an den Bäumen. Übel, wa? Im Eck war`s och so kalt, dann sind wir zu Gitti umjezogen. Sach ma, kann ick mit unter deine Decke?“ Sehnsüchtig starrt Bela mich an. Ich leg mein Kissen an die Wand und schlage die Decke zur Seite. Bela kriecht darunter und wir lehnen uns zurück.

„Ah. Viel besser. Mann. Ick hoff, dit wir `n jutes Jahr für dich, Jeburtstagskind!“

„Ick och. Dit letzte war ... Na, eigentlich war es echt okay. Bis auf so `n paar Probleme ...“

„Namens Bine?“

Ich nicke. Tut immer noch weh. Unglaublich. Aber längst nicht mehr so sehr.

„Dit tut mir echt leid!“ Bela legt seine Hand auf meinen Arm und kuschelt sich an mich. „Oh, ick bin müde.“ Er schließt die Augen. Vorsichtig hebe ich meine Hand und fahre über seine Haare, die ziemlich struppig sind durch das ständige Färben und Toupieren und den Haarspray. So wie meine auch. Ich streiche ihm noch einmal über den Kopf, höre ein tiefes Brummen und nehme schnell die Hand wieder weg.

„Nich ufhör`n“, kommt es empört von ihm, dann sanfter: „Kannste mich noch `n bisschen kraul`n?“

Seine Haare kitzeln über meine Handfläche, unter dem Haarwust spüre ich seinen Schädel. Er fühlt sich irgendwie klein und verletzlich an in meinen großen Händen. Es rührt mich, zieht warm durch meine Brust. Ich küsse ihn auf die Stirn und er lächelt mit geschlossenen Augen.

„Schön hier bei dir.“ Er kuschelt sich noch mehr an mich.

„Danke für deene Überraschung.“

„Is jelungen, wa?“ Er sieht sehr zufrieden mit sich aus.

„Mhm.“ Ich fahre versunken weiter durch seine Haare, langsam wird der Himmel draußen vor dem Fenster heller und die Sonne wirft die ersten Strahlen zu uns herein. Die Äste sind wirklich weiß von Raureif. In der Sonne glitzern sie wie tausend regenbogenfarbene Diamanten.

Ich nehme mir mein Buch. Gerade lese ich von Ulrike Meinhof den kleinen Aufsatz: Die Würde des Menschen ist antastbar. Meine Augen fliegen über die Worte, aber eigentlich bin ich nicht im Text. Ich lege das Heftchen wieder zur Seite. Ich will gerade gar nicht weg sein, sondern einfach nur hier.


NOVEMBER



Ich stehe schlotternd vor der Badewanne. In dem Scheiß-Aushilfsjob, den ich heute beim Amt zugeteilt bekommen habe, war ich acht Stunden lang in Kellern und Dachböden zum Entrümpeln. Die Kälte hängt in meinen Knochen und ich weiß, sie werden nie wieder warm.

Vor mir in der Badewanne schimmelt seit zweit Tagen der Abwasch vor sich hin. Eigentlich wollte Bela den in Angriff nehmen. Schritt eins war, dass er alles – aus mir absolut unerfindlichen Gründen – in die Badewanne verfrachtet hat. „Zum Einweichen!“, meinte er.

Das „Einweichen“ dürfte nun nach zwei Tagen eigentlich zufriedenstellend erfolgt sein.

„Bela?“, rufe ich auf gut Glück in die Wohnung.

Eine Tür klappt. „Hm? Was is los?“

„Sach ma, unser Abwasch kann sich echt über die erfolgreiche Invasion der Badewanne freuen. Wahrscheinlich gründet er grad `nen eijenen Staat. Aber ick bin jetze echt soweit zur Konterrevolution zu blasen.“

„Okay, okay, okay.“ Mit einem beispiellos missmutigen Gesicht beugt er sich über die Wanne und zieht angeekelt eine Tasse und zwei Teller raus.

Ich seufze. „Komm, ick helf dir.“

„Musse nich.“

„Ja, aber ick würd echt gern baden. Mir is arschkalt.“

Bela packt mich am Hintern und ich springe einen Schritt nach vorn, rutsche fast in einer Wasserlache aus, die von dem triefenden Teller in seiner Hand stammt.

„Also, ick find den jar nich sooo kalt. Eher heiß.“ Dieses Grinsen.

„Mann, mir is echt kalt. Dit war heute wirklich keen Verjnügen. Aber irgendwie muss die Miete ja rein kommen.“

„Komm, ick mach dir `nen Tee, dann waschen wa zusammen ab und dann kannste baden, okay?“

Ich ärger mich noch so einen Moment vor mich hin, dann nicke ich. Bela brummelt etwas über dem Berg von Seifenschaum, der sich im Becken bildet. „Dit is sowas von keen Punkrock. Abwasch is gar nich cool.“

„Nee, der ist sauber. Also, hoffentlich bald.“

„Dit hat echt so den Coolnessfaktor von ... Ach, keene Ahnung. Eenfach keenen. Farin?“ Langsam beginne ich nicht mehr so zusammen zu zucken bei meinem neuen Namen.

„Ja.“

„Wir hätten die Boxen vielleicht besser in der Küche installieren soll`n. Deswejen hab ick dit ja allet ins Bad jebracht. Also, mit Musik würd ick bestimmt öfter abwaschen.“ Er nimmt eine Tasse in die Hand und fährt mit Todesverachtung mit dem Schwamm drüber. „Eenmal hab ick die Mucke in meinem Zimmer so laut gestellt, damit ick hier noch wat höre, da is die olle Pachulke von über uns die Treppe runterjewackelt. Aber ick hab natürlich nich jehört wie se geklopft hat und jeklingelt. Die Musik war ja so laut.“

„Oje.“

„Ja. Dit nächste Mal ruft se die Bullen, meinte sie. Warum können alte Leute nich eenfach schwerhörich sein?“ Er schüttelt genervt den Kopf.

„Komm, ick spiel dir wat auf meiner Klampfe vor!“

„Oja. Mach ma `n Abwaschsong.“


Nach einer Stunde und fünf gescheiterten Versuchen, einen Abwaschsong zu komponieren, ist die Küche blitzblank und ich liege endlich im warmen Wasser.

Oh, nein!!! Es knistert in den Lautsprechern, die neben dem Klo installiert sind. Bitte nicht! Aber natürlich. Es ist jetzt nach acht Uhr abends und Bela putzmunter – im wahrsten Sinne des Wortes. Der Abwasch hat ihm am Ende sogar tatsächlich Spaß gemacht, vor allem mich mit Schaum anzuspritzen.

Überhaupt ist das seine Uhrzeit. Wenn mein Biorhythmus langsam runter fährt, dreht der seine voll auf.

Das Lied, das jetzt aus dem Boxen läuft, ist allerdings eher melancholisch. Irgendeine Liedermacherin aus der DDR, an deren Namen ich mich gerade nicht erinnere.

Das Lied erwischt mich voll aus dem falschen Fuß. Also, das ist natürlich genau der Sinn der Klomusik, aber mir wird echt seltsam, so als wäre mir schlecht.

Ich quäle mich aus der Wanne, öffne die Badezimmertür ein Stück. „Bela?“ Obwohl das ein akustisches Lied ist, hört er mich nicht. „BEEELA!“

„Ja, wat `n nu wieder los? Muss ick noch mehr putz... Woah! Ick wusste nich, dass de `n Publikum für `n Striptease suchst.“

Schnell fische ich ein Handtuch vom Haken. „Dit war nich der Grund.“

„Sicher?“ Bela grinst mich an, seine Augen sind irgendwie hungrig und ich find`s nicht mal unangenehm, so von ihm gemustert zu werden. „Kannste bitte, bitte, bitte aufhören?“ Ick schwenke vorsichtig, das weiße Handtuch vor meinem Schritt.

„Wo wär`n da der Spaß?“

„Ick ... ick kann dit grad nich. Also, dit eene Lied jetz.“

Er sieht mich prüfend an und irgendwas ändert sich in seiner Haltung. „Klar. Keen Problem. Ick hab schon `ne neue Platte im Anschlag.“

„Na, super. Ick freu mich unbändig. Et jibt nüscht besseret als nach `nem langen Arbeitstag schlechte Musik zu hören.“

„Sach ich doch.“

Mit einer schlechten Vorahnung lasse ich mich wieder in das inzwischen deutlich kühlere Badewasser sinken.

Und da geht es auch schon los. Din Daa Daa ...

Egal, alles ist besser als dieses Lieder über Kinder. Ich schließe die Augen und lasse heißes Wasser nachlaufen.



Kino Filmkunst 66, Charlottenburg

Warm. Hier ist es endlich warm. Und wir haben sechs Stunden Spaghettiwestern vor uns. Yeah!

Ich sinke in die plüschigen Sessel. Bela mit einem Seufzer neben mich. „Oh, dit is echt `n Traum!“

Wir hatten wohl gar nicht gemerkt, wie sehr unser kaltes Zuhause uns angestrengt hat.

Die epische Filmmusik von Ennio Morricone leitet den Vorspann ein und ich bin in einer anderen Welt.

Joe, der Fremde, sucht gerade im Lager des mexikanischen Rojo Clans nach dem Gold, als Bela gegen mich kippt. Tja, die Triologie wird er wohl nicht überleben, obwohl er eigentlich auch voll auf diese Western von Sergio Leone abfährt. Keine Ahnung, wie er bei dem ständigen Pistolengeschieße, so seelenruhig pennen kann. Wahrscheinlich war die Nacht wieder recht exzessiv. Es wirkt fast so, als würde er mit so einem Lärm um sich herum, sogar besser schlafen.

Ich bin derweil stundenlang in Clint Eastwood vertieft und die karge Landschaft Mexikos beziehungsweise um Almeria. Der Typ sieht echt verdammt gut aus mit seinem unrasierten Gesicht. Fast bin ich ein bisschen verknallt oder sowas.

Als ich im dritten Teil noch mal pinkeln gehe, erschrecke ich fast vor meinem Spiegelbild, weil es nicht „der Blonde“ aus „Zwei glorreiche Halunken“ ist, sondern der wasserstoffgebleichte Farin.

Nach sechs Stunden Kampf, Halunken und Schießereien rollt der Abspann über die Leinwand. Es ist wohl so zehn Uhr abends und ich jenseits von Hunger. „Hey, Bela! Wach auf!“ Ich rüttel vorsichtig an ihm, aber er pennt selig an meiner Schulter weiter. „Hey, Schlafmütze!“

„Was `n los?“

„Die Filme sind zu Ende.“

„Echt? Schon vorbei?“ Er gähnt. „Au, mein Nacken. Schade. Nächstes Mal geh`n wir in n`Dracula-Nosferatu-Spezial. Da bin ich mit Sicherheit wach. Vielleicht zeigen sie den mit Kinski und der absolut anbetungswürdig schönen Isabelle Adjani. Diese Lippen, diese Augen.“ Er ist wirklich schlagartig wieder voll wach. „Christopher Lee ist auch okay, Hauptsache als erstes den, mit Bela Lugosi.“

„Klar. Aber ... Horror is ehrlich gesagt nich so meins.“

„Wirklich?“ Bela dreht sich zu mir und setzt ein diabolisches Lächeln auf. „Der Fürst der Finsternis ... Niemand kann sich ihm entziehen!“ Bevor ich realisieren kann, was er vorhat, beißt er mir in den Hals.

Ich stoße einen Schrei aus, vor uns drehen sich die anderen drei Leute um, die den Marathon zusammen mit uns ausgehalten haben. Bela ist das vollkommen egal, er saugt genüßlich an meinem Hals und das ist ... unerwartet gut. Ich muss ein Stöhnen gewaltsam unterdrücken.



Niebuhrstr. 38b, Charlottenburg

„Hey, Jan!“ Ein Flüstern. Jemand rüttelt an mir. „Jan?“ Das Flüstern hört nicht auf.

Ich fahre hoch. Neben meinem Bett kann ich in der Dunkelheit eine kniende Gestalt ausmachen.

„Bela?“

„Hey, Jan. Ick hab lauter Tiere in meinen Haaren.“

„Was?“

„Da sind lauter kleine Tiere in meinen Haaren. Die klettern da überall drin rum. Ick hab schon versucht die rauszuschneiden, aber ...“

„Was?“

„Die krabbeln auf mir rum.“ Sein Atem geht schnell.

Ich strecke mich nach der Nachttischlampe und fahre erschrocken zurück. Bela hat eine Schere in der einen Hand und ein paar schwarze Haarsträhnen in der anderen. Sein Gesicht ist wachsbleich und es stehen Schweißtropfen auf seiner Stirn.

„Was is los?“

„Ick sach doch, da sind lauter Tiere in meinen Haaren.“ Er hält mir die Haarsträhnen hin. „Schau!“

„Was? ... Da ist nichts, Bela. Was is um Himmels Willen los?“

„Da sind Tiere ...“ Er rauft sich durch die Haare und die Schere kommt seinem Auge gefährlich nahe.

„Okay, okay, okay.“ Ich versuche, zu erfassen, was los ist, aber ... „Warste unterwegs?“

„Wie unterwegs?“

„Na, als ich von der Arbeit heimgekommen bin, warste nich da. Also, wo warste?“

„Ähm ...“ Immerhin hört er auf an seinen Haaren zureißen.

„Im Sound.“

„Du meinst die Disco?“

„Ja.“

Seine Hand wandert wieder in Richtung seines Kopfes. Ich nehme ihm die Schere aus der Hand und halte seine Finger fest. „Haste was genommen?“

„Was?“ Seine Hand zuckt in meiner.

„Ob du was geschmissen hast, Bela? Ob du Drogen genommen hast?“ Ich sehe ihn eindringlich an und er scheint kurz aus seiner eigenen Gedankenwelt im Hier und jetzt zu landen.

„So `n Trip.“

„Was heißt Trip?“

„LSD.“

„Oh.“

„Ja, aber dit is nich der Trip. Die ham noch nie so wat mit mir jemacht. Jaaan! Da sin wirklich Tiere in meinen Haaren. So schwarze Insekten. Bitte mach sie raus.“

„Okay.“ Ich atme tief durch. Seine Panik greift langsam auch auf mich über. „Ick mach die weg, okay?“

„Danke, Jan, danke.“

„Komm, wir geh`n rüber ins Bad.“

„Da is dit Licht besser, ne? Und nimm die Schere mit.“

Der nüchterne Bela würde mich vermutlich kreuzigen, wenn ich irgendwas an seinen heiligen Haaren mache.

„Die brochen wir nich. Ick ... wasch die raus, ja?“

„Okay.“ Er trottet hinter mir her ins Bad.

Ich hab eine Idee. „Weißte, was am besten dagegen hilft?“

„Nee.“ Er sieht mich hoffnungsvoll an.

„Meine Mutter hat das früher immer gemacht mit ...“ Ich muss improvisieren. In dem kleinen Schrank im Bad suche ich nach etwas, das medizinisch aussieht. Das Desinfektionsmittel. „Hier!“ Ich lasse ihn einen Blick auf die die Flasche werfen, hoffe, dass ich damit nicht noch alles schlimmer mache.

„Aber dit is doch nur Desinfektionsmittel.“

„Ja, klar. Aber die Tiere hassen das. Setz dich mal auf den Rand hier.“ Ich klopfe auf die Wanne.

Er sieht mich fragend an, gehorcht dann aber. Ich schütte mir was von dem, sehr chemisch riechenden, Mittel auf die Hände und beginne es in seinen Haaren zu verteilen. „Aaah. Na, also ...“ Ich lasse meine Stimme sehr fest und ein bisschen euphorisch klingen. „Wußt ick doch, dass Mutterns Hausrezepte immer noch die Besten sind.“

„Ja?“

„Ja. Die können dit nich ab.“

„Sterben sie?“

Was ist da jetzt die richtige Antwort drauf? „Ähm ... Nee. Dit sin ja keene schlimmen Tierchen, ne? Also, dit betäubt die nur. Und dann waschen wir se raus und in den Abfluss.“

„Okay.“ Er atmet auf. Heureka! „Ick gloob, die sin jetz echt ruhig. Aber die sind ja noch immer drin.“ Seine Atmung wird wieder schneller. „Die müssen da raus. Kannste mir bitte die Haare waschen? Ick mag die nich anfassen.“

„Klar.“

„Danke, Jan.“ Bela beginnt sich auszuziehen – und zwar komplett, klettert dann in die Wanne. Schließlich sitzt er splitternackt vor mir.

Ich versuche es nicht komisch zu finden, prüfe die Wassertemperatur der Dusche, mache seine Haare nass und kippe mir was von seinem Schauma-Shampoo auf die Hand. Das bekommt sogar so vollkommen krass toupierte Haare wieder seidig – wenn man es ungefähr fünf Mal drauf macht und sie, noch während es drin ist, durchkämmt.

Es ist wirklich ein wenig seltsam, jemandem die Haare zu waschen, aber Bela gibt ein wohliges Geräusch von sich, dass mir die kalte Angst ein wenig vom Herzen nimmt.

„Dit tut total gut, Jan. ... Sin se jetz weg?“ Er blickt nun wieder leicht misstrauisch auf das Wasser, das in den Abfluss läuft. „Ick seh die gar nich.“

„Die sind voll kleen. Die kannste nich sehen.“

„Wie Läuse?“

„Ja, so wie Läuse.“

„Aber ick hab die uf meiner Hand rumkrabbeln sehen.“ Er dreht sie ungläubig vor seinen Augen hin und her.

„Nee. Wie jesacht, die sind echt winzig. Dit kann eijentlich nich sein.“

„Aber ick hab mir dit doch nich einjebildet. Oder ...  Meenste dit liegt doch am Trip?“

„Ganz ehrlich – ick gloob schon.“

„Oh. ... Ey, tut mir echt leid.“

Mir tut`s auch irgendwie leid, wie er da so bedröppelt in der Badewanne sitzt, aber dieser Allesfresser wirft wirklich auch alles ein, was ihm irgendwelche dubiose Leute in irgendwelchen Spelunken hinhalten.

„Hier!“ Ich gebe ihm ein Handtuch und er wickelt sich darin ein. Er ist wirklich krass dünn, wenn ich ihn so sehe. „Haste Hunger?“

„Oh, nö! Danke. Kann ick bei dir im Bett schlafen?“

„Dit is doch winzig. Besser wir schlafen in deinem, oder?“

„Mhm, ... ick würd lieber noch `ne Nacht warten. ... Also, falls da doch noch so `n paar von den Tieren ...“

Oje. „Okay. Ja, klar.“ Und so liegt Bela auf einmal mit auf meiner Matratze, die auf jeden Fall viel zu schmal ist für uns beide, egal wie dünn er ist.

„Kannste ...?“ Er dreht mir den Rücken zu und ich schließe ihn in meine Arme. „Und mir über den Kopf streicheln? Da sin immer noch so komische Phantomtiere.“

Mist. Ich streiche ihm durch die Haare. Weich und glatt liegen sie an seinem Kopf. Ich glaube, ich habe ihn noch nie so gesehen. Dann fällt mir unser Haveltrip ein. Ich streichel weiter und spüre wie er sich langsam entspannt und wegpennt. Nur ich bin wach und kann mich hingebungsvoll um meine Sorgen über Bela kümmern.


Zm-Zm-Zmmm-ZZZZZZZZZiiiiiiiiiiiiiiii-tschk-am-tschk-am-tschk-am.




Zwei Tage später kommt endlich die Kohlenlieferung. Das Ständige hierher Geschippere von ein paar geliehenen Briketts mit Hans VW-Bus hat ein Ende.

Ich hole sofort mehrere Eimer aus dem Keller hoch und heize den Ofen in meinem Zimmer ein. Zuerst qualmt er grauenvoll, so dass ich lüften muss und es noch kälter wird als zuvor, dann zieht der Kamin endlich.

Zwei Stunden später ist es zum ersten Mal wirklich gemütlich in meinem Zimmer, auch wenn es immer noch nach Rauch riecht.

Ich geh auf die Toilette und entdecke ein paar neue Hefte im dort extra angebrachten Regal. Ein Porno ist dabei. Frauen mit extrem großen Brüsten. Ich blätter es durch. Mhm, nicht schlecht.

Dann entdecke ich noch ein Neues. Ein Comic mit dem Titel „The Adventures of Sweet Gwendoline“.

Oh, wow. Es ist, als ob sich in mir etwas löst und auf die Suche geht. Ich kann es nicht benennen, aber diesen Comic will ich definitiv ganz und in Ruhe lesen. Ich nehme ihn mit auf mein Zimmer.

Ohne zu klopfen steckt Bela seinen Kopf zu meiner Zimmertür rein, hält sich dann die Hand vor Augen. „Ooops!“ Ich höre eindeutig ein Grinsen heraus. „`tschuldige.“

„Maaaann, Bela!“ Ich ziehe schnell meine Hand aus der Hose. „Ey, Alter, kannste nich klopfen.“

„Werd ick ab jetz machen – also, wahrscheinlich.“

„Wat willste denn?“

„Kann ick jetz kieken?“ Er blinzelt zwischen seinen Fingern hindurch. „Oder biste immer noch ... unpässlich?“

„Nee, komm rein. Ick bin jetz eh nich mehr in Stimmung.“

„Oh, dit is aber keen Kompliment für mich. ... Oh, is dit warm bei dir.“ Und - zack! - sitzt er auch schon bei mir auf dem Bett.

„Ick hab überlegt, dass wir an Silvester `ne Party schmeißen sollten. So `ne Einweihungsparty.“

„Okay. Cool!“

„Ja?“

„Ja.“

„Ick wollt wat Besonderet machen.“

„Inwiefern?“

„Na, irgendwat mit Verkleiden oder so ...“ Sein Blick fällt auf den Comic neben meinem Bett. „Ah, der Herr, hat die süße Gwen entdeckt. Scheint dir ja zu gefallen.“ Er sieht mir wenig subtil auf den Schritt, aber da ist nichts mehr zu sehen.

„Wir können auch so `ne richtig schnieke Lack- und Lederparty feiern.“

„Eine was?“

„Na, halt so `n bisschen wat BDSM mäßiges.“

„Was?“

„Oh ...“ Er strubbelt mir durch die Haare. „Die süße Unschuld! Na, Sado-Maso. Hm, da könnt sich noch `ne Welt für dich auftun. Den ersten Schritt biste ja schon gegangen.“

„Ähm, okay.“ Etwas pulsiert in mir, begehrt auf. Es erschreckt, aber lockt mich auch. „Also, dit wär vielleicht nich für alle wat. Keene Ahnung, ob Ecky uf sowat Bock hat. Ick weeß ja selber nich mal wirklich, wat dit is.“

Bela schiebt schmollend seine Unterlippe vor. „Mäh. Na, versteh schon. Ick geb dir mal `n bisschen Lektüre. Du liest doch sehr gerne. ... Hm.“ Bela sieht sich nachdenklich um. Sein Blick fällt auf einen Demo-Flyer, den ich als Lesezeichen für den Gwendoline-Comic benutzt habe. „Na, perfekt. Wir schmeißen `ne Aufrüstungs-Party.“ Bela strahlt mich an. „So um dit neue Jahr im Kalten Krieg zu begrüßen.“

Ich muss lachen. „Ick hab echt keene Ahnung, wo du diese schrägen Ideen hernimmst, aber – okay!“

 

 

*



In der Nacht erwache ich von einem Geräusch. Es war definitiv in der Wohnung. Ist Bela wieder zurück? Ein Schlüsselklirren. Klick. Anscheinend. Nach seinem schlechten Trip war er wirklich mal ein paar Tage zu Hause. War echt schön, aber mir war schon klar, dass das nicht lange anhält. Berlin, die Nacht, die Möglichkeiten locken ihn zu sehr.

Die Haustür. Sie fällt ins Schloss. Laute Schritte im Flur.

Auf einen Schlag bin ich wieder bei Bine in der Wohnung. Mein ganzer Körper wird starr. Kalter Schweiß bricht mir aus jeder Pore.

Meine Ohren sind wie übersensible Abhörgeräte. Alles in mir ist gepolt auf die Aufnahme der akustischen Signale aus dem Flur. Ein Stolpern, ein unterdrücktes Fluchen. Eindeutig Bela. Es klingt so, als wäre er allein.

Ich kann nicht einschätzen, wie sehr er dieses Mal neben der Spur ist, aber dem Stolpern nach zu urteilen, hat er vermutlich wieder ordentlich getankt. Ich hoffe, er hat einen Eimer neben dem Bett stehen.

Sein Bett knarrt, wahrscheinlich ist er einfach drauf gefallen, ohne sich auszuziehen.

Ich drehe mich zur Seite, kuschel mich wieder in die Decke, will weiter schlafen anstatt mir - mal wieder – Sorgen über meinen lieben Mitbewohner zu machen.

Belas Bett knarrt wieder. Hat er doch jemanden dabei? Bisher ist das noch nicht vorgekommen, aber – tja, einmal ist immer das erste Mal. Und bei jemand so promiskuitiven wie Bela war es schon eher verwunderlich, dass er nicht gleich in der ersten Nacht jemanden in unsere WG abgeschleppt hat.

Ein leises Keuchen. Verdammt, vielleicht sollte ich doch nach ihm sehen, ob alles in Ordnung ist. Nicht, dass der Herr Rockstar noch an seiner eigenen Kotze erstickt und es nicht mal in den Club 27 schafft.

Wieder das Keuchen. Dieses Mal tiefer. Das Geräusch erwischt mich seltsam im Bauch. Das ... ist etwas anderes. Krass. Kann man das so gut hören durch die Wände? Aber die Türen schließen auch nicht richtig.

Sein Bett knarrt wieder, lauter. Oje. Ist er doch nicht allein. Doch. Oder? Keine zweite Stimme, kein Gewisper, kein Stöhnen, das von einer Frau kommt. Mein Kopf ist vom Schlafmodus in absoluten overdrive geschaltet.

„Hmmmm.“

Eindeutig Bela. Okay. Das passiert halt, wenn man so nah zusammen wohnt wie wir in unserer kleinen 38 m² Butze. Aber ich mach dann halt Musik an. Er, glaub ich, auch. Wahrscheinlich wollte er mich nicht wecken.

Ich starre in der Dunkelheit an die Wand, hinter der Belas Zimmer liegt. Sein Bett steht direkt gegenüber von meinem - nur getrennt durch diese Wand, kein Meter zwischen uns. Ohne sie könnte ich zu ihm hinüber fassen. Die Straßenlaterne zeichnet die filigranen Silhouetten von Ästen darauf. 

„Mhmmm.“ Das dumpfe, unterdrückte Stöhnen schießt mir mitten zwischen die Beine. Das Blut rauscht in meinen Ohren, durch meinen Körper. Atemlos traue ich nicht, mich zu rühren, als könnte Bela das mitbekommen.

Mein Atem beschleunigt sich mit Belas gedämpften Stöhnen, das haltlos durch meine Nervenbahnen funkt. Ein Ziehen in mir Teil davon zu werden ...

Aber das geht doch nicht. Oder? Was sind die Regeln für sowas?

Belas leises Stöhnen nimmt an Intensität zu. Ich meine ein „Ja“ zu hören und der Gedanke, dass er vielleicht meinen Namen sagt, ist so schnell, dass ich ihn nicht zurückpfeifen kann. Es ist wie Brandbeschleuniger. Meine Decke ist viel zu heiß, mir ist viel zu heiß. Ich ziehe sie ein Stück tiefer.

Ich lege meine Hand auf meinen Bauch, zucke unter meiner eigenen Berührung zusammen. Meine Finger wandern weiter. Ich beiße die Zähne zusammen, bin mir so unsicher, ob es okay ist, wenn ich ...?

Mein Körper gehorcht meinen rationalen Gedanken nicht mehr. Ich schiebe meine Hand in meine Pyjamahose. Oh, fuck. Es ist viel zu okay. Ich hab nicht mal ein Bild vor Augen, lasse mich nur von Belas Stöhnen tragen, das fieberhafter wird, abgehackter.

Ich bewege mich schneller, bin froh, dass ich nur auf einer Matratze auf dem Boden liege - ohne verräterischen Lattenrost.

Auf einmal ist das Bild da. Nein, nicht nur das Bild, das Gefühl ist wieder da. Bela wie er mich im Zelt küsst unter dem Donnergrollen. Fuck. Ich hatte so Schiss wegen dem Gewitter, aber die Atmosphäre zwischen uns war mindestens so elektrisch aufgeladen wie die Blitze.  

Ooohhh. Die Muskeln in meinem Bauch ziehen sich zusammen. Ich halte inne, lausche. Bela gibt kleine Laute von sich, die ich von seinem Mund küssen will. Fuck. Fuck!


Ich will seine Hände auf mir, stell mir vor, meine Finger sind seine. Das hilft viel zu gut. Ich kann nicht mehr aufhören. Das ist der Moment auf der Klippe, kurz bevor es kein Zurück mehr gibt und man fällt. Ich zwinge mich einen Moment innezuhalten, obwohl keine wirkliche Entscheidung mehr möglich ist.

Unkontrolliert entkommt mir ein tiefes Seufzen. Ich presse mir die Hand auf den Mund, bin immer noch zu laut, drehe mich zur Seite, presse mein Gesicht fest ins Kissen, ersticke mein eigenes Stöhnen.

Meine Muskeln ziehen sich zusammen. Der Fall.

Als ich komme, reißt es mich wie eine Welle unter Wasser. Ich traue mich nicht, zu atmen, damit mir kein weiteres verräterisches Stöhnen entkommt. Der Sauerstoffmangel spannt alles noch mehr an, macht meinen Kopf wattig. Ich komme so hart, dass ich kurz die Realität verliere.


Sein leicht schmunzelnder Blick am nächsten Tag sagt mir alles. Mein Ausweichender ihm wahrscheinlich auch.


 Ich weiß, dass er weiß, dass ich es weiß.




Zm-Zm-Zmmm-ZZZZZZZZZiiiiiiiiiiiiiiii-tschk-am-tschk-am-tschk-am.


 

 



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LYRICS

Comedian Harmonists - Du passt so gut zu mir wie Zucker zum Kaffee

Bettina Wegener - Kinder (sind so kleine Hände)

Georg Kranz - Der Trommeltanz

DAF - Ich und die Wirklichkeit
DAF Bild

Depeche Mode - Master and Servant

Depeche Mode - I feel you



Weitere SONGS

die ärzte - Ist das noch Punkrock?
Lyrics



INTERVIEWS

Comics und die Niebuhrstraße
Btw: Robert Crumb verlinke ich nicht. Der ist wirklich sehr speziell.

Interview Sweet Gwendoline

Irgendwann tauchte dann der Comic „The Adventures of Sweet Gwendoline“ von John Willie auf, und daraus sind Lied und Figur entstanden. Ich war riesiger Fan von dem Charakter.

Was fandest du daran so toll?

Farin: Im Prinzip war die ganze Story nur eine Entschuldigung dafür, dass sie ständig gefesselt wird. Derart an den Haaren herbeigezogen! Ich wusste noch nicht genau, was ein Fetisch ist, und dachte, schon komisch, dass sie jetzt schon wieder gefesselt wird.


John Willie - The Adventures of Sweet Gwendoline - Cover



BÜCHER

FUS Top 100 Leseliste

Artikel von Ulrike Meinhof: Die Würde des Menschen ist antastbar, 1962


KINO

Filmkunst 66

Geschichte Filmkunst 66 und Bleibtreustraße

Da ist vor allem das Kino „Filmkunst 66“ zu nennen, bekannt für sein anspruchsvolles Programm. Bis 1993 lag es noch an der Ecke zur Niebuhrstraße und hatte sein besonderes Flair; nach dem lukrativen Verkauf des Grundstückes befindet es sich jetzt einige Meter weiter hinter einer Allerweltsfassade. Gleich daneben, an Nr. 10/11, ist eine Gedenktafel für die Dichterin Mascha Kaléko (1907-1975) angebracht, die dort 1936 bis 1938 wohnte, bevor sie in die USA emigrieren mußte. Kurz vor ihrem Tod schrieb sie in ihrem letzten Gedicht mit dem Titel „Bleibtreu heißt die Straße“:

      Hier war mein Glück zu Hause. Und meine Not.
      Hier kam mein Kind zur Welt. Und mußte fort.
      Hier besuchten mich meine Freunde
      Und die Gestapo.



SPASS

Und zum Schluß noch was Lustiges oder Time Travel.


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Chapter 14: 1982 - Optionen

Chapter Text

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* Teenagers in Love *





Lieder und Bilder farbig unterlegt im Kapitel.
Weiterführende Links am Ende.


Ich musste ein Kapitel teilen.
Deswegen ist dieses ein wenig kürzer.

1982 - Optionen




Niebuhrstr. 38 b, Charlottenburg - 14. Dezember

Ich versuche mich an einem Marmorkuchen. Gar nicht so schwer, hat meine Mutter am Telefon gesagt. Mhm. Vermutlich habe ich die Zutaten ohne Waage falsch bemessen. Jedenfalls ist das Ganze eher Pudding als Kuchen.

„Is doch lecker!“ Bela schleckert das „Kunstwerk“ trotzdem weg. „Außerdem zählt dein juter Wille. Ey, 20! Dit klingt echt alt, wa?“ Er sieht mich etwas verunsichert an.

Ich deute auf seinen Mund, aber er versteht nicht. „Och geht so!“ Ich schnappe mir ein Küchentuch und wische ihm etwas Schokoladen“kuchen“ vom Mundwinkel.

„Menno. Du Arsch.“

Weil ich eh schon stehe, klopfe ich mir demonstrativ auf meinen Hintern und wackle mit den Augenbrauen. „Allerdings. Schick, wa?“

Er leckt sich über die Lippen, wahrscheinlich um zu checken, ob er noch mehr Essen dort verteilt hat.

„Ick fahr nachher nach Spandau. Muss ja auch Schwesterchen gratulieren.“

„Grüß Diana von mir. Is bestimmt schön, wenn da immer jemand ist, der am gleichen Tag Geburtstag hat.“

„Ja, ick mag dit. Aber ... Früher standen wir uns irgendwie näher.“ Sein Blick verliert sich aus dem Küchenfenster hinaus auf die S-Bahn-Strecke. „Keene Ahnung, ob dit anders wär, wenn sie och `n Junge wär oder woran das liegt. Is echt schade.“

„Tut mir echt leid.“ Ich möchte ihn ablenken von seinen trüben Gedanken. „Sach ma, haste Bock am Abend ins Kino zu gehen? Ick lad dich ein.“

Schon ist das Lächeln zurück. „Auf jeden Fall.“

„Was willste denn sehen?“

„Entweder „Tron“ oder „Im Kloster der heißen Nonnen“. Den will ick schon seit zwei Wochen sehen.“

Meine Augenbraue geht hoch. „Hört sich ja interessant an.“

„Soll `ne Erotikkomödie aus Japan sein. Die heißen da Pinku eiga oder so.“

„Mhm. Um was geht`s `n da?“

„Ick hab was von „nunsploitation“ gelesen.“

„Bitte was?“

„Na, Nonnen halt. Besser jeht`s doch nich.“

Wir gehen in „Tron“. Die Story hakt, die Schauspieler*innen auch – aber was für eine Bildgewalt. Heftig. Sehr innovativ. Bela, der am Anfang immer noch seinen Nonnen nachjammert und dass es doch sein Geburtstag ist, kann auf dem Heimweg gar nicht mehr aufhören, über die krassen Bilder zu reden.

„Keen Wunder, ne, wenn da Moebius seine Hand mit im Spiel hatte. Der ist auch eenfach so `n geiler Comiczeichner. Manchmal denk ich, ick hätte dit och machen sollen statt Dekorateur.“

„Woah. Kaum 20 und schon Midlifekrise?“

„Quatsch, aber et jibt eenfach so viele coole Sachen, die man machen kann. Wie soll man sich denn da entscheiden? Du könntes jetz och an der UdK sein, wenn se damals deene Mappe anjenommen hätten.“

Stimmt ...

„Nee, ick broch eenfach viel Abwechslung. Is doch schade, sich nur im Leben nur uff eene Sache festzulegen. So wie die Ollen.“

„Mhm. ...“ Der Gedanke dreht in meinem Kopf seine Runden, aber ich komme nicht wirklich zu einem Ergebnis. Irgendwie hat er schon recht. Ich könnte mich auch nicht entscheiden zwischen Reisen und Musik machen.  


Senheimer Straße 44, Frohnau - 24. Dezember

Ich weiß schon, warum ich Weihnachten hasse. Keine Ahnung, warum „das Fest“ es mir jedes Mal Jahr wieder beweisen muss. Es ist wie eine uralte Schallplatte, die auf Wiederholung läuft. Manche Texte von Gerd kann ich in schon vorausahnen, mitsprechen, mit anderen überrascht er mich wie ein linker Haken.

„Also, dieser Bela, mit dem du jetzt zusammen wohnst, was ist das eigentlich für einer mit seinen geschminkten Augen? Und wie dünn der ist – wie ein Junkie.“ Das Wort steht in roten Lettern über dem festlich gedeckten Tisch, auf dem die traditionelle gebratene Gans trohnt, von der ich nichts essen werde.

„Du weißt doch, dass Jan keine Drogen nimmt.“ Meine Mutter sieht Gerd ermahnend an.

„So? Weiß ich das? Also, wenn der Lebensstil von diesem Typen mal nicht abfärbt. Der nimmt doch mit Sicherheit Haschisch, wenn nicht Schlimmeres.“

„Was ist Haschisch?“ Julchen sieht mich mit großen Augen an.

Ich weiß nicht, was die beste Taktik ist.

„So, etwas Ähnliches wie Alkohol, Julia“, sagt meine Mutter. „Nur das man das wie eine Zigarette raucht.“

Gerd baut sich in seinem Stuhl zu dem Patriarchen auf, der er gerne wäre.

„Iiih, Zigaretten“, quietscht Julchen und hält sich die Nase zu.

„Genau.“ Meine Mutter sieht sie mit einem ruhigen Lächeln an und ich hoffe, das Thema ist damit vom Tisch.

„Und von was bezahlt ihr eigentlich die Miete? Arbeit hat ja keiner von euch beiden. Der dealt doch nicht etwa, dieser Bela, oder?“

Wenn ich jetzt aufstehe, denn im Gegensatz zu allen Jahren davor kann ich jetzt wirklich gehen, nach Hause fahren, dann eskaliert das Ganze komplett und das weihnachtliche Familiendrama ist mal wieder perfekt. Ich will es Julchen nicht antun und so stelle ich mir ein Ultimatum von zehn Uhr, bleibe schweigend sitzen und kaue die vegetarischen Beilagen.

Nach dem Singen, zu dem ich mich über die Maßen zwingen muss, dem Geschenke austauschen, bei dem zumindest Julchen sich von Herzen freut und mir meine Mutter dringend benötigte 100 Mark zu steckt, ohne das Gerd es mitbekommt, ist es endlich Zehn und ich breche auf. Nein, ich möchte nicht hier schlafen. Vielen Dank und ja, ich komme übermorgen natürlich auch noch mal vorbei, wenn Oma und mein Onkel hier sind.

Ich bin kurz davor Bela bei seinen Eltern in Spandau anzurufen, aber es wäre wohl schon etwas dreist die jetzt am Heiligen Abend zu stören, wir sehen uns ja eh ständig.

In der S-Bahn sitzen zum Glück nur ein paar weitere einsame Gestalten wie ich, dann nur noch ein paar Blocks laufen. Ich biege an der Filmkunst 66 in die Niebuhrstraße ein. Ich trau mich nicht zu hoffen, dass Bela zu Hause ist. Warum sollte er? Wenn er nicht in Spandau ist, dann ist er mit Sicherheit irgendwo feiern.

Aus den großen Sprossenfenstern der prächtigen Altbauten leuchten immer wieder Weihnachtsbäume mit brennenden Kerzen und glänzenden Kugeln zu mir hinaus. Von der Straße aus betrachtet, wirkt es richtig schön und in mir steigt ein Gefühl hoch, als sollte ich dort klingeln. Einfach still dabei sein und mitbekommen wie eine „richtige“ Familie, so eine aus der Werbung, Weihnachten feiert.

Als ich die Wohnungstür aufschließe, ist natürlich alles still. Aber immerhin noch relativ warm. Ich seufze und ziehe meine Schuhe aus, hänge den großen Mantel an die Garderobe.

Auf einmal geht eine Tür neben mir auf und Bela steht mit verstrubbelten Haaren im Türrahmen.

„Wat machst du `n hier? Ick dachte, du wärst in Spandau. Oder Kreuzberg.“

„Ick hab`s verpennt.“ Er sieht betreten auf seine Füße.

„Wat hast de verpennt?“

„Weihnachten.“

„Ernsthaft?“

„Na, ick war jestern noch so lange unterwegs, Vorfeiern mit Gitti. Als meene Mutter dann um acht anjerufen hat, wo ick bleib, da ... Ick hab jelogen und jesacht, ick hätt janz schlimm Magen-Darm.“

„Ernsthaft?“ Ich weiß echt nicht, was ich davon halten soll. „Mann, ...“

„Ja, ja. Ick weeß schon. „Mann, Bela!“,“ ahmt er mich recht trefflich nach.

In mir steigt ein Lachen hoch. Was für`n Typ. Eigentlich macht er das genau richtig und vor allem – er ist hier. Auf einmal ist mir doch ein wenig weihnachtlich. „Hey, haste Lust auf heiße Schokolade und Plätzchen? Meine Mutter hat mir welche mitgegeben.“

„Au ja!!!“ Bela klatscht begeistert in die Hände und hüpft vor mir herum wie Julchen, bevor es Geschenke gab. Ich drücke ihm eine Dose in die Hand. Er öffnet sie und riecht daran. „Mhmmmm. Leeeeecker! Lass uns zu mir gehen. Da is et richtig mollig warm.“

„Super. Ich mach noch schnell Kakao.“

Mit zwei dampfenden Tassen gehe ich schließlich hinüber zu Bela und bleibe im Türrahmen überrascht stehen. Er hat ein paar Kerzen angezündet und sein, zum Teil schwarz gestrichenes, Zimmer sieht jetzt direkt feierlich aus.

Bela hat es sich in seinem Bett gemütlich gemacht, woanders kann man in seinem Zimmer auch nicht wirklich sitzen. Ich reiche ihm einen der Becher und kletter zu ihm in sein riesiges Bett, das fast den halben Raum einnimmt.

„Danke, Jan. Dit is echt schön einfach mit dir zu feiern.“

„Find ick och. Gerd war mal wieder ...“ Ich will nicht an den Kerl denken, nicht hier. Ich lehne mich an Bela und lege meinen Kopf auf seine Schulter.

„Na? So kuschelig heut?“

„Mhm.“

„Allet okay bei dir?“ Er dreht vorsichtig seinen Kopf und sieht auf mich herunter.

„War mal wieder nich so jroßartig zu Haus“, murmel ich an seiner Schulter.

„Dit tut mir echt leid.“ Er streicht über meinen Arm. Es ist schön, ihn so neben mir zu haben.

Ich schmiege mich noch ein Stück näher an ihn. „Und außerdem ... Vor `nem Jahr da ...“

Ich kann fast fühlen, wie er nachdenkt. „Da wir dit Konzert im SO, ne? ... Oh. Da ham wir Gitti und Bine zum ersten Mal jetroffen ...“

„Mhm.“ Treffer! Versenkt! Meine Kehle wird super eng und ich will das nicht, aber der Abend war lang und schrecklich und jetzt ist er auf einmal schön und alles wirbelt so schnell und seltsam in mir durcheinander.

„Hey, hey, hey!“ Bela zieht mich fest an sich, küsst mich auf den Kopf, beugt sich vor, küsst mich auf die Stirn, auf die Wange.

„Jenau“, presse ich heraus. Das SO ... Auf einmal bin ich wieder im Herrenklo, in der Kabine mit Gitti und Bela. Ich drehe langsam mein Gesicht zu ihm. „Und wir ...“ Bela ist ein bisschen verschwommen. Ich wisch mir über das Gesicht.

Er setzt sich vorsichtig ein bisschen aufrechter hin, beugt sich dann vor mich. „Wir ...?“ Er sieht mich fragend an. Sein Blick wandert zwischen meinen Augen hin und her.

„Wir haben das gemacht.“ Ich hebe meinen Kopf ein Stück und küsse ihn leicht auf den Mund.

Ein erstaunter Blick, dann ein Lächeln und ein gebrummtes „Hmmm. War schön ... Ist schön.“

Ich küsse ihn nochmal, lasse meine Lippen länger auf seinen liegen. Ich will einfach nur das, nicht das Wilde von damals, obwohl die Erinnerung daran bunte Wirbel in meinem Bauch zieht. Ich löse mich vorsichtig wieder von ihm. Er schmeckt nach Kakao und Plätzchen.

„Mmmm.“ Bela öffnet seine Augen, sieht mich prüfend an. „Willste das grad wirklich, Jan? Deine Küsse ... Sie sind so ... traurig?“

Das ist ein sehr treffendes Wort. „Bin ick och, aber is schön mit dir. Können wir einfach so ...?“ Ich schmiege mich an ihn, küsse ihn nochmal, nur leicht.

„Klar“, flüstert er in mein Ohr.


27. Dezember

„Es schneit.“ Ich freu mich so über die Flocken vor dem Fenster, die das graue Winterberlin zu decken. Es war die letzten Wochen eisig kalt, aber kein Flöckchen, nur Raureif. Ich muss das jetzt sofort mit jemandem teilen.

Ich gehe hinüber in Belas Zimmer. Alles dunkel und still. Naiv. Natürlich pennt der noch. Ich gehe vor seinem Bett in die Knie. „Bela!“ Ich rüttel ihn vorsichtig an der Schulter. „Hey, es schneit. Schnee, Bela!“

„Mrrmmhmhhwas? Brennt`s?“

„Nee, es schneit.“

„Echt?“ Ein Auge geht im Dämmerlicht auf, dass vom Flur in seine Gruft fällt.

„Ja, schau.“ Ich ziehe die dicken, schwarzen Vorhänge auf.

„Chhhhhhh!“ Er faucht wie eine Katze. „Bist du wahnsinnig? Was wenn ick jetz zu Staub zerfall?“

„Quatsch. Siehste! Du sitzt sogar schon aufrecht.“

„Ja, vor Schock!“

„Guck, doch ma. Bitte!“

„Mrrrrrmm.“ Er schlägt seine Decke zurück und schlurft zu mir ans Fenster. „Ooooh!“

Der ganze Hinterhof ist ein weißes Winterwunderland. Auf den Ästen türmt sich der Schnee zentimeterdick wie Wolken. Eine S-Bahn zingt vorbei und eine Amsel fliegt empört auf. Vom Ast rieselt ein glitzernd-weißer Wasserfall aus Eiskristallen hinunter. Und immer noch fallen dicke Flocken. In mir breitet sich absoluter Friede aus.

„Normalerweise würd ich dich mit fünf Peitschenhieben für die Weckaktion bestrafen, ick hoff, dit weeßte. Aber ... heut bin ick mal generös.“ Er lehnt sich an mich und ich lege ihm einen Arm um die Schultern. „Is echt schön!“


29. Dezember

Heute scheint die Sonne von einem blitzblauen Himmel. Der Schnee ist verweht. Oder als graue Masse an den Straßenrand geräumt worden.

Ich lese ein Kapitel von Thoreaus „Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat“, als um eins Belas Zimmertür aufgeht. „Seit wann bist du denn so früh wach?“

Bela grunzt etwas, dass ich als „kannnichmehrschlafen“ entziffere.

Nach zwei Seiten Thoreau und einer zweiten Tasse Kaffee für Bela spricht es dann wieder in ganzen, verständlichen Sätzen.

„Diana sagt, der Wannsee is komplett zujefroren. Sie und ihr Freund sin von Kladow bis rüber zur anderen Seite jeloofen. Über den See.“ Bela reißt so ungläubig die Augen auf, dass ich grinsen muss. „Wollen wir dit heute och machen?“

„Ay, ay, Herr Amundsen. Haste überhaupt passende Klamotten für so `ne Expedition?“

Bela wirft einen Blick in den Flur. Dort liegen diverse spitze Schnallenschuhe durcheinander, an der Garderobe hängt seine Lederjacke. „Hmmm. Damit werd ick wohl elendig erfrieren. Oh, nein ... Der Südpol kann doch nich unentdeckt bleiben von uns beeden.“

„In meenen Schuhen kannste wohl eher über`n Wannsee schippern als schliddern.“ Ich stimme „Jetzt fahr`n wir über`n See, über `n See“ an und mache dazu passende Ruderbewegungen bis Bela mich gar nicht mal so sanft auf die Schulter knufft. „Ehrlich, die sin dir unjefähr eineinhalb Meter zu groß.“

„Ja, ja. Schon jut. Ick gloob, ick hab irjendwo im Schrank noch so richtig fies unattraktive Winterschuhe.“

„Jut. Und ick kann dir eenen von meinen Wollpullis leihen.“

Als Bela schließlich in einem Wollkleid vor mir steht, versuch ich echt mir das Lachen zu verkneifen, aber es prustet trotzdem aus mir heraus. Mein Pulli geht ihm fast bis zu den Knien. Er will beleidigt seine Arme verschränken, bleibt aber in den zu langen Ärmeln hängen. „Komm, ick helf dir“, biete ich ihm an und krempel sie am Bündchen ein Stück zurück.

Er erträgt es mit stoischer Miene. „Zufrieden, Mama?“

„Nee, du brauchst och noch `ne vernünftige Jacke.“ Ich halte ihm meinen alten Bundeswehr-Parka hin.

„In dit Mottending kriechste mich nich mal tot rein.“

„Tja, und dit könnte schneller der Fall sein, als de kieken kannst. Dit Thermometer auf meim Balkon sacht minus 7. Und uf`m See is et bestimmt noch weniger.“

„Mann.“ Mit Todesverachtung greift er nach meinem Parka und schlüpft hinein.

Ich halte mir eine Hand vor den Mund, um mein Grinsen zu verdecken. Er sieht echt süß aus in den viel zu großen Klamotten und dem genervten Gesicht.

Ich halte ihm eine Mütze hin.

„Nee, irgendwo is Schluss. Ick hab och noch `n bisschen Stolz.“

„Aber Handschuh werden angezogen.“ Ich komm mir echt wie Muttern vor.


Die S-Bahn hat natürlich Verspätung, bringt uns dann aber direkt hinunter an den Wannsee.

„Wuaaaahhhhh!“ Bela setzt nach mir den ersten Schritt auf die zugefrorene Fläche, wedelt mit den Armen, packt mich an meinem Mantel und wir landen beinahe beide auf der Schnauze. „Scheiße, ist das glatt.“

Vor uns ziehen ein paar Schlittschuhläufer*innen elegant ihre Kreise, weiter rechts von uns fegen ein paar Kinder über das Eis und spielen eine Art Hockey mit Eisklumpen und Ästen.

Bela krampft sich immer noch an meinen Arm. „Von Schlittschuhen hat Diana nüscht jesacht“, murrt er.

„Vielleicht war`s da och nich so rutschig. Durch die Sonne schmilzt dit wahrscheinlich `n bisschen an und friert dann wieder.“

„Hört sich nach einer plausiblen Erklärung an, Professor Urlaub! Und wat machen wir nu?“ Er lässt mich los und schliddert ein paar Meter weiter. Mit der Technik geht es tatsächlich einigermaßen und wir schaffen es ein paar hundert Meter weit auf den Wannsee hinaus.

„Ick gloob, jetz hab ick den Boooooooo... Aaaaauuu!!!“ Es sieht fast elegant aus, wie er wegrutscht und hinknallt. „FUCK!“

Ich schlidder zu ihm rüber. „Tut`s weh?“

„Nee, allet jut. So, wie ick einjepackt bin, könnt ick och als Crashtest Dummy arbeiten.“

„Na, dann is ja jut.“ Ich halte ihm die Hand hin und versuche ihm auf zu helfen, finde mich stattdessen auf ihm wieder. Auf einmal ist sein Gesicht nur ein paar Zentimeter von mir entfernt.

„Uffff!“ Er blinzelt zu mir hoch. „Alter, du bist gar nich ma so leicht.“

„`schuldige. Ich wollt dir nur hoch helfen.“

„Na, die Mission war ja extrem erfolgreich.“

Ich wälze mich von ihm runter, aber bleibe rücklings auf dem Eis liegen. Der blaue Himmel über mir wirkt endlos. Keine Häuser, die den Horizont begrenzen. Kein Motorenlärm. Fast erinnert es mich an die Wüste in Tunesien.

Bela klappt unter seinem Kopf die Kapuze des Parkas über seine Haare. Ist wohl doch ein bisschen kalt, dann rutscht er ein Stück näher an mich heran. „Is fast wie Major Tom, nur das wir nich die eenzijen Menschen im All, sondern auf der Erde sin.“

„Fändeste dit schlimm?“

Er dreht sich zu mir, streicht mir über die Wange. „Janz ehrlich? Ick bin nich so wie du. Ick gloob, du kanns och eenfach monatelang allein sein, aber ick – Ick lieb dich, Jan. Echt! - aber ick broch mehr Leute um mich herum.“

„... Ick weeß.“ Es tut weh, diffus, wie ein blauer Fleck. Wenn man nicht drauf drückt, merkt man gar nicht, dass er da ist. Hat er sich so gefühlt, als ich einfach im Sommer abgehauen bin?




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LYRICS

Bela B und Peta Devlin - Wenn das mal Liebe wird - Küchensessions
Lyrics

Spandau Ballet - Gold

Mutter - Und die Erde wird der schönste Platz im All


LEKTÜRE

Thoreau - Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat


KINO

Trailer - Tron, 1982




Das Schönste zuletzt - ein gif!




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Chapter 15: 1982 - Pershing

Chapter Text

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* Teenagers in Love *





Lieder und Bilder farbig unterlegt im Kapitel.
Weiterführende Links am Ende.



1982 - Pershing





Niebuhrstr. 38 b, Charlottenburg - 31. Dezember



„Also, heut ufräumen is doch voll für die Katz! Dit wird eh nur allet wieder schmutzig.“

Ich sehe mich in unserem kleinen Chaos um. „Hm. Ick weeß nich. Dit wird ja och nich direkt besser, wenn da jetze alle durchtrampeln, ne?“

„Och, komm. Lass lieber die Reagan Bilder aufhängen und ick hab uns `n kleenet Banner jezeichnet:“

Bela läuft hinüber in sein Zimmer. Auf schwarzem Tonpapier hat er eine ziemlich treffende Karikatur von Reagan skizziert, der auf einer Pershing reitet. Daneben steht in explodierten Lettern „Bombenstimmung in West-Berlin“.

„Das sieht echt geil aus, Bela!“

Er grinst stolz. „Nee?“

„Ja. An dir is echt `n Zeichner verloren gegangen.“

„Na, kommt ja vielleicht noch. Mit irgendwat muss ick ja meen Anteil an der Miete reinkriegen. Oder ick muss meinen süßen Arsch am Zoo verkoofen.“

Ich seh ihn wohl so entsetzt an, dass er meint: „Mensch; Farin. Dit mach ick doch nich. Komm, lass uns ma partyfit machen.“

„Okay? Und wat willste machen?“

„Na, halt so `n bisschen schick. Ey, es is Silvester.“

Das ist mir schmerzhaft bewusst.

Bela kramt in seinen Schminksachen herum. „Zuerst wollt ick mir `n Fadenkreuz auf die Stirn malen, aber dann fand ick dit doch `n bisschen den Stimmungskiller. Jetz mach ich mir so Silberglitzer druf.“

„Okay.“ Amüsiert betrachte ich Bela, wie er sich vor unserem Spiegel im Bad stylt.

„Willste och wat?“

„Ähm ...“

„Na, komm. Wir als Gastjeber müssen schon für `n bisschen Stimmung sorgen. Schließlich soll dit abjehn wie `ne Rakete.“

„Wie `ne Pershing, wa?“

„Jenau. Oder `ne Atombombe. Ick hab mir schon überlegt, ob ick mir „Enola Gay“ auf die Wange schreiben soll.“ Er sieht zu mir. „Vielleicht doch zu geschmacklos.“

„Würden die Leute in Hiroshima und Nagasaki wahrscheinlich schon so sehen.“

„Dacht ick dann och. Deswegen hab ick vor allem an der Musikauswahl für heute abend gearbeitet. Alle Lieder haben was mit Krieg und Bomben zu tun. Dit lassen wir dann über die Kloanlage loofen.“

„Sehr erbaulich.“

„Na, dit war doch die Idee.“ Er sieht mich enttäuscht an. „Oder?“

„Ja, doch. Klar.“ Manchmal haben wir echt seltsame Ideen, merke ich so im Rückblick auf unsere Einladung.

„Und wir machen uns so auf Reagan Style total schick, so mit Anzug und Krawatte.“

„So wat hab ick jar nich.“

„Oh, schade. Dit wär bestimmt schick jeworden.“

„Schon. Aber da kotzt dir dann eh nur eener druff.“

„Ick seh, du bist schon voll in Partystimmung.“

„Haha.“

„Och, Farin!“ Er tänzelt zu mir hinüber und kneift mich in die Wange.

„Alter! Aua!“

„Komm, zieh `n bisschen mit. Ick hab mich so auf die Party jefreut.“ Er klimpert mit den Wimpern und schon hat er mich wieder zum Lachen gebracht.“

„Ick hab mir och `n paar jute Namen für die Getränke überlegt. Wenn du `nen Jacky Cola willst, dann kannste „Little Boy“ mit nur einem Schuss bekommen oder einen „Fat man“ mit `nem doppelten Jacky.“

Ich nicke. Meine Expertise in Bezug auf Alkohol bezieht sich eher auf die Ausdünstungen und Ausscheidungen von Betrunkenen. Eine meiner großen Hoffnungen für heute Abend ist, dass uns keiner in die Wohnung kotzt.

Bela ist jetzt bei den Haaren angelangt. Natürlich müssen auch die nochmal ordentlich durchtoupiert werden. Als er den Haarspray zückt, hechte ich zum Fenster und reiße es auf.

Ich kann nicht genau sagen, ob es die Vorfreude ist oder ob er schon was eingeworfen hat. Ich fühl mich, als würd ich neben einem Atomkraftwerk stehen, so aufgeladen ist der Gute. „Weeßte eijentlich, wer so kommt?“

„Also, ick hab `n paar Freund*innen einjeladen. Und die wollten och noch `n paar mitbringen. Keene Ahnung, könnten schon so fuufzich Leute wer`n.“

„Wie soll`n die hier rin passen in unsere 38 m²?“

„Na, wird halt jemütlich.“

„Allerdings. Und ick hoff wir ham jenuch zu trinken da für die Bande, sonst blasen die noch zur offenen Revolution.“

„Mhm, blasen. Hört sich ja nich so schlecht an.“

„Denkst du eigentlich jede einzelne Minute deines Lebens nur an Sex?“

„Nich jede! Jetzt mach dir bitte keene Sorgen wegen heute Abbend. Die bringen och selbst wat zu Trinken mit. Und wahrscheinlich werdn dit keene fuufzich. Is ja Silvester und somit dit Alternativprogramm echt riesig. Wenn hast du denn einjeladen?“

„Ick hab Ecky und Harry Bescheid gesagt. Hans klar. Und Hussi und Roman.“

„Ah, cool. Die hätt ick beinah verjessen, die ollen Knalltüten.“

In dem Moment klingelt es an der Tür. Ecky und Nicole stehen draußen.

„Hey, schön, dass ihr da seid.“ Ich umarme die beiden.

Wir setzen uns in mein Zimmer. „Und wie jeht`s euch so? Wie is das Zusammenwohnen?“

„Super.“ Nicole strahlt mich an und streicht Ecky über den Arm, der sie anlächelt.

„Cool. Das freut mich für euch.“

„Wie is es bei dir und Bela?“, fragt Ecky.

„Och schön. So richtig oft seh ick den tatsächlich gar nich. Entweder er is unterwegs oder ick bin arbeiten oder er pennt oder ick penn. Wir ham echt komplett andre Lebensrhythmen.“

„Das is bei uns nich so, oder, Schatz?“ Nicole sieht Ecky nachdenklich an.

„Nee. Wir sehen uns ziemlich viel.“

„Sag mal, Jan, wo ist den bei euch das Bad?“

Ich zeige es ihr. Kaum bin ich zurück im Zimmer, sieht Ecky mich beschwörend an. „Ey, ich wollt das nicht vor ihr sagen, weil – Du weißt, wie sehr ich diese Frau liebe! – aber: Wir sind wirklich immer zusammen. Vielleicht hast du ja gemerkt, dass wir uns kaum mehr sehen.“

Ich nicke. Ja, ist mir aufgefallen, aber tatsächlich hatte ich da mehr die Schuld bei mir gesucht.

„Ich mag das total gerne neben ihr einzuschlafen und aufzuwachen. Und auch ansonsten – sie ist einfach toll. Auch nach drei Jahren noch.“

„Ick hör ein echt lautet „Aber“ ...“

„Ja, also, wie soll ich das sagen? Es ist, als müsste ich morgens, mittags, abends Schokolade essen. Irgendwann ist es einfach ein bisschen zu viel des Guten.“

„Oh, ick wußte nich, dass ihr Probleme habt.“ Ich kann das gar nicht leiden, wenn es bei dem Traumpaar Stress gibt. Viel gab es bisher auch nicht, aber Eckys Andeutungen bleiben gerade verdammt effektiv in meinen Hirnwindungen kleben.

„Haben wir ja nicht wirklich, aber manchmal weiß ich nicht, ob das so eine gute Idee war, so jung schon zusammen zu ziehen. Was wenn unsere Beziehung das nich überlebt? Weil ich will mit ihr echt alt werden, aber ob das so klap ...“

Die Tür geht auf und Nicole ist wieder da. „Na?“ Sie setzt sich wieder zu uns auf den Boden. Wir sehen uns an und schweigen. Sie scheint zu merken, dass sie wohl gerade Thema war, fragt aber nicht nach.

Um die seltsame Stimmung zu ändern, frag ich Ecky, wie es so mit Reiseplänen aussieht für 1983.

Er sieht mich dankbar an. „Hättste mal Bock auf Griechenland diesen Sommer? Und vielleicht rüber in die Türkei. Oder Ägypten.“

„Absolut!“ Auf einmal habe ich ein viel euphorisches Gefühl dem neuen Jahr gegenüber.

„Wie lange wollt ihr denn wieder unterwegs sein?“ Nicole legt ihre Hand auf Eckys Arm.

„Na, so zwei Monate, oder?“ Unsicher sieht Ecky von mir zu Nicole und zurück.

Ich nicke. „Ja. Mindestens.“

„Klingt gut.“ Sie legt kurz eine Hand auf Eckys Arm. „Letzten Sommer war`s ja auch echt doof wegen dem Umzug, nee? Du musstest viel zu früh abbrechen und warst nur knappe zwei Wochen unterwegs.“

„Also, ist das okay?“

„Klar. Ich weiß doch, wie wichtig das dir – also, euch beiden ist.“

Ecky zieht sie an sich und küsst sie liebevoll auf die Wange. Hinter ihrem Rücken zuckt er mit den Schultern so nach dem Motto „Wie kann man sie nicht lieben?“

„Ich hab überlegt, ob ich nicht auch mal mit Steffi wegfahren soll. Nach Schweden oder Schottland.“

„Klar. Hört sich super an.“ Ecky wirkt direkt stolz auf seine Freundin und mir tut es echt gut zu sehen, dass bei den beiden wohl doch das Meiste in Ordnung ist. Ich brauch erstmal nichts mehr, was in Richtung feste Beziehung geht, aber es ist gut zu wissen, dass sowas überhaupt existiert und möglich ist.

Laute Stimmen im Treppenhaus, dann klingelt es an der Tür.

„Kannst du ma aufmachen, Farin?“, brüllt Bela aus dem Bad. Ist der immer noch nicht fertig?

Pony, Gitti und Tessa stehen draußen.

Gitti kommt als Erste herein und sieht sich fragend um. „Warum is et denn hier noch so ruhig?“ Gitti schaut in die anderen Räume. „Nee. Nee, oder? Sind wir echt die Ersten?“ Geflissentlich übersieht sie Ecky und Nicole, die zum Gruß die Hand haben. „Boah, dit is ja peinlich.“

„Nee, also, ihr seid nich die Ersten. Das sind Ecky und Nicole.“

Gitti wirft einen Blick auf Ecky in seinem gestreiften Sweatshirt und Nicole mit ihrer Dauerwelle und winkt ab. „Die zählen nich.“

„Sach ma ...“ Ich packe sie am Ellbogen und will sie und ihre große Klappe mal kurz vor die Wohnungstür entführen. Niemand beleidigt Ecky. Manchmal nervt mich Gitti echt – im Gegensatz zu Bela. Der ist ständig mit ihr unterwegs.

Aber da hat Bela seinen Auftritt. „Hello Ladies!“ Er küsst Gitti und Pony.

Oh, wow! Er hat ein schwarzes Hemd mit weißen Totenköpfen an, dessen Ärmel er über seine Oberarme hochgerollt hat. Seine Haare hat er zur Tolle festgesteckt – fast ein bisschen Teddylook, ein bisschen Elvis, aber steht ihm. Vor allem der Glitzer bricht das auf eine sehr interessante Art wieder. Gerade erkenn ich ihn gar nicht so richtig wieder – er wirkt fast wie ein anderes Wesen.

Ich bin so aus dem Konzept gebracht, dass Gitti mir entkommt. Sie knallt zwei Flaschen Wodka auf den Küchentisch und drückt dann Bela eine weitere Flasche mit rotgoldener Flüssigkeit in die Hand. „Hier! Jacky! Extra bei Bolle für dich eingeklaut.“ Sie küsst Bela auf die Wange. „Voll die geile Idee mit der Pershing-Party. Ick hab och wat dabei dit ordentlich knallt.“ Sie sieht zu miir, senkt ihre Stimme und beugt sich ein Stück näher zu Bela, als ob ich das dann nicht hören könnte. „Dit machen wir wohl besser später.“

Ich hab definitiv meinen Ruf in der Szene weg. Jan, der Spießer. Der ist witzig, schlagfertig und – hab ich auch schon gehört – gut aussehend, aber - spießig. Wie die Diagnose einer unheilbaren Krankheit. Manche sind richtig krass, als könnte ich sie damit anstecken.

Manchmal reißen mich die Betrunkenen und Verdrogten in ihrer euphorischen Stimmung mit. Vor allem bei Bela klappt das immer wieder hervorragend, bis zu dem Moment, in dem er nur noch komplett drüber oder durch ist.

Manchmal bemühe ich mich bewusst, mitgerissen zu werden und nach so ein paar Minuten funkt das dann oft auch.

Und wenn nicht, dann ... Manchmal täusche ich es einfach vor. Das schaffe ich meistens aber nur so ein, zwei Stunden, dann kann ich nicht mehr lachen und grinsen ohne, dass ich mich wirklich so fühle.

Ich versuche, die dunklen Gedanken wegzuwischen. Das ist eine Party. Da soll man fröhlich sein und feiern, also Grinsen aufsetzen.

Gitti flüstert Bela was ins Ohr und schon ist sie mit ihm und Pony entschwunden.

Vielleicht doch ganz gut, dass das alles mit Bine in die Brüche gegangen ist. Die beiden sind sich schon auch ähnlich, beste Freundinnen halt. Immerhin waren sie nicht so pietätlos, Bine auch gleich noch mit hierher zu schleppen, so wie beim ersten Konzert der Ärzte.

„Ihr habets ja echt hübsch hier.“ Tessa steht immer noch bei mir im Flur und betrachtet unsere kleine Wohnung. Ja, sie ist echt irgendwie charmant. Genauso wie Tessas Akzent. Ich bekomme wieder bessere Laune und lade sie in mein Zimmer ein, stelle ihr Ecky und Nicole nochmal richtig vor.

„Isch auch nett hier in Charlotteburg. Aber echt andersch als in Kreuzberg.“

„Findeste dit denn jut, da im Eck zu wohnen?“

„Ja, total. Ich mag desch echt gern. Also, manchmal vermiss isch a bissele mei Zuhaus, aber d`Leut im Eck habet echt a gudde Vision von ´ner andren Gsellschaft, weil ....“

Es klingelt wieder. Draußen steht Jörg mit einem Punk, dessen Haare aussehen wie ein blondierter Atompilz. „He, Jan.“ Er runzelt die Stirn. „Oder nennste dich jetze Farin?“

„Och, wie de willst. Und du bist?“

„Max. Max Müller.“

„Du bist das. Na, äh, schön dich jetze ma kennen zu lernen.“

„Dito.“ Er schüttelt mir die Hand und wir mustern uns. Scheint ein interessanter Typ zu sein, macht mich neugierig wie die ersten Konzerte wohl mit ihm gelaufen wären. Ob er wohl Lieder geschrieben hätte? Und welche?

„Wo is `n Bela?“ Jörg sieht sich um.

„Äh, der is in seinem Zimmer – mit zwei Damen. Ehrlich jesagt, bin ick mir nich sicher, ob man da grad stören kann.“

Max grinst. „Na, das wollen wir doch mal sehen.“ Und schon ist die Tür auf.

Irgendeine Silberfolie wird schnell zum Verschwinden gebracht. Dann klingelt es schon wieder an der Tür, vielleicht sollten wir die einfach auflassen.

Ein ziemlich hübscher Mann steht im Flur. „Hi! Ich bin René. Bin ich hier richtig für Dirks Party?“

„Äh, ja! Komm rein. Ick bin Farin.“

„Hey.“ Er küsst mich auf beide Wangen. Okay.

„René!!!“ Bela kommt aus seinem Zimmer geeilt. „Dacht ick mir doch, das dit deine zauberhafte Stimme is.“

René küsst Bela nicht auf die Wangen, sondern mitten auf den Mund. Und der scheint, dass nicht mal ungewöhnlich zu finden. Okay.

Irgendwas in meiner Erinnerung klingelt bei seinem Namen – sogar ziemlich laut. War das nicht der Typ, der ihn das erste Mal geküsst hat. Aber heute ... Wieso darf der das immer noch?

Es klingelt noch ein paar Mal – meistens Leute für Bela, auch ein paar, die ich noch nie gesehen habe, darunter zwei extrem dünne, blasse Typen in Lederjacken, die irgendwie eine seltsame Ausstrahlung haben.

Und Hans. Ich bin echt froh, ein vertrautes Gesicht zu sehen. Später stoßen noch Hussi und Roman dazu, aber sie bleiben nur eine Stunde, ziehen dann weiter zu einer Party nach Kreuzberg.

Langsam wird die WG echt voll, aber wir sind eher bei der Hälfte von fünfzig Leuten gelandet. Eigentlich finde ich das gar nicht so schlecht. Frau Pachulke wahrscheinlich auch. Bin gespannt, ob die uns am offiziellen höchsten Besauffeiertag die Bullen auf den Hals hetzt.

Irgendwie hat sich „unsere“ Party in zwei kleinere zerteilt. Die ganzen Raucher*innen sind bei Bela und das sind sehr viel mehr Gäste. In meinem Zimmer sitzen wir eher in kleiner Runde. Immerhin haben ein paar Leute, die Küche zur Tanzfläche erklärt, was dem ganzen Abend dann doch ein wenig mehr Partyatmosphäre verleiht. Auf legen muss man die Platten von meinem Zimmer aus.

Jörg und Max haben tatsächlich ein Platten mitgebracht zum Thema Krieg, Bomben und Raketen. Max legt Geier Sturzflug „Erleben Sie Europa, so lange es noch steht“ auf.

In einer Klomusik-Pause greife ich nach meiner Gitarre.

„Yeah, geile Idee. Lass ma was hören.“ Max erhebt sich. „Weißte was? Ich frag mal Bela, ob ich seine Gitarre leihen kann.“ Triumphierend hält er sie hoch, als er zurückkehrt. Und – der Typ ist echt gut. Wir schaffen es sogar zweistimmig zu spielen. Mega. Mann, irgendwie wäre es doch cool gewesen ihn in unserer Band zu haben. Aber er macht jetzt wohl ein neues Projekt namens „Campingsex“.

Für unsere kleine Impro-Session einigen wir uns auf „Berlin by night“ and „Wall City Rock“ von PVC, die klingen auch auf den Akustikklampfen einigermaßen okay.

„PVC!“ Bela kommt in mein Zimmer getanzt und trommelt wild auf meinem Schreibtisch auf allem, was er finden kann. Passt super dazu, dann zieht ihn ein Arm wieder aus unserer Jamsession. Max folgt ihm.

Definitiv Zeit für Beatles. Tessa wünscht sich „She`s leaving home“ und in meinen Kopf macht das enorm Sinn. Und wow – sie hat eine echt schöne Singstimme, also wenig Punk, sondern einfach klar und harmonie- und textsicher. Ich bin direkt ein wenig verzaubert. Deswegen stimme ich als nächstes „Something“ an.

Es fehlt nur noch ein Lagerfeuer, dann wäre die Campatmosphäre bei mir im Zimmer perfekt.

Eine halbe Stunde später erklingt der Kampfruf „Gitti! Gitti! Gitti!“ aus der Küche. Im Flur ist vor der Küchentür Riesengedränge. Neugierig sehe ich in unsere Miniküche, in der Gitti gerade Bela um den Tisch jagt.

„Wat`n hier los?“

„Na, Eiswürfel-Jagd!“ Pony sieht mich an. „Oh, dit kennste nich, wa?“

Auf einmal bleibt Bela vor dem Tisch stehen und öffnet triumphierend den Mund. „Jewonnen!“

Jörg und Max jubeln und klatschen Bela ab. Die Gitti-Cheerleader murren.

Gitti stützt die Hände in die Seiten. „Beeeeela! Du has betrogen.Du has den geschluckt!“

„Was hat Bela geschluckt?“ Ich versteh gar nichts.

„D-e-n Eiswürfel.“ Pony sieht mich mitleidig an. „Oh, Farin. Machste eijentlich manchmal och wat, dit Spaß macht.“

„Wat soll`n ditte jetz heißen?“

„Na, jetz sei ma fair. Du ziehst dich doch immer raus, wenn et interessant wird. ... Och, Farin. Jetz kiek doch nich so.“ Pony nimmt meinen Arm. Ich schüttel sie ab.

„Ick bin also `ne Spaßbremse, ja?“

„So, hab ick dit nich jesacht.“

„Ick find schon.“ Nun grinst mich Gitti herausfordernd an. „Keene lustijen bunten Pillen, keen Sprit – nich ma an Silvester - und vor allem“ Sie macht eine Kunstpause. „Verschwindet eenfach, wenn`s grad echt ... heiß wird. Ick hab dit nich verjessen.“

Ich weiß ganz genau, auf was sie anspielt. Ich starre sie nieder, wende mich dann an Pony. „Wie funktioniert dit Spiel?“

„Also, jemand hat `n Eiswürfel im Mund und du musst ihn der Person abluchsen. Aber - ohne die Hände zu benutzen.“

Ich schüttel den Kopf. Wer hat sich das nur wieder ausgedacht?

„Also, willste `ne Runde spielen?“

Ich schüttel noch einmal den Kopf.

Gitti stößt Pony in die Seite. „Da hätt ich sogar `n Hunni druf jewettet.“

Die beiden nerven ultra. „Okay, ich mach mit.“

„Ach. Jetze doch.“

„Klar. Gegen wenn muss ich antreten.“

Gittis Augen beginnen zu leuchten. „Gegen Bela. Der ist bisher unangefochtener Gewinner jeder Runde.“

Der lässt sich gerade noch von Jörg und Max feiern. Herausfordernd blickt er in die kleine Runde in der Küche. „So, wer will als Nächstes gegen mich verlieren?“

Ich schieb mich an Pony und Gitti vorbei. „Ick werd nich verlieren.“

„Oh.“ Belas Augen werden groß, dann verzieht er sie zu Schlitzen. „Dit schaffste nich. Schlagen is nicht erlaubt und du darfs den Eiswürfel nich mit den Händen berühren.“ Ohne den Blick von mir zu nehmen, greift er sich einen Eiswürfel aus einer Schale und lässt ihn demonstrativ in seinem Mund verschwinden.

Ich grinse ihn an und hoffe, dass es so raubtierhaft ist, wie ich es will. Einen Moment der Sicherheit lasse ich ihm, schnelle dann mit meinen langen Armen über den Tisch hinweg und hab ihn an seinem Hemd festgesetzt. Ein paar leere Flaschen fallen dabei hinunter, gehen aber zum Glück nicht kaputt.

Jetzt weiß ich auch warum sie das Eiswürfel-Jagd nennen. Mein Instinkt ist definitiv geweckt. Bela knöpft sich in Windeseile das Hemd auf, an dem ich ihn festhalte und weg ist er. Der Typ ist echt ein Wiesel, sogar in angetrunkenem Zustand. Da scheint er immer besondere Superkräfte zu entwickeln.

Er versucht in die Menge der Zuschauer*innen im Flur abzutauchen, aber ich packe ihn von hinten an seinem Gürtel und ziehe ihn zurück. Mit der anderen Hand beginne ich ihn zu kitzeln. Ich erwarte ein sich windendes Bündel aus Bela, aber nichts passiert. Schließlich dreht er sich zu mir um und wirft mir einen „Ist das alles, was du hast?“-Blick zu.

Und dann kommt er auf die wirklich blöde Idee das Kitzeln bei mir auszuprobieren. Meine eigenen Waffen werden gegen mich gewendet, denn ich bin verdammt kitzlig. Ich kann mich kaum darauf konzentrieren, seine Hände zu fassen zu bekommen, aber schließlich habe ich sie eingefangen und kann endlich wieder vernünftig Luft holen.

Ich dränge Bela rücklings gegen den Kühlschrank, presse seine Hände gegen das kalte Metall. Ich muss ihn noch besser fixiert bekommen, drehe seine Arme nach hinten, so dass ich seine beiden Hände in einer festhalten kann, selbst noch eine Hand frei habe.

Um uns herum ist es auf einmal ganz still, glaub ich zumindest. Außer Bela unter mir, bekomme ich wenig um mich herum mit. Aber die Augen auf mir, auf uns kann ich dennoch fühlen.

Ich drücke ihm meinen Unterarm knapp unter das Schlüsselbein, lehne mich so hart gegen ihn, dass er sich keinen Zentimeter bewegen kann. Er funkelt mich von unten an. Dann öffnet er seinen Mund und spielt mit seiner Zunge an den Resten des Eiswürfels. Dieses Aas!

Kurz will ich in seinen Mund fassen, aber das darf ich ja nicht und disqualifiziert werden ist keine Option. Bela schließt seinen Mund wieder, zieht eine Augenbraue hoch – das ist mein Markenzeichen! – und grinst, natürlich mit jetzt wieder geschlossenem Mund.

Ich presse meine Daumen gegen seinen Kiefer, aber der ist aus Eisen. Auf einmal ist Bela ganz ruhig, nur sein Atem geht schnell durch seine Nase, was mich auf eine Idee bringt. Ich sehe ganz gelassen auf ihn hinunter und halte ihm dann die Nase zu.

Er wirft den Kopf hin und her, aber bekommt mich nicht los. Sein Gesicht wird rot und schließlich hält er es nicht mehr aus. Sauerstoffmangel ist echt unschön. Er schnappt nach Luft, versucht, sein Gesicht wegzudrehen, aber ich habe ihn immer noch an der Nase.

Und schon bin ich über ihm. Unsere Lippen knallen gegeneinander, er windet sich unter mir, ein Wimmern. Es ist definitiv nicht einfach den Eiswürfel mit meiner Zunge aus seinem Mund zu holen. Außerdem hab ich Angst, dass er mich beißt. Dann spüre ich Kälte in meinem Mund. Ich lasse Bela los und er sinkt ein Stück nach unten. Wir keuchen beide vor Anstrengung.

Ich halte ihn an den Schultern. „Allet okay?“ Er starrt mich nur wortlos an, dann nickt er kurz.

Ich reiße die Arm in Gewinnerpose hoch, irgendwie ertönt Applaus und Rufe, die ich durch das Adrenalinrauschen in meinen Ohren nicht versteh. Ich sehe zu Gitti, die wirklich mehr als unverschämt grinst und spucke ihr den inzwischen recht kleinen Eiswürfel ins Gesicht.

Dann marschiere ich an allen vorbei aus der Küche. Mein Herz rast, ich sehe die Gesichter der Einzelnen nicht, nur Gestalten. Das Hämmern in meiner Brust lässt alles verwischt erscheinen.  

Auf einmal ist jemand neben mir, packt mich am Arm und zieht mich hinaus in den Flur. Bela. Jetzt kommt die Standpauke! Ich wappne mich innerlich, taste nach dem Lichtschalter, aber Bela zieht meine Hand weg, dann die Haustür zu. Wir stehen voreinander im dunklen Treppenhaus. Ich kann ihn nur fühlen, nur seinen immer noch schnellen Atem hören.

Er schubst mich gegen die Wand. Okay. Hab ich verdient. Auf einmal ist er auf mir, presst sich gegen mich, geht auf die Zehenspitzen. Sein schneller Atem fegt mir ins Gesicht, dann ist sein Mund auf meinen. Wild und unnachgiebig.

Fuck, Bela, was machst du? Dann kann ich nicht mehr denken, packe ihn im Nacken. Es ist fast wie eine Fortsetzung des Kampfes, aber in einem Kuss.

Belas Hände packen mich an den Hüften. Er zieht mich noch fester an sich, stöhnt in meinen Mund. Seine Hände wandern weiter, in die hinteren Taschen meiner Jeans. Seine Finger gleiten über meinen Po und ich registriere ganz weit hinten in meinem sich wild drehenden Gedankenkarussell, dass das ungewöhnlich ist, aber nicht unangenehm, dann schaltet mein Kopf wieder aus.

Belas Mund auf meinem ist so gierig – und ich lasse mich hinein fallen in seinen Hunger. Er drückt sich gegen mich und hinter mir ist die Wand.

„Oh, fuck, du fühlst dich so gut an“, stöhnt Bela an meinem Hals. Er reibt sich an mir und ich kann fühlen, wie hart er ist. Es zieht durch mich wie ein Stromstoß.

Mit einem Knarren geht die Wohnungstür neben uns auf. Lärm und ein Lichtstrahl fluten an uns vorbei in die Dunkelheit. Ich will auseinanderspringen, Bela von mir stoßen, aber er hält mich fest. Seine Augen funkeln hungrig. Er scheint gar nicht mitzubekommen, dass hier in einer Sekunde Leute zu uns hinaustreten. Oder es ist ihm egal, wer uns sieht.

Mir ist es nicht wirklich peinlich, aber ... Ich bin auf einmal krass schüchtern, weil ich mich so total hab gehen lassen. Vorsichtig schiebe ich Bela von mir. Seine Augen wirken ein wenig verletzt. Oder bilde ich mir das im Dämmerlicht nur ein? Ich will gerade auf ihn zugehen, da tritt jemand aus der Tür.

„Oh! ... Oh, ey, Jan! Ähm, Bela!“ Ecky mit einer Jacke in der Hand. Ich atme fast auf, bin froh, dass das Flurlicht noch aus ist. Ich lasse meine Augen prüfend über Bela gleiten. Sein Mund ist leicht rot, genau wie seine Wangen und seine Haare stehen noch mehr nach allen Seiten ab, tiefer will ich gar nicht blicken. Ich sehe mit Sicherheit nicht besser aus. Das ist alles ganz schön verräterisch.

Ecky blickt von mir zu Bela. „Ich wollt euch echt nicht stören, aber ..:“ Er wirkt fast so durcheinander, wie ich mich gerade fühle. „Also, Nicole wollte gerne nach Hause. Die Woche war ziemlich streßig auf der Station, weil so viele von den anderen Schwestern wegen der Feiertage Ferien hatten und dann auch noch so viele Notfälle reinkamen.“

Er ist da wie ich. Wenn ich nervös bin, dann werd ich entweder komplett ruhig. Oder ich fang an zu quasseln. „Ähm, ja klar. Also voll jut, dass ihr da wart. Und ... Also, schade, aber okay. Dann kommt jut nach Hause, wa? Und – ach, ja, frohes Neues. Oder darf man sich dit noch jar nich wünschen vor zwölf?“

Nicole tritt zu uns in den Flur. Hinter ihr Hans. „Was macht ihr denn hier draußen?“ Er lacht. „Versteck ihr euch vor eurer eigenen Party?“

Ich schüttel den Kopf. „Nee. Natürlich nich.“

„Also, ich fahr bei den beiden mit, die müssen in meine Richtung. Na, dann feiert mal schön weiter.“

„Klar. Wir sehen uns Donnerstag im Proberaum, ja?“

„Logisch. Gutes Neues euch beiden. Hoffentlich wird 1983 das Jahr der Ärzte.“

Ich klopf ihm auf die Schulter, Bela auch. „Dit wär echt cool!“, sagt er und verschwindet in der Wohnung, in seinem Zimmer mit den vielen Menschen. Dahin folge ich ihm mit Sicherheit nicht.

Ecky umarmt mich und es vertreibt das Gefühl von Bela unter meiner Haut. Will ich, dass es verschwindet? Das alles verwirrend zu nennen, wäre echt die Untertreibung des ausklingenden Jahres.

Ich will nicht, dass Ecky jetzt geht. „Ey, wir müssen uns echt mal wieder öfter treffen.“ Ich umarme ihn und ein ganz komisches Gefühl von „Wenn er geht, bin ich allein!“ steigt in mir hoch. Wahrscheinlich einfach, weil er mein ältester und bester Freund ist. Und ohne ihn kenn ich gar nicht mehr so viele Leute auf unserer Party wirklich gut.

Mein Kopf dreht sich immer noch. Oder dreht sich das Treppenhaus?. Mir hat einer mal erklärt, so würde sich angeschwipst sein anfühlen. Als Würde sich die Erdkugel einfach unter einem durchschieben, weil man über ihr schwebt. Phase zwei ist: Die Welt dreht sich um einen. Und dann 3 richtig besoffen: Die Gravitation der Erde wurde um Faktor 2,5 erhöht. Alles ist schwer, man schleppt sich so knapp über`m Boden durch die Menge und checkt nicht mehr, was über einem abgeht. Keine Ahnung, warum Leute so etwas wollen.

Hysterisches Gelächter schallt zu uns auf den Flur raus.

Weil ich gar nicht weiß, wohin mit mir, bringe ich die Drei nach unten, gehe noch eine eisig kalte, schnelle Runde um den Block. Wenn ich schlau gewesen wäre, hätte ich meinen Mantel angezogen. Dann könnte ich jetzt einfach draußen bleiben und durch die Straßen laufen, meinen Kopf wieder klar kriegen.

Nach nur zehn Minuten steige ich zitternd wieder die Stufen hinauf zu unserer Wohnung. Die Party lärmt echt ganz schön durchs Treppenhaus. Wirklich Bock hab ich grade nicht mehr auf die vielen Menschen. Eigentlich brauch ich Ruhe, Einsamkeit, um mich zu sortieren.

Als ich vorsichtig die Wohnungstür aufschließe, summt es in unserer WG – vor allem in Belas Zimmer - wie in einem Bienenschwarm.

„Ey, es is schon kurz vor zwölf“, brüllt Max vor mir. Ich versuche mich in mein Zimmer zu verdrücken, hoffe, dass dort nicht so viele Leute sind, aber Bela kommt im Flur direkt auf mich zu und hält mich am Arm fest. Wieder fegt ein Stromstoß durch mich.

„Hey, Farin! Magste ...?“ Er deutet mit dem Kopf in Richtung des Balkons, der von meinem Zimmer abgeht, ich öffne die Tür und wir schlüpfen hinaus.

Die Luft ist frisch, aber durchzogen von explosiven Schwarzpulvergeruch. Nichts sagt mehr Silvester als dieser spezielle Duft.

Unter dem Balkon steckt ein Nachbarsjunge gerade eine Rakete in eine Flasche. Die Lunte sprüht, ein Moment Stille, dann zischt die Rakete vorbei Richtung Himmel. Rote Funken explodieren über uns.

Ich sehe zu Bela, der mit glänzenden Augen, die nun überall aufsteigenden Raketen verfolgt. „Wir hätten och wat zum Zündeln koofen sollen.“

„Äh, ja. Und von welchem Geld?“

„Oh, mhm, stimmt. ... Hey, Farin ... Eigentlich wollt ick mir dir über wat janz andres reden.“

Ich halte die Luft an.

Bela dreht sich zu mir und wir stehen uns still in der Kälte, in der fast Stille, gegenüber. Er rutscht noch ein Stück näher an mich. „Ick wollt mich entschuldigen für vorher.“

„Du? Warum ...? Du musst dich doch nich entschuldigen. Wenn überhaupt, dann ja wohl eher ...“

„Nee. Ehrlich. Ick bin so `n bisschen auf Speed und da sin mir irgendwie die Sicherungen durchjebrannt. Ick wollt dich nich so im Flur überfallen und ...“

„Speed? Is dit nich so wat ähnlichet wie Heroin?“

„Nee, dit is nur Speed.“

„Nur Speed, ja?“ Meine Gedanken wirbeln im luftlosen All. Eigentlich hatte ich auf etwas ganz anderes gehofft, eigentlich will ich was ganz anderes von ihm. „Ey, ick ...“ Ich beuge mich langsam zu ihm hinunter. „Ick ... Es tut mir echt leid, dass ick dich vorher so grob angepackt hab. Ick kann nich mal sagen, das ick unter irgendwelchen dubiosen Drogen war.“

„Jan? Ick mochte dit.“

Ich versteh gar nichts, aber es war wohl in Ordnung. „Okay. Dit is ... gut.“ Vermutlich. Ich will, ich muss ihm noch einmal nah sein nach dem Chaos mit uns beiden. „Bela, kann ick ...?“

Er nickt, kann doch gar nicht wissen, was ich meine. Oder doch? Sieht man mir das an?

Ich lege meine Hand in seinen Nacken und ziehe ihn behutsam an mich. Seine Lippen schmecken nach Alkohol und Zigaretten - mir ist das gerade komplett egal. Ich küsse ihn - ganz vorsichtig.

Seine Lippen verziehen sich unter meinen, werden zu einem breiten Grinsen. „Hey, wenn deine Entschuldigungen so aussehen, dann kannste dit jern öfter machen.“ Er leckt sich über die Lippen. „Hey. Ick mochte dit vorher wirklich. Beides. Und das hier auch.“

„Ja?“

„Mhm, ja!“ Er nähert sich mir wieder. „Küss mich!“

Ich nehme sein Gesicht zwischen meine Hände, er stellt sich auf die Zehenspitzen und wir treffen uns in der Mitte. Ein Funke läuft zwischen uns hin und her, anders als zuvor.

„Hey, Bela!“ Gitti ist in meinem Zimmer, aber hier draußen kann sie uns nicht sehen.  „Bela! Wo bist`n du?“

Bela löst sich langsam von mir, wirft mir einen bedauernden Blick zu. „Ick will keen schlechter Gastgeber sein.“

„Klar.“ Ich setze ein Grinsen auf, dass leicht sein soll, sich aber nur tapfer anfühlt. Wir wohnen zusammen. Wir können uns ständig sehen. Ein wenig Panik steigt bei dem Gedanken in mir auf. Was wenn wir es – was auch immer das ist - nicht hinbekommen? Verliere ich ihn dann ganz? Als Freund und Mitbewohner und als Bandkollege? Ein eisiger Krampf bildet sich in meiner Brust.

Ich bleibe den Rest der Nacht in meinem Zimmer, spiele weiter Gitarre vor einem wechselnden Publikum mit wechselnden Musikwünschen.

Um halb zwei schauen die Freunde und Helfer vorbei – Wachtmeister Schulz und Geisel, sagen, dass Nachbarn – mit Sicherheit Frau Pachulke! – gerne hätten, dass wir die Musik ausmachen. Die ist gar nicht mehr so laut, so dass ich höre wie Max die Melodie zu „Bullenschweine“ pfeift.

Auf einmal ertönt aus den Boxen im Klo die markant harten Rhythmen von DAF.


Geh in die Knie
Und klatsch in die Hände
Beweg deine Hüften
Und tanz den Mussolini


Das fehlt mir heute Abend gerade noch, dass uns die beiden Uniformierten jetzt noch für Faschos halten. Sie sind eh shon ein wenig zu interessiert, mustern die Anwesenden und schnuppern auffällig in den, inzwischen im Flur wabernden Rauch.

Ich gehe hinaus auf den Flur. versichere ich ihnen schnell, dass wir selbstverständlich die Musik aus machen und das sie bestimmt wahnsinnig viel heute Nacht zu tun zu haben und wir sie nicht aufhalten wollen.

Um kurz vor vier sind fast alle weg beziehungsweise der verbliebene Rest ist bei Bela im Zimmer, in das ich nicht hinein gehen will – nicht nur wegen der nebelartigen Rauchschwaden. Tessa anscheinend auch nicht, denn sie sitzt nun alleine in der Küche.

Ich gehe zu ihr hinüber. „Hey, ick werd langsam müde. Wie sieht`s `n bei dir aus?“

„Isch woll eigentlich noch auf de Pony und de Gitti warte, aber ...“

„Wenn de willst, kann ick dich och nach Kreuzberg rüber begleiten.“

„Ah, noi. Da komm isch schon alleine klar.“

Ich nicke. „Oder du pennst einfach bei mir.“

Sie sieht mich erstaunt an. „Wie meinscht`n des?“

Tja, gute Frage. So ganz sicher bin ich mir auch nicht. Ich weiß nur, dass ich gerade irgendwie nicht allein sein will, nicht in dieser Nacht, nicht wenn Bela im Zimmer nebenan noch Party macht.

Es ist das erste Mal in meinem Leben, dass ich es verfluche, dass mich Drogen und Alkohol nicht interessieren. Ich weiß ja nicht mal, wie die wirklich wirken, aber es scheint die Gedanken recht effektiv abzustellen oder zumindest umzulenken.

„Ick ... Erinnerste de dich noch vor `nem Jahr? Als wir uns dit erste Mal jetroffen haben?“

„Ai, ja klar.“

Ich atme tief durch.

„Das war die Nacht, als ick mit Sabine zusammen gekommen bin.“

„Oh.“ Ihre Augen sind voll Mitgefühl. „Desch is net so gud ausgange, gell?“

Ich schüttel den Kopf. Anscheinend wissen alle Bescheid darüber. Mein Auftritt im Eck war ja auch leicht dramatisch in dieser einen Nacht. „Ick bin jerade irgendwie ...“

Sie steht auf und nimmt mich einfach in den Arm und es tut so verdammt gut. Ich überlege sie zu küssen. Ich mag sie und das könnte mich echt ablenken von dem Phantomgefühl von Belas Lippen auf meinen. Tessa lässt mich wieder los und mir fehlt ihre Körperwärme, die Berührung. Ich sehne mich zurück nach Italien zu Felice, mit der alles so leicht und natürlich war - bis es dann doch kompliziert wurde. Nächstes Jahr hau ich über Weihnachten und Silvester einfach ab aus Berlin, irgendwohin.

Von nebenan dröhnt Gelächter zu uns hinüber. Bela zieht im Flur René in die Küche. Er hat seinen Arm um dessen Schulter gelegt, kichert über etwas, was der Mann ihm ins Ohr flüstert. Mir ist nach Tür schließen, aber ...

„Komm.“ Ich ziehe Tessa in mein Zimmer, geh zu meinem Plattenspieler. Tessa tritt neben mich. „Isch hab auch eine Platte mitgebracht wegen eurem Partymotto, aber isch hab misch net getraut, die zu spiele. Der Udo is glaub isch net so populär mit de Meischte.“

„Der Udo?“ Ich muss grinsen. „Och, der is schon okay. Ick hör den nich wirklich, aber er hat `n paar jute Texte und is echt so `n spezieller Typ.“ Ich sag den letzten Satz im typischen Udo-Sprech. Der is echt `ne Marke.

„Ey, wenn de willst, kann ick die jetze auflegen.“ Hauptsache, ich muss das Gekicher und Gegröle von nebenan nicht mehr hören. Ich fühl mich wie Scrooge bei Dickens, will nicht so ein missgünstiger Sonderling sein.

„Ja, gern. Sag a mal, Farin. Hasch du keine Angscht dasch des eskaliert mit dem Kalte Krieg?“

Ich zuckt mit den Schultern. Irgendwie ist gerade einiges eskaliert.

„Nee, nich wirklich. Hier in Berlin is et halt immer so `ne Jefahr im Hintergrund.“

Ich lege die schwarz-glänzende Scheibe auf den Plattenteller, senke den Arm.
Es knistert und ich warte auf ein E-Gitarrenintro, auf Udos schleppende Nuschelstimme. Stattdessen erklingt ein langsames Klavier und heller Kindergesang.

Ich kann mich nicht rühren, verharre einfach über der sich drehenden Platte.




*
*





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LYRICS

Orchestral Manoeuvres in the Dark - Enola Gay

She wants Revenge - Tear you apart

DAF - Der Mussolini

Udo Lindenberg - Wozu sind Kriege da?


Weitere SONGS

PVC – Berlin by night

PVC – Wall City Rock

Beatles – Something

Beatles – She`s leaving home


Max Müller - Auftritt mit seiner Band "Campingsex" im Risiko


Geier Sturzflug – Besuchen sie Europa, solange es noch steht
Live

Reinhard Mey – Nein, meine Söhne geb ich nicht

Marlene Dietrich – Sag mir, wo die Blumen sind

Iggy Pop - Search and destroy

Bettina Wegener – Soldaten
Jugendopposition in der DDR: Bettina Wegener




FU Gästebuch

Lieber FU, ich dachte nie, dass du mich so enttäuschen könntest. ich habe meinen kollegen vor jeder wahl die worte deine schuld erklärt. und jetzt, wo wir alle mit der ukraine leiden, schweigt mein geliebtes team. wirklich?

FU: Ich bin so fassunglos und entsetzt wie jede/r andere, auch mir fehlen die Worte

25.02.2022, 22:55 | EWa (Poznan, Polen)


FU: Liebe Leute,

hier sind meine Gedanken, falls es jemanden interessiert: Ich bin aufgewachsen während des „kalten Krieges“, West-Berlin war eine kleine Insel, umgeben von einem offiziell feindlichen Land. Man hat uns schon als Kindern erklärt, dass „die Russen“ nur eine Stunde mit dem Panzer bis zu uns bräuchten. Dementsprechend fatalistisch war meine Jugend: Krieg war nicht nur eine Anekdote beim Abendessen, sondern immer eine reale Option. Auf meinem Weg zur Schule kam ich täglich an der Mauer vorbei, hinter der junge Männer auf Wachtürmen sassen, um mit ihren Maschinengewehren jeden Menschen zu erschiessen, der aus der DDR fliehen wollte.

Als die Mauer fiel, waren wir glücklich, weil es endlich so aussah, als käme Frieden nach Europa.

Und Frieden kam auch, unterbrochen von Kriegen im zerfallenden Ex-Jugoslawien, in Georgien, in Transnistrien - aber das waren (aus meiner naiven Sicht) „kleinere“ Konflikte, die insgesamt den europäischen Frieden nicht mehr von der Zielgeraden ablenken konnten.

So war ich also einigermaßen zufriedener Pazifist in einem zwar zunehmend von neonazistischen Überfällen geplagten, aber ansonsten weitgehend friedlichen Deutschland.

Und jetzt wird klar, daß Putin sich nach dem kalten Krieg zurücksehnt, nach dem Europa meiner Kindheit, in dem das mittlerweile wirtschaftlich eher unwichtige Russland wieder eine bedrohliche Weltmacht ist, und wir vor ihm zittern.

Und warum hat Putin seine Soldaten in die Ukraine geschickt? Aus demselben Grund, aus dem China der Unabhängigkeit Hongkongs ein brutales Ende bereitet hat (und eventuell demnächst versuchen wird, sich Taiwan einzuverleiben): weil Diktaturen keine offenen, liberalen Gesellschaften vor ihrer Haustür dulden können. Weil der Gedanke, daß Menschen selber entscheiden können, wer sie regieren soll, für illiberale, mafiöse Staaten unerträglich ist - denn er würde ihr Ende bedeuten.

Es geht also um nichts weniger als die Freiheit, nicht nur in der Ukraine, sondern auch hier in Deutschland und im Rest der Welt; und natürlich in Russland selber, denn Putin nimmt auch sein eigens Volk als Geiseln in diesem Konflikt.

Und darum ertappe ich mich dabei, Freude und Erleichterung über Waffenlieferungen an die Ukraine zu empfinden. Ziemlich traurig für einen angeblichen Pazifisten, oder?

Aber es geht noch weiter: Ich bin mittlerweile der Meinung, daß unser westlicher Schmusekurs und der Dialog mit Diktatoren aufhören muss. Unser lächerliches Vertrauen darauf, daß das Geld, mit dem wir undemokratischen Ländern ihr Öl oder Gas oder andere Rohstoffe abkaufen, nicht zur Unterdrückung anderer Menschen benutzt wird.
Die Feigheit, die uns daran hindert, Taiwan als das anzuerkennen, was es de facto ist, nämlich ein freies und unabhängiges Land. So, wie auch Tibet es einmal war - erinnert sich noch jemand?
Die Bequemlichkeit, die uns billige Baumwolle aus uigurischer Zwangsarbeit kaufen lässt. Und und und...

All das sollte aufhören - auch, wenn es vielleicht bedeutet, daß VW weniger Autos in China verkauft und unser Wohlstand bedroht ist. Auch, wenn unsere Wohnungen im Winter vielleicht etwas weniger warm sein könnten. (Frieren für den Frieden?! Ich bin dabei!)

Wir müssen uns als Gesellschaft fragen, was wichtiger ist: Freiheit oder Geld?

Und wir sollten anerkennen, daß Reden leider nicht immer die Lösung ist. Lasst uns nicht Chamberlains Fehler wiederholen: Diktatoren müssen gestoppt werden, bevor sie in ihrem Grössenwahn und ihrer Verachtung der Humanität die Welt in Schutt und Asche legen. Die Abkopplung russischer Banken von SWIFT ist ein guter Anfang, aber der wirtschaftliche Druck sollte noch massiv erhöht werden: alle denkbaren nicht-militärischen Maßnahmen müssen jetzt ergriffen werden. Solidarität mit der Ukraine - und jetzt geh ich erstmal auf die Demo in Berlin. Geh mal wieder auf die Strasse...

Pax vobiscum!

Euer

fu
27.02.2022, 12:18 | farin u. (...wo ist mein Supermannkostüm?!, Deutschland)



Pershing II & der Nato-Doppelbeschluss

Vor dem 24. Februar 2022 hätten viele dieser Interviews vermutlich einen anderen Eindruck hinterlassen. Deshalb achtet bitte gut auf euch. Trigger-Warnung!

MGM-31 Pershing oder auch Pershingrakete
Die MGM-31 Pershing, oder auch einfach Pershingrakete, war eine ballistische militärische Rakete der Zeit des Kalten Krieges aus US-amerikanischer Produktion. Benannt war die Feststoffrakete nach dem US-General des Ersten Weltkrieges John Joseph Pershing. In Deutschland ist von den Pershing-Raketen primär der Typ Pershing II durch den NATO-Doppelbeschluss bekannt geworden. Gegen dessen Stationierung protestierte die westdeutsche Friedensbewegung Anfang der 1980er Jahre.

Unterrichtsmaterial: Protest der Friedensbewegung in der DDR und BRD gegen den NATO-Doppelbeschluss

ARD - Tagesschau den 22. Oktober 1983

1981: Der NATO-Doppelbeschluss

Historiker Manfred Görtemaker: NATO-Doppelbeschluss und Lebensgefühl in den 80ern

Aktivist Jochen Stay – Pershing II

 Claudia Roth: Kritik am NATO-Doppelbeschluss


*

Chapter 16: 1983 - Transit

Chapter Text

*



 

* Teenagers in Love *





Lieder und Bilder farbig unterlegt im Kapitel.
Weiterführende Links am Ende.



 

1983 - Transit






Niebuhrstr. 38 b, Charlottenburg - 3. Januar

Es klopft an meiner Tür.

Ich öffne behutsam, sehr behutsam ein Auge. 14:37, sagt mein elektronischer Wecker, dann klappt die 7 um. 38. Allein das Geräusch davon hämmert schmerzhaft durch meinen Kopf.  

Es klopft wieder. „Bela?“

Farin. Klar. Wer auch sonst?

„Ey, Bela! Biste wach? Und äh ... Biste allein?“

Ich taste prüfend in meinem Bett herum. Wirkt so. Schade. Oder vielleicht ist es besser so? „Ja. Ein Moment.“ Viel zu laut. Mein Kopf pulst schmerzhaft, aber hilft wohl nichts. Ich angel nach meiner Unterhose und schlurfe zur Tür. „Morn.“

„Hey!“ Jan vibriert vor mir herum. Scheint irgendwie `n bisschen unter Strom zu stehen, der Gute. „Wir brauchen bis morjen noch 50 Mark für die Januarmiete. Die Wohnungsbaugesellschaft von deener Mutter hat jrade anjerufen.“

„Oh. ... oh.“ Scheiße, das war mir entfallen.

„Also, ick wollt jetz schnell zur Bank, bevor die um 16 Uhr zu macht und dit Geld einzahlen. Ansonsten können die die Miete wieder nich abheben. Dit fanden die letztet Mal schon nich so jut.“

Er sieht mich leicht vorwurfsvoll an und ich erinner mich, schlucke, atme tief durch, traue mich aber nich ihm ins Gesicht zu blicken. „Also, ...“

„Nee, Bela. Jetzt sach bitte nich ...“

Ich beiß mir auf die Lippen. Der Schmerz lenkt von meinem Kopfweh ab. Fieberhaft überlege ich, wie ich es Farin behutsam und so ehrlich wie möglich beibringe. Seine Augenbrauen gehen jetzt schon in die Höhe. Oje. Und ich hab so Kopfweh.

„Also, ick hab jestern im Crash ufjelegt, aber dann ..:“

Jans Augen werden kühl. „Dann?“

Dann lautet: Ich hab die 50 Mark für `n bisschen Zauberpulver und eine Flasche Jacky mit ein paar Freund*innen ausgegeben - immerhin haben die mich auch schon oft eingeladen. Aber wenn ich das jetzt sage ...

„Ick hab ...“ Nicht lügen, Bela, mahnt etwas in mir. Jan hasst das. „Ick hab `n paar Freund*innen einjeladen auf `n paar Getränke und dann ... weeß ick nich mehr so jenau.“

Jans Gesicht, seine Augen werden zu Stein. „Also, wenn wir weiter so `n solventen Eindruck machen, fliegen wir hier ma ganz zackig raus, dit is dir schon klar, oder? Dann heißt et wieder: Good morning, Spandau. Hello, Frohnau.“

Er atmet tief durch, bückt sich nach seinen Schuhen. „Ick schau jetz, ob ick bei der Studibörse noch irgendeene Arbeit aufreißen kann, damit morjen dit Jeld da is.“ Farin dreht sich zur Garderobe und nimmt seinen Mantel, hält dann inne. „Ey, ick wünsch dir echt grad allet Kopfweh der Welt, du Arsch. Schön Tach noch.“ Er knallt die Wohnungstür zu und ich bin allein. Fuck.

Vorsichtig zieh ich die Vorhänge in meinem Zimmer zurück. Licht schießt in meine Pupillen und explodiert in meinem Kopf. Langsam lasse ich mich wieder ins Bett zurückgleiten. Kurz vor drei. Donnerstag Nachmittag. Ob ich es wohl schon wagen kann, Schlampe von den Sluts anzurufen? Bestimmt. Der feiert zwar auch hart, aber wird schon wach sein. Wenn ich ein paar Gigs für uns organisier, dann is Jan vielleicht wieder etwas besser auf mich zu sprechen.

Ich gehe in meinem pochenden Schädel die Möglichkeiten durch: Braunschweig, Bremen wär auch gut, aber eigentlich Berlin besser. Keine Spritkosten. Aber für Farin wär es echt gut, mal wieder rauszukommen. Einfach mal wieder raus aus Berlin, vielleicht auch aus unserer WG. Dann geht es hoffentlich auch mit uns beiden wieder leichter, mit unserem ständigen Hin- und Hergeschwanke zwischen Euphorie und nebeneinander her leben und ... dem, was sonst noch manchmal zwischen uns passiert.

Tatsächlich bekomm ich spontan für uns ein paar Gigs in Berlin für die nächsten zwei Wochen: „After Eight“ und „Crash“. Na, läuft doch.

Außerdem gibt mir Schlampe einen guten Kontakt für Köln. Eigentlich will ich nicht in diese Stadt. Köln ist hart. Ich denk da immer sofort wieder an meinen Vater, wie er mich früher in seine Rockerkneipen mitgenommen hat. Ich mochte das echt gerne, bis er mich dann einfach mit 14 hat hängen lassen.

Egal, wir brauchen dringend Kohle. Das Farin jetzt los ist, macht mir echt ein schlechtes Gewissen. Auf richtig arbeiten gehen, hab ich voll keinen Bock.

Dafür aber wegzugehen. Das Kopfweh hat nach zwei Aspirin nachgelassen und immerhin ist Donnerstag. Aber das wäre jetzt bei Farin wohl der sprichwörtliche Tropfen mit dem überlaufenden Fass oder wie man das sagt.

Also, warten. Boah, das nervt. Und er kommt und kommt nicht wieder zurück. Ich bin ja eh eine Nachteule und weil das Kopfweh jetzt weg ist und ich ausgeschlafen bin, hab ich viel zu viel Energie. Ich beschließe, die Wohnung aufzuräumen, um Farin ein wenig zu besänftigen.

Bad und Flur sind schon erledigt, die Küche so gut wie als beim Abwaschen ein Glas zu Bruch geht. Ich schneide mich böse an einer Scherben im Wasser. Arbeit ist doch echt scheiße. Aus Klopapier und Tesa bastel ich mir einen Verband, aber der suppt schnell durch. Verdammt. Das muss jetzt aber nicht genäht werden, oder? Neun Uhr abends. Arzt geht auch nich mehr. Eine Person fällt mir ein. Ob ich bei denen noch anrufen kann um die Zeit?

„Hey, Ecky. Is Nicole da?“

„Ähm, ja? Was brauchst du denn?“

„Ärztlichen Rat.“

„Oh, okay. Nicole? Bela ist für dich dran.“

„Bela? Das ist ja eine Überraschung. Äh, hallo?“

„Hallo Nicole! Ähm, ja, also, ick wollt aufräumen, weil Jan sauer ist, dass ick ... Also, ... Ick musste aufräumen, weil die WG sah nicht so jut aus.“

„Okay ...?“ Sie klingt ein wenig verwundert. Vielleicht sollte ich weniger weit ausholen.

„Also, ich hab mich an einem kaputten Glas geschnitten und dit hört jetze nich uff zu bluten.“

„Wie lang ist denn der Schnitt?“

„Nich so lang. Aber dit jeht durch allet durch, wat ick druff press.“

„Du verwendest schon was Steriles, oder?“

„Naja, Klopapier.“

„Habt ihr kein Verbandszeug?“

„Äh, nö.“ Ich glaube sie unterdrückt einen Seufzer.

„Okay. Na, wenn`s eh die ganze Zeit weiter blutet, dann sollten die Bakterien eigentlich rausgeschwemmt werden. Aber ... Pass mal auf: Tu mal das Klopapier da weg und halt deinen Arm mal eine längere Zeit oben. Das verringert den Druck des Blutes auf die Schnittstelle und gibt der Wunde die Möglichkeit eine Art Barriere zu bauen.“

„Okay.“ Ich hoffe, sie als Krankenschwester hat recht.

„Wenn das aber nicht aufhört, dann gehste bitte in die Notaufnahme, Bela, ja?“

„Ja.“ Ich versuche ein Murren zu unterdrücken. Das fehlt mir gerade noch.


Zwei Stunden später sitze ich im Malteserkrankenhaus unter Neonröhren. Mann, ey. Jetzt hab ich zusätzlich so richtig Zeit mir Sorgen wegen Jan zu machen. Als ich zu Hause los bin, war es halb Zehn – und er immer noch nicht zurück. So Jobs gehen doch nicht so lange, oder? Ist er vielleicht nach Frohnau gefahren, weil er von mir so genervt war? Bei Ecky war er ja schon mal nicht. Oder die beiden können enorm gut schauspielern.

Vor dem Warteraum rennen weiß bekleidete Leute hin un her. Anscheinend hat es auf der Avus einen schweren Unfall gegeben. Der Finger blutet gar nicht mehr. Eigentlich könnte ich gehen, oder? Aber jetzt bin ich schon mal hier.

Ich lese fürchterliche Zeitschriften, die ausliegen, weiß danach erschreckend viel über die europäischen Königshäuser und habe mit einem geliehenen Kugelschreiber alle Kreuzworträtsel gelöst, die ich finden konnte. Mit der linken Hand geschrieben, dauert das ja auch.

Nach drei Stunden warten verbindet mir eine sehr nette, junge Ärztin innerhalb von zehn Minuten den Finger. Na, super. Immerhin testet sie auch, ob ich mir irgendne Sehne durchgeschnitten hab. Zum Glück nicht. Das wäre echt übel gewesen für Schlagzeug spielen und die Gigs, die ich gerade organisiert habe.

Als ich endlich wieder in der Niebuhrstraße bin, ist es zwei Uhr morgens. Vorsichtig öffne ich Farins Zimmertür. Dunkel. Okay. Sein Bett ist leer. Der Anblick macht mich irgendwie traurig. Ich krieche auf seine Matratze, obwohl ich nicht wirklich müde bin, aber ich will mitbekommen, wenn er zurück kommt.

Weil ich mich so seltsam fühle, lege ich sogar eine der Beatles-Platten auf, die er immer spielt. Rubber Soul. Obwohl ich die nicht leiden kann, kann ich trotzdem fast mitsingen, so oft wie Jan sie spielt. Ein Lied macht mich noch trauriger. Einer der Pilzköpfe singt:

 


„Was machst `n du hier?“

Ich blinzel gegen das Licht vom Flur nach oben. Ein hell leuchtender Geist steht vor mir im dämmrigen Zimmer.

„Bist du ... tot?“

„Was?“ Der Geist schaltet das Licht an und blinzelt sehr müde auf mich hinunter.

„Du bist komplett weiß.“

„Allerdings. Dit is Zement. Hab nur noch `nen Nachtschichtjob ergattert. Hat immerhin 100 Mark gebracht, aber die sehen mich nie wieder in dem scheiß Zementwerk. Dit Zeuch brennt in den Augen und in der Nase. Wie viel Uhr is es denn eigentlich?“ Er reibt sich über die Augen.

Ich schiel auf seinen Wecker. „Halb sieben.“

„Woah. Was für `ne scheiß Nacht. Ick muss jetz erstma duschen. Und dann dringend pennen. ... Warum schläfste nochma in meinem Bett?“

„Hab dich vermisst.“

„So?“ Farins irritiertes Gesicht wird etwas milder, dann sieht er den Verband. „Und wat haste da jemacht? Biste wieder betrunken irgendwo rumgeflogen, oder wat?“

Arsch. Ohne ein Wort kletter ich aus seinem Bett und gehe hinüber in mein Eigenes.

Nach ein paar Minuten höre ich die Dusche, später Farins Zimmertür zu klappen und wie er sich auf seine Matratze legt. Die ist bestimmt noch warm von mir. Irgendwie vertreibt das meine Wut auf ihn. Warum sind wir manchmal so zueinander?


Als ich mittags in die Küche schlurfe, ist Farin schon wieder wach, also er sitzt in der Küche auf einem Stuhl und liest. Wach sieht er nicht wirklich aus.

„Hey, Bela.“ Er legt das Buch zur Seite und steht auf. „Ick ...“ Er kommt noch einen Schritt auf mich zu, zieht mich auf einmal an sich. „Ick wollt mich entschuldijen wejen heute morjen. Ick hab dit kaputte Glas und die janzen blutigen Klopapierfetzen im Müll gesehen.“ Er blickt auf meinen Daumen. „Allet okay?“

Ich nicke an seiner Brust. Ja, gerade ist alles sehr okay.

„Danke, das de allet ufjeräumt hast.“

Ich nicke wieder, sehe dann zu ihm hoch. „Und ick hab `n paar Gigs für uns organisiert.“

Das Zauberwort tut wirklich seine Wirkung. „Echt?“ Er schiebt mich von sich und strahlt mich an. Krass, können seine Augen leuchten. „Wo denn? Wann denn?“

„Nächstes Wochenende geht`s nach Braunschweig.“

„Fantastisch.“ Farin drückt mich nochmal an sich und mir dann einen Kuss auf`s Ohr. Der Friede im Hause Vetter-Felsenheimer ist zumindest für heute wieder hergestellt.



Grenze Dreilinden, Berlin - 28. Januar

Ich habe es mir im Liegen neben Farin auf der Matratze von Hans VW-Bus gemütlich gemacht. Unter der Pritsche stapeln sich unsere gesammelten Instrumente und Verstärker.

Die Rücksitze sind ausgebaut wegen dem ganzen Krempel, den wir zu jedem Gig mitschleppen müssen. Also, bleibt uns nur die Pritsche. Scheiß auf Sitze, scheiß auf Anschnallpflicht, liegen ist eh besser. Vor allem nach dem Konzert. Bisher haben die Bullen in noch keiner ihrer zahlreichen Verkehrskontrollen des Busses Stress gemacht. Ob uns allerdings die DDR-Grenzer so durchlassen?

Natürlich staut sich am Checkpoint Bravo mal wieder der Transitverkehr. Dieses Warten macht mich ganz zappelig. Die Grenze nervt einfach so dermaßen. Aber ich hab auch `n bisschen Reisefieber. Unterwegs sein ist schon geil plus Auftrittsadrenalin. Unschlagbare Kombi. Ich wünschte nur, ich wär nich so allein damit.

„Mir is sooooo langweilig.“ Ich zupfe an Farins Mantel. Der hat sich in ein Buch von den Ausmaßen des Brockhaus vertieft.

„Mhmm?“ Auch wenn er mich ansieht, so ist er doch nicht wirklich anwesend hier in unserem „Tourbus“.

„Was liest`n du da?“

Er zeigt mir das Cover. „Tolstoi“ steht in goldenen Buchstaben drauf. Drunter „Anna Karenina“. Klingt russisch.

„Du kannst doch jetze nich lesen!“ Ich rupfe ihm das Monsterbuch aus der Hand. Er reagiert nicht, tut einfach pantomimisch so, als wäre sein doofer Wälzer noch da. Scheint ja wahnsinnig spannend zu sein.

Erste Sätze sagen echt viel aus über ein „Werk“ hat er mir mal erklärt. Ich blätter bis ich den Anfang gefunden habe, wobei Farin fast aus seiner Rolle fällt, denn natürlich habe ich ihm jetzt seine Stelle verblättert.

„Alle glücklichen Familien gleichen einander,
jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Weise unglücklich.“

Okay, der Satz ist irgendwie echt krass. Ich sehe hinüber zur Farin, der neben mir immer noch „liest“, gerade blättert er um. „Wiiiiitzig, Farin.“

Mit komplett ernstem Gesicht sieht er kurz zu mir rüber. „Ja, nee? Könnt ick jetz mein Buch, dit mit den echten Seiten, wieder ham?“

„Hol`s dir doch!“ Ich schwenke es außerhalb der Reichweite seiner Affenarme, fange an das Fenster runterzukurbeln. Eisige Luft bläst mir ins Gesicht. Eigentor.

„Sag mal, Bela, geht`s noch?“, ruft Hans nach hinten. „Wir stehen hier fast vor den Grenzern und ihr ...“ Seine Freundin Uli neben ihm zwinkert mir zu. So, so.

Schnell kurbel ich es wieder hoch. „Um was geht`s `n in dem Buch?“

Farin bekommt sein Lehrergesicht und ich muss grinsen, weil er das nicht mal wirklich ironisch meint. „Das ist ein Verführungs...“

„Die schreiben 1.000 Seiten über Sex? Geil.“

„Quatsch. Verführungsroman. Geht halt janz viel um verheiratet sein und fremd gehen und Moral - meistens anhand eines Frauenschicksals. Also, dit ham wir in meinem Deutsch-LK so erklärt bekommen. Und das die Protagonistin am Ende immer stirbt, meistens durch Suizid.“

Ich starre ihn nur an. „Dit is ja fies. Zuerst wird se schick verführt und dann bringt se sich um? Dit muss doch echt nich sein:“

„Waren halt damals noch andere Zeiten, also moralisch.“

„Jenau, und heut sind och andere Zeiten und deswegen is die Moral, dass de den Schinken nich wieder kriechs.“

„Dit wer`n wir ja sehn.“

Farin wirft sich auf mich und versucht meine Arme zu fixieren, aber den Trick kenn ich seit Silvester. Ein zweites Mal bekommt er mich damit nich. Dafür ...

Ich beginne ihn zu kitzeln, was gar nicht mal so ungefährlich ist, denn jetzt zucken seine ewig langen Arme und Beine unkontrolliert durch die Gegend. Ich will mich gerade auf ihn setzen, da erwischt mich seine Hand an der Schläfe. „AU!“

„Mann, Jungs.“ Hans klingt ein wenig genervt. „Der ganze Bus wackelt mit eurem Getobe. Könnt ihr euch mal bitte `n bisschen benehmen? Sonst gibt`s gleich richtig Ärger an der Grenze.“

Ich wechsel mit Farin einen Blick, der sich immer noch die Seite hält und nach Luft schnappt. Wär schon scheiße, wenn sie uns wieder den halben Bus auseinander nehmen, weil sie denken wir schmuggeln irgendwas Verbotenes in ihre tolles sozialistisches Superland.

Wir setzen uns anständig auf die Pritsche und komischerweise gibt es kein Problem mit den Uniformierten West und dann Ost, obwohl wir wahrscheinlich genügend Anlass dazu bieten würden. Das ist wirklich immer sehr unberechenbar. Vielleicht sogar mit Absicht? Keine Ahnung, was in diesen Regimeköpfen vorgeht.

Also holpern wir lustig über die Transitstrecke und schließlich muss Farin seine Anna Karenina weglegen, weil ihm beim Lesen schlecht wird. Yeah!

„Wie weit is es `n jetzt noch, Papa?“

Hans deutet auf ein Schild am Rand der Transitstrecke. „Dauert schon noch.“

„Komm, Farin. Wir spielen „Ich sehe was, das du nicht siehst“.“

„Okay.“ Er ist immer noch leicht weiß im Gesicht, gibt dennoch ein genervtes Elternschnauben von sich. Anscheinend versteht er, dass ich nicht aufgeben werde, seine Aufmerksamkeit zu bekommen und er schon verloren hat.

„Also!“ Ich schaue mich nach etwas extra Schwerem um. „Ich sehe was, was du nicht siehst und das ist Silber.“

„Die Armaturen!“

„Nein.“

Farin lässt seine Augen konzentriert durch den Innenraum schweifen. „Das Gestell von deiner Bassdrum.“

„Nope.“

„Der Türöffner.“

„Nö.“

„Deine Ringe.“

Nich schlecht, aber ... „Neee.“

„Oh, Mann, Bela! Haste `ne Silberfüllung im Backenzahn, oder wat?“

Ich reiße den Mund auf. „Nöööööö.“

„Ick geb auf.“

„Schooon?“

„Ick seh nüscht Silbernes mehr.“

„Ick geb dir `nen Tipp: Es ist hier im Bus, aber du – gerade du – kannst es nicht sehen.“

„Was `n das für `n Blödsinn?“, grummelt er neben mir.

Ich breite meine Arme aus. „Und meine Damen und Herren, da ist es wieder das „Ich kann ganz schlecht verlieren“-Face of Farin Urlaub.“ Mit Befriedigung vernehme ich wie Hans vorne zu kichern anfängt.

Farin rollt demonstrativ mit den Augen. Na, immerhin einer hat noch Humor hier drin.
„Wat is et nu – dein Silber?“

„Na – Trooommelwiiirbeeel! Nee, wart mal, ick mach `n richtijen.“ Ich beuge mich vor und schlage mit den Fingern auf eine Hi-Hat.

„Mann, Bela!“ Dieses Mal ist es nicht Farin, sondern Hans. „Für ein Konzert ist der Raum hier drin echt zu klein.“

Schade. Unser Bassist hat doch nich so viel Humor. „Okay, okay. Also, des Rätsels Lösung lautet.“ Ich sehe Farin bedeutsam an. „Deine Haare.“

„Meine ...“ Er fasst sich auf den Kopf, versucht eine der Strähnen so runter zu ziehen, dass er sie sehen kann. Sehr amüsant, wie er nach oben schielt. „Spinnst du? Die sin doch nich Silber. Wenn überhaupt, dann sin die Platin.“ Er verschränkt die Arme, was gar nicht so einfach ist, wenn man mehr liegt, als sitzt. Dann blitzt etwas in seinen Augen. „Okay, ich bin dran. Ich sehe was, das du nicht siehst und das ist durchsichtig.“

„Die Fenster.“

„Viel zu einfach.“

„Dit Glas über den Armaturen?“ Wohl eher nicht. Da war sowas Triumphierendes in seiner Stimme.

Er schüttelt den Kopf.

„Dein Humor.“


Nach Magdeburg deutet Farin auf ein Schild. „Wal-Deck.“

„Dit heißt ja wohl eher Wald-eck.“

„Nö. Man nennt ja `nen musikalischen Fisch zum Rumtragen och Wal-kman.“

Hans dreht sich zu uns nach hinten. „Wo ist denn da der Wi... Oh! Okay.“

„Du bist dran.“ Farin grinst mich an.

„Ähm ... Worin bewahrt man tote Wale auf?

„Dit is einfach: in `ner Walurne.“

„Wie nennt man einen weiblichen Wal, Bela?“, macht Farin weiter. Uli dreht sich mit einem fragenden Gesicht zu uns um.

„Damen-Wal“, sagen wir im Chor.

„Du bist dran.“

Ich überlege angestrengt, aber mir fällt nichts ein.

„Wohin gehen Wale nach der Arbeit?“ Farin wackelt mit seinen Augenbrauen und ich muss leider, leider mit den Schultern zucken. „Na, ins Wahllokal.“ Sogar Hans und Uli müssen lachen.

Ich brauch länger, aber dann hab ich eine grandiose Idee. „Wie nennt man einen Wal, der aus dem Ruhrgebiet kommt?“

„Pottwal“, kommt es von Farin wie aus der Pistole geschossen. Ah, verdammt.

Farin legt sich auf den Rücken und betrachtet aus dem Fenster die vorbeifliegenden kahlen Bäume am Rand der Transitstrecke, dann blickt er wieder zu mir. „Der hat jetze DDR-Bezug. Also, was hat ein Wal, der aus dem Gefängnis kommt?“

„Wal ...? Wal...? Wal-freiheit?“ Das muss es sein.

Er nickt. „Nich schlecht, mein Freund.“

Für den nächsten brauch ich ein paar Momente, aber dann macht es Klick. „Wie nennt man einen Wal, der in regelmäßigen Abständen wiederkommt?“, frage ich Farin mit sehr seriösem Gesicht.

Er muss überlegen – lange, was mich sehr glücklich macht.

„Keene Ahnung“, gibt er sich schließlich geschlagen.

„Na, dit is `n Inter-wal.“

Einen Moment sieht er mich nur perplex an, dann wirft er seinen Kopf zurück und bricht in lautes Gelächter aus, so dass ich seine 52 Zähne in ihrer vollen Schönheit bewundern kann. Die ganze Matratze bebt unter mir. Bei diesen Lachanfällen kann ich einfach nicht anders, es reißt mich komplett mit.

„Ey, da hinten. Ich hab für euch auch was mit Inter. Noch ein Walwitz und ich setze euch beim nächsten Intershop aus.“

„Hat er Intershop gesagt?“

„Ja.“ Farin nickt eifrig.

„Intershop! Intershop! Intershop!!!“, beginne ich zu rufen. Natürlich ist Farin sofort dabei. Wir finden so einen Fußballhooligan Klatschrhythmus, um unserer Forderung Nachdruck zu verleihen.

Tatsächlich gibt Hans nach, aber nur weil Uli auf`s Klo muss. Wir holen uns bei den charmanten Verkäuferinnen im Intershop eine Club-Cola. Die schmecken echt ganz okay. Der Zucker macht mich dafür noch zappeliger.

„Mann. Scheiß, das ick keene Kohle hab“, murr ich angesichts der vollen Alkoholregale. Und schon sind wir wieder zurück auf der Transitstrecke.

„Wann sind wir endlich da?“


Jugendheim Nord, Braunschweig

„Hey. Cool, euch mal wieder zu sehen. Hab schon viel Gutes gehört von eurer neuen Band. Schräger Name auf jeden Fall,“ begrüßt uns Schlampe euphorisch. „Na, schade, dass Max jetzt doch nicht bei euch eingestiegen ist. Der dreht wohl irgendwie sein eigenes Ding mit ein paar Leuten aus dem Rauchhaus, hab ich gehört.“ Er lacht. „Aber wär cool gewesen, den mal wieder zu sehen.“

Das Jugendheim ist relativ klein und echt anders als die besetzten Häuser oder Clubs in Berlin. Jetzt auch nicht direkt sauberer, aber einfach `n bisschen weniger cool. Hier scheint das Werfen von Bierdosen nicht zum guten Ton zu gehören. Super. Ich muss auch nicht immer mit Bier duschen.

Hans hat sich mit Sepplhut und Lederhosen in sein ironisches Bühnenoutfit geworfen, was unseren Auftritt irgendwie noch cooler macht und er lacht zu Farins und meinem Blödsinnsgelaber. Also, allet schick.

Farin stimmt die Akkorde von „Mein Teddy“ an und schon sind wir unterwegs.

Meine Haare sind vorne inzwischen so lang, dass sie mir beim Spielen und Singen immer wieder ins Gesicht fallen. Ich weiß nicht warum, aber so sehr ich auch versuche mich auf mein Schlagzeug oder das Publikum zu konzentrieren, mein Blick landet immer, immer wieder bei Farin.

 

Manchmal vergesse ich wie groß er ist, aber so wie er gerade hier hinter seinem Mikro steht mit seiner Gitarre... Gut, sieht er aus. Wirklich ein bisschen wie ein Popstar.

Tatsächlich sieht das bei Hans gar nicht so anders aus. Die beiden wuren ab und zu auch schon für Brüder gehalten. Ist natürlich vollkommener Quatsch, wenn man genauer hin sieht, aber manchmal hat mir das echt kurz so `n seltsamen Stich versetzt. Schließlich bin ich Farin viel mehr verbunden.

Außerdem fehlt Hans dieses Strahlen. Der ist eher so ein bisschen unfreiwillig witzig. Aber Farin – Farin leuchtet.

Verdammt, sieht er heute gut aus hier im Scheinwerferlicht. Seine Schiebermütze auf dem Kopf und seine blonden Haare lugen vorne heraus. Er spielt konzentriert, sieht dann zu mir hinüber, grinst, dann ändert sich etwas in seinem Blick. Er kommt einen Schritt auf mich zu, was ungewöhnlich ist, da er meistens so ziemlich genau an einem Fleck stehen bleibt, während er spielt. Es irritiert mich so, dass ich fast meinen Text vergesse und aus dem Takt komme.

 


Ich liebte dich als Junge – ich vergaß dich als Mann
Ouhohohohohohouh – mein Teddy


Angefeuert durch das Gelächter aus der Menge spielen Farin und ich uns die Bälle zu zu spielen. Vor unseren ganzen Freund*innen und Bekannten in Berlin bin ich fast ein bisschen aufgeregter, Farin dagegen entspannter.

Eigentlich sind wir immer ein gutes Team auf der Bühne, aber heute laufen wir zur Höchstform auf. Manchmal bringt die Chemie zwischen uns echt den ganzen Saal zum Toben.

Mein Adrenalingeglitzer scheint Farin anzustecken und seine Augen leuchten den ganzen Abend, vor allem auf mir. Überhaupt wendet er sich mir gefühlt die Hälfte der Zeit zu anstatt den Leuten oder Hans. Das Publikum scheint das aber gar nicht zu stören und Hans auch nicht wirklich. Glaube ich.

Vor der Zugabe fängt Farin mit Walwitzen an und ich würde behaupten sie sind der absolute Höhepunkt unseres Schlagabtauschs. Die Punks grölen vor der Bühne rum und beömmeln sich, wie Farin immer so schön sagt.

Auf einmal schlägt Farin ein paar Akkorde an, von einem Lied, das mir wohlbekannt ist, aber das eigentlich nicht auf unserer Setlist für diesen Abend steht.

„So, Braunschweig, dit is unser letztet Lied für diesen Abend. Is `ne Coverversion, aber Bela und icke mögen et echt gern.“

 

Das Publikum scheint für Farin gar nicht mehr zu existieren, als er die Worte singt. Hans schlägt sich mehr schlecht als recht am Bass bei Farins Überraschungslied, aber wir beide haben das oft zusammen gespielt.

 


Each night I ask
The stars up above
Why must I be
A teenager in love?


Es erinnert mich daran, wie er bei mir damals übernachtet hat, während draußen der Schnee gefallen ist.

 


One day I feel so happy
Next day I feel so sad
I guess, I’ll learn to take
The good with the bad


Als wir nach dem Lied von der Bühne gehen, ist es eher ein Schweben – oder Fliegen! Gerade ist es auf jeden Fall "The Good".

„Yeah.“ Ich sehe Farin an und dieses Strahlen funkelt durch seine Augen bis in mich. Wir fallen uns in die Arme.

„Danke, Bela, das de dit orjanisiert hast.“ Seine Hand liegt heiß in meinem Nacken. „Dit hab ick echt jebraucht.“ Er riecht verschwitzt und verdammt gut und ich will ihn nicht loslassen. In mir regt sich einiges, als er mir auf einmal so nah ist nach den ganzen Blicken auf der Bühne. Aber da ist Farin auch schon wieder weg und klopft Hans auf die Schulter.

Tja, muss ich mir wohl jemand andres suchen.

An der Bar finde ich ein passendes Objekt meiner Begierde. Eigentlich steh ich eher auf schwarzhaarige Punketten, aber sie ist hübsch mit ihren kurzen, blondierten Haaren, allerdings fast `n bisschen zu nett und fast `n bisschen zu schüchtern. Irgendwie auch süß, aber der Abend dauert ja auch nicht ewig, schließlich müssen wir heute noch zurück nach Berlin. Hans hat morgen Uni.

Ich lasse meinen Blick durch`s Jugendheim schweifen, sehe Farin ein paar Meter weiter mit Schlampe quatschen. Er leuchtet immer noch. Als sich unsere Blicke treffen, geht ein Ruck durch ihn, als wollte er zu mir hinüber kommen, dann entdeckt er meine Begleitung und sein Blick verändert sich. Er beißt sich kurz auf die Lippen, dann nickt er mir zu. Ich fühl mich, als hätte mir irgendso `n Kirchenheini die Absolution erteilt. Meine Gedanken kreisen noch einen Moment um Farin, dann hat die hübsche Punkette wieder meine Aufmerksamkeit.

Nach `ner halben Stunde Konversation und zwei Bier macht sie sich endlich sehr vielversprechend am Reißverschluss meiner Lederjacke zu schaffen und ich beginne sie zu küssen. Ihr schwarzer Lippenstift nervt etwas, obwohl er geil aussieht. Demnächst hab ich ihn komplett abgeknutscht von ihren Lippen. Schmeckt irgendwie voll chemisch.

„Hey, Dirk!“, brüllt mir Hans ins Ohr. Es kann nur Hans sein, denn erstens hat Jan eine sehr viel melodischere Stimme, selbst wenn er so schreit, und zweitens nennt er mich Bela.

Genervt drehe ich mich zur Seite und schrecke fast zurück. Ich mag Hans, aber hat schon echt `ne recht feiste Visage. Der könnte echt als Hilfsmittel für Männer arbeiten, die zu schnell kommen. „Unser Bandkollege will los.“

„Echt? Wieso `n ditte?“

„Keine Ahnung.“

Na, toll. War wohl doch nix mit Absolution, wa? Ob Farin das mit Absicht gemacht hat? Meine Stimmung ist jedenfalls weg.

„Hey!“ Mir fällt ihr Name nicht ein. Peinlich. Ratte? „Hey, sorry, Baby!“ Ich lasse es echt klingen, will nicht, dass sie denkt, es wäre nicht schön gewesen mit ihr.

„Schade“, sagt sie. „Echt schade.“ Das finde ich allerdings auch, denn ich bin echt geil. Ich höre Hans rufen, dass ich mal hinne machen soll, gerade deshalb drücke ich sie nochmal fest an mich.

„Komm ja gleich, Hans!“ Viel lieber würd ich ganz anders kommen.

„Ja, aber wirklich. Farin ist auch schon genervt.“

Ich verdrehe die Augen. Ich bin durchaus auch genervt. „Was für `n Stresser. Sorry, Baby. Vielleicht sehen wir uns ja mal wieder wo. Wär echt schön.“

„Fänd ich auch.“ Sie lächelt mich schüchtern an. Echt süß, die Kleine, aber ´n bisschen sehr unschuldig. Vielleicht wäre da gar nicht mehr gegangen.

Das Angetörnt sein bleibt. Ich hatte aber auch seit fast `nem Monat keinen Sex mehr, weiß auch nicht warum. Hat sich irgendwie nicht so ergeben. Is aber auch echt kein gutes Gefühl. Getrunken hab ich heute Abend auch kaum was. Außerdem hatte niemand hier andere lustige Substanzen, nich mal Schlampe, auf den da normalerweise Verlass ist. Mann, Braunschweig. Dabei war das Konzert hier echt cool. Na, dann halt nicht.

Als ich die Tür des Jugendzentrums aufstoße, schießt mir glasklare und verdammt eisige Luft ins Gesicht. Drinnen war es gerade zu tropisch.

Ich gehe hinüber zum VW-Bus. Farin steht vor der geöffneten Heckklappe und wickelt gerade meine Hithats in Wolldecken ein, damit sie auf der holprigen Transitstrecke nicht so klappern. Es müssen nur noch meine Bassdrum und sein Verstärker verladen werden.

„So, da bin ick.“

Farin sieht kurz auf. „Okay.“

Hm. Seltsam. Genervt ist bei ihm anders. Ganz anders, hab ich letzter Zeit ja oft genug mitbekommen dürfen. Ich schnappe mir die Bassdrum und packe sie unter die Liegepritsche.

„War witzig heute mit dir uff der Bühne.“ Ich hau ihm probeweise leicht meinen Ellbogen in die Seite und tatsächlich grinst er zurück.

„Fand ick och.“

„Aber ick weeß nich, ob die Walwitze so gut angekommen sind.“

Farin blickt mich sehr ernst an. „Ick fand sie walhaftig grandios.“

Ich fang an zu kichern wie ein Teenager. „Hans hat total Streß gemacht.“

Schulterzuckend sieht er hinüber zu Hans und Uli. „Ick gloob, der will einfach schnell mit seiner Flamme in `n warmet Bett.“

„Na, wenn die Grenzer den Wagen komplett auseinandernehmen, dann kann er dit getrost verjessen.“

„Kann uns ja egal sein.“ Farin deutet auf die Pritsche. „Ick hätt nich gedacht, dass es `n Vorteil sein kann keen Führerschein zu haben.“

„Wenn ick die Kohle hätte, würd ick den sofort machen.“ Manchmal nervt es mich so auf Hans angewiesen zu sein. Aber gerade find ich es auch besser pennen zu können und nich fahren zu müssen.

„Fertig.“ Farin knallt die Heckklappe zu.

„Na, endlich! Husch-husch.“ Hans scheucht uns in den Bus. Er und Uli steigen vorne ein.

Die Fahrt bis zur Grenze dauert nur `ne halbe Stunde. Mann, sie nervt einfach, diese Scheißgrenze. Die Pässe werden uns abgenommen, über das Fließband neben der Straße zum nächsten Grenzer transportiert. Sehr modern! Jan und ich versuchen uns präsentabel zu machen.

Als wir einmal mit Soilent Grün in Bremen gespielt haben, hatten die Grenzer extreme Freude daran uns samt Wagen auseinander zu nehmen. Systemzersetzende Elemente war die Begründung, die sie einem Auszubildenden so laut zu geflüstert haben, dass wir das auch alle mitbekommen. Vermutlich weil wir nich mehr so brav aussehen wie auf unseren alten Passphotos. Kann ihnen doch recht sein, wenn wir die BRD zersetzen. Echt unlogisch ihre Ideologie! Sollte der Feind meines Feindes nicht mein Freund sein?

„Hoffentlich dauert dit heut nich wieder ewig“, seufzt Farin neben mir. „Is echt jedes Mal wie Russisch Roulette mit denen.“

Aber, oh Wunder, nach einer halben Stunde sind wir durch. Vielleicht ist es den Grenzer*innen heute auch einfach zu kalt alles bis ins Detail zu durchleuchten. Jetzt noch zweieinhalb Stunden Transitstrecke, dann können wir uns in unsere warmen Betten kuscheln.

Farin und ich legen uns wieder hinten bäuchlings auf die Pritsche. Die Gesichter in die Hände aufgestützt sehen wir durch die Windschutzscheibe nach vorne auf den wenigen Verkehr, der mit uns über die schicke DDR-Autobahn schaukelt.

Farin dreht seinen Kopf zu mir. „Biste müde?“

Ich sehe ihn mit extra weit aufgerissenen Augen ohne zu Blinzeln an. „Total.“

„Spinner! ... Ick muss nach `m Auftritt erstmal wieder runterkommen.“

„Ick och.“ 

Ich lese gerade das Schild für „Wal-deck“, als ich seinen Blick auf mir spüre. „Wärst gern noch geblieben, wa? War süß die Kleene.“

„Ja, wär echt cool jewesen.“ Ich sehe auf Farin hinüber und es kribbelt in mir, seine Nähe, die gemütliche Atmosphäre hier hinten. 

Farin lässt sich zur Seite fallen und sieht zu mir rüber. „Sorry, dass de nich zum Zug gekommen bist mit der hübschen Blonden. Hans hat echt voll rumgestresst.“

„So? Aber ... Er meinte zu mir, DU wolltest los.“

„Ich?“ Er schüttelt den Kopf. „Nee. Halt so in ein, zwei Stunden. Ick hätt da schon noch `n bisschen abhängen könn. So oft sehn wir die Braunschweiger Punks ja nu och nich. Und es is grad mal halb elf durch.“

„Komisch. Hans hat gesagt, du wärst voll genervt.“

„Nö, war ich nich.“ Er sieht stirnrunzelnd nach vorne zu Hans am Steuer. „Wahrscheinlich weil er los wollte. Immerhin muss er ja noch die ganze Strecke fahren. Außerdem hilft`s ja jetz eh nüscht mehr. Jetze sind wir unterwegs.“ Er dreht sich neben mir auf den Rücken und nun blicke ich auf ihn hinunter. Die Scheinwerfer der entgegenkommenden Autos lassen seine Haare hell aufleuchten. 

Vorsichtig strecke ich meine Hand aus. Stehen ihm gut, die längeren Haare. Behutsam fahre ich über die ziemlich verfilzten Strähnen. Ich lasse meine Hand in seinen Nacken wandern. Hier sind die Haare kürzer. Sein zufriedenes Brummen dröhnt durch mich von der Stelle, an der sein Brustkorb an meiner Seite ruht. Farin schließt die Augen. 

Mich kitzelt seine Nähe und irgendwie auch das Verbotene, die Idee hier ein paar Meter hinter Hans und Uli mal zu sehen, ob ... 

In den letzten Jahren habe ich gemerkt, dass es so einen speziellen Blick gibt. Wenn ich den aufsetze, dann werden die Frauen meistens schwach. Mein Blick sagt ihnen, dass sie der einzige Mensch auf der Welt sind, der mich interessiert. Und das ist nicht nur eine Masche, es ist in dem Moment, dann auch so.

Ob der wohl auch bei ihm wirkt? Irgendwie ist er gerade trotz meiner tausend Freund*innen und Bekannschaften der einzige Mensch, der mir wirklich, wirklich wichtig ist. Der mich aber auch immer wieder verdammt schnell aus der Fassung bringt. Auch im Negativen. Aber gerade ....

Mhm. Erstmal muss ich ihn dazu bringen, seine Augen wieder zu öffnen, nich das er mir hier noch einfach so wegpennt. Ich beuge mich ganz nah zu ihm hinunter und singe ganz leise. „Knopfaugen blicken mich traurig an… Oh, mein Teddy, kannst du mir verzeihn?“

Tatsächlich gehen seine Augen wieder auf, werden dann sehr groß, wahrscheinlich weil ich doch unerwartet etwas nah bin. Langsam beuge ich mich noch weiter zu ihm hinunter, verharre exakt an der Schwelle, die verdammt nah, aber nicht zudringlich ist. 

„Hey, Jan?“ Er zuckt bei seinem Namen zusammen, blickt mich immre noch wie hypnotisiert an. Ich beuge mich den letzten Millimeter hinunter zu seinem Ohr. „Haste Lust `n bisschen rumzuknutschen?“

Er dreht seinen Kopf langsam in meine Richtung. Seine Wange landet an meiner. Warm „Hier?“, flüstert er zurück. 

„Dit war jetzt keen direktet Nee“, wisper ich.  Ich lehne mich wieder ein kleines Stückchen zurück, lasse meinen Blick in seinen fallen.  

Er wirkt fast ertappt, dreht sich ein Stück von mir weg. „Ey, dit kann Hans doch im Rückspiegel sehen.“

„Nich, wenn wir uns umdrehen.“ Ich deute zur Heckklappe, halte den Atem an. Auf Farins angeleuchtetem Gesicht spiegeln sich seine Gedanken: Aufregung, Scheu, Interesse, Angst erwischt zu werden, dann beißt er sich auf die Lippen und nickt. 

Allein das reicht schon, dass ich schlagartig wieder richtig heiß bin. Er setzt sich auf und dreht seinen langen Körper, seine Knie stoßen gegen meine Rippen und mit dem Ellbogen verpasst er mir eine sanfte Backpfeife. „Genau. So ein paar Schläge sind och nich schlecht“, grinse ich ihn an. 

„Doofkoop.“ Sein Grinsen funkelt mit etwas in seinen Augen um die Wette.

„Sach ma, was macht `n ihr da hinten?“, brüllt Hans über seine Schulter. „Ich kann gar nichts mehr sehen durch die Heckscheibe.“

Farin legt sich schnell hin und hält sich die Hand vor den Mund. In seinen Augen glitzert unterdrücktes Lachen. Ich kann meinen Blick nicht von ihm losreißen. 

„Uns war nur kalt“, rufe ich zurück. 

„Ja, sorry. Die Heizung ist ausgefallen. Muss echt repariert werden. Können wir ja von der Bandkohle zahlen, nee? Und ein Satz neue Reifen sollte auch drin sein bei den Kilometern, die wir mit meiner Mühle runter nudeln.“

„Ja, ja.“ Interessiert mich grade gar nich. „Kannste ma `n bisschen Musik anmachen, Hans?“

„Das Radio is auch kaputt.“

Farin sieht zu mir hoch und zuckt mit den Schultern. 

„Wat is `n an der Karre nich kaputt?“ Manchmal kann ich es nicht lassen Hans zu reizen. 

„Beschwer dich nicht, Bela. Immerhin bringt sie uns zu den Konzerten.“

Irgendwie hat er da auch wieder recht. Ich blicke hinunter auf Farin. Das Auto hinter uns leuchtet uns durch die Heckscheibe gnadenlos an. Zum Glück ist das Glas so schmutzig, dass uns der Fahrer nich sehen kann – vermutlich. 

Der Gedanke kickt mich sogar noch ein bisschen mehr. Ich beuge mich über Farin. Das Glitzern in seinen Augen wirkt jetzt fast ein wenig aufgeregt - und ein wenig schüchtern. 

Er packt das Revers meiner Lederjacke und zieht mich nach unten. „Ey, leg dich ma hin. Ansonsten kriegt Hans dit gleich als hübschet Scherenschnitt-Theater serviert.“

In mir steigt ein Kichern auf, als ob ich wieder 14 bin. Dabei hab ich noch nich mal was gezogen heute. 

Ich drehe mich zu ihm auf die Seite. Wir liegen einander gegenüber und ganz behutsam, so als könnte ich ihn verschrecken, strecke ich meine Hand nach ihm aus, lege sie an seine Wange. Mit diesen Wangenknochen könnte man Diamanten schneiden. Und in die langen Grübchen an seinen Wangen fallen wie in den Mariannengraben. 

Ich fixiere ihn, merke, dass sein Atem schneller geht. Nur davon, dass ich ihn so leicht berühre, ihn ansehe? Ich rutsche die letzten Zentimeter zu ihm hinüber.  Fuck. Er ist so nah und ich will ...  

Unsere Blicke sind im grellen Licht unlösbar ineinander verflochten. Ein paar Sekunden liegen wir so einander zu gewandt ganz still. Ich kann seinen warmen Atem an meinem Hals spüren. Ich hoffe, ich rieche nicht zu stark nach Rauch. Vor der Knutscherei mit „Baby“ habe ich extra noch einen Kaugummi eingeworfen. Hoffentlich wirkt der noch. Das Auto überholt, wir liegen wieder im Dunkeln. 

Ich rutsche den letzten Millimeter zu ihm hinüber, fühle seine Wärme auf meinem Gesicht. Ganz leicht lege ich meine Lippen auf seinen Mund, ziehe mich kurz zurück, küsse ihn dann noch ein Mal, länger, warte auf eine Reaktion von ihm. 

Nichts, außer seinem Atem, der sich ein wenig schneller anhört. Mein Magen sackt ein Stück tiefer vor Enttäuschung und Schiss, dass ich es mit ihm wirklich nochmal so richtig vergeige, weil es eben doch nicht geht mit uns beiden. Weil wir schon jetzt zu viel sind füreinander. Bandkollegen, Mitbewohner, Freunde ... Scheiß Geilheit! Und altes Arschloch Liebe!

Ich lehne mich zurück auf meine Seite der Pritsche. „Sorry, dit ... war wohl keene so jute Idee, wa?“ 

Vor einem Jahr im SO 36 ist er ja auch mehr oder weniger vor mir geflohen, aber an Silvester ...

Er rutscht unruhig hin und her. Will er wieder fliehen? Aber was soll er hier machen? Die Heckklappe öffnen und stuntmässig auf die Transitstrecke springen? 

Außerdem - er hat nicht Nein gesagt.

Und ich ... Fuck! Ich kann einfach nicht meine Finger von ihm lassen. Ich bin angezündet und das liegt nicht an der verpassten Gelegenheit von vorhin. „Ist das okay?“ Ich streiche ihm sanft durch die Haare und auf einmal schnellt er in einer fließenden Bewegung zu mir hinüber, begräbt mich fast unter sich und sein Gewicht fühlt sich so gut auf mir an, sein Mund heiß auf meinem. Er ist unerwartet wild, wirkt fast hungrig. Auf mich? Oder einfach wegen Auftritt und so? 

Er beißt in meine Lippe und ich stöhne auf. Ich bin immer wieder erstaunt wie groß sein Mund ist. Er fühlt sich so anders an, als alle Leute, die ich bisher geküsst habe. Er packt mich fester. Oh, fuck ... Ich kann nicht weiter grübeln, er schiebt sich auf mich. Wie er die Kontrolle verliert, ist so heiß, dass ich allein davon schon fast komm. Fuck – ja! 

Ich will mich gegen ihn drängen, mahne mich langsam zu mache, aber kann nich anders, reibe mich an ihm. Ich glaube, er ist auch hart. Aber er hat wieder diesen warmen Riesenmantel an, durch den ich ihn kaum fühlen kann. Ich öffne die obersten Knöpfe, lecke ihm über seinen Hals, beiße leicht zu. Er stöhnt an meinem Ohr. Dann lehnt er sich zurück, lässt mich allein.

Nicht schon wieder. „Magst du nich mehr?“ Jan, bitte ...

Er beugt sich wieder über mich. „Doch. ... Vielleicht `n bisschen zu sehr“, flüstert er in mein Ohr. „Wenn se dit vorne nich sehen, dann hören se uns doch. Scheiße, dass dit Radio nich jeht. Das könnten wir ihm ja wirklich mal aus der Bandkasse finanzieren.“

Ich muss grinsen. „Biste denn so laut?“

„Weeßte doch.“

Das ist das erste Mal, dass er bewusst auf das eine Mal anspielt. Oh, ja. Ich habe ihn sehr gut gehört, auch wie er versucht hat, sein Stöhnen zu ersticken. Allein der Gedanke heizt mich noch mehr an. Ich recke mich zu ihm hoch und flüster dunkel in sein Ohr. „Ick mag et dich zu hören.“ Sein spürbares Zusammenzucken ist Antwort genug. 

Hinter uns fährt jetzt ein LKW auf und wir sind wie in Bühnenspotlights getaucht. Geblendet hebt Farin eine Hand. „Mann.“ Auf einmal taucht er halb in den Spalt zwischen Pritsche und Heckklappe ab, dreht sich kurz wieder zu mir. „Halt ma meine Beine fest.“ Ich lege mich auf ihn, was sich verdammt gut anfühlt. Metallisches Klappern dengelt durch den Wagen. 

„Was habt ihr denn jetzt schon wieder gemacht?“, schreit Hans zu uns nach hinten. Vor Schreck wäre ich beinahe von Farin runter gegangen. 

„Nix!“

„Klar. Du bist ja auch immer der volle Unschuldsengel, Dirk!“

„Mann, uns is kalt“, brüllt Farin unter mir zurück und dafür liebe ich ihn gerade wirklich. Er rappelt sich wieder nach oben, in der Hand eine Decke. Er breitet sie über uns aus, auch über unsere Köpfe. Es ist fast wie in dem Zelt – gemütlich, bis auf die Becken die rhythmisch unter uns im Takt der Betonplatten zusammenknallen. Hört sich gar nicht so schlecht an, könnte man was draus machen.

Die Maschen der alten Decke sind fadenscheinig, so dass es immer noch hell ist darunter. Farin dreht mit einer Hand mein Gesicht zu sich, fühlt sich verdammt gut an, wenn er so bestimmend ist. Er knöpft seinen Mantel ganz auf. Dann sind seine Hände an meiner Lederjacke. Er schiebt den Reißverschluss runter, fährt mit seinen großen Händen um meine Taille und zieht mich an sich. 

Ich will mich auf ihn legen, mich an ihm reiben bis ich komme, sollte nich lang dauern. Es macht mich einfach so an, wie er sich gerade von mir nimmt, was er will.

„Sag mal, was macht `n ihr dahinten für Ramba-Zamba?“ Scheiß Hans. Sofort liegen wir komplett still. 

Fast muss ich wegen seiner Wortwahl lachen, auch wenn er nervt. Jan grinst auch. 

„Nüscht.“ Ich glaube nicht, dass es so unschuldig klingt, wie ich es gerne hätte, so atemlos wie ich gerade bin. 

„Das hoff ich.“ Ich seufze. Hans ist zwar echt ein Runterbringer, aber ... Jan ist so nah, seine Augen glänzen, sein Blick bohrt sich heiß in meinen.  

„Fuck, Farin. Ick ... bin echt geil.“ 

Er nickt, nähert sich mir wieder, nimmt mein Gesicht in seine großen Hände. Sie umfangen mich fast ganz. Seine langen Finger streichen durch meine Haarsträhnen. Er küsst mich, vorsichtig, aber darunter kann ich deutlich sein zurückgehaltenes Begehren spüren. Wir achten jetzt bei jeder Bewegung darauf, dass sie nichts verrät. Es hat einen ganz eigenen Reiz, aber ich will mehr. „Haste Lust auf `n bisschen fummeln?“

„Weiß nich." Sein Atem ist viel zu schnell. „Ick kann grad nich so jut denken.“ 

Ich fahre mit einem Finger über seine Lippen, gleite in seinen Mund. Warm, die Zähne ein scharfer Kontrast. Seine Zunge spielt mit meiner Fingerkuppe. Vorsichtig beißt er drauf und ich stöhne hart auf. Er saugt an meinem Finger und es blitzt bis in meinen Schwanz.

Der LKW hinter uns dröhnt und das Licht hüpft über uns auf und ab. Ich schiebe meine andere Hand über seinen Bauch Richtung der Knöpfe seiner Hose. Sein Keuchen an meinen Fingern. Ich ziehe sie aus seinem Mund, fahre über seine Lippen. „Küss mich.“

Sein Mund ist wild und hungrig, aber er zieht meine Hand weg von seiner Hose, schüttelt kurz den Kopf. Ich will zuviel, überfordere ihn. Mein Verstand blinkt warnend auf, aber mein Körper möchte mit seinem verschmelzen.  Ich schiebe mein Bein zwischen seine und er drückt sich so fest an mich, dass ich seine Erregung jetzt deutlich spüren kann. Seine Hände ziehen meine Hüften an seine. Er bewegt sich gegen mich, reibt sich an mir. Unser Stöhnen mischt sich auf unseren Lippen. 

Dann ist sein Mund auf einmal weg. Seine Hände an meinen Hüften verschwunden.

Schwer atmend sieht er mich an. „Ick ... Bela, das ... Ick kann nich aufhören.“ Er klingt atemlos und verwundert, fast erschrocken. Seine Augen signalisieren mir Schock und ich versteh nicht warum. Es ist doch gut, wenn man nicht aufhören will. Oder? Die plötzliche Abwesenheit seines Körpers an meinem tut weh.

Er scheint es zu merken, lehnt sich wieder gegen mich, legt seine Stirn gegen meine. Sein Atem ist immer noch schnell und ich weiß nicht, warum wir dem Sog nicht einfach folgen, denn ich kann fühlen, dass er immer noch hart ist und ich bin so kurz davor ...

„Ick ...“ Er sucht nach Worten, findet sie nicht. 

Mein schneller Herzschlag wird zu Angst. Vielleicht will ich sie auch gar nicht hören. 

Er zieht sein Bein zwischen meinem heraus. Alles in mir bereitet sich darauf vor, dass er mich gleich körperlich und verbal von sich schubst, aber er dreht sich nicht weg, sucht keinen Abstand, bleibt an mich gelehnt, sein Gesicht an meinem Hals.

„Können wir einfach so liegen bleiben?“

„Klar.“ So richtig klar ist es mir und meinem sehr willigen Körper nicht, aber immerhin geht die Angst weg, die Angst etwas falsch gemacht zu haben, falsch zu machen. 

Wichtiger als jedes Rummachen mit ihm ist, dass wir uns nicht verlieren.

Er kuschelt sich an mich und sein Vertrauen, die Vertrautheit zwischen uns ist einfach schön, auch wenn alles in mir der verpassten Gelegenheit hinterher heult. 

Unter uns holpert die Transitstrecke Richtung Berlin, Richtung Niebuhrstraße. Dort wird sich das hier nicht wiederholen, dessen bin ich mir sicher. Das Jan überhaupt soweit gegangen ist, lag am Moment. Oder am Auftritt. Auf jeden Fall an etwas Speziellem, das ich nich versteh. 

Er rutscht noch ein paar Mal hin und her, als würde er eine gemütliche Position suchen, schließlich kuschelt er sich an meine Schulter. Ich kann seinen Atem an meinem Hals fühlen. Nach ein paar Kilometern höre ich ihn leise schnarchen. Es rührt mich. Und genau dieses Gefühl flüstert mir zu, dass ich vorsichtig sein muss mit ihm und meinem Herzen. 

 



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LYRICS

Malaria! - Geld

Kraftwerk - Autobahn

die ärzte - Teddybär

Joy Division - Transmission


Extra SONGS & INFOS

Interview Mania D (später: Malaria)

The Beatles - In my life
Lyrics

Punk-Version Teenager in Love
Lyrics


KONZERTE

Einzelgigs 1983

Bremen Schlachthof – BRDigungs-Festival – zum Erhalt des Jugendzentrums, Nov´83 mit Slime und den Boskops


INTERVIEWS

Konzerte außerhalb Berlins
Die Ärzte haben ja immer nur in Bremen und Braunschweig gespielt – in Braunschweig kannten wir Schlampe, den Sänger von den Sluts, der uns dann immer gebucht hat, und in Bremen hatten wir eine gute Beziehung zum Schlachthof, wo wir damals viel mit der Deutschen Trinkerjugend und den Mimis gespielt haben.

Bela über Geld
Immer wenn wir Miete zahlen mussten, haben wir schnell etwas organisiert und irgendwo gespielt. Diese Gigs waren natürlich kaum promotet, und so ging es drunter und drüber. Neben einem schlimmen Gig in Basel, zu dem gerade mal fünf Zahlende kamen, ist mir vor allem ein Konzert in Erinnerung, das auf einem Bauernhof in der Nähe von Düsseldorf stattfand. Der Laden hieß „Die Eule“ oder so ähnlich, und die Kühe haben zum Fenster reingeguckt - ungelogen! Im Publikum waren fast nur Landeier in Gummistiefeln, und die haben wir ziemlich verarscht. Ich habe stundenlange Gitarrensoli gespielt, und wir haben sie bei einem Mitsingspielchen sogar alle zum Muhen gebracht. Die paar Punkrocker, die sich dorthin verirrt hatten, haben sich bepisst vor Lachen. Auf dem Rückweg nach Berlin haben wir dann noch eine Show in einer Braunschweiger Disco gespielt.



BÜCHER

Wikipedia - Anna Karenina

Wikipedia - Verführungsroman



WALWITZE



TRANSIT & INTERSHOPS

ARTE / Karambolage – Auf der Transitstrecke nach West-Berlin

Tagesspiegel - Bild

Wikipedia - Transitverkehr durch die DDR

rbb reportage auf englisch – Eröffnung von Intershops in der DDR 1974



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Chapter 17: 1983 - Calling

Chapter Text

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* Teenagers in Love *





Lieder und Bilder farbig unterlegt im Kapitel.
Weiterführende Links am Ende.


 

 

 

1983 - Calling




Niebuhrstr. 38 b, Charlottenburg - 1. Februar

Und natürlich passiert es nich wieder. Wusst ick ja schon.

Nur in meinem Kopf, da küsst Jan mich jede Nacht und auch während ich in der U-Bahn sitze oder ihn über unseren Küchentisch beobachte, wie er geistesabwesend sich ein paar Cornflakes in den Mund schiebt, während er liest.

Es steht nich zwischen uns, was im Bus passiert is, aber wir reden auch nicht darüber. Alles fühlt sich oberflächlich normal an. Manchmal bin ich mir nicht mal sicher, ob ich es geträumt habe, dabei ist es erst drei Tage her.

Zweimal hole ich Luft, als wir zusammen in der Küche sitzen, will ihm sagen, dass ich das öfter mit ihm will, dass ich es, sein Begehren, seine Küsse – ihn vermisse ...

Aber dafür - müsste ich mich dafür ändern? Für ihn? Ich bin Bine nicht so unähnlich, aber ich will mit Sicherheit niemals so sein Herz brechen.

Und – ich kann mich nicht ändern, will mich nicht ändern. Vielleicht ist das der Grund, warum ich es nicht ausspreche. Ich würd ihn gern fragen, was er darüber denkt, aber ...

Ich seh nur manchmal seine zu langen Blicke, wenn er zum Beispiel vom Abwaschen aufschaut und mich im Türrahmen erblickt, wie ich versuche nicht zu starren.

Wenn er zumindest trinken würde, dann könnten wir zusammen abstürzen und es einfach auf den Alk schieben. Drogen wären noch besser, aber ... Das ist mit Jan halt nich drin.

Und es ist schlimmer als Verknalltsein. Für einfaches Verknalltsein kenn ich ihn inzwischen einfach zu gut. Das hier geht tiefer, macht mir viel mehr Angst, als meine zahlreichen, schönen Affären.

Vielleicht bin ich ja für ihn auch nur sowas wie eine Affäre? Nein. Oder? Das ist etwas anderes zwischen uns, etwas für das es kein Label gibt.

Und um das nicht kaputt zu machen, spielen wir „Es ist nichts passiert“.



After Eight, Kreuzberg – 10. Februar  

Eigentlich ist alles echt gut in meinem Leben – bis auf die Sache mit Jan.

Diese normale Normalität, die wir uns da zurecht zimmern in der WG ist anstrengend und angespannt und langweilig alltäglich. Seit eineinhalb Wochen hält sie uns gefangen und ich muss daraus ausbrechen.

Deswegen organisiere ich uns ein Konzert. Konzert ist immer gut – Übung, Bekanntheit, Geld für Miete – und vor allem: auf der Bühne, da bin ich mir sicher, werden wir wieder strahlen, Jan und ich ein Team sein.

Im „After Eight“ steht vor uns „Östro 430“ auf der Bühne, eine der leider eher seltenen Frauenpunk-Bands. Ich mische mich ins Publikum und poge mit. Geil.  

Als wir dran sind, passiert das Wunder. Die Scheinwerfer auf uns entfachen den alten Funken, der beginnt wieder zwischen uns hin und her zu fliegen.

Farin stimmt „Teenagerliebe“ an, singt mit ernstem Gesicht. Dann grinst er zu mir hinüber, zum ersten Mal wieder ohne Schutzschild.

Mitten in unserem Auftritt holt Hans auf einmal eine goldene Tüte heraus. Dann fliegen Bonbons ins Publikum, das wohl genauso erstaunt ist, wie Farin und ich. Hans amüsiert sich auf jeden Fall prächtig. „Ja, Massen! Empfangt die Taufe von Sahnie, dem Bassisten der Ärzte, und huldigt ihm in dieser Messe.“

Für einen Moment sind alle ruhig, dann stürzen sie sich auf die Werther`s Echten.

Farin und ich sehen uns an, dann fängt er an zu lachen, direkt ins Mikro. Wenn das passiert, gibt es kein Halten mehr. Sogar die krassen Hausbesetzer*innen können sich seinem Lachanfall nicht entziehen.

Ich stimme als nächstes „Mein kleiner Liebling“ an, obwohl, dass eigentlich erst fünf Lieder später auf unserer Setlist steht.  

Farin wirft mir einen erstaunten Blick zu. Sein Gesicht glüht und strahlt noch vom Lachen und es ist so schön, wie es weh tut.

Wir sind gerade in der zweiten Zugabe des Abends „Zum Bäcker“, als es draußen auf einmal krass laut wird. Geschrei, Gebrüll, dann die erste Polizeisirene. Scheiße.

Jemand vom „After Eight“ kommt auf die Bühne und verkündet, dass die Bullen draußen Streß machen und das Konzert hiermit abgebrochen ist. Wir packen alles zusammen, während die Stimmung in dem Laden komplett kippt. Eine Mischung aus Nervosität, Hektik und Kampfgeist legt sich über die Menge.

Wir drängeln uns schwerbeladen durch die Leute zum Ausgang.

Ein Blick nach draußen zeigt das Ausmaß des Problems. Eine grüne Wand mit Blaulicht auf der Straße, die abgesperrt ist. Die Bullen haben einen riesigen Kessel um das After Eight gebildet.

Auf unserer Seite eine halb vermummte Meute, die so eine Art Sprechchor-Konzert gibt: „Die Häuser denen, die drin wohnen!“ ist noch die höflichste Variante der Sprüche. „Jeder Stein der abgerissen, wird von uns zurückgeschmissen!“

Eine vermummte Gruppe neben uns beginnt Steine aus dem Pflaster zu graben.

„BRD, Bullenstaat – wir haben dich zum kotzen satt!“

„Mist!“, fasst es Hans - oder vielmehr Sahnie – recht treffend zusammen.

Ich sehe zu Farin, der auf einen der Bullen starrt. Der hat einen Tränengaskanister in der Hand. Fuck. Ich brauch das auch nicht schon wieder. Hat beim letzten Mal noch zwei Tage in den Augen gebrannt, der Scheiß.

„Ey, mein Bus steht nur die Straße runter.“ Hans wirkt fast noch panischer als Farin. „Ich hab echt keine Lust, dass der gleich als Barrikade auf die Straße geschoben wird und angezündet.“

Mist. Echt Mist.

Hans geht auf die Linie der Bullen zu, beginnt mit einem zu diskutieren. Vorsichtig gestikulierend zeigt er immer wieder auf Farin und mich, wie wir neben unseren Instrumenten stehen und versuchen sehr, sehr unschuldig auszusehen. Dabei ist genau das Gegenteil der Fall. Ich fühl mich super schuldig, hoffe, dass niemand von meinen Freund*innen vom Eck, das mitbekommt. Krass peinlich, echt! Und stressig.

Ich weiß nicht, um was ich mir mehr Sorgen machen soll: um die Lebensgrundlage in Form unseres Equipments oder meinen Ruf in der Szene. Aber wenn mein Schlagzeug kaputt ist oder Farins Gitarre, dann war`s das einfach.

Die ersten Bullen in der Kette setzen ihre Helme auf, ziehen ihre Handschuhe an. Vermutlich haben wir nur noch knappe 1-2 Minuten, dann geht hier die Straßenschlacht los. Bye-bye Verstärker, tschüss geliebtes Schlagzeug. Adieu, Ärzte. Es war eine schöne Zeit, wenn auch sehr kurz.

Auf einmal winkt uns Hans aufgeregt zu. Zögernd geht Farin auf die Bullen zu, ich hinterher, die Mauer geht auf und schon sind wir durch. Krass. Ich würde am liebsten Hans auf die Schulter klopfen, aber dafür ist keine Zeit. Wir schaffen es gerade noch so zu seinem Bus, dann nimmt der ohrenbetäubende Lärm hinter uns nochmal an Intensität zu.

Ein höllisches Geklapper übertönt alles. Anscheinend kloppen die Bullen zur Einschüchterung mit den Schlagstöcken auf ihre Schutzschilder. Am liebsten würde ich zurück rennen und meinen Freund*innen helfen das Haus zu verteidigen, in dem wir gerade noch auf der Bühne standen.

Stattdessen verladen wir in Windeseile unser Equipment, springen in den Bus, lassen alle im Stich und rasen davon.


Niebuhrstr. 38 b, Charlottenburg – 11. Februar

Ich versuche unserem leeren Kühlschrank irgendwas Essbares abzuluchsen. Natürlich nix drin. Mit Schmackes knalle ich die Tür zu und schrecke zurück, als auf einmal Farin vor mir aufragt. Den hat ich gar nicht kommen hören über meinem frustrierten Gebrummel.

„Ey, Bela, sach ma, wat machste denn heute Abend?“

„Äh, also, ick wollt eigentlich ins Risiko, aber wir könn och wat anderet machen. Hättste vielleicht Bock auf Kino?“

„Absolut. Aber wovon zahlen wir das?“

„Hm. Mist. ... Hey, vielleicht können wir morgen einfach `n paar Stunden Straßenmusik machen. Wenn wir deine tollen Beatles spielen, könnte ein Fuffi abfallen von den Touris.“

Er überlegt, nickt.

„Und ick weeß, wie man sich in den Zoopalast schleicht!“, grinse ich.

Jan schüttelt den Kopf, grinst dann zurück.


Zoopalast, Charlottenburg

Im Zoopalast laufen gegen 20 Uhr vier Filme: „Tootsie“ mit Dustin Hoffman, „Die Supernasen“ mit Thomas Gottschalk und Mike Krüger, der neue Bond „Octopussy“ und der Kriegsfilm „The Day after“.

Als die Leute aus der Vorstellung auf die Straße hinaustreten, schleichen wir uns durch die offene Tür hinein und verstecken uns hinter dem Vorhang. Super staubig dahinter, aber es klappt. Als die Reinigungskräfte wieder draußen sind, setzen wir uns in die hinterste Reihe.

Auf einmal ist Jan wieder ganz nah bei mir. Die Werbung läuft los. Wir wissen noch nicht mal in welchem der vier Filme wir nun gelandet sind. Ich hoffe sehr stark auf „Octopussy“. Pussy ist immer gut.  

Aber nein – wir erwischen ausgerechnet „The Day after“. Oje.

Horror und Grusel kann ich echt gut ab. Aber Atomkrieg? Das ist nicht so mein Genre. Als die Atombombe explodiert, bin ich kurz davor Jan am Ärmel zu zupfen und raus zu gehen. Andererseits tut es gut so neben ihm im Kino zu sitzen, seine Wärme, seine Präsenz neben mir zu spüren.

Die nächste Stunde konzentriere ich mich nur darauf, nicht auf die Leinwand.

Als wir wieder draußen stehen, in einem intakten West-Berlin, dass nicht von Russland angegriffen worden ist, kommt mir das fast bizarrer vor als der Film.

Wir sagen ein paar Minuten gar nichts, dann bricht es aus Jan heraus. „Puh, war der krass.“

„Fand ick och. Nächstes mal gehen wir ins Bahnhofskino! Bei Pornos kann man nüscht falsch machen.“

Farin schüttelt nur den Kopf, aber er grinst. Gut.


Breitscheidplatz, Charlottenburg – 12. Februar

Am nächsten Nachmittag ziehen wir mit zwei Akkustikgitarren los.

Zuerst versuchen wir uns Glück vor der Gedächtniskirche. Aber die Meisten laufen an uns und den Beatles einfach vorbei.

Wir ziehen weiter zum Europacenter. Dort läuft es gleich sehr viel besser. Wir schaffen es sogar harmonisch zweistimmig zu singen.

 

 

 


Would you believe in a love at first sight?
Yes, I'm certain that it happens all the time

What do you see when you turn out the light?
I can't tell you, but I know it's mine


Do you need anybody?
I just need someone to love

Could it be anybody?
I want somebody to love


Ich kann Jan nicht ansehen bei den Strophen, spüre aber seinen Blick immer wieder auf mir. Schließlich sehe ihn an, bleibe mit meinem Blick an ihm kleben. Es hört sich an als würden wir uns wirklich unterhalten, wie einer eine Zeile singt und der andere in der nächsten antwortet.

Ein junger Mann bleibt stehen und hört das Lied bis zum Ende an, dann wirft er einen Fünf-Mark-Stück in unseren Gitarrenkoffer. Ich verbeuge mich und er lächelt uns an.

Die Aktion bringt uns 43 Mark with a little help from our friends. Yes. Wir haben es echt drauf. Und irgendwie ist das Lied echt schön - obwohl es von den nervigen Fab Four ist.

Die Euphorie es dadurch mal wieder geschafft zu haben, den Kühlschrank zu füllen, wird runter gekühlt von rotgefrorenen Finger und Eisklötzen als Füße. Obwohl alles draußen so tut, als würde es langsam Frühling, war es gefühlt doch nur knapp über Null. Plus dieser ätzende Wind.

„So hat ick mir dit Popstar-Dasein echt nich vorjestellt“,  klapper ich zurück in der WG. „Dit mach ick erst wieder, wenn das Thermometer über 15 Grad zeigt.“

Farin nickt, macht sich einen Tee. Ein paar Minuten später versinke ich im heißen Wasser. Das wir zusammen in die Badewanne springen, habe ich mich nicht getraut ihm vorzuschlagen. Und so geht er nach mir.

Obwohl wir zusammen wohnen und die letzten Tage fast so wie früher waren – ich vermiss ihn einfach so krass, vermiss seine körperliche Nähe.

Besser ich hau heute abend noch ab. Vielleicht in den Dschungel. Da kann man eigentlich immer jemand abschleppen. Dann bin ich doch zu müde.



SO 36, Kreuzberg – 13. Februar  

Es ist ein normaler Freitag Abend im SO, aber Farin ist endlich mal wieder dabei und damit ist es auf jeden Fall etwas Besonderes. In den letzten Tagen haben wir endlich mal wieder mehr miteinander unternommen und das „normal“ spielen ist fast wirklich wieder normal.

Leider hab ich ihn vor ein paar Minuten im Gewühl des SO verloren. Jemand zupft mich am Ärmel und mein Herz will schon los hüpfen, aber ...

„Hey, Bela! Jut, dich zu sehn. Ick hab wat Neuet aus England.“ Gittis Augen strahlen mich an. „Soll janz anders sein, als Speed. Haste Bock dit auszuprobiern?“

„Klar.“ Ich schaue nochmal über die Menge, aber kein Farin. Schade. Ich folge Gitti auf das Männerklo und wir sperren uns in die Kabine, die inzwischen schon sowas wie unser kleines Drogen-Zuhause im SO ist. Was ick hier schon durch die Nase gezogen habe, dürfte inzwischen der Aufschüttung des Teufelsbergs entsprechen.  

Gitti hält mir ein durchsichtiges Tütchen vor die Nase mit ebenso durchsichtigen Kristallen.

„Wat `n ditte?“ Etwas misstrauisch sehe ich mir die transparenten Steinchen an.

„Ick konnt mir den Namen nich merken. MDAM oder sowat.“

„Schräger Name. Und wat macht dit?“

„Spritze meinte, dit wär voll so die Happy-Droge von der Insel.“

„Häh?“

„Na, aus England. Wat weeß ick. Ick hab`s ja och noch nich probiert.“ Sie befeuchtet ihren Zeigefinger, holt damit ein paar kleiner Kristalle heraus und steckt ihn sich dann in den Mund. „Fang wa ma besser kleen an, wa?“

„Nich sniefen?“

„Nö. Der meente, dit „dippt“ man.“

„Okay. Fehlt zwar `n bisschen dit Ritual, aber is ja unkompliziert.“ Ich mache es ihr nach. Ungewöhnlich. Ein bisschen bitter, immerhin, sonst würde man ja gar nich merken, dass man sich gerade was einfährt. „Und jetze? Merkste schon was?“

Gitti zieht die Stirn kraus, schüttelt dann den Kopf. „Komisch, wa? Dit andere Zeuch knallt immer sofort. Ick hoff, Spritze hat mich nich verarscht.“

Wir gehen an die Bar und ziehen uns ein paar Kurze hinter, weil von den Kristallen so gar nichts zu merken is. Ich erspähe Hans in der Menge, hebe kurz die Hand, dann verlier ich ihn wieder aus den Augen. Wo ist Farin? Ich hab mich schon gewundert, dass er überhaupt mitwollte. Aber mich vor allem gefreut.

Langsam merke ich den Jacky in den Adern. Immerhin etwas.

Auf einmal sehe ich ein paar aufgestellte und wasserstoffgebleichte Haare in der Menge und meine Knie werden fast so `n bisschen weich. Alles zieht mich in diese Richtung bis ich merke, falscher Punker. Wo ist Farin denn nur hin? Immerhin finde ich Hans wieder. Manchmal ist die Größe der Beiden schon echt hilfreich.

„Hey, Alter. Wie geht`s?“

„Ganz okay. Ist irgendwie nicht so viel los hier heute.“

„Ja. Is mir och schon ufjefallen. Haste Farin gesehen?“

Hans deutet in Richtung Bühne und ich mache mich auf den Weg. Es ist, als wäre in mir auf einmal ein Kompass freigeschaltet worden, dessen Nadel immer auf Jan zeigen möchte. Gerade irrt der Kompass aber nur im Suchmodus durch die Gegend. Wo ist der Junge bloss?

Schließlich erspähe ich ein Leuchten im hintersten Eck des SO. Er sitzt auf dem Boden, neben ihm knutscht ein Paar, das so aussieht als würde es das SO mit der Privatsphäre ihres Schlafzimmers verwechseln. Aber ihn scheint das gar nicht zu stören. Mich auch nicht.

Ich lasse mich neben ihn auf den Boden gleiten. Keine Reaktion.

„Ernsthaft? Du hast Anna mitgeschleppt?“ Es dauert zwei Sekunden, dann scheint meine Stimme zu ihm durchzudringen.

„Was?“ Endlich löst er seinen Blick von dem russischen Wälzer. „Oh. Hi, Bela!“ Ein Strahlen erscheint auf seinem Gesicht und ich bin mir absolut sicher, dass es das Schönste ist, dass ich absolut jemals in meinem Leben gesehen habe.

„Äh, ja, ick wollt nur sicher gehen, dass ick ...“

„... mich nich langweil, oder was?“

Er seufzt. „So ähnlich.“

Ich rutsche ein Stück näher an ihn heran, weil mein neuer Kompass mir das befiehlt. Am liebsten würde der ganz in Jan eintauchen. Ich kuschel mich an seine Seite, genieße seine Wärme, grabe meine Nase an seine Schulter, suche seinen Geruch. Mhm! Mir wird warm im Bauch und leicht.

„Na, du?“ Ein Lächeln klingt daraus hervor. Jan lehnt seinen Kopf ganz leicht gegen meinen. Das ist seit ein paar Wochen nicht mehr passiert und es beruhigt meine Sinne wie eine gute Droge.

Mein Gesicht an seiner Schulter ist nicht nah genug. Deswegen fass ich nach seinem Arm und krieche darunter. Vor uns tobt das SO-Chaos, aber es fühlt sich eher wie Kino an: irgend ein Teddy will Zecke verprügeln, der aber seine Kumpels holt. Tja, Pech für Teddy!

Ein Stöhnen von dem fummelnden Pärchen neben uns. Das hier ist definitiv der Knutschbereich des SO, war ich auch schon oft genug, allerdings noch nie mit Jan.

Den Beiden neben uns könnte man hervorragend wie bei einem Live-Porno zu sehen, aber irgendwie interessiert mich das gerade gar nicht. Einfach nur ruhig in der Höhle aus Jans Armen sitzen ist einfach wunderschön, verzaubert mich seltsam. Ich bin innerlich ganz weich, schwebe mehr neben Jan, als das ich auf dem Boden sitze.

Auf einmal erscheint auf der Leinwand, die das SO gerade zu sein scheint, eine blonde Frau mit einem Macker. Sie zieht ihn an seinem T-Shirt in unsere Richtung, kichert dabei.

Jan zuckt neben mir böse zusammen. Scheiße.

Gerade war in unserer kleinen, versteckten Welt hier noch alles in Ordnung, jetzt sind wir auf einmal mit dem Bine-Universum konfrontiert. Mir schießen Tränen in die Augen, so schlimm find ich das.

Durch Jan neben mir geht ein kurzer Ruck, als wollte er aufstehen, dann wird er ganz starr. Ich sehe zu ihm, sehe wie sein Blick auf den beiden hängt, die nun hemmungslos zu Knutschen beginnen.

Ich bin so an Jan geschmiegt, dass ich das kurze animalische Aufheulen in seiner Brust nicht nur höre, sondern auch fühle. Wie in einem Flashback werde ich ein paar Monate in der Zeit zurücktransportiert, knie auf einmal wieder vor einem vollkommen in Tränen aufgelösten Jan, der im Gemeinschaftsraum vom Eck zusammengekrümmt auf der Couch liegt. Er konnte kaum sprechen, so zerstört war er gewesen. Ich möchte ihn nie wieder so sehen müssen. Es war, als wäre er aus einem Krieg heimgekehrt.

Der echte Jan neben mir ist erschreckend still im Gegensatz zu dem, der sich in meiner Erinnerung immer noch die Seele aus dem Herz weint.

Ich war so fucking hilflos damals und besorgt – und eifersüchtig, eifersüchtig darauf, dass jemand es schafft ihn so tief zu berühren, so etwas in ihm auszulösen. Aber ich will niemals der Grund für so einen Zusammenbruch sein. Mein Körper wird heiß und kalt, wenn ich mir das nur vorstelle.

Ich folge seinem Blick wieder hinüber zu Bine. Sehr zwiespältig das Ganze. Wenn ich ganz, ganz, ganz ehrlich bin, nicht durch die verlogene rosarote Brille sehe, die mir eh nicht steht: ich wär kein Stück anders als sie, wenn Jan und ich etwas miteinander hätten, vielleicht weniger verlogen. Ich mach aus meinen ganzen Liebschaften ja kein Geheimnis.

„Weißte ...“, beginne ich ganz vorsichtig dem erstarrten Jan zu erklären. „Also, ick gloob nich, dass sie wirklich `n böser Mensch is oder so.“

Jans Kopf dreht sich ganz langsam zu mir, schließlich kann er auch seinen Blick losreißen. „Warum tut es immer noch so weh?“ Seine Worte stechen auch mich ins Herz, als wäre ich in seinem Körper, als wäre es mein eigener Schmerz.

„Es tut mir so leid.“ Ich nehme sein Gesicht zwischen meine Hände, ziehe ihn zu mir hinunter und fange an ihn zu küssen, um den Schmerz zu lindern, nicht nur in ihm, sondern auch in meiner Brust. Und auf magische Weise passiert genau das. Als sich unsere Lippen berühren, existiert für mich nichts mehr ausserhalb unserer kleinen Jan-und-Bela-Welt. Ich küsse ihn aus keinem anderen Grund mehr, als dass ich ihn spüren will, ihn spüren lassen will, was er mir bedeutet.

Es ist ein absolut keuscher Kuss, aber mein ganzer Körper vibriert auf einer Frequenz, die nichts mit Sex zu tun hat, aber alles mit L...

„Jaaan? Belaaa?“ Ein fast schon entsetzter Ausruf. „Was macht ihr ...?“ Dann ist Bine weg, der Typ auch, wie eine böse Fata Morgana.

Ich will einfach nur wieder in die Jan-Bela-Welt eintauchen, aber ein Teil dieser Welt setzt sich mit einem erschrockenen Keuchen neben mir auf, entzieht sich unserem kleinen Universum.

Ich ziehe an seiner Hand, will, dass er sich wieder zu mir lehnt, dass wir wieder in die schillernde Seifenblase eintauchen. Er sieht zu mir, sieht hinter Bine und dem Typen her, die schon längst von der Meute des SO verschluckt worden sind.

„Bitte.“ Ich weiß nicht, ob er mich hört, aber er lehnt sich wieder an mich. Dieses Mal vergräbt er sein Gesicht an meiner Schulter. Jan ist wieder da, singen alle Zellen in mir.

„Lass uns abhauen“, murmelt er an meinem Hals. „Ick will nur noch nach Hause.“

Ich geleite ihn durch das SO. Keine Ahnung, wie er es macht, aber irgendwie schafft der große Jan es, sich hinter mir zu verstecken. Wir nehmen einfach die U-Bahn, weil Jan gerade nicht nach Hans suchen will.

Im Abteil sind nur komplett betrunkene oder sonst wie euphorische Partypeople. Wie schon im SO verkriecht sich Jan ins hintereste Eck des Waggons, verkriecht sich in seinen riesigen Mantel, verkriecht sich in mich. Gerade scheint ihm egal zu sein, was wir für einen Eindruck machen, ob uns wer sieht, das wir doch eigentlich normal spielen.

Wir stolpern durch die Wohnungstür in unseren kleinen Flur hinein. Auf einmal ist die Stimmung anders. Wir sehen uns an. Hier braucht Jan meinen Schutz nicht mehr. Hier kann er einfach allein in sein Zimmer fliehen – sein altbekannter Mechanismus, wenn es ihm nicht gut geht.

Finger an meiner Hand. Schön.

„Warum warste denn so kuschlig heut?“ Seine Frage erwischt mich unvorbereitet. Er sieht mich auch nicht an, sondern zu Boden.

„Was meinste denn?“

„Naja, die letzten Wochen waren ja schon irgendwie so `n bisschen ... War halt ungewöhnlich und deswegen hab ick mich jefracht, ob dit ...?“

Er lässt seine Frage offen. Mir fällt dazu auch nichts ein. Also, ich kenn das Gefühl schon, dass ich mich so ganz stark auf die Gefühlswelt von jemand anderem einstelle, aber nich in so einer Tiefe.

„Haste irgendwat genommen?“ Er zieht die Stirn fragend in Falten.

Seltsam, aber bis zu dem Moment bin ich nicht drauf gekommen, dass es daran liegen könnte.

Er fasst mich am Handgelenk. „Kannste bitte die Wahrheit sagen? Ich mag dit nich anjelogen zu werden.“ Anscheinend hat er mein Schweigen als Vertuschung interpretiert. Fast bin ich beleidigt. Ich sag meistens die Wahrheit, oft nicht zu meinen eigenen Gunsten.

„Vielleicht war`n dit echt die Kristalle?“, überlege ich laut.

„Wat denn für Kristalle? Du wirst jetzt nich esoterisch, oder?“

„Quatsch. Nee. Gitti hatte was dabei, irgendso `n MDA oder so. Dit wär so Happy-Zeuch.“

„Ach so.“ Er klingt enttäuscht. Seine Finger gleiten wieder aus meiner Hand und der angeschossene, emotionale Jan verwandelt sich wieder in den Unnahbaren. „Also, hatte dit doch nich wirklich wat mit mir zu tun, wa?“

Er schleicht in sein Zimmer, schließt leise die Tür hinter sich. Hatte er gehofft, dass ...? Soll ich ihm nachgehen? Aber ich hab auch keinen Bock mal wieder abgewiesen zu werden.

Scheiße, ist das zwischen uns kompliziert geworden.


Senheimer Straße 44, Frohnau - 1. April    

Meine Mutter hat mich nach Frohnau zitiert. Sie wollte am Telefon nicht sagen, warum, aber das sich um ein schwieriges Thema handelt, war bei ihrem Tonfall klar.

Mit einem echt beschissenen Herzklopfen klingel ich an der Haustür, die mir so vertraut ist. Seltsam keinen Schlüssel mehr zu haben.

„Hallo Mama!“

„Hallo Jan!“

Mist. Das ist definitiv ihrer Lehrerinnengesicht. Vielleicht erstmal Zeit schinden.

„Julchen?“, rufe ich die Treppe hoch, warte auf das typische Getrappel. Nichts. Stille. Insgesamt ist es unangenehm ruhig.

„Sie ist bei Lisa.“

„Oh. ... Okay. Schade.“ Ich gehe hinüber ins Wohnzimmer, wappne mich für Gerd. Aber auch hier niemand. Wir scheinen allein zu sein. Ungewöhnlich.

„Komm, doch in die Küche, Jan. Ich hab uns einen Tee gemacht.“

Meine Mutter setzt sich an den Küchentisch, der so klein ist, dass wir als Familie immer im Esszimmer sitzen. Die Küche ist das Reich meiner Mutter. Ich liebe diesen Ort, aber heute hat sie mich noch nicht einmal angelächelt, auch nicht umarmt. Was ist denn los?

Meine böse Fantasie jagt los: Sie ist unheilbar krank. Nein. Bitte nicht!

„Bitte setz dich doch, Jan!“

Oder geht es doch um mich? Aber was hab ich denn verbrochen? Und warum ist Gerd nicht hier? Es ist doch sein größtes Hobby mir die Leviten zu lesen.

„Ich wollte mal in Ruhe mit dir reden – über dein Studium.“

Oh, fuck.

„Wie läuft es denn so?“

„Ach ... nicht ganz das, was ich mir so vorgestellt hatte, aber ... ist ganz okay.“

„Ja? Was besuchst du denn für Seminare?“

„Ähm, also ... klassische Archäologie und ja, was zum Römischen Reich und natürlich zum Antiken Griechenland.“

„Mhm. Und wie sind die so deine Seminare?“

Das hört sich so verdammt nach Fangfrage an. Gerade ist sie wirklich nicht meine Mutter, sondern meine Erziehungsberechtigte. Mann, ich bin 19. Ich schweige.

„Ich habe durch Zufall auf einer Feier Prof. Dr. Schmid kennengelernt.“ Sie sieht mich aufmerksam an, so als sollte ich jetzt irgendwie reagieren. Ich starre einfach zurück.

„Das ist dein Professor im Pflichtfach Römische Archäologie.“

Ich nicke vorsichtig, wird wohl stimmen, wenn sie das sagt.

„Ich will ehrlich sein, Jan. Es wirkte nicht so, als ob er dich kennen würde. Und du – du bist ja nun wirklich keine unauffällige Erscheinung an der Uni, würde ich vermuten.“

Leider ist das kein blöder Aprilscherz, im Gegensatz zu Belas Zahnpasta auf meiner Türklinke heute morgen.

Sackgasse. Ich bin aufgeflogen. Obwohl bin ich das? Ich hab ihnen nie irgendwas versprochen.

„Jan, jetzt mal ehrlich: Hast du vor dieses Studium ernsthaft zu beenden?“

Ich schüttel langsam den Kopf. „Ich glaub, die Uni ist nichts für mich.“

Sie greift über den Tisch und nimmt meine Hand. Ich zucke zusammen. „Okay.“ Ihre Augen werden ein bisschen wieder zu meiner Mutter. „Bitte lüg mich nie mehr an. Okay? Ich hab dir immer vertraut, weil ich weiß, dass für dich Ehrlichkeit etwas wirklich Wichtiges ist. Deswegen wollte ich das auch erstmal alleine mit dir klären.“ Sie seufzt.

Meine Wangen sind so heiß und ich innerlich komplett übergossen mit Beschämung, gleichzeitig regt mich das „erstmal“ total auf.

„Tut mir leid.“ Ich mein es wirklich so. Früher – vor Gerd – waren wir irgendwie ein Team, auch wenn ich damals noch verdammt klein war. Ich bin ihr wirklich dankbar, dass sie ihn rausgehalten hat, hasse sie dennoch dafür, das Gerd überhaupt in unserem – meinem Leben aufgetaucht ist.

„Hast du denn eine Idee, was du anstatt von Archäologie studieren willst?“

Ich hole tief Luft. „Ich bin jetzt ehrlich, okay?“

„Ich bitte darum.“

„Ich glaube, die Uni ist insgesamt nichts für mich.“

„Aber warum? Du warst doch in der Schule gar nicht so schlecht – vor allem für das, was du investiert hast. Als Lehrerin würde ich dich sogar als begabt einordnen. Du hast so viel Potenzial.“

„... Danke. ... Aber ... Also, an der Schule, da kannte ich ja die Leute, meine Freunde waren dort – Ecky. An der TU ist alles so riesig und wahnsinnig anonym. Ich hab mich dort echt überhaupt nicht wohlgefühlt. Außerdem – die Seminare sind total langweilig. Ich wäre viel lieber aktiv, als wieder rumzusitzen und zu reden.“

„Schade. Wirklich schade. Na, es gibt ja auch noch andere Möglichkeiten. Zur Not kannst du ja auch noch später studieren. Was willst du denn dann machen? Eine Lehre? Eine Ausbildung?“

„Ich ... will gerade einfach nur weiter Musik machen. Mit Bela.“ Ich versuche es so ernsthaft zu sagen, wie möglich, aber ich kann selber hören, wie unrealistisch das klingt. Als ob wir davon leben könnten – vor allem auf Dauer.

„Aber das hat doch keine Perspektive, Jan! Von was zahlt ihr denn überhaupt eure Miete?“

„Also, wir spielen ab und zu Gigs.“ Das wir inzwischen immer mal wieder am Europacenter für Touris Strassenmusik machen, damit wir es überhaupt schaffen, lass ich aus. Das ist ja nicht wirklich lügen.

„Ich mach mir schon öfter mal Sorgen um dich, mein Großer. Ich weiß, du nimmst keine Drogen, aber die Szene, in der du unterwegs bist ..." Sie seufzt noch einmal, dieses Mal länger, dann winkt sie ab. „Du wirst deinen Weg schon machen."

Ihre Verabschiedung ist lieb, aber irgendwie auch traurig, so als hätte ich wirklich etwas von ihrem Vertrauen in mich verspielt. Der ganze Besuch sitzt in mir wie ein Stachel. Ich brauch einen Zukunftsplan, nicht wegen ihr, sondern wegen mir.



Turmstraße, Moabit  

Von der Telefonzelle am S-Bahnhof rufe ich Ecky zu Hause an, bete fast, dass er da ist, dass Nicole Nachtschicht hat. Ich brauch ihn gerade ganz für mich allein, fühl mich innen roh, außen dünnhäutig.

„Hallo?“

Allein seine Stimme lässt meine Anspannung fast ein stürzen. „Hi, Ecky!“, presse ich mit belegter Stimme heraus.

„Hi, Jan! ... Also, ich freu mich sehr dich zu hören, aber du klingst ... nicht gut.“

„Kann ich vorbei kommen?“

„Klar.“

„Gut.“ Ich atme auf. „Bin in `ner halben Stunde da.“

Tatsächlich hat Nicole Nachtschicht. Da sie in ihrer Wohnung aus Geldmangel kaum Möbel haben, setzen wir uns vor ihrem Bett auf den Teppich.

Als Erstes platzt das peinliche Gespräch mit meiner Mutter aus mir heraus. Er braucht nichts zu sagen, ich weiß auch so, dass er einen Teil ihrer Position versteht. Tu ich ja selbst. Es treibt mir immer noch die Röte ins Gesicht. So erwischt worden zu sein, ihre Sichtweise auch noch verstehen zu können – Au!

„Du siehst echt nicht gut aus, Jan!“

Ich versuche ein breites Grinsen, merke erst auf meinen Lippen wie kläglich es ausfällt. „So schlimm?“

„Ja!“ Fast bin ich von seiner Antwort so genervt, dass ich wieder abhauen will, schon halb stehe, aber er sieht mich so ernsthaft besorgt an, dass ich mich mit einem Stöhnen wieder auf den Teppich zurück fallen lasse.

„Was ist denn los, Jan?“

Bilder von nächtlichen Transitautobahnen und Silvesterraketen fahren in meinem Kopf Karussell, Wörter sprudeln in meiner Kehle hoch. „Geld! Wir haben ständig Geldprobleme, Bela und ich!“

„Mhm. Tut mir echt leid. Da hab ich echt Glück, dass ich BaföG bekomme. Magst du es denn echt gar nicht zu studieren?“

„Nee.“ Ich schüttel vehement den Kopf. Dem Zirkus brauch ich keine zweite Chance geben. Immerhin das ist total klar für mich.

„Echt schade.“

„Hat meine Mutter och gesagt!“

„Is es auch. Ich find auch nicht alles geil, aber allgemein ist es schon echt spannend. Die Leute sind nett, alle teilen das gleiche Interesse.“

„Das freut mich für dich. ... Eigentlich war das für mich mit der Musik so, aber ... grad seh ick den Sinn irgendwie nich mehr so ganz. Wo soll dit denn hinführn?“

„Oje. Hey, Uta hat schon èin bisschen recht, aber lass dir doch nicht deinen Lebensweg davon nehmen. Du liebst Musik! Du liebst sie wirklich! Okay?“

„Ja, schon. ... Reisen lieb ick och, aber damit kann ick ja wohl schlecht unsre Miete bezahlen.“ Ich seufze, denke daran, was ich noch liebe oder vielmehr den Menschen, den ich - also, ich befürchte, ich liebe ihn wirklich. Aber ... das hat doch schon mal nicht geklappt.

Bela hat vermutlich sogar recht, dass Bine nicht die herzlose Frau ist, als die ich sie gerne sehen würde, dass sie mich auch mochte, aber eben auch andere Menschen. Bela hat vermutlich deswegen recht, weil er so ähnlich ist wie sie. Warum verknall ich mich immer in solche Menschen?

Und - warum tut das immer noch so weh? Bine mit dem Typen zu sehen, hat alles wieder aufgerissen. Und das mit Bela, dass ist einfach – schwierig.

Liebe ist doch scheiße.

All das erzähl ich Ecky nicht. Wie soll er das auch verstehen mit seiner Nicole?

Er umarmt mich so fest zum Abschied, dass ich fast doch noch breche. „Danke, Ecky!" Schnell mache ich mich los.

Er nickt, scheint zu verstehen. Als die Wohnungstür zufällt, vermiss ich ihn schlagartig brennend, will fast nochmal klingeln, ihm alles anvertrauen. Immerhin hat er an Silvester eh schon was mitbekommen - vermutlich. Aber ...

Es ist so kompliziert, dass ich es selbst nicht versteh.


In der S-Bahn schalte ich meinen Walkman an. Oh. Etwas rastet in mir ein. Eine Lösung für dieses unaushaltbare Gefühl, nein, Gefühle in mir.


Niebuhrstr. 38 b, Charlottenburg  

Ich warte, warte auf Bela. Ich will in sein Bett kriechen heute Nacht, weiß nicht mal, was ich dort genau will. Ich will nur, dass er da ist.

Und das ich ihm von meinem Plan erzählen kann, ihn vielleicht sogar überreden kann mitzukommen. Auch ihm würde mal eine Berlin-Pause gut tun, finde zumindest ich.

Ich liege die ganze Nacht allein in seinem schwarz gestrichenen Zimmer, in seinem Bett. Sein Kissen riecht nach Rauch und Haarspray und nach ihm.

Meine Gedanken rasen in hunderte Richtungen. In verschiedenen, theaterartigen Szenen wird mir in dieser Nacht meine Zukunft präsentiert.

Ich als Möchtegern-Musiker, der nie über den Amateurstatus hinauskommt, aber standhaft daran festhält, das das „sein Leben ist“.

Ich als Aushilfsarbeiter im Schichtbetrieb - bei Storck. Der widerlich süße Geruch steigt mir sofort wieder in die Nase, übertönt sogar den Rauch in Belas Zimmer.

Ich an der Uni, einer von zweihundertfünfunddreißig in Hörsaal 3 B.

Ich im Büro meines Vaters, im schicken Anzug als sein Teilhaber, der Erbe des „Imperiums“. Stolz klopft er mir auf die Schulter.

Ich wie ich mich von Bela trenne, weil ich Angst habe mich weiter in den Traum von den Ärzte-Popstars zu verrennen.

Ich wie ich mich mit Bela zerstreite, weil wir keinen gemeinsamen Nenner mehr finden – immer mehr auseinander driften, noch verschiedener geworden sind, als wir das eh schon sind.

Aber für streiten müsste Bela überhaupt erstmal wieder anwesend sein.

Am Morgen habe ich kaum geschlafen, Bela ist immer noch nicht wieder da und ich habe brennendes Kopfweh von den ganzen potentiellen Lebensläufen und fiktiven Jans.

Den ganzen Tag schleppe ich mich müde durch die WG, nicht mal lesen geht. Alles hängt an mir wie ein Klotz. Ich brauche eine Entscheidung, würde das aber gerne erst mit Bela besprechen.


Niebuhrstr. 38 b, Charlottenburg - 2. April  

16 Uhr. Er ist immer noch nicht zu Hause. Ist nicht wirklich ungewöhnlich. Kommt mal vor.

Aber gerade jetzt ... Meine Ungeduld, das Warten wandelt sich in Unruhe, zu dem Gefühl, noch schneller los zu wollen, zu müssen.  

Ich traue mich nicht mal einkaufen zu gehen aus Angst ihn zu verpassen, was natürlich irrationaler Quatsch ist, aber nach der zweiten recht schlaflosen Nacht, hab ich nur noch Grütze im Hirn, ernähre mich von abgelaufenen Dosentomaten und Nudeln.



Niebuhrstr. 38 b, Charlottenburg - 3. April  

Die dritte Nacht. Er muss doch jetzt ...

Erwartungsvoll schaue ich in Belas Zimmer. Unverändert.

Mann, wo ist der?

Auch wenn ich es nicht will, aber heute nervt es, seine unkommentierte Abwesenheit, mich zum ersten Mal richtig. Das er sich nicht mal meldet und ich ihm stattdessen hinterher telefonieren darf.

Hans erkläre ich am Telefon meinen Plan.

„Was ist das denn nun wieder für eine Scheißidee?“

Okay, dass war zu erwarten. Ich lass die beiden ja auch nicht zum ersten Mal allein. Hängen?

„Wie lange willste denn weg sein?“

„Schon ein paar Tage. `Ne Woche vielleicht.“

„Du bist aber zum Konzert in Bremen wieder da, oder?“

„Ja, klar! Das sind ja noch drei Wochen! Sag mal, weißte was von Bela?“

„Häh? Wieso? Ihr wohnt doch zusammen.“

„Ja, schon gut.“


Nach dem Gespräch mit Hans bin ich mir gar nicht mehr so sicher, ob ich es Bela überhaupt noch persönlich mitteilen will.

Halbherzig telefoniere ich ihm weiter hinterher. Irgendwann hab ich endlich Gitti am Hörer.

„Der is vorgestern mit irgendso `ner Tussi im Dschungel abgezogen. Is der immer noch nicht zu Hause???“

Überraschenderweise klingt sie zickig. Oder eifersüchtig? Es ist eins der wenigen Male, in denen ich mich ihr verbunden fühle.

„Nö. Deswegn ruf ick ja an. Meinste, ihm is wat passiert?“ Die Frage klingt so albern, aber in meinem übermüdeten Hirn laufen die Szenarien nun schon seit über 72 Stunden Amok und ich muss das wissen.

„Quatsch. Dit war so `ne schicke Lack- und Lederbraut. Der war ihr schon beim ersten Anblick verfallen, hat nur noch Sternchenaugen gemacht. Ey, Bela ist manchmal echt so krass. Zuerst hat er sich nich rangetraut, weil er dachte, dass die ihn eh nich will. Aber dann hat er sie die halbe Nacht angegraben – und tada!“ Sie gibt einen halb genervten, halb ehrfürchtigen Laut von sich. „Der ist bestimmt bei ihr und nur am Poppen, der Arsch.“

„Und du kanntest se nich?“

„Nee. Die kam definitiv nich aus der Szene. Die Ma-nu-e-la!“

Nachdem ich aufgelegt habe, weiß ich gar nichts mehr, bin nur noch auf Instinkt geschaltet und der zieht mich aus der Tür, aus Berlin – und zwar jetzt!

Ich hab noch 300 Mark als letzte Reserve für Notfälle und dies ist einer.

Ich schmeiße alles, was ich brauche in meinen Reiserucksack, viel ist es nicht. Dann setze ich mich mit dem Heft, in das ich sonst meine Ideen für Songs notiere, an den Küchentisch.


„Hallo Bela!

Ich weiß nicht, wo du bist. Ich hab zwei Tage gewartet auf dich hier in der WG, um es dir persönlich mitzuteilen, aber - ich kann nicht mehr auf dich warten.

Ich hatte ein heftiges Gespräch mit meiner Mutter über meine Zukunft und irgendwie weiß ich gerade nicht mehr, ob die wirklich in der Musik liegt. Es ist einfach so schwer, daraus wirklich einen kompletten Lebensinhalt zu machen, noch dazu einen erfolgreichen. Und so sehr ich die Musik und unser Projekt mit den Ärzten liebe, ich komm mir trotzdem irgendwie so beschränkt vor. Und beschränkt durch Berlin. Ich kann hier gerade nicht richtig atmen.

Also, ich hau jetzt für ein paar Tage ab nach London. Und ich weiß, dass das für dich irgendwie aus dem Nichts kommen muss, aber - du kennst mich doch: „Manchmal muss ich einfach raus.“ Es ist schon wieder viel zu lange her, dass ich unterwegs war.

Hey, wenn du auch Bock hast auf Anarchy in the UK, dann komm doch nach. Ich würd mich echt freuen und überhaupt – ich würd so gern mal mit dir reisen, aber ... Ich weiß, dass Berlin dir wahnsinnig wichtig ist, dass du hier alles hast, was du brauchst und was dir wichtig ist. Aber ich – ich komm grad irgendwie gar nicht klar. Ich muss ...“

Ich streiche das „muss“, obwohl ich kaum die Sätze formulieren kann ohne Platzangst zu bekommen.

„Ich will meinen Kopf auslüften.

Für die Miete lass ich dir 100 DM da für meinen Anteil.

Es tut mir echt leid. Ich hätte mich gerne von dir verabschiedet, aber Gitti meinte, du bist mit einer neuen Flamme unterwegs. Ich hoff, dir geht`s also gut.

Ich melde mich.

Dein Jan“


Ich setze den Stift ab, will tief durchatmen, aber es kommt nur ein erstickter Seufzer. Mit zitternden Händen reiße ich die Seiten aus dem Heft, lege sie Bela auf`s Bett und stopfe das Heft in meinen gepackten Rucksack. Fertig!

Aus einem Impuls heraus nehme ich das T-Shirt das darauf liegt und rieche daran. Rauch und Bela. Ein trauriges Lächeln tropft über mein Herz. Aber der Abstand wir uns gut tun. Oder doch nur mir?  



 

 

 



What do I do when my love is away?

Does it worry you to be alone?

How do I feel by the end of the day?


Are you sad because you're on your own?



*
*






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LYRICS

Östro 430 - Randale und Bier

The Beatles - With a little help from my friends

The Cure - Friday I`m in love

Judy Garland - Somewhere over the Rainbow

die ärzte - Junge

Depeche Mode - Policy of Truth

The Clash - London Calling


FILME

Trailer - The Day after, 1983
Wikipedia

SO 36 – Berlin Lost in Time and Space – Der Sound der geteilten Stadt, 2012


DEMOSPRÜCHE



*

Chapter 18: 1983 - Sub-culture

Chapter Text

*



Pünktlich zum ersten Eröffnungskonzert der Berliner Clubtour von die ärzte im Schokoladen kommt heute am 7.5.2022 das neue Kapitel.

die ärzte - Noise

die ärzte - Junge

 

 

 

 

* Teenagers in Love *



Lieder und Bilder farbig unterlegt im Kapitel.
Weiterführende Links am Ende.

Einige Dialoge auf Englisch, weil – London!

BDSM-Szene, aber (leider) eher oberflächlich und ohne tiefergehende Details.


 

 

 

 

1983 - Sub-Culture




5. April – West-Berlin – Fähre Calais

Ich trampe am Checkpoint Bravo mit dem Schild „London“ los. Ein fetter Mercedes mit niederländischem Kennzeichen hält. Maarten ist Geschäftsmann. Eingepackt hat er mich anscheinend, weil er Lust auf den Subkultur-Exot hat.

Als wir die Grenze hinter uns haben, seufze ich auf. Die scharfen Worte meiner Mutter am Telefon - „unverantwortlich“, „mehr von dir erwartet“, „besser du kommst mit einer Lösung zurück“ - werden mit jedem Kilometer schwammiger und schließlich habe ich sie komplett vergessen. Fantastisch. Der alte Reisetrick funktioniert auch jetzt wieder. Alles bleibt zurück. Mein West-Berliner Leben ist ausgeblendet und ich bin einfach nur noch ich - Jan. Ohne nervige Familie, ohne unzuverlässige Freund*innen.

Das Maarten mit mir nur Englisch redet, ist ein fantastischer Start in mein Abenteuer. Nur das Thema – „the amazing underground nightlife in Berlin“ - nervt. Das alles lasse ich ja gerade bewusst zurück und es ist deswegen auch das Letzte, über das ich gerade reden will. Seinen tausend Fragen darüber weiche ich aus, indem ich ihm stattdessen von meinen anderen Reisen, von meinem Sommerurlaub in Italien erzähle.

„In Neapel, there I ..." Ich komme ins Stolpern. Es zieht in meiner Brust, aber nicht mal nach der unkomplizierten Felice habe ich gerade Sehnsucht. Ich will gerade niemanden – nur ich und viele unbekannte Menschen, die weder mich noch Farin kennen, die nichts von mir erwarten, keine Verpflichtungen, keine komplizierten emotionalen Verwicklungen. Ein weißes Blatt. Neuland.

Ich switche zu meiner ersten Reise nach London. „My friend and I were just 16, when we went to London for a language holiday“, erzähle ich Maarten in der Nähe von Magdeburg.

Ecky. Verdammt. Warum vermiss ich denn jetzt Ecky? Gerade hat es noch so gut getan, als sich sämtliche Verbindungen in meinem Kopf gekappt haben. Wahrscheinlich weil er der Einzige war, der Verständnis hatte. „Ich hoffe, du findest, was du dort suchst.“ Ich wollte schon antworten, dass ich nichts suche, aber Ecky wusste mal wieder vor mir, warum ich weg muss, wenn auch nicht die Details.

Wir rumpeln weiter über die Transitstrecke. Der polterige Rhythmus spült in mir ungebeten Bilder hoch von Scheinwerfern und einem warmen Körper neben mir, eine Phantomberührung an meinem Hals. Ich lasse meinen verwirrten Kopf an die kühle Fensterscheibe sinken. Maarten ist so nett und lässt mich „schlafen“. Leider schaffe ich das nicht wirklich, weil ich durch die Platten-Autobahn immer wieder schmerzhaft gegen das Fenster knalle.  

Nach zwei Pausen wechselt nach einer weiteren Grenze das Licht. Die niederländischen Autobahnen sind orange beleuchtet, eine tröstliche Farbe und dennoch fremd. Gut so. In Eindhoven lässt mich Maarten um 2 Uhr morgens an einer Tankstelle an der Autobahn raus und wünscht mir „Good luck!“ für den Rest meiner Reise.

Mitten in der Nacht ist es schwer zu trampen. Zum ersten Mal wird mir die unangenehme Seite bewußt, dass ich wirklich gerade – mal wieder – komplett allein bin, alles selber meistern muss ohne backup.

Aber selbst in meinem durchgefrorenen Zustand und nach der siebten Zurückweisung beflügeln mich meine Ungebundenheit und Freiheit immer noch. So leicht habe ich mich seit ... seit meiner letzten Reise nicht mehr gefühlt. Diese ganze Abhängigkeitsscheiße ist weg. Ich hasse es anderen ausgeliefert zu sein, gebunden an ihre Willkür, ob sie nun auftauchen oder nicht, ob jemand mich auch so mag, wie ich ihn, ob ... Egal. Am Ende tut es eh nur weh.

Schließlich packt mich um 7 Uhr morgens eine junge Familie ein. Neben mir pennt ein kleiner Junge in seinem Kindersitz und irgendwie rührt mich der Anblick, dieses absolute Vertrauen, dass Mama und Papa schon alles richten werden. Die beiden sind echt nett, studieren beide noch. Meine Mutter war damals schon mehr oder weniger alleinerziehend mit meinem „Nur noch ein Auslandsprojekt“-Abwesenheitsvater.

In Antwerpen stehe ich nochmal zwei Stunden, dann nimmt mich Glenn, ein schottischer Trucker mit. Ich verstehe von seinen lachend vorgetragenen Anekdoten vom Leben auf der Autobahn ungefähr die Hälfte. Der Akzent ist unglaublich, aber irgendwie auch so cool, dass ich allein wegen diesem schon lachen muss.  

Endlich – nach 29 Stunden – habe ich es geschafft. Von meinem erhöhten Sitz im LKW blicke ich rechts von mir auf das aufgewühlte Wasser des Ärmelkanals. Trotz Kälte und Müdigkeit macht mein Herz einen euphorischen Sprung beim Anblick der Fähre in Calais. Wasser, frischer Seewind und da drüben ist England.

Die Fährfahrt hinüber war auch schon bei meinem ersten Besuch ein absoluter Höhepunkt der Reise. Ich stehe die ganzen eineinhalb Stunden der Überfahrt an der Reling und blicke sehnsüchtig in den leichten Nebel. Auf dem Ärmelkanal ist ziemlicher Wellengang und ein paar Meter hinter mir übergibt sich jemand lautstark über Bord. Ich suche mir einen neuen Ausguck am Bug. Auf einmal tauchen immer mehr Möwen auf und schließlich schälen sie sich aus dem leichten Seenebel: die weißen Felsen von Dover.

Als wir am frühen Vormittag die Fähre verlassen und Glenn an der ersten Kreuzung „falsch“ abbiegt, wird mir kurz böse schlecht und mein Körper bereitet sich auf einen Auffahrunfall vor. Als mir wieder klar wird, dass hier ja Linksverkehr ist, atme ich bewusst durch und versuche mich mehr auf das Radio zu konzentrieren als auf die Straße.

Allein schon einen Sender mit englischen Moderationen und Werbung zu hören, lässt pures Urlaubsgefühl durch meine Adern strömen.

Wir fahren durch die grüne, englische Countryside, dann gefühlte Stunden durch die sich ewig ziehenden suburbs mit ihren grauen Häusern und losen Kabeln von Fenster zu Fenster. Endlich nähern wir uns dem City Center. Glenn lässt mich in Hammersmith raus. „Good luck, mate!“

Auf einmal stehe ich mitten im knatternden London, aber sogar der Verkehrslärm wirkt elektrisierend auf mich. Da ich anscheinend schon wieder vergessen habe oder mich die Macht der Gewohnheit umbringen will, werde ich beinahe von einem rotem Doppeldecker platt gemacht, der von der vollkommen falschen Seite kommt. Geschockt springe ich auf den Gehsteig zurück und er brummt an mir vorbei. Trotz des Schocks wandern meine Mundwinkel nach oben.

Yesssss!

London!!!



5. April – Berlin, Schöneberg

 

 

It’s the third night and the walls are shaking ...

Pleasure bringing pain, it’s all the same
I put my hand near my mouth so I know I’m still breathing


In einem klaren Moment nach einer Session, als ich mich wieder an meinen Namen und mein Leben vor Manu erinnere, frage ich sie, welcher Wochentag ist.

„Kein Ahnung, Süßer.“ Sie zuckt die Schultern. „Ist das wichtig?“

Ich schüttel vorsichtig den Kopf, aber das Spiel ist vorbei, es gibt keine Bestrafungen mehr. Manu holt aus einer Schatulle einen kleinen Schlüssel und öffnet die Handschellen, mit denen sie mich vor Stunden an das metallene Bettgestell gefesselt hat.  

Ich reibe mir die Handgelenke, die überstreckten Schultern, über meinen Hals. Blut. Ich lecke es weg. Behutsam drückt mir Manu eine Taschentuch auf die Stelle.

„Da hab ich wohl etwas zu stark zu gebissen.“ Sie begutachtet die Stelle liebevoll, dann sieht sie mir aufmerksam in die Augen. „Alles okay bei dir, Bela?“

Mein ganzer Körper schmerzt. Ich nicke. Es ist sehr, sehr angenehm. Mein Kopf ist wunderbar wattig wie nach einer sehr guten Droge. Das ist der Sturm von Dopamin und Endorphinen im Körper während der Session, hat mir Manu erklärt und gelächelt. Endorphine seien wie selbstgemachtes Opium.

„Das ist gut.“ Ihre Stimme, ihre Augen liegen nun warm auf mir. Sie zieht mich an sich, hält mich.

Ich seufze. Mir war nich klar, dass und wie sehr mir so etwas gefällt. Also, ich habe es geahnt, noch mehr nach der einen Nacht mit diesem Markus vor `nem halben Jahr, aber gewusst, richtig gewusst habe ich es nich – damals noch nicht.

Manu ist in Bezug darauf eine echte Offenbarung für mich. Eine gute Lehrerin, erfahren und streng. Alles mit ihr ist krass intensiv – nicht nur die langen Sessions mit ihr, der Sex.

Ihre ganze Wohnung ist komplett schwarz gestrichen, an der Wand vor dem Bett hängt ein umgedrehtes Kreuz aus Chrom. In ihrem Wohnzimmer prangt über dem Sofa ein handgemaltes silbernes Pentagram. Alles hat die Würde einer Anti-Kirche - inklusive Manu selbst. Ihre düster gefährlichen Ausstrahlung hält mich gefangen, inzwischen seit Tagen - glaube ich. Ich weiß nicht mehr vor wie vielen Tagen sie mich in ihre düstere Höhle entführt hat.

Alles ist ein dunkler Nebel aus Haut, Fesseln, verbundenen Augen, Befehlen. Ich sinke in warme Dankbarkeit, dass ich ihr begegnet bin und schließe die Augen. Ergebenheit ihr gegenüber fließt durch mich dafür, dass sie mich mitgenommen hat in ihr Reich.

Ich erwache ein paar Stunden später. Schon lange habe ich ohne Drogen nicht mehr so tief geschlafen. Ich fühle mich erholt, aber auch ein wenig dünnhäutig. Die Spiele bringen mich nicht nur körperlich an meine Grenzen. Vielleicht wäre es gut, mal wieder etwas anderes zu sehen als Manus Wohnung.

Sie hat sich einen schwarzglänzenden Morgenmantel übergeworfen und sitzt neben dem großen Bett in einem Sessel. Als ich nach einiger Zeit gefragt habe, wie alt sie eigentlich ist, hat sie mir für meine „ungezieme Frage“ den Hintern versohlt. Später hat sie behauptet, sie sei Mitte zwanzig, aber wenn ich sie so seh unter dem gedämpften Licht der Stehlampe, bin ich mir nicht so sicher. Aber es ist auch nicht wichtig.

Aus einem Aschenbecher neben ihr steigt eine hellblaue Rauchfahne auf. Sie liest vollkommen vertieft in einem dicken Buch und in mir steigt Sehnsucht auf. Ich sehne mich nach etwas Hellerem – zum Beispiel wilde, blondierte Haare und ein überbreites Grinsen.

 

You’re the buyer or the seller
Makes you want what you can’t have


„Manu?“

„Ja, mein Lieber?“

„Ich ... ich würde gerne mal wieder für ein paar Stunden nach Hause gehen. Ist das okay?“ Irgendwie erwarte ich, dass sie mich nicht gehen lässt. Obwohl Manu drauf bestanden hat, dass wir sehr viel vor einer Session reden, bin ich immer noch unsicher über die Spielregeln.

„Aber natürlich.“ Sie lächelt.

„Gut.“

Sie legt das Buch zur Seite. „Aber in zwei Tagen erwarte ich dich wieder hier. Passt dir 20 Uhr?“

Ich nicke, neige meinen Kopf, verneige mich vor ihr. Sie küsst mich auf den Scheitel.

An ihrer Wohnungstür nimmt sie mich noch einmal in die Arme. „Danke, Bela, für die schöne Zeit mit dir. Du bist ein wirklich sehr gelehriger Schüler. Es hat mir sehr viel Freude gemacht. Ich hoffe dir auch?“ Sie blickt mich wieder sehr prüfend an, aber ich habe nichts zu verbergen.

„Ich bin so froh, dass du mich mitgenommen hast.“ Ich küsse ihre Hand, weil das am ehesten ausdrückt, was ich für sie fühle.

Sie grinst, sieht auf einmal wieder viel jünger aus. „Ich auch.“

Dann stehe ich nach dem wilden Rausch auf einmal draußen auf der Straße.

Die Berliner Realität ist nach den tranceähnlichen Spielen, nach der dunklen schützenden Festung wie ein brutaler Schlag ins Gesicht, der Weg nach Hause eine echte Tortur. In der U-Bahn wirken alle einfach nur abgekämpft von Arbeit und Alltag. Graue Großstadtgesichter. Draußen, über dem U-Bahntunnel, scheint trotzdem ganz vorsichtig die Frühlingssonne.

Ich setze meinen Walkman auf, drücke auf „Play“. Ausgerechnet. Farin singt mir „Teenager Liebe“ ins Ohr.

Wir haben es im Proberaum aufgenommen. Am Anfang hat irgendwas bei den Spuren nicht gestimmt, dann höre ich es wieder in Stereo. Fuck! Ich drehe mein Gesicht weg von den Menschen, lege meine Wange an das Fenster. Gerade bin ich wirklich empfindlich.

So schnell ich kann fliehe ich am U-Bahnhof "Wilmersdorfer Straße" aus dem Untergrund, die vertraute Niebuhrstraße entlang, flüchte vor der langweilig streßigen Wirklichkeit nach Hause.

Endlich taucht unser Wohnblock auf. Mit seinem Arbeitssiedlungscharme passt er perfekt zum Rest des „Normal“-Berlins. Ich stapfe das Treppenhaus hoch, das nach Bohnerwachs und Abendessen und Spießigkeit riecht. Lecker! Doch unsere kleine WG darin, die liebe ich sehr.

Mit einem tiefen Seufzer öffne ich unsere Wohnungstür. Ich verharre noch halb im Flur. Meine übermüdeten Nerven wittern sofort, dass etwas nich stimmt. Die Stille ist anders als sonst, wispert mir etwas zu, dass ich nicht verstehe.

Ich sondiere vom Flur aus die einzelnen Zimmer. Jans Tür ist offen, in der Küche brummt der Kühlschrank. Die Badtür ist geschlossen, aber nichts verrät, dass er da drin ist. Ich blicke auf die Küchenuhr. Vier Uhr nachmittags.

An der Garderobe sind seine Schuhe und seine Jacke weg. Freunde? Arbeit? Vermutlich Geld verdienen, der Fleißige. Hoffentlich gibt es nicht wieder Streß wegen der Miete.

Ich öffne meine Zimmertür. Puh! Ich sollte echt lüften, aber ich bin einfach nur verdammt müde von den letzten Tagen und Nächten. Gibt es soetwas wie einen emotionalen Kater? Außerdem brennen meine Augen, aber immerhin halten die dicken Vorhänge ganz wunderbar das Tageslicht draußen.

Schwer lasse ich mich auf mein Bett fallen. Etwas knistert unter meinem Rücken. Ich ziehe es heraus. Fühlt sich an wie ein Brief. Ich strecke mich nach meiner Nachtischlampe. Aua. Das Licht ist echt aggressiv in meinen Pupillen. Ich blinzle.

„Bela“ steht in Jans Handschrift auf dem Umschlag. Fuck. Das sieht seltsam offiziell aus. Wir schreiben uns nie Briefe – außer wenn er ...

Mein Herzschlag jagt los als müsste ich in den Boxring. Ich reiße den Umschlag auf. Meine Augen fliegen über die Zeilen. Durch die Scheiß-Panik springen mir nur einzelne Wörter ins Auge. Aber das reicht. Leider.

nicht mehr auf dich warten – Zukunft – beschränkt

Also, ich hau jetzt für ein paar Tage ab nach London.


London!

Auf einmal ist der Brief nur noch tausend zerfetzte Schnipsel auf meinem Bett. Ich fege sie zur Seite. Mir ist komplett schlecht vor Wut. Ich knipse das Licht aus, verkrieche mich unter der Decke. Spontan macht sich in meinem Schädel ein brutales Stechen breit, als wollte er gleich in einer Atombombenwolke explodieren, doch meine Gedanken sind weit weg. Natürlich bleiben meine Funk-Signale Richtung England unbeantwortet.

Zwanzig Minuten schalte ich das Licht wieder an, wühle mich aus dem Bett und sammle alle Fetzen wieder vom Teppich auf. Dabei merke ich, dass ich wohl auch einen 100-Mark-Schein mitzerrissen habe. Verdammte Scheiße. Als Erstes trenne ich das Briefpapier von den blauen Schnipseln.

Mit meinem dröhnenden Kopf dauert es ewig bis ich notdürftig mit Tesa den Hunni wieder zusammengeflickt habe. Ich starre auf das super zerknitterte Gesicht des Typen mit dem komischen Hut, der jetzt aussieht wie Frankenstein. Den nimmt garantiert niemand mehr. Ich schlage frustriert gegen die Wand. Der Schmerz zieht durch mein eh schon geschundendes Handgelenk.

Nach einer Viertelstunde ergeben auch Jans Sätze wieder Sinn, aber leider sagen sie immer noch das Gleiche.

Also, ich hau jetzt für ein paar Tage ab nach London. Und ich weiß, dass das für dich irgendwie aus dem Nichts kommen muss ...

Es tut mir echt leid. Ich hätte mich gerne von dir verabschiedet, aber Gitti meinte, du bist mit einer neuen Flamme unterwegs. Ich hoff, dir geht`s also gut.


In meiner Brust zieht alles kreuz und quer. Ja, mir geht`s gut mit Manu. Danke der Nachfrage, Arschloch. Aber ... aber du bist nicht da, du blöder Wichser. Du mit deinem Abhau-Gen. Ich will schreien. Stattdessen zerfetze ich den Brief wieder, was dieses Mal wegen dem Tesa sehr viel schwerer ist.

Ich renne hinüber in sein Zimmer, will meinen Zerstörungsfeldzug dort weiter fortsetzen, aber als ich zur Tür hineinstürme, überfällt mich sein Geruch, obwohl der nur noch ganz schwach in der Luft hängt.

Ich sehe mich in seinem Zimmer um. Sein Rucksack ist weg, sein Schlafsack. Auf seinem Plattenspieler liegt die Fehlfarben-LP. Ich schalte ihn an, setze vorsichtig den Tonabnehmer auf ein spezielles Lied. Erschöpft lass ich mich auf seinem Bett nieder.

 

 

Wo ist die Grenze, wie weit wirst du gehen?
Verschweige die Wahrheit, du willst sie nicht sehen.

Fuck you, Jan! Fuck you.

 

Und wenn die Wirklichkeit dich überholt
Hast du keine Freunde, nicht mal Alkohol


Ekliges Selbstmitleid legt sich über mich wie eine tröstliche, warme Decke. Ich falle auf die Seite, streiche über sein Kissen, vergrabe mein Gesicht darin. Herber Duft unter dem Waschmittel, so vertraut, dass es weh tut. Jan ... Scheiße. Ich lege meine Hand auf mein Herz. Ich sehe seine große Gestalt vor mir in den überfüllten lauten Straßen Londons.

 

 

Du stehst in der Fremde, deine Welt stürzt ein
Das ist das Ende, du bleibst allein


Gerade ist mir einfach nur nach Heulen. Trotzdem bin ich immer noch fuchsteufelswild, weil er einfach so abgehauen ist. Aber ... Geht`s ihm gut? Was war nur los, dass er so überstürzt aufgebrochen ist? Was habe ich in meinem Liebeswahn wegen Manu nicht mitbekommen?

Ein kleines schlechtes Gewissen kriecht an meinem Rückgrat hoch.

Hoffentlich geht es ihm gut ...

Ob er gerade an einer Ecke Straßenmusik macht? Eigentlich wollten wir das für die Miete machen diese Woche. Aber er hat seinen Anteil ja schon gezahlt.



6. April – London, Regent`s Park

Ich nehme die Tube zum Regent`s Park. Drei Jahre war ich nicht mehr in London. Das erste Mal 1979 als 16-jähriger mit Ecky. Diese Sprachreise war neben den Falkenlagern echt einfach die geilste Reise überhaupt – mitten hinein in das Epizentrum des Punk und das die ganzen Sommerferien lang.

Die eineinhalb Jahre danach war ich noch zwei Mal hier zu Besuch und so fühlen sich die Straßen mit den dunklen Backsteingebäuden sofort wieder vertraut an.

Als Erstes checke ich, ob ich im Regent`s Park unseren Pennplatz wieder finde. Meine Euphorie wieder in London zu sein, bekommt einen harten Dämpfer. Es patroullieren unglaublich viele Bobbys im Park.

Schließlich frage ich einen älteren Herren, woher diese massive Polizeipräsenz kommt.

„Haven`t you heard? Some months ago, during the „Changing of the Guards“ they killed 4 soldiers, 7 bandmen and – 7 horses!“

Ich habe keine Ahnung, von was er redet. „Who?“

Er beugt sich ein Stück näher zu mir. „It was the IRA“, flüstert er, als würden wir hier überwacht, fügt dann noch ein abfälliges "The Irish" hinzu.

Fuck. Schon mal eine kostenlose Übernachtungsmöglichkeit „out of the window“. Ich laufe entlang der ultralauten Marlyne Bone Road an der Paddington Station vorbei zum Hyde Park. Vielleicht findet sich dort ein Fleckchen.

Im Park wird klar, dass durch die noch fehlenden Blätter an den Büschen mein Vorhaben nicht so einfach wird. Aber hilft nichts. Ich habe einfach mal keine Alternative. Wird schon. Schlimmer als Neapel kann es nicht werden. Höchstens kälter.


Notting Hill

Um den leichten Frust loszuwerden, stürze ich mich in die „Record and Tape Exchange“ Läden in Notting Hill. Die sind einfach die geilste Fundgrube für Musik – auch für meinen schmalen Geldbeutel.

Auf einem Plattencover entdecke ich einen Typen, der fast so wilde, blonde Haare hat wie ich – nur kürzer und so gut wie der werde ich wohl nie aussehen. Billy Idol mit Generation X. Hört sich doch gut an.

Nach vier Stunden durch Platten wühlen, bin ich von meinen eingetauschten 100 Mark fast ein Viertel auch schon wieder los, aber die Ausbeute ist echt geil.

Ich packe die Generation X Kassette in meinen Walkman und laufe weiter durch London, runter zur King`s Road. Cooler Soundtrack zu meinem Streifzug durch die Metropole. Ja, das passt! Gerade will ich echt nur mit mir selber tanzen.



King`s Street, Chelsea

Als ich in der King`s Street ankomme, stolpere ich als erstes über eine Gruppe von Punketten. Es sind viele und ziemlich aufgestylt. Zwei werden auf mich aufmerksam und beginnen zu tuscheln. Sie wirken durchaus nett, aber als sie noch eine Dritte anstoßen, gehe ich schnell weiter. Ein bisschen zu viel Aufmerksamkeit.

Ein paar Blocks später laufe ich in eine weitere Gruppe von Punks. Hier ist echt deren Headquarter in London.Einer hat ein Kreuz auf die Stirn tätowiert, der andere irgendwas mit der Haut. Verbrennungen? Oder Krätze? Ich laufe schnell weiter, bevor mich einer anschnorrt oder es Ärger gibt. Ganz so street punk wie die bin ich einfach nicht.

Etwas vorsichtiger geworden, beobachte ich von der anderen Straßenseite aus eine zeitlang eine weitere Clique von Punks. Ihre hochgestellten „Iros“ sind perfekt gestylt. Teilweise wirkt es fast so, als hätten sie ihre Haarfarben aufeinander abgestimmt. Sie stehen, andere hätten vielleicht lungern gesagt, an einer Straßenecke herum.

Ein paar Touris kommen auf sie zu, staunen. Sie reden mit ihnen, posieren für ein Photo und dann geht die Debatte los, wie viel das gemachte Bild kostet.

Es widert mich in gleichem Maße an, wie es mich fasziniert. Für jedes Foto, dass ein Touri gemacht hat, wird die Hand aufgehalten – und dann wild diskutiert bis der Preis stimmt. Business-Punks!

Ecky und ich haben immer Straßenmusik und -malerei gemacht. Davon konnten wir echt gut leben damals. Die Leute in London kennen „busking“. Ich habe meine Gitarre dabei, aber allein trau ich mich nicht so richtig. Keine Ahnung, warum ich so nervös bin. Es ist als würde ich zum ersten Mal allein reisen. Normalerweise zweifel ich nicht so oft, ob es die richtige Entscheidung war. Das Freiheitsgefühl, das ich noch auf der Fähre hatte, ist hier ein wenig aufgefressen vom Gewühl der Großstadt, der Anonymität, die ich mir doch eigentlich so gewünscht hatte.

Schließlich kommt eine Punkerin mit einem blond-schwarzen Schachbrettmuster in ihren kurzgeschorenen Haaren auf mich zu. „Hey! Would you like to take a picture with us?“

Oje. Anscheinend sehe ich aus wie ein Touri oder ein verzweifelter Möchtegern-Punk. „Oh, no. Thanks. I was just ...“

„Starring?“ Sie sieht mich scharf an, dann beginnt sie plötzlich laut zu lachen. „I`m kidding. Relax.“ Sie haut mir ihren Ellbogen in die Seite. Irgendwie erinnert mich ihre Art sehr an Gitti. Ein unerwartet vertrautes Gefühl legt sich warm um mich.

„Well, that too“, grinse ich, erhalte ein Grinsen zurück. Na, das läuft doch. Ich versuche mein Glück. „Actually, I was wondering, if you know a place, where I can crash tonight?“ Ich gebe mir echt Mühe es so britisch wie möglich klingen zu lassen, aber ich habe den Akzent nicht mehr so gut drauf.

„You are ... German?“

„So obvious, hm?“

Sie lacht. „Not at all.“

„Yeah. I am from West-Berlin.“

„Cooool. I love that place. So weird with that bizarre wall, but also so much subculture. I had a really good time there.“

„Have you been there often?“

„Quite regularly. Kreuzberg.“ Sie spricht es so aus, als würde sie den Kiez wirklich kennen. „Easy squatting – at least some years ago. What`s your name?“

„Farin.“

„Farein?“ Im Englischen klingt der Name doch sehr anders.

„It`s more Far-i-n.“

„Farein.“

„Well, Far-I-n, but ... It`s fine.“

„Good. I am Kate, but everyone calls me Cat. So, do you wanna join us „It`s fine, Farein!“?“

„Sure.“

Sie zieht mich hinüber zum männlichen Dreigestirn aus türkisem, grünem und rotem Iro. Der Rote heißt „Chain.“ Macht Sinn. Der Typ hat eine riesige Kette samt uraltem Vorhängeschloss um den Hals hängen. In seinen Blick auf mich steht ganz klar „Alpha-Punk“ geschrieben.

„Squirrel and Plastic.“ Die beiden anderen sind definitiv jünger. Aber extrem unterschiedlich. Squirrel hüpft die ganze Zeit auf dem Gehsteig herum, springt vor Passant*innen, preist seine Dienste an. Ein bisschen erinnert er mich an mich selbst, während meiner Grundschulzeit. Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom, hat eine Lehrerin es mal sehr genussvoll genannt.

Plastic dagegen steht gefühlt nur aufrecht, weil er an einer Hausmauer lehnt. Seine Augen hängen genauso wie der Rest seines Körpers. Als er versucht mich damit anzusehen, wünschte ich, er hätte es nicht gemacht. Nur verdrehtes Weiß. Mir wird ein wenig schlecht.

Obwohl ich in Berlin Leute, und vor allem auch Bela, schon in wirklich vielen verschiedenen Aggregatszuständen gesehen habe, so hab ich ihn – zum Glück – nie erlebt. Keine Ahnung, was der genommen hat. Heroin?

„Is he okay?“

Cat verdreht die Augen, was ihre Ähnlichkeit mit Gitti nochmal mehr hervorhebt. „Yeah. It will go away.“ Sie haut Plastic ihren Ellbogen in die Seite, sehr viel heftiger als mir zuvor. „Hey, P! Get a grip. You are scarrying off the customers.“

„Wha?“ Er kann kaum reden. Ein Speichelfaden hängt aus seinem Mund. Ich drehe mich weg. Soll ich echt mit denen mitgehen?

Nach zwei weiteren Stunden des Schnorrens, in denen mich Cat überreden will, auch für Photos zu posieren, was ich dankend ablehne, machen wir uns auf den Weg zum „Squat“, was auch immer das genau sein wird.



Islington

Wir fahren – natürlich ohne Fahrschein – ein paar Stationen mit der Tube bis Islington, laufen durch ein Arbeiterviertel mit unendlichen Lindwürmern von Backstein-Reihenhäusern.

Unvermittelt bleibt Cat vor einem der Häuser stehen.

„HEEYYY!“ Sie schreit, dass ich Gänsehaut auf dem Trommelfell bekomme. „Open up, you assholes!“

Auf einmal fliegt etwas aus dem Fenster, trifft mich fast am Kopf. Ein Schlüssel.

„Was about time ...“, murmelt Cat und sperrt die Tür auf.

Im Flur begrüßt uns eine aufgeschlagene Wand, von der man in das nächste Haus sehen kann.

Es sieht aus, als hätten unprofessionelle Einbrecher*innen wild nach einem Tresor gesucht. Stolz zeigt Cat auf das große Loch und die Ziegelsteine, die überall im Flur herumliegen. „We even got two houses.“

Ich halte mir vom aufwirbelnden Mörtelstaub den Ärmel meines Mantels vor das Gesicht.

Sie deutet eine steile Treppe nach oben. So ähnlich sah es bei meinen Gasteltern vor vier Jahren auch aus. Ecky und ich haben uns damals ein Zimmer geteilt. Erinnerungen fluten auf mich ein. Fast kann ich Ecky sehen, wie er vor mir die Stufen hinaufgeht. Zufrieden, nach einem langen Tag Straßenmusik und London-Abenteuer. Ich trauer der damaligen Euphorie meines 16-jährigen Ichs hinterher, Eckys company.

Vor mir sind nur zerrissene Netzstrumpfhosen in mit Ketten behängten Docs. Der Erinnerungs-Ecky verblasst und mit ihm die guten Bilder von damals. Naja, ein London-Abenteuer ist es immerhin dennoch.

Oben öffnet sie eine Tür. In einem großen Raum zähle ich sieben weitere Punks. Ein seltsam chemischer Geruch liegt in der Luft.

„We are basically all sleeping here in this room. It`s a bit squashed, but I think, you`ll find a spot.“

Vor allem bekomme ich gerade keine Luft. Der Gestank nach Bier, Zigaretten, aber vor allem das Chemische, legen sich hart auf meine Lungen. Die vielen fremden Leute, von denen mich ein paar apathisch anstarren und ein Typ ziemlich aggressiv, haben eine verdammt klaustrophische Wirkung auf mich.

„Hey. I`m Farin. From Berlin:“

Eine Punkette sieht zu mir hoch und ihre Augen werden groß. „Wow. Did you flee from there?“

Irgendwie ja, aber natürlich meint sie nicht das. „No. I`m from the Western part of Berlin, not the one affiliated with Russia.“

„Oh.“ Desinteressiert wendet sie sich wieder ab.

Zwei nicken, drei starren weiter und einer versenkt sein Gesicht in einem Plastikbeutel. Jetzt bin ich derjenige, der starrt.

Der Typ mit dem Plastikbeutel lässt sich zurück sinken. Seine Augen sehen jetzt genauso verdreht aus wie die von Plastic. Was für eine Scheiße ziehen die sich hier bloß rein?

Plastic drückt sich an mir vorbei und kniet sich vor den Typen mit dem Beutel. Als ob er sich auf einmal an eine Art Höflichkeitsetiquette erinnert, hält er er ihn mir, dem Gast, zuerst hin. „Want some?“ Er drückt ihn mir mit Nachdruck in die Hand.

Augenblicklich ist der chemische Gestank überwältigend und ich kämpfe damit den Beutel nicht fallen zu lassen – oder aus dem Fenster zu werfen. Fenster auf wäre sowieso eine gute Massnahme.

„No, thanks.“ Ich gebe ihm Plastic zurück, der sich den Beutel auf das Gesicht drückt und tief einatmet. Sein ganzer Körper wird schlaff und er fällt einfach neben den anderen auf den Boden.

Ich muss hier raus. Aber wohin?

„Ehm, Cat! Is there any other room?“

„Not good enough for you?“ Ihr Grinsen macht der Cheshire Cat von Alice im Wunderland Konkurrenz. „Well, there is a bit more space in the other house, but you don`t wanna go there. They are doing Heroin. Sometimes it`s ...“ Sie spricht nicht weiter, wahrscheinlich aus gutem Grund. Ich kann es mir nicht vorstellen – will ich auch gar nicht.

„It`s just – I ... I am not doing drugs – any drugs.“

„You don`t HAVE to.“ Ihre Stimme wird langsam ein bisschen genervter. In ihren Augen bin ich wahrscheinlich wahnsinnig kompliziert - und undankbar.

„Sure, but ...“ Mir dreht sich allein von den Ausdünstungen im Zimmer alles. Ich muss an die Luft. Ich trete zurück an den Treppenabsatz, bekomme eine Leiter zu fassen, die zu einer Art Luke führt.

„Is there a roof?“

„I guess so.“

Für die Nacht richte ich es mir auf dem Dach gemütlich ein. So lange es nicht regnet, ist das definitiv die bessere Wahl. Hier riecht es immerhin nur nach Teerpappe.

Auf einmal öffnet sich die Dachluke neben mir und eine Gestalt klettert stolpernd heraus.

Zuerst bin ich vor Schreck komplett erstarrt, sehe einfach nur zu der Silhouette hinüber. Von der gebeugten Körperhaltung und dem Hin und Hergewanke könnte es Plastic sein. Oder sein Glue brother.

Der Mensch schwankt über das Dach, nähert sich immer mehr der Kante.

„Hey!" Ich versuche den Typen anzusprechen. „Hey, you!", schreie ich nochmal lauter. Keine Reaktion. Und was, wenn das jetzt einer von den krassen Heroinjunkies ist.

Der Mensch läuft einfach immer weiter, immer weiter zu auf den Rand des Daches. Schnell schäle ich mich aus meinem Schlafsack, für Schuhe anziehen ist keine Zeit mehr.  Ich renne zu dem Typen hinüber.

„Hey!" Immer noch keine Reaktion. Wir sind nun beide schon recht nah am Abgrund. Ich packe den Typen an der Schulter und reiße ihn zu mir herum.

Trübe Augen starren mich an. Es ist nicht Plastic, sondern ein mir unbekannter Kerl mit Sicherheitsnadeln im Ohr und in der Nase. Seine Augen blicken in meine und trotzdem ist total klar, dass er mich nicht sieht. Er wirkt wie ein Schlafwandler. An seinem Arm entdecke ich einen Gürtel.

Machen das nicht Junkies vor einem Schuß? Ich kenn mich mit dem Scheiß nicht aus. Fuck! Verzweifelt öffne ich den Gürtel, denn es sieht aus, als würde der Arm nicht vernünftig durchblutet.

Seine Augen wandern zu meiner Hand. Er scheint wirklich gar nichts zu verstehen. Auf einmal dreht er sich um, geht wieder zur Luke und weg ist er, wie ein Gespenst.

Ich atme mehrmals tief durch, schließe die Dachluke und lege mich wieder hin.

Der Nachthimmel über mir ist relativ klar und obwohl es viele Lichtquellen in dieser riesigen Stadt gibt, so kann ich doch einige Sternbilder erkennen. An ihnen halte ich mich fest, kuschel mich tiefer in meinen dicken Schlafsack und versuche mir einzureden, dass das hier eine gute Idee war.



Ich hab noch einen Koffer in Berlin
Deswegen muß ich da nächstens wieder hin
Die Seligkeiten vergangener Zeiten
Sie sind alle immer noch in diesem kleinen Koffer drin

 

 

 

 


*
*




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LYRICS

The Undertones - Get over you

Tuxedomoon - Desire

Fehlfarben - Gottseidank nicht in England

Generation X - Dancing with myself

Sex pistols - pretty vacant

Marlene Dietrich - Ich hab noch einen Koffer in Berlin



BDSM

Deviance
Ich war nicht wirklich erstaunt, dass auf dieser sehr guten Homepage die ärzte mit einem Lied in diesem Artikel zitiert werden.

Spektrum-Artikel


Venus im Pelz

Bela B. liest „Venus im Pelz“ von Leopold von Sacher-Masoch

Wikipedia

Velvet Underground – Venus im Pelz


INTERVIEW

Bevor ihr mit „Debil“ dann euer erstes Album aufnehmen konntet, hat Farin die Zukunft der Band ja nochmal spannend gestaltet und ist nach London ausgeschert.

Farin: London war ja für den jungen Punker das Mekka überhaupt. Ich hatte dort einen Kumpel, der es für eine gute Idee hielt, dass ich auch dort hinziehe, und der behauptete, er hätte einen tollen Job für mich. Also packte ich meine Sachen. Der Job war aber so lausig, dass ich nach einer Woche wieder zuhause war.  Aus heutiger Sicht könnte man sagen: Der hat die Ärzte aufs Spiel gesetzt! Aber da war ja noch nichts, was ich hätte riskieren können, es ging ja um nichts.



80ies SUBCULTURES

A brief guide to the British subcultures

Buzzfeed - Pictures of women from London 80s Subcultures - Then and now


PUNK

A Brief History of Punk’s Birth in the UK - MusicMadeUs, 2020

Londonist - Punk Photos Vintage 1970s - 1980s

King`s Road

Anarchy in the World - A Brief History of Punk, 2016

Punk in London 1977
Trailer

UKDK - A Film About Punks & Skinheads

Urban Dictionary - Plastic Punk



*

Chapter 19: 1983 - nowhere

Chapter Text

*




* Teenagers in Love *





Lieder und Bilder farbig unterlegt im Kapitel.
Weiterführende Links am Ende.

Einige Dialoge auf Englisch, weil – London!

Triggerwarnung: leichte Drogen-Paranoia




1983 - nowhere





7. April – Berlin / Sound


Dunkel.

Laut.

Licht zerteilt Dunkel.

Flackernd.

Bunt.

In meine Augen. In mein Kopf. In mir.

Stimme über Bass. Vertraut. Mag ich. Folge der Stimme.

Neonröhren. Kacheln. Stahl. Alles blitzt seltsam in meinen Pupillen. Weiße Linie vor mir.

Vertraute Stimme fragt etwas. Keine Ahnung. Nicke. Hand. Ein Gegenstand – etwas Gerolltes. Ach ja, sniffen.



*
*
*

Als wäre ich ans Berliner Stromnetz angeschlossen worden. Sofort bin ich wieder wach, mein Hirn, mein ganzer Körper.

„Na, wieder fit?“ Gitti drückt mich gegen die Wand der Toilette. „Fuck, ich hab dich echt vermisst, Bela!“ Sie küsst mich.

Der bittere Geschmack von Speed in unseren Mündern. Mehr. Ich will mehr, so viel mehr. Gitti hat recht. Ich hab es auch vermisst. Diese Nächte, in denen ich wie auf Schienen von einem Abenteuer ins Nächste gleite.

Sie nimmt meine Finger, führt sie zwischen ihre Beine. Feucht, warm. Fuck. Kurz denk ich „Gummis“, dann denk ich gar nich mehr.

Danach tauchen wir wieder ab in die Dunkelheit, mischen uns unter die Menge aus Körpern. Rythmischer Lärm. Es hat etwas Animalisches. Ich treib in einem Mahlstrom aus Schweiß, Hitze und Ekstase.

Als Gitti irgendwann – es könnt Samstag Nachmittag sein – nach Hause geht, zieh ich mit ein paar alten und neuen Freund*innen noch weiter.



8. April – Berlin / Niebuhrstr. 38b

Ich wach neben dem Klo auf. In der Schüssel schwimmt eine sehr unappetliche Mischung aus dem, was ich mir in den letzten Stunden wohl so in den Magen gekippt hab. Soweit ich mich erinnern kann, war nichts Essbares dabei, nur Hochprozentiges.

Wie ich in die Wohnung gekommen bin, ist mir schleierhaft. Irgendwie hab ich Hans Gesicht vor Augen, wie er mich halb die Treppe hoch trägt. War ich echt mit dem unterwegs? Ungewöhnlich.  

Der Geschmack in meinem Mund ist widerlich. Ich spül die Kotze runter und rappel mich hoch, halt mich am Waschbecken fest bis mein Kopf und mein Körper wieder eine Linie bilden, ich check, wo oben und unten ist.

Ich tast mich hinüber in die Küche, mach mir einen Tee. Gerade ist es wohl früher Nachmittag. Zumindest zeigt der kleine Zeiger der Küchenuhr in Richtung 2 und es ist draußen matschig hell unter den Wolken. Sonntag? Montag?

Meine Augen brennen vor Müdigkeit, aber ich weiß schon, dass ich nich schlafen kann. Das Runterkommen nach dem feiern, feiern, feiern, is einfach nur ätzend und noch schlimmer, weil ... Deswegen versuch ich es gerade insgesamt zu vermeiden.

Das Problem stellt sich ja auch nur selten, denn Berlin kennt keine Sperrstunde. Hier kann man prima von einem Ort zum anderen wanken, die Leute wechseln, der Grad der Dunkelheit, die Drogen, der Alkohol. Am Ende angekommen, fängt man einfach wieder von vorne an.

Aber jetzt bin ich hier, wo ich echt nich hin wollte. Verdammt. Komm runter, Bela! Schlaf! Schlaf einfach! Haha.

Ich leg mich in mein Bett. Durch meinen Körper rauscht etwas, das vermutlich eine Line Koks war. Unangenehm. Wenn ich noch den Überblick hab, dann zieh ich kein reines Koks. Es fühlt sich innen und außen einfach nur fies an, macht einen unangenehm wach und laut Berichten, mutier ich wohl zu einem absolut arroganten Arschloch. Muss ja echt nich sein.

Obwohl arroganter Arsch wär gerad besser als dieser zweifelnde, übermüdete Schatten, der sich hier rastlos auf meinem Bett windet. Ich hab mindestens 48 Stunden nicht geschlafen, so ganz genau weiß ich es nich. Die letzten Tage sind in meiner Erinnerung verwaschen, Teile unterbelichtet, andere überblendet wie ein alter Film, ein Film im Zeitraffer, die einzigen zeitlichen Anhaltspunkte Tag und Nacht.

Bisher habe ich es erfolgreich vermieden allein zu sein, vor allem hier in der Niebuhrstraße. Irgendjemand - ich vermute immer noch Hans – hat mich wohl hier abgestellt. Was für eine blöde Idee. Oder hab ich ihm gesagt, er soll mich hier abliefern?

Vor meinen Augen tanzen bunte Lichter. Vielleicht war ich als letztes wieder im „Sound“?

In meinen Ohren fiept es. Besser als komplette Stille. Die Wohnung fühlt sich eh schon an wie ein Sarkophag. Normalerweise mag ich das Gruftgefühl, gerade nach den exzessiven Nächten, aber ... der Große fehlt. Seine Abwesenheit liegt nich nur in der Luft, in der Stille, sondern geht tiefer, als hätt sie sogar die Wände durchdrungen.

Was, wenn er nich zurück kommt? Warum ist er eigentlich nochmal abgehauen? Ich erinner mich durch meinen panischen Wutschleier nur noch, dass irgendwas mit seiner Mutter war und er dann alles angezweifelt hat, irgendwas von Auszeit gefaselt hat in seinem Brief. Von allem. Auch von mir.

Oder?

War da nich was, dass ich nach kommen soll? Nach London?

Dumm wie ich bin, hab ich die Fetzen des Briefes vor ein paar Tagen in den Mülleimer geworfen und später einen Kaffeefilter drauf. Der Tinte des Füllers ist komplett verlaufen. Dieses Mal habe ich keine Chance seine „letzten“ Worte nochmal zusammen zu puzzeln. Ich bin so verdammt sauer auf alles – und auf mich. Bin ich mit daran schuld, dass er abgehauen ist? Hätte ich ihn vielleicht überreden können zu bleiben, wenn ich denn da gewesen wäre?

Scheiße. Mit diesen üblen Gedanken wird mein Kopfweh nur noch schlimmer. Das bringt alles nichts. Ich quäl mich wieder hoch, durchwühl sämtliche Schubladen in meinem Zimmer, öffne sogar die Vorhänge, um besseres Licht zu haben. Nein. Keine Benzoes mehr da. Nichts. Scheiße.

Draußen sind die Wolken davon gezogen und die Sonne prügelt warm auf mich ein. Ich starr in hellblauen Frühlingshimmel. Okay. Davon hatt ich die letzten Tage echt wenig, also befestige ich Jans Hängematte auf dem Balkon. Wie in einem Nest lieg ich darin in der Sonne. Es könnte gemütlich sein, aber statt dem Frühlingsgezwitscher der Vögel zu lauschen, führ ich Selbstgespräche, beschimpf zwischendurch Jan, dann wieder mich selbst.

Kurz träum ich von einem geordneten Leben, in dem es diese krassen Achterbahn-Höhenflüge und Abstürze nich gibt. Ein Alltag, in dem ich arbeite, Feierabend hab, eine geregelte Beziehung. Das bringt mich fast schon wieder zum Kotzen.

Nein. Das bin nich ich. Ich liebe den Rausch, die Nacht. Dieser Absturz grad is nur, weil ich es ein wenig zu sehr geliebt hab und mal wieder das Schlafen zwischendurch vergessen habe.

Und weil Jan weg ist. Seine Abwesenheit macht mich irre. Plus - ich mach mir Sorgen um ihn. Ob er wohl mal versucht hat anzurufen, als ich nich da war? Ich beiss an meinen Fingernägeln rum. Die Sonne scheint auf das dunkle Rot, das hervorquillt. Eine echte, sichtbare Verletzung.

Dieses Kopfkino halt ich eine gefühlte Stunde aus, wahrscheinlich waren es nur zehn Minuten, dann setzt die Panik wieder ein und ich hab immer noch keine Benzoes. Irgendwo hab ich noch was zu kiffen, aber das hat noch nie geholfen.

Ich schließ die Vorhänge in meinem Zimmer wieder, lege mich ins Bett. Ich muss – MUSS! - schlafen.

Zwei Stunden später steh ich wieder auf, wander ziellos durch unsere kleine Wohnung – eine WG is es ja grade nich.

Im Türrahmen zu Jans Zimmer stoppe ich. Es riecht immer noch nach ihm. Doch es scheint weniger zu werden, je länger er nich hier is. Die Panik wird zu Wut.

„Arschloch. Du verdammtes, blödes Arschloch!“ Ich prügel auf sein Kissen ein. Befriedigend. Und - sinnlos. So, sinnlos.

Ich mach mir in der Küche noch `nen Tee, schimpfe mit einer Art Geister-Jan, die ich hinter mir am Küchentisch fühlen kann.

Draußen dämmert es inzwischen. Durch das Fenster seh ich die S-Bahn wie einen leuchtenden Blitz auf mich zu rasen. Ich öffne es, lass mich von der Geschwindigkeit, vom Lärm des Zuges hypnotisieren.

Der Zoo ist nur eine Station entfernt.

Dort gibt es alles.


Berlin / Bahnhof Zoo

Ich hab diese grünen Pillen noch nie vorher gesehen, aber der Typ meint, es wär genau, dass was ich jetzt brauch. Okay. Ich werf sie gleich vor Ort ein, damit sie auch wirklich wirken, wenn in 20 Minuten wieder diese Scheißstille in der Niebuhrstraße auf mich einprügelt.

Ich lauf grad die Stufen von der S-Bahn hinunter, als diese auf einmal die Konsistenz von Schaumstoff annehmen. Woah! Ich halt mich am Geländer fest, das sich ebenfalls seltsam anfühlt. Es scheint sich zu bewegen wie bei einer Rolltreppe.

Die Sorge, dass das Zeug nich wirkt, ist damit vorüber. Verdammt und wie die Grünen wirken. Was ist das?

Ich tast mich langsam wie in Zeitlupe an der langen Mauer der S-Bahngleise entlang Richtung Niebuhrstraße. Auf einmal tut sich neben mir ein schwarzes Loch auf. Irgendwie weiß ich tief in mir, dass das nur die Unterführung ist durch die ich täglich lauf, aber ...

Ich starr hinein, schreck zurück. Alles darin wabert. Ich bekomm einen soliden Metallpfeiler zu fassen, aber unter meinen Fingern pulsiert er, scheint ein Eigenleben zu haben. Auch die Dunkelheit pulsiert um mich. Es ist kurz vor Angst, aber auch verdammt faszinierend.

Gleichzeitig zu den krassen Bildern wird mein Kopf total wattig. Endlich! Hat der Typ doch nich gelogen. Genau das wollt ich. Aber zu früh. Ich muss noch 500 Meter weiter.

Müde. Ich bin so müde. Am liebsten würd ich mich in der S-Bahn-Unterführung einfach zu den Obdachlosen legen, zwischen die Tauben.

Weiter. Weiter. Die Niebuhrstraße runter. Waren die Häuser an den Seiten schon immer so hoch? Ich starr auf das Dekor an der Fassade, fühl mich wahnsinnig klein im Vergleich mit der Statue über dem Hauseingang des Nachbarhauses. Seit wann hat die Statue Flügel? Ich blinzel. Nein, keine Flügel. Seltsam. Sie sahen so echt aus.

Ich bieg in unseren Innenhof ein. Mein Blick is sehr verschwommen, als würd ich durch ein umgedrehtes Fernglas sehen. Die Haustür scheint wahnsinnig weit weg. Das bisschen Grün zwischen den Häusern ein Wald. Die kleinen Blätter an den Bäumen haben ein fast radioaktiv wirkendes Grün. Ich setz mich auf den Plattenboden vor unserem Eingang und staun sie an.

„Wat sitzen Se denn hier rum?“

Frau Pachulke.

Ich rappel mich hoch, bin für einen Moment fast wieder nüchtern.

„Ick bewunder nur den Frühling.“

„Soviel Zeit möcht ick och ma haben, junger Mann.“

Ich versuche sie möglichst nich anzusehen, denn so wie ich mich fühl, müsste sich das auch in meinem Gesicht zeigen.

„Schön`n Tach noch.“

Sie grummelt irgendwas.

Ich kletter hinter ihr die Treppenstufen hoch wie ein Bergsteiger. Schlüssel ist schwierig. Geschafft. Ich kriech in Jans Zimmer, auf seine Matratze und brech dort zusammen. Mit meinem Gesicht in seinem Kissen vergraben, schlaf ich wohl einfach weg.

Als ich wieder erwache, klopft Regen leise an die Scheibe. 15 Uhr, sagt Jans Wecker.

Irgendwas haben die grünen Dinger wohl doch geholfen, denn ich fühle mich zumindest körperlich besser. Aber keine Chance, dass ich es hier aushalte ohne wieder durchzudrehen.

Ich muss einfach raus aus der Niebuhrstraße. Ich springe unter die Dusche, schmeiße ein paar Klamotten in einen Rucksack, knalle die Wohnungstür zu und schließe ab.



Berlin / Kreuzberg

Zum Glück ist Gitti zu Hause. Nur im Schlüpfer öffnet sie mir die Wohnungstür.

„Welch seltener Anblick!“ Sie hebt eine Augenbraue. „Aber, Alter, musst du ausgerechnet um ...“ Hilflos sieht sie sich nach einer Uhr um.

„16 Uhr“, helfe ich aus und da muss sie doch grinsen.

„Na, komm rin, du treulose Tomate. Schön, dass de noch weißt, dass ick existier.“

„Wann – ähm, wann ham wir uns denn dit letzte Mal gesehen?“

Sie rollt nur mit den Augen. „Vor drei Tagen im Sound.“

Drei Tage? Hab ich durch die Grünen mehr als 24 Stunden geschlafen? Ich schaff`s nicht mehr mir `nen Zeitstrahl zusammen zu dichten.

Sie zieht mich in ihr Schlafzimmer. In ihrem Bett liegt eine weitere Gestalt. Ich sehe rosa.

„Oh, äh, moin, Pony!“

Pony macht ein Auge auf und hebt kurz die Hand. „Na? Lässte dich och ma wieder blicken, Herr Bela?“

Pony hab ich echt komplett vernachlässig. „Ja, ähm, sorry, ick ...“

Sie grinst. „Gitti hat mir schon von deinem schicken Aufriss erzählt. Und?“ Sie setzt sich auf und lehnt sich erwartungsvoll zurück.



Berlin / Schöneberg

Eine Stunde zu spät laufe ich bei Manu auf.

Ihr Gesicht ist steinern. „Ist das okay für dich, wenn wir gleich in das Spiel einsteigen?“

Als ich nicke, bekomme ich eine wirklich saftige Abreibung von ihr. Ich solle nie, nie, nie wieder so ungehörig sein und sie versetzen. Vor allem nicht um einen ganzen Tag.

Es tut so verdamm gut. Ich kann mich wieder fühlen. Danach bekomm ich das Lächeln nicht mehr aus dem Gesicht.

Und auch wenn es eigentlich unlogisch ist. Ich bin zufrieden. Vielleicht weil sich endlich mal wirklich jemand um mich kümmert, mich wirklich bei sich haben möchte, es jemandem wichtig ist, wo ich bin und wann.



7. April – London / Soho, Camden, Covent Garden

Ziellos fahre ich mit den großen roten Doppeldeckern herum, lasse mich durch die Stadt treiben, setze mich an einen Brunnen oder vor eines der zahlreichen Denkmäler. Der Londoner Alltag flaniert an mir vorbei und ab und zu schwimme ich ein Stück mit.

Die Zeit tagsüber ist zu 70 % so, wie ich mir meinen London-Trip vorgestellt habe. Aber ich vermiss tatsächlich jemanden an meiner Seite, um die Erlebnisse zu teilen. Ob Ecky meine Einschätzung teilen würde, dass sich die Szene irgendwie ganz schön verändert hat?

Und Bela. Er hat das alles hier noch nie in Ruhe erkundet. Ich würd ihm so gerne ein paar coole Ecken zeigen. Gerade komm ich an ein paar Pornokinos vorbei. Ich muss grinsen. Ja! Das könnte ihm gefallen.

An einer Hauswand entdecke ich ein Konzertplakat.

Oh! Bow Wow Wow! Seitdem ich die Band in Berlin gesehen habe, vor allem die Frontsängerin Annabella Lwin, habe ich einen ziemlichen star crush auf sie.  Und die Musik ist einfach in keine Schublade zu stecken. Endlich mal was anderes.

Das Konzert findet in einem Park statt und scheint kostenlos zu sein. Krass.


London / Southwark Park

Sofort hat mich die Frontsängerin wieder voll im Griff. Was für eine Frau! Sie ist gerade mal 18 und einfach Energie pur. Ich schwanke zwischen mit der tanzenden Menge die Musik zu feiern und einfach nur Annabella anstarren. Da ich auf Rucksack und Gitarre aufpassen muss, bleibt es bei Letzterem, aber ich bin sehr, sehr zufrieden damit.

Ich drängle mich langsam, aber beharrlich nach vorne in die erste Reihe. Einmal meine ich, dass sie mir zu zwinkert und grinst, aber wahrscheinlich habe ich mir das nur eingebildet, blitzt aber dennoch sehr aufregend durch meinen Körper.

Als ich aus dem Park wieder hinaus stolpere auf die lauten Straßen Londons, bin ich endlich mal wieder zufrieden mit meinem London-Trip, bekomme das Grinsen nicht mehr aus dem Gesicht. Die coole Annabella begleitet mich auf dem düsteren Weg zurück nach Islington auf das Dach – also, zumindest in Gedanken.


8. April - London / Squat

Am nächsten Tag bin ich auf einmal total genervt. Fühlt sich so ein Kater an? Wenn ja, keine Ahnung, warum Leute so etwas haben wollen. Also, ich hab nichts getrunken, aber nach den krassen Endorphinen gestern beim Konzert, ist es jetzt ein graues Fallen. Die grölenden, dichten Punks nerven gerade nur noch.

Vielleicht liegt es aber auch einfach nur an meinem unruhigen Schlaf. Seitdem diese Drogenleiche fast vom Dach gefallen wäre, bin ich dort oben noch weniger entspannt. Aber ich finde auch keine bessere Schlafmöglichkeit.

Jeden Morgen packe ich meine ganzen Sachen zusammen, schleppe alles mit mir durch die Stadt, da ich nichts bei den Glue Punks lassen will. Am liebsten würde ich nicht mehr in dieses verdrogte Squat zurückkehren, aber die letzten drei Tage bin ich dann doch jeden Abend wieder dorthin.

Bevor ich duschen kann, putze ich erstmal das kleine Bad mit einer halben Flasche Chlor, die ich extra dafür kaufe.

Cat erklärt mich für komplett verrückt. „Germans!“ Sie schüttelt den Kopf, muss dann doch lachen. „Thanks, you Cleaning-Nazi!“

Nach meiner Putzorgie ist es erträglich in die Wanne zu steigen und ich fühle mich nach der Dusche sogar wirklich frisch. Als ich eine Stunde später nochmal aufs Klo will, hat jemand großflächig ins Bad gekotzt. Ich verkneife mir ein Aufstöhnen, das Atmen, bevor sich mir der Magen auch umdreht.

Nichts wie weg hier. Ich verschwinde schnell ins City Center zum Geld verdienen, schließlich kann ich nicht meine ganzen Notreserven mit diesem Trip auf den Kopf hauen.

Am Picadilly Circus nehme ich meine Gitarre aus ihrem Koffer. Ein gutes, vertrautes Gefühl. Aber erstmal muss ich sie stimmen. Seit sechs Tagen habe ich sie nur herum geschleppt und nicht auf ihr gespielt. Das kommt so gut wie nie vor. Ich beginne mit den Beatles, die laufen mir immer wie automatisch aus der Hand.

„You never give me your money“ passt doch ganz gut.


Out of college, money spent
See no future, pay no rent
All the money’s gone, nowhere to go
Any jobber got the sack


Aber diesen Humor würde wahrscheinlich nur Bela verstehen. Ach Mann, Bela!

Ich wechsle zu was Deutschem. Hab ich Heimweh?

Mein „Verdienst“ nach einer Stunde ist nicht gerade üppig, aber für den Waschsalon reicht es. Straßenmusik funktioniert sehr viel besser, wenn sich Ecky gleichzeitig als Straßenmaler betätigt. Oder hab ich mein Charisma verloren? Noch mehr Zweifel. Geil!

Immerhin habe ich meinen ersten Plan gefasst, wenn auch nicht den, für den mir meine tolle Lehrerinnen-Mutter Hausaufgaben gegeben hat. Ich habe einfach vefickt nochmal keine Antwort auf ihre eindringliche Frage oder vielmehr Drohung meiner Mutter. Und ihre Stimme ist in den letzten zwei Tagen wieder lauter geworden: „Besser du kommst mit einer Lösung zurück“. Oder sonst was? Ich streng mich ja an. Ich muss – MUSS – einen Plan haben, wenn ich zurück nach Berlin fahre.

Aber heute suche ich erstmal nach einem alternativen Schlafplatz. Was ich noch suche, ist die Euphorie meiner letzten Besuche. Aber je mehr ich versuche diese heraufzubeschwören, desto mehr scheint sie sich vor mir zu verstecken.

London war 1980 eine so krass vibrierende Stadt. Oder liegt es an mir? Bin ich so abgestumpft? Im Vergleich zu meinem happy 16-jährigen Selbst komm ich mir gerade so ... alt vor?

Kein Wunder mit diesen nervigen Berufsfragen im Nacken. Gerade fühlt sich die Schulzeit fast entspannter an, obwohl ich da an tausend Pflichten gebunden war - und Gerd.

Aber jetzt sehen mich alle an und wollen „Den Plan“ hören. Sogar für die Die Ärzte brauchen wir einen. Und es gibt keinen – außer unserer naiven „Wir werden Popstars“-Idee.

Ich find meine Planlosigkeit selbst ja auch scheiße, aber ... Gerade ist einfach London der Plan. Doch selbst das löst dieses Mal sein Versprechen nicht ein. Oder waren meine Erwartungen zu hoch? Irgendwas läuft gerade so ein bisschen schief. Vielleicht ist das ja auch gut so. Übermorgen sollte ich mich auch schon wieder aufmachen Richtung Berlin. Das Konzert in Bremen steht an.

Aber etwas in mir sträubt sich – und das enorm. Ein bisschen kenne ich das schon. Ich kehre erst dann gerne von meinen Reisen zurück nach Hause – also nach Berlin – wenn ich voll gesogen bin mit neuen Eindrücken, neuen Kulturen. Gerade fühle ich mich eher erschöpft statt erfüllt. Die Schlaflosigkeit, der Geldstreß, sogar das Alleinsein streßt mich zum ersten Mal.

Ecky hatte recht. Ich suche etwas – weiß aber nicht, was genau. Gerade suche ich vor allem Ruhe. Die trubelige Großstadt, die ständigen Parties im Squat, die Drogencrazies – no, thanks.

West-Berlin ist zwar eine Art Großstadt, aber es ist keine Metropole, nicht so wie London. Spätestens an der Mauer wird es immer sehr ruhig. London ist wie das offene Meer. Hier fegen die Menschen durch die Straßen wie Wellen - bei Windstärke 10.

Fuck. Gerade bin ich einfach nur empfindlich. Eigentlich bräuchte ich ganz dringend eine Pause. Genau dieses Gefühl hat mich ja an die Küste der Insel getrieben. Jetzt bräuchte ich schon wieder eine Pause. Meistens versuche ich in jeder Situation das Positive zu sehen, es mit einer Lupe zu finden, wenn es nicht sofort sichtbar ist, aber gerade – ich weiß nicht.

Ich brauche einfach nur Ruhe. Und dringend was zu essen. Ich sammel die Reste von den Tabletts bei McDonalds. Eklig, aber es hilft gegen den Hunger.

In einer Laundry füttere ich die Maschine mit meinem hart verdienten Kleingeld, aber ich muss meine Klamotten waschen und zwar alle, denn viel habe ich nicht eingepackt und alles stinkt vom Trampen und von dem ekligen Squat. Das heißt jetzt wohl strippen. Zum Glück hab ich den langen Mantel dabei. Vorsichtig ziehe ich mich unter diesem komplett aus und knöpfe ihn zu.

Oh, Mann, wahrscheinlich muss ich mir gleich keine Sorgen mehr um einen neuen Schlafplatz machen, wenn mich die Bobbys wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses einpacken. Bestimmt auch eine interessante Erfahrung mal eine Nacht in einem Londoner Knast zu verbringen.

Nach einer Stunde dreht sich vor mir die Trommel des Trockners und ich bin so müde, dass mich das monotone Brummen der Maschine hypnotisiert und ich ...

Jemand rüttelt an meiner Schulter. „Hey, mate, I would say your loads done.“

Ich schrecke hoch. Der Mann vor mir trägt Baustellenkluft und könnte aus Indien stammen. Oder er ist einfach hier geboren. „Ehm, yeah. Great. Thanks.“

In einer Ecke schlüpfe ich vorsichtig in meine frisch getrockneten Klamotten. Wow, tut das gut.

Als ich eine Stunde später an einem Friedhof vorbei komme, greife ich spontan nach der rostigen Klinke des schmiedeeisernen Tores. Mit einem Quietschen öffnet es sich tatsächlich für mich.


Brompton Cemetery, Chelsea

Ruhe. Vogelgezwitscher. Ich setze mich in einen Arkadengang.

Zum ersten Mal an diesem Tag kann ich mich selber wieder denken hören. Ich ziehe mein schwarzes Heft für Songtexte heraus, aber mir fällt nichts ein. Ich packe es wieder weg und klimper ein bisschen auf der Gitarre herum.

Eine Amsel sitzt auf einem Ast, sieht mich skeptisch an, dann beginnt sie ihren Abendgesang. Immerhin ist einer kreativ. Ich singe ein paar Zeilen mit ihr.


Blackbird singing in the dead of night
Take these broken wings and learn to fly
All your life
You were only waiting for this moment to arise


Dann wechsel ich zu einem anderen Beatles-Song.


Als ich den letzten Akkord spiele, höre ich jemanden klatschen. Erschrocken sehe ich mich um. Eine ältere Frau, auf die die Bezeichnung „Lady“ passt. Sie steht vermutlich schon länger dort, aber ich war so vertieft, dass ich es nicht mitbekommen habe.

Sie lacht, ihre Augen funkeln. „That was really beautiful, young man!“ Sie war früher mit ziemlicher Sicherheit auch mal sehr beautiful, ist sie immer noch unter den Falten.

„Thank you.“ Ich verneige mich und grinse sie an.

„It did sound like it came from the heart, didn`t it, dear?“ Da ist ein Fragezeichen am Ende ihres Satzes, aber es klingt doch eher wie eine Feststellung.

Mir treibt es die Hitze ins Gesicht, weil meine Gefühle so transparent waren in diesem Lied, dabei habe ich es nicht mal bewußt ausgewählt.

„I hope your sorrow will find peace in the end.“ Irgendwie passt der Satz verdammt gut zu der Friedhofsatmosphäre um uns und fast hätte ich gesagt „Yours, too.“, da sie augenscheinlich vor einem Grab steht. Schließlich platze ich mit „I hope so, too.“ heraus.

Sie nickt. „In hindsight, it is mostly not as bad as you imagine it to be. You just need to give people a chance. It might turn out to be worth it.“ Sie wirkt fast ein wenig belustigt, aber auch so, als wüßte sie sehr genau von was sie spricht.

„I´m afraid, it`s not so easy, but ...“ Ich ringe mir ein Lächeln ab. „Thank you, madame. I will keep it in mind.“

Sie winkt mir zu und entfernt sich dann langsam auf ihren Stock gestützt zwischen den Gräbern. Als sie verschwunden ist, merke ich, dass ich ihr gerne die ganze Geschichte erzählt hätte. Einer Fremden und auf englisch wirkt es irgendwie nicht so gefährlich.

Ich spiele weiter auf der Gitarre herum. Es wäre ein gutes Zeichen, wenn mir hier und jetzt ein paar richtig gute Lieder einfallen würden. Oder zumindest eine Melodie. Oder ein Textfetzen. Aber irgendwie geht das gerade gar nicht. Ein Zeichen, dass ich mit diesem naiven Musikertraum aufhören soll? Ach, das ist doch alles scheiße.

Okay, dann halt keine Musik. Stattdessen male ich einen der Grabsteine ab, dann eine große Gruft. Zwei große Engel mit riesigen Flügeln flankieren den Eingang. Engel, Okkultes und so Zeug sind ja eher Belas Hobby. Dem würde es bestimmt hier gut gefallen. Ich mag an Friedhöfen vor allem die Ruhe.

Beim Malen versinke ich immer komplett in den Strichen, der Bewegung. Es ist schon richtig dämmerig geworden, als ich bewußt wieder auf das Bild sehe. Ich erschrecke. Über dem Eingang zur Gruft steht sein Name. Um Himmels willen. Im wahrsten Sinne des Wortes, auch wenn das vermutlich nicht Belas erste Wahl für seinen Aufenthaltsort im Jenseits wäre. Das wirkt ja, als wäre Bela für mich gestorben. Oder als wäre Bela gestorben?

Kalte Panik überfällt mich. Ich raffe meine Sachen zusammen, laufe zu einer der ikonischen roten Telefonzellen. Genug Kleingeld habe ich definitiv für einen Auslandsanruf.

Wie auf Kommando fängt es nun auch noch an zu regnen – die „cats and dogs“ Variante.
Ich schaffe es gerade noch so in die telephone box. Mein Atem geht schnell vom Laufen und von der Angst, dass Bela etwas passiert ist. Komplett irrational, aber ich kann es einfach gerade nicht abschalten, nicht klar denken. Der Drogenpunk auf dem Dach taucht vor meinem inneren Auge auf.

Ich hole das ganze Kleingeld von meinem morning busking am Piccadilly aus der Hosentasche, werfe Berge an Pencestücken in das Telefon. Mit zitternden Fingern wähle ich die 0049, die Berliner Vorwahl, muss mir die Nummer der WG in dieser ungewohnten Zahlenfolge mehrmals vorsagen. Ansonsten rufe ich immer von innerhalb Berlins an, bin ja fast immer dort.

Mein Herz schlägt im Takt des Tutens. Ich kann nicht atmen, weiß nicht, ob ich überhaupt etwas sagen kann, wenn Bela abnimmt. Die Chancen dafür sind gering – ist mir schon klar.

Keine Antwort. Meine tutenden Morsezeichen aus England bleiben unbeantwortet. Nach drei Versuchen hänge ich schließlich wieder auf. Das ganze Kleingeld schießt unten wie bei einem Jackpot wieder aus dem Telefon, dabei habe ich gerade echt nichts gewonnen.

Enttäuscht lasse ich mich auf meinen Gitarrenkoffer nieder. Die Sinnflut plätschert munter auf das Dach meines kleinen Refugiums. Ich hole aus meinem leicht durchnässten Rucksack das kleine schwarze Buch, blättere zu der Stelle mit dem Grabstein, schaudere, sorge mich wieder.

So was ist mir auch noch nicht passiert. Eigentlich glaube ich nicht an Schicksal und höhere Mächte und den ganzen Quatsch – ganz im Gegensatz zu Bela. Aber gerade läuft mir erneut ein kalter Schauer über den Rücken. Oder friere ich einfach nur hier alleine im verregneten London?


„Hallo Bela,

ich sitze gerade in einer Telefonzelle und draußen regnet es."



Super. Gerade mal ein Satz und schon weiß ich nicht weiter, schlage das Buch wieder zu. Überhaupt – warum sollte ihn das interessieren?

Um die Zeit bis zur nächsten Regenpause zu überbrücken, versuche ich mich in improvisiertes Herumgeklimper zu vertiefen. Meistens beruhigt es mich auf der Gitarre zu klampfen, hilft fast immer.

Die Melodie ist gut. Ich klopfe mit dem Fuss den Takt mit, den Bela am Schlagzeug spielen müsste. Ja, echt nicht schlecht. Ein neues Zeichen? Seit wann glaube ich eigentlich an so einen Scheiß?

Aber natürlich will mir kein passender Text dazu einfallen. Die Bleistiftspitze verharrt wieder über dem Papier. Eigentlich hatte ich gedacht, dass mich London krass inspiriert. Schließlich bin ich im Epizentrum des Punk! Okay, vor ein paar Jahren war das so. Gerade verändert die Szene sich anscheinend enorm, tut sie ja in Berlin auch.

Ich sehe hoch zum Telefon, überlege, ob ich meine Mutter anrufen soll. Aber ... Nee. Es ist das erste Mal, dass ich mich nicht bei ihr melde, wenn ich unterwegs bin.

Da ich mir ja mehr oder weniger geschworen hatte nicht mehr zu den Photo-Punks und ihren Kleberausdünstungen zurück zu kehren, schlafe ich im Arkadengang des Friedhofs. Ist immerhin einigermaßen trocken.

In der Dämmerung regt sich etwas neben mir. Ich schrecke hoch. Eine schwarze Katze sieht mich aus hellgrünen Augen neugierig an. Sie kommt vorsichtig auf mich zu. Behutsam strecke ich meine Hand nach ihr aus. Sie schnuppert an meinen Fingern und reibt ihren Kopf an meiner Hand. Schnurrend legt sie sich neben mich und rollt sich zusammen.

Morgens ist sie weg und ich weiß nicht, ob ich sie nur geträumt habe, aber so gut habe ich lange nicht mehr geschlafen.



9. April - London / Somewhere

Am nächsten Tag hab ich keinen Bock mehr auf die coolen Bezirken, ich will ein anderes London erkunden.

Eine Stunde laufe ich einfach kreuz und quer. So ganz genau weiß ich nicht, wo ich bin. Ein wenig erinnert mich die Gegend an Kreuzberg, ein wenig heruntergekommen, aber die Community hier wirkt nicht so, als wäre ich unerwünscht.

Einen Straßenzug lang werde ich von kichernden und schreienden Kinder begleitet. Irgendwie erinnert es mich an den Tag der Reagan-Demo, als ich zurück nach Kreuzberg gelaufen bin. Der Tag oder vielmehr die Nacht, als Bine mein Herz in den Rinnstein getreten hat.

Immer noch rauschen ständig Wolkenbrüche herunter. Scheißwetter. Gerade als der Himmel zum fünften Mal am heutigen Tage seine Schleusen öffnet, sehe ich die Leuchttafel eines Kinos. „Rio“ steht an dem auffälligen Gebäude.

Aber was mir vor allem ins Auge sticht, ist die Leuchtreklame: „Quadrophenia – every Monday – 6 pm“. Mir wird seltsam schwach in den Knien.


London / Dalston, Rio Cinema

„One ticket, please!“ Meine Füße haben mich anscheinend ins Kino geführt, mein Mund schon das Ticket bestellt, bevor ich wirklich nachgedacht habe.

Als der Film beginnt und ich die bekannten Szenen sehe, wird mir seltsam warm auf der rechten Seite, so als wären wir wieder im Capitol-Kino in Frohnau und Bela säße neben mir. Ich lasse mich tiefer in den plüschigen Sitz sinken und lehne mich ein Stück näher zum Geister-Bela neben mir.

In Gedanken beginne ich ihn um Verzeihung zu bitten. Mir ist schon klar, dass das eine Scheiß-Aktion war von mir. Aber ich war so vollkommen in die Enge getrieben. Berlin hat sich angefühlt wie ein verdammter Käfig. Golden - vielleicht. Aber dennoch ein Käfig – umgeben von einer Betonmauer, die die Sicht in jede Richtung behindert. Trotzdem tun wir alle immer so, als wären wir in Berlin so krass frei – etwas Besonderes.

Bela lebt das ja auch total. Ich drehe mich ein kleines Stück weiter hinüber zu Geister-Bela neben mir – nicht zu weit, sonst platzt die Illusion. Ich wische mir über die Augen. Scheiße, allein die bekannten Bilder treten in mir das totale Chaos los. Wie die Schlägerei auf der Leinwand. Ich bin so hin und her gerissen zwischen meinen ganzen Wünschen und Bedürfnissen.

Als ich das Kino verlasse, hält mich jemand am Ärmel zurück. Ein kleiner Schock läuft durch mich. Mir fällt mal wieder unangenehm auf, wie allein ich in dieser Stadt bin. Muss ich mich kampfbereit machen?

Ich schieße herum. „What do you want?“

Als erstes sehe ich DocMartens, ein kariertes Hemd und dünne Hosenträger. Skinhead! Fuck.

„I’m sorry, mate.“ Die Stimme ist angenehm.

Ich hebe den Kopf, sehe dunkle Haut. Vor mir steht ein Mann, zu dem ich - und das ist echt ungewohnt - aufsehen muss.

„I didn’t wanted to startle you. But you lost your book.“ Er hält mir mein schwarzes Heft hin. Allein der Gedanke, dass ich das beinahe verloren hätte, jagt mir einen unangenehmen Stromstoss durch den Bauch.

Anstatt mein Songbuch zu nehmen, starre ich ihn an. Einfach weil ich noch nie einen schwarzen Skinhead gesehen habe. Und seine Codes sagen eindeutig, dass er einer ist - von seinen bordeauxfarbenen Docs, über die hochgekrempelte enge Jeans, bis zur dunkelblauen Wollmütze auf dem rasierten Kopf.

Er hält mir eine Hand hin. „Hi! I’m John.“

Nach ein paar Augenblicken weiterem Gestarre, funktioniere ich endlich wieder. Ich schüttel seine Hand, scheine mich langsam wieder an Höflichkeitsetiquette zu erinnern.

John grinst und deutet neben sich. Erst jetzt entdecke ich seine Begleiterin. „And this is Claire.“

Claire ist ebenfalls echt groß, trägt ein fast identisches Outfit, aber ihre Haare sind länger. Sie trägt auch nicht den typischen feather cut der weiblichen Skinheads, sondern hat rote Locken.

„Hi! Good to meet you.“ Ich schüttel auch ihre Hand. „Thanks again for rescueing my book.“

„You are very welcome.“ John lächelt mich warm an und es tut so verdammt gut, dass ein Fremder einfach nett zu mir ist. „You turned really pale for a moment there. I guess, it is very precious to you.“

Ich nicke. „By the way, I am Jan from Berlin. The western part“, sage ich meinen inzwischen obligatorischen Spruch auf.

„Pleasure to meet you, Jan.“ John deutet auf meinen Rucksack. „Are you looking for a place to crash, mate?“

Ich sehe die Straße entlang. Inzwischen ist es Abend geworden und ich habe keine Ahnung, wo es zum Friedhof geht.

„Well ... actually, yes. Do you know something? It would also be just for one night. I have to go back to Berlin tomorrow.“

Er sieht zu Claire und zwischen den beiden passiert etwas, dass ich zwar als Kommunikation wahrnehmen kann, aber da es nur Blicke sind, kann ich es nicht einordnen.

Auf Reisen habe ich gelernt mehr auf meinen Bauch als auf meine Ratio zu hören, auch wenn mir das schwer fällt, und der sagt, dass da noch irgendwas ist, aber das keine akute Gefahr droht.

„We are living in a small flat in Brixton.“

„You mean, the Brixton from the Clash song?“ Ich versuche meine Augen nicht zu groß werden zu lassen.

Claire lacht. „Exactly, that Brixton.“

„Wow. Cool.“ Ich staune wie ein absoluter Fanboy.

„So, I`d guess, that means yes?“

„If that is really okay with you?“

„To take in some random stray street punk from Germany?“, sagt John ernst, dann bricht ein Lachen aus ihm. „Absolutely.“

„Fantastic. Thank you.“

„Where would you have slept otherwise?“

„Either on the cemetery again or in a squat in Islington. But ... I did not like that place. Too many drugs. I really ... don`t like that.“

„That makes you even more likeable.“ Johns Grinsen nimmt mir die letzten Zweifel und ich folge den beiden leicht aufgeregt ins berühmt-berüchtigte Brixton.


London / Brixton

Auch Brixton erinnert mich mit seinen diversen Kulturen an Kreuzberg. Schade, dass ich morgen nicht mehr wirklich Zeit habe, dort etwas intensiver einzutauchen. Hierher hätte ich schon viel früher kommen sollen.

Johns und Claires Wohnung ist echt winzig. Der Flur ist  ein Schlauch. Mit uns drei großen Menschen wird es echt eng.

Claire gibt mir eine zwei-Minuten-Tour. 4 m² Küche, 4 m² Bad. Dann gibt es noch ein Mini-Wohnzimmer und ein noch kleineres Schlafzimmer ohne Tür. Und ich dachte Belas und meine WG wäre klein.

Das Erste, was mir im Wohnzimmer auffällt, ist ein Photo. John lacht. „That`s my little brother with his punk and skinhead friends.“

„Cool.“ Das ist es wirklich. Warum habe ich die beiden nicht früher getroffen? Am letzten Tag hier wird es auf einmal doch noch spannend - und endlich mal im positiven Sinne.

Claire deutet auf das Sofa, dass in dem kleinen Raum riesig wirkt, aber tatsächlich groß genug ist, so dass ich mich drauf ausstrecken kann.

„The lenght was a must“, grinst sie.

John legt alte Platten von seinem Vater auf. „He was a real Jamaican Rude Boy. He was aboard the Windrush.“

Ich nicke, obwohl ich nicht ganz genau weiß, was die Rude Boys waren. Die Windrush hört sich nach einem Schiff an.

Mein einziger Kontakt mit Jamaica fällt mir ein. „I`ve seen Bob Marley in Berlin.“

„Really?“ John`s eyes light up. „That`s awesome.“

Claire schaut nochmal ins Wohnzimmer. Sie hat eine Zahnbürste in der Hand. „Sorry, I have to get up quite soon. If you need anything, just ask, okay?“

„Thank you again. Your hospitality is much appreciated.“ Mir entkommt ein Gähnen.

„Maybe we just let you rest“, sagt John.

„Sleep well.“ John legt Claire liebevoll den Arm um die Schultern. Irgendwie ein echt süßes Pärchen.

Ich richte es mir gemütlich ein in ihrem Mini-Wohnzimmer, dass sogar einen Kamin hat. Wahrscheinlich haben kluge oder gierige Investor*innen größere Wohnungen in kleinere unterteilt.

Ich hole das Heft heraus, durch das ich die Beiden überhaupt erst kennengelernt habe.

Zögernd nach den ganzen Schreibhemmungen heute, schwebt mein Bleistift über einer neuen Seite.  


Hallo Bela,

ich

es tut mir wirklich leid, dass ich einfach abgehauen bin – mal wieder. Ich weiß schon, dass das scheiße war von mir, aber ich konnte nicht anders. Ich dachte, dass mir der Abstand gut tun würde, mir Perspektive verleiht auf mein Leben, wohin ich will, wie es weiter gehen soll.

Aber es geht nicht nur um meine berufliche Zukunft und dabei ist dieses Thema schon schwer genug.

Das mit dir ...

Ich schreibe das jetzt zum ersten Mal auf, um zu sehen, ob es schwarz auf weiß immer noch stimmt. Du bist für mich sehr viel mehr als ein Freund. Warst du immer. Wir sind ineinander geklickt wie ein Puzzle, dass nur aus zwei Teilen besteht.

Als du mich im Zelt zum ersten Mal geküsst hast, mitten in diesem Weltuntergangs-Gewitter, da ... ich wollte nicht mehr aufhören. Ich wollte noch nie so sehr nicht mehr aufhören. Und das hat mich krass erschreckt, weil es fast schon bedingungslos war.

Außerdem war ich krass überfordert davon, dass es gut ist mit dir, einem Jungen, nicht nur schön, sondern .... Bis dahin waren Jungen noch nie auf meinem Radar erschienen, was seltsam ist, denn seitdem verschwinden Jungs nicht mehr wirklich davon. Aber vor allem bist es du! Und ich kann dich gar nicht mehr vergessen, seit dieser Transitstrecke.

Und das macht es nicht leichter, sondern schwerer. Ich vertraue dir wie einem Bruder, den ich nie hatte, aber wir sind auch wie Tag und Nacht. Wortwörtlich. Wenn du nachts unterwegs bist, liege ich lieber in meinem Bett und lese. Wenn du ins Bett kriechst morgens vor dem Sonnenlicht wie ein Vampir (der Vergleich gefällt dir mit Sicherheit), dann stehe ich auf.

Du trinkst Whiskey, ich trink Vollmilch.

Weißt du, eigentlich bin ich nach London abgehauen, um meine Leichtigkeit wieder zu finden, mich wieder von der Euphorie von damals anstecken zu lassen – but sad to see: Punk is dead!  

Ich würde gerade so gerne mit dir darüber reden, du kleiner music maniac. Ach, Mann, Bela. Du bist so viel für mich. Wir teilen den Humor, die inzwischen zweite Band, sogar eine Wohnung. Hat durch den Alltag alles so eine krasse Schwere bekommen? Ständig geht es um Geld. Und dabei bist du der Typ gewesen, mit dem ich immer am meisten Lachen konnte.

Oder ist es doch das Andere, für das wir keinen Namen haben, nicht drüber reden? Wenn es das ist, dann sollten wir das besser lassen, auch wenn es echt sehr traurig ist. Oder? Was denkst du? Na, du wirst es mir wohl kaum sagen, denn ...

Weißt du, was außerdem echt schade ist? Das ich dir das hier nie geben werde. Ich hab so Schiß, dass ich es nicht hinbekomme mit dir, dass wir zwei es miteinander nicht hinbekommen – was auch immer „es“ ist.

Dein Jan“





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LYRICS

Depeche Mode - Waiting for the night (to fall)

Kraftwerk - Trans-Europa-Express

Generation X - Your Generation

The Beatles - You`ve got to hide your love away

Bow Wow Wow - Lonesome tonight

Bow Wow Wow - Cowboy

The Who - My Generation

Desmond Dekker - Israelites



Additional SONGS & INFOS

Annabella Lwin
Bow Wow Wow

Wikipedia - Song: You`ve got to hide your love away

The Beatles – You never give me your money
Lyrics

The Beatles – Blackbird
Lyrics



BRITISH JAMAICANS

Wikipedia

The Windrush Scandal



Und dann noch das hier von der Berliner Club-Tour

die ärzte - Ansage





*

Chapter 20: 1983 - Home

Chapter Text

*




 

* Teenagers in Love *





Lieder und Bilder farbig unterlegt im Kapitel.
Weiterführende Links am Ende.



 

1983 - Home





15. April - Grenze Helmstedt

An der Grenze in Helmstedt weisen mich ganze 13 Leute zurück. Ich hoffe, dass es an der nächtlichen Uhrzeit liegt und nicht an meinem Geruch oder sowas.

Schließlich nimmt mich um 3 Uhr morgens ein Universitätsprofessor in seinem braunen Opel mit. Von der FU. Ausgerechnet. Fachbereich Geschichte. Wahrscheinlich um wach zu bleiben, erzählt er mir ausführlich von seiner Forschungsreise nach Italien, wie unglaublich interessant und aufschlussreich die Ausgrabungen in Pompeji doch sind.

Zu mehr als Zuhören bin ich nach über 30 Stunden Trampen nicht in der Lage. Außerdem was soll ich ihm schon erzählen? Mit Sicherheit nicht von meinem unrühmlichen Ein-Tages-Studium an seiner heiligen Institution. Es ist wahrscheinlich nicht direkt verboten, aber wer weiß.

Ich bin einfach froh, dass mich jemand mitnimmt. Tatsächlich finde ich seine Anekdoten spannend. Hätte ich vielleicht dem Studium doch noch eine zweite Chance geben sollen?

Ich höre Neapel und ein dumpfer Schmerz zieht durch mich. Ich nicke und mache einen zustimmenden Laut. Gleichzeitig denke ich an Felice. Ich sollte sie diesen Sommer besuchen.

Aber ich bin so müde, dass meine Hirnkapazität noch nicht mal für Reisepläne reicht. Schlafen wäre gut, aber der Professor möchte quatschen und ich fühl mich ihm irgendwie verpflichtet. Ohne ihn würde ich wahrscheinlich immer noch vor dem Eisernen Vorhang in Westdeutschland rumstehen und Leute anbetteln.

Aber ich hab echt böse Kopfweh. Wahrscheinlich zu wenig geschlafen, gegessen und getrunken unterwegs. Hoffentlich vergeht die restliche Zeit schnell. Mein ganzer Körper tut weh vom Schlafmangel. Ich halte mich an dem Griff über meinen Kopf fest, denn die Transitstrecke holpert mal wieder übelkeitserregend. Bei einer krassen Schwelle stoße ich mit dem Kopf oben am Dach an. Ich versuche den Schwindel und Schmerz wegzuatmen.

Ein paar Kilometer weiter sehe ich im Kegel des Scheinwerferlichts das Schild für „Wal-deck“ und muss grinsen. Ach, Mann, Bela. Dann fällt mir die Rücktour in der Nacht ein. Ein Kribbeln breitet sich auf meiner Haut aus. Es geht tief, viel zu tief. Mir wird heiß. Ich frage, ob ich das Fenster einen Spalt öffnen kann und der Professor brummt seine Zustimmung. Die kühle, frische Luft in meinem Gesicht hilft auch mit dem Kopfweh ein wenig.

Als wir vor dem Checkpoint Bravo ankommen, ist der Stau relativ kurz. Manchmal bilden sich Montag morgens hier extreme Schlangen, da natürlich die ganzen Pendler*innen, die nur unter der Woche in West-Berlin leben, zu ihren Arbeitsplätzen zurück kehren müssen.

Gefühlte hundert Mal hab ich diesen Grenzübergang der beiden Deutschlands bewundern dürfen. Oft stundenlang, wenn die Spießer mich mal wieder zu extrem fanden und nicht mitnehmen wollten.  

Aber da war ich meist auf der anderen Seite, der Ausreise. „You are now leaving the American Sector“, sehe ich vor meinem inneren Auge. Echt schräg. Aber ich lieb diesen Schriftzug. Er ist immer der Startschuss, wenn ich in den Urlaub entfliehen kann, ins Abenteuer.

Aber jetzt stehen wir im Einreisestau nach West-Berlin. Es fühlt sich länger an als zehn Tage, seit ich hier aufgebrochen bin mit Marten, dem niederländischen Geschäftsmann.

Zum Glück geht es bei den Westlern schneller als bei den überakribischen Staatsdiener*innen des Ostens. Vor uns ragen die französische, amerikanische und natürlich die britische Flagge im ersten Morgenlicht auf. Der Union Jack kommt mir gerade sehr vertraut vor. Fast heimischer als die deutsche und die Berliner Flagge mit dem Bären.

Es ist schon eine sehr verrückte Idee sich wieder hinter die Mauer zu begeben, sich freiwillig „einzusperren“. Widerwillen greift mit kalten Fingern nach mir und das obwohl ich ja im freien Teil der Stadt wohne. Wahrscheinlich ist es einfach die Müdigkeit, die mich gerade so dünnhäutig macht. Außerdem ist für mich Zurückkommen immer anstrengender als Aufbrechen.

Gerade aber will ich einfach nur ... heim.

Es kommt mir wirklich wie eine Ewigkeit vor, dass ich so überhastet und voller Hoffnung von diesem Checkpoint nach London aufgebrochen bin.

Reisen stretcht die Zeit. Vermutlich wegen der vielen neuen Eindrücke. Meine Gedanken laufen immer noch halb auf englisch. Immer wieder fehlt mir ein deutsches Wort, als ich dem Geschichtsprofessor auf eine Frage antworte.

Scheiße, ich werd das echt vermissen, auch wenn in England nicht alles so war, wie ich es mir erhofft hatte. Aber gerade der letzte Abend war echt genial. John und Claire waren so nett und einfach interessante und spannende Menschen. Die Zeit mit ihnen war viel zu kurz. Ich würde sie echt gerne wiedersehen.

Jetzt aber erst mal wieder Alltag. Und die Probleme, vor denen ich geflohen bin, scheinen schon am Checkpoint auf mich zu warten. Die ganze Reisemagie ist seitdem ich die Fähre in Calais verlassen habe immer mehr verblassst, seit der DDR-Grenze ist sie ganz weg.

Ich hasse Alltag. Immer wieder die gleichen Routinen, die gleichen Orte, die gleichen Menschen, die gleichen Gespräche. Ich höre schon die Stimme meiner Mutter, ob ich denn jetzt eine Lösung für mein Berufsproblem gefunden habe.

Fuck you, Alltag! Ich vermeide ihn so gut es geht, vermeide es Teil des immer wieder aufgeführten Theaterstücks zu werden. Alles so verdammt langweilig und berechenbar.

Außer Bela. Bei dem ist nie etwas berechenbar, was tierisch anstrengend ist, aber auch ...

Wir passieren den Grenzer, der kurz einen gelangweilten Blick auf unsere Pässe wirft und uns durchwinkt. Der Professor reicht mir meinen. Mein 16-jähriges Selbst sieht mir entgegen. Auf dem Bild hab ich noch längere Haare, die mir bis auf die Schultern hängen. Den Pass hab ich damals extra für meinen ersten London-Urlaub gemacht. Dort hab ich dann Punk und deswegen etwas später Bela kennengelernt.

Noch eine Stunde, dann müsste ich endlich in der Niebuhrstraße sein.



15. April - Niebuhrstraße 38b, Charlottenburg

Eine Woche Feldzug durch das Berliner Nachtleben. Tagsüber hab ich irgendwo gepennt, meist bei Gitti, aber ab und zu wollte mich auch Manu sehen. Ich drücke an eine Stelle an meinem Arm, muss grinsen, wenn ich an sie denke.

Die letzte Woche ist ein angenehm verwirbeltes Gefühl von Feiern und Ekstase. Genau so wie es sein soll.

Doch jetzt am Sonntag Abend ist irgendwie Ende Gelände. Auf einmal finde ich mich zu Hause wieder. Stille umfängt mich. Müde schleppe ich mich zum Kühlschrank. Mal wieder etwas vernünftiges essen, wäre nich schlecht.

Als ich in den Kühlschrank öffne, bläst mich der Gestank daraus fast um. Wäh. Mein Appetit hat sich schon wieder verkrümelt. Der Käse ist komplett von einer weichen, blauen Schicht überwachsen. Wahrscheinlich luxuriösester Überedelschimmel.

Ich halt mir mein T-Shirt vor`s Gesicht, würge trotzdem als ich den spärlichen Inhalt in den Müll entsorge. Ich wusst nich mal, dass Ketchup überhaupt schimmeln kann. Widerlich.

In einem Anfall von Sauberkeitswahn räum ich die Küche auf, fege, wische. Es macht keinen Spaß, tut aber trotzdem gut. Tja, versteckte Talente. Oder Tatendrang aus Hilflosigkeit. Keine Ahnung.

Als ich mich ans Spülen machen will, sitzt auf einmal gefühlt Farin am Küchentisch hinter mir.

Seine Anwesenheit, obwohl sie nur in meinen Gedanken stattfindet, stellt die Härchen an meinen Armen auf. Es kribbelt in mir vor unterdrückter Wut und vor ... Ach, Mann, Farin!

„Weeßte, dass dit echt `ne absolute Scheißaktion war von dir?“, sage ich zu Geister-Farin hinter mir.

Ich spüre, dass er nickt. Arschloch.

Ich habe so viele Freunde und Freundinnen und Bekannte, aber ... Niemand kann Farin, niemand kann Jan ersetzen. Das mit ihm ist ...

Um seinem Geist zu entkommen, will ich schnell wieder in die warme Umarmung des nächtlichen Berlins fliehen – fliegen, mich fallen lassen in Menschen und Rausch und Vergessen.

Aber erstmal muss ich mich ein-zwei Stunden hinlegen. Mir ist komplett schwindelig nach meiner Putzorgie. Oder vom tagelangen Durchmachen.

Ich ziehe mich aus und schlafe schon, bevor mein Kopf überhaupt das Kissen berührt hat.


*



Irgendwas zieht mich aus meinem Koma. Ich erwache halb. Pissen. Mist. Ich schlurf mit Augen auf halbmast aus meinem Zimmer. Klo, dann weiter pennen.

Ein Geräusch neben mir im Flur. Etwas bewegt sich im Halbdunkel auf mich zu. Der Aufschrei bleibt mir vor Schreck quer im Hals stecken. Noch nich mal Speed hat mich je so wach gemacht.

Ich hämmer im Flur auf den Lichtschalter neben mir. Grelles Licht blendet mich, schadet mehr als das es nützt. Schützend leg ich eine Hand vor die Augen.

„Hey“, sagt eine mir wohlbekannte Stimme.

Vorsichtig blicke ich durch meine Finger. Farin ragt nur einen Meter vor mir auf, blinzelt mich an. Der Echte - nicht sein Geist. Vermutlich. Ich starr an ihm hoch, hatte ernsthaft vergessen wie groß der Typ ist. Wir stehen voreinander, als wären wir Teil eines Gemäldes. Keiner bewegt sich.

„Hey! ... Also, ick bin wieder da.“

„Dit seh ick.“ Ich hab nur einen Slip und `n T-Shirt an, während Farin komplett angezogen ist - inklusive Wollpulli. „Hab fast `n Herzinfarkt bekommen.“

„Sorry, ick wollt dich nich erschrecken.“ Müde sieht er aus. „Bin grad erst reingekommen.“

Wahrscheinlich hat mich das aus meinem Koma geweckt, aber Koma ist gerade weit weg. Das Adrenalin der letzten Tage, der Frust, der Ärger über ihn trommelt heiß durch meine Adern. „Soll ick jetz jubeln, dass de wieda da bist, oder wat?“

Er zieht sich einen halben Schritt von mir zurück, beißt sich auf die Lippen. Sein Blick wirkt verletzt. Gut so. Treffer! Versenkt.

Einen Moment später zieht sich der für ihn typische Unberührbar-Ausdruck über sein Gesicht wie eine Maske. Obwohl ich unter seine Fassade sehen kann, bring ich grad kein Mitgefühl für ihn auf, vielmehr reizt er mich damit erst so richtig. Immer tut er so, als wäre er so super krass aufrichtig, dabei lügt er ständig über seine Gefühle. Und ich steh dann immer da als der explosive Bela, der sich nicht im Griff hat.

Ich geh einen Schritt auf ihn zu, trete ganz nah an ihn heran.

Ganz. Nah.

Er weicht mir aus, kommt aber nicht weit in unserem engen Flur. Er stößt an die Garderobe, richtet sich auf und blickt von oben auf mich herab. Ich hasse es immer der Kleinere zu sein.

Ich bin viel zu nah, zwischen uns ist nur eine Armlänge Platz. Genervt starr ich zu ihm hoch. Ein Kampf aus Blicken, den ich gefühlt verliere, denn mir schießen Tränen der Wut in die Augen, was mich noch rasender macht.

„Weeßte eigentlich, wat dit für `ne absolute Scheißaktion ...?“, brüll ich ihn an, dann bricht meine Stimme.

Er weicht zur Seite aus, flüchtet in Richtung seines Zimmers.

Ich pack ihn am Ärmel seines Pullovers, halte ihn fest, wisch mir über die Augen. Fuck. Ich warte darauf, dass er versucht sich loszureißen, wart drauf wirklich mit ihm zu kämpfen, wart drauf, dass er irgendwas macht, aber er bleibt einfach nur regungslos vor mir stehen.

Ich leg meine Hände auf seine Brust und schubs ihn ein Stück zurück. Er stolpert, fängt sich wieder, wird starr, sieht mich ohne zu blinzeln an, aber an seinem Kieferknochen zuckt ein Muskel. Gut.

Ein weiterer Schritt von ihm zur Seite. Ohne Nachzudenken schubs ich ihn nochmal. Dieses Mal stärker. Er fällt gegen die Wand. Ein dumpfer Schlag, der mich befriedigt.

Mit einem irritierten Blick richtet er sich wieder auf. Schwer atmend steht er vor mir. Ich dräng ihn zurück gegen die Wand, geb ihm keinen Platz sich mir schon wieder zu entziehen.

„Bela!“ Ein raues Flüstern, aber die unterschwellige Drohung kommt an. Sein Atem fährt durch meine Haare. Für einen Moment lasse ich mich in seine Nähe fallen, schließe meine Augen.  

Eine Bewegung vor mir. Farin versucht sich an mir vorbei zu drängen. Dieser Wichser. Ich packe seine Handgelenke und presse sie hinter ihm an die Wand. Er leistet keinen Widerstand, bis auf ein gegrolltes „Hör auf!“.

„Und was, wenn ick nich aufhör?“ Ich pack noch fester zu. Das Blut rast unter meinen Fingern durch seinen Puls. „Hm? Was dann?“

„Dann passiert das hier.“ Seine Stimme ist kühl. Mit einem energischen Ruck befreit er sich aus meinem Griff. Der Flur wirbelt um mich, dann steh ich mit dem Rücken zur Wand.

Als hätte er zu viel preis gegeben, tritt Farin schnell einen Schritt zurück. Seine langen Arme fallen an seine Seite. Er atmet tief durch. Gerade wirkt er mehr erschöpft als furchteinflössend. Dunkle Schatten unter seinen Augen. Er reibt sich mit beiden Händen über das Gesicht, als müsste er einen Alptraum verscheuchen. Dann verschwindet er wieder in die Unnahbarkeit und ich kann nicht anders.

„Oh, wow.“ Ich klatsche ganz langsam Applaus. „Ganz toll. Der Typ, der zwei Meter größer ist, nutzt seinen körperlichen Vorteil, um ...“

Er presst mir seine Hand auf den Mund. Sein Blick liegt wild auf mir. Fuck! Es hat nicht den Effekt, denn er vermutlich beabsichtigt, denn ich will, dass er genau so weiter macht mit mir. Sein Gesicht ist ganz nah vor meinem. Seine Pupillen sind groß, sein Brustkorb hebt und senkt sich schnell unter seinem Wollpulli.

Ich spür, es braucht nur noch einen kleinen Stoß, dann ... Ich beiß in seine Hand.

„Fuck you!“ Seine Augen werden groß und jetzt endlich, endlich kommt eine Reaktion von ihm, ein echtes Gefühl. Er packt mich an den Schultern und presst mich fest gegen die Wand. Ein Zittern geht durch mich. Ja.

Mit meinem ganzen, schmächtigen Gewicht kämpf ich sinnlos gegen diesen Goliath, bis ich mich darauf besinne, dass ich den orangenen Gurt in Judo habe. Den Wurf hat er echt nicht kommen sehen. Aber leider hab ich seine Größe unterschätzt. Bei seinem Sturz fällt die halbe Garderobe herunter. Er wird begraben unter mehreren Mänteln und Jacken.

Verwirrt blickt mich Farin vom Boden aus an, wirft dann energisch den Berg von Klamotten von sich. Sein Gesicht verzieht sich und er zerrt einen meiner spitzen Schnallenschuhe unter seinem Rücken hervor.

„Sach ma, spinnste jetzt komplett, Felse?“ Ganz plötzlich ist da Wut. „Was `n los mit dir?“

„Ist das so schwer zu erraten, du blöder Wichser? Bist doch sonst so schlau.“

Er schleudert mir den Schuh entgegen, trifft mich am Bauch, was echt fies zeckt, aber ich will mir keine Blöße geben vor ihm.

Mit Schwung versucht er sich hochzurappeln. Das war nicht der Plan. Ich stürz mich auf ihn, sein Kopf knallt auf den Boden oder vielmehr auf einen weiteren Schuh.

„Au! Ey, jetzt reicht`s echt.“ Er windet sich unter mir, versucht hoch zu kommen.

Bevor er eine weitere Entscheidung treffen kann, drück ich ihn noch heftiger zu Boden, nagel ihn fest. Ich will mich ernsthaft mit ihm prügeln, ihn wirklich fühlen, mich abreagieren, ihm meine Wut, meine Verletzung zeigen, meine Kraft. Seine spüren. Aber er bietet sich nicht als ebenbürtiger Gegner an, dieser Feigling.

Stattdessen nehme ich ihn in einen Griff, aus dem er sich nich befreien kann. „Nein. Du bleibst jetzt mal schön hier, verdammte Scheiße!“

Als er merkt, dass seine Anstrengungen umsonst sind, wird er anscheinend einen Moment panisch, denn sein Atem setzt aus und jetzt kommt doch mein dämliches Mitgefühl zum Vorschein.

Ich hab nicht genügend aufgepasst. Zack! liege ich auf dem Rücken. Schnell fixiert Farin meine Hände und - ich mag es. Sehr sogar. Sein großer Körper liegt auf mir. An meinem Brustkorb poltert sein Herz gegen meins, als würden sich die beiden aufgeregt über all das unterhalten, was wir nicht über die Lippen bekommen.

Ich hab`s nicht geplant, aber seine Nähe, sein Atem, sein Blick auf mir ... Ich beuge mich zu ihm hoch. Unsere Lippen knallen aufeinander. Es tut weh, aber auf einmal ist er ruhig – komplett ruhig.

„Fuck, Jan!“ Meine Augen wandern zwischen seinen hin und her. „Ich hab dich so ...“ Er muss doch verstehen, was ich sagen will, in meiner ungeschickten Art. Ich will ihn zu mir hinunter ziehen, doch bin komplett bewegungsunfähig in seinem Griff.

„Kannste mich loslassen?“ Jans Augen liegen misstrauisch auf mir. „Bitte.“

Langsam lösen sich seine Finger von meinen Handgelenken. Seine Hände gleiten über meine Arme auf meinen Brustkorb.

Gleich stemmt er sich hoch und ist weg!, denke ich. Aber er bleibt. Er bleibt auf mir liegen, bewegt seine Hüfte ein Stück zur Seite, versucht es unauffällig zu machen, doch gerade das lenkt meine Aufmerksamkeit dorthin. Ich kann ihn fühlen. Er ist hart. So wie damals hinten auf der Pritsche im Bus. Erst jetzt merk ich, dass ich auch einen Steifen hab. Das war definitiv zu viel festhalten und ...

Erschrocken sieht Jan mich an und nun schiebt er sich doch von mir weg.

Nein.

Vorsichtig heb ich meine Hand, leg sie in seinen Nacken, halt ihn fest. Seine Augen sind wachsam. Ängstlich?

„Hey, Jan.“ Es ist wie ein Hallo, als würden wir uns zum ersten Mal an diesem Abend wirklich sehen.

„Hey, Bela." Seine Augen fallen für einen Moment zu. Als er sie wieder öffnet, ist sein Blick anders, ein wenig scheu, aber trotzdem offener. Und das Glänzen in seinen Pupillen ... Er streicht über meine Wange, mein Gesicht, hinunter zu meinem Hals und ein Schauder geht durch mich.

Ich zieh ihn auf mich und vergrab meine Nase an seiner Brust. Der Wollpullover sticht auf meiner Haut, aber sein Geruch ... Er riecht ungewaschen, nach Schweiß. Jan pur! Fuck.

Ohne Nachzudenken schieb ich seinen Pulli hoch, das T-Shirt darunter. Warme Haut. Spitz stechen seine Rippen hindurch. Sein Geruch ist hier noch stärker. Ich beug mich hoch, leck über seine Haut. Salzig und herb und so gut. Ich schieb den Pulli noch höher bis zu seinen Brustwarzen, die komplett hart sind und dunkel im Kontrast zu seiner Haut.

Er beobachtet mich von oben mit einem fast entsetzt wirkenden Ausdruck. Ich berühr mit meiner Zunge seine Brustwarze. Er saugt Luft zwischen den Zähnen ein, sein Kopf sinkt nach unten. Probehalber beiß ich in seine Brustwarze. Er zuckt hart über mir zusammen, als hätte er einen elektrischen Schlag erhalten.

Die Energie, der Strom peitscht auch durch mich. Ich leg mich zurück, auf Schuhe und Jacken, zieh ihn auf mich. Meine Hände gleiten über seinen Rücken, über den Bund seiner Jeans auf seinen Hintern. Eine feste Wölbung unter meinen Fingern. Ich fahr mit den Fingernägeln über den festen Stoff. Ein unterdrücktes Stöhnen an meinem Hals. Meine Hände gleiten in die Taschen seiner Jeans und ich zieh ihn fest gegen mich. Ein Vibrieren in seinen Muskeln.

Auf einmal liegt er mit seinem vollen Gewicht auf mir. Seine Hände verschwitzt und groß an meinen Wangen. Seine Lippen suchen meine. Sein Mund ist heiß. Er drückt seinen Rücken durch, seine Hüften reiben sich rhythmisch an mir. Ich glaub, er bekommt es nicht wirklich mit, so gefangen ist er im Sog unserer Körper, unserer Bewegungen.

Ich spür meine eigene Geilheit nur wie ein Hintergrundrauschen in mir pulsieren. Es ist so faszinierend, so komplett unwiderstehlich zu sehen, wie er die Kontrolle verliert.

Er stützt sich über mir ab, fährt über mein T-Shirt, meinen Brustkorb, dann sieht er hoch. Unsere Augen treffen sich. Seine Wangen sind rot, seine blonden Haare komplett verstrubbelt.

Er senkt seinen Blick wieder. „Ick ... Ick sollte ...“, keucht er atemlos und rappelt sich ein Stück hoch, weg von mir.

Nein.

Mit einem Ruck zieh ich seinen Kopf wieder zu mir hinunter, dring mit meiner Zunge in seinen Mund. Ein tiefes Stöhnen bricht aus seiner Brust. Sein Oberschenkel rutscht zwischen meine Beine und – Fuck! Fuck, fuck, fuck. Ja! Meine Finger krallen sich fest in seinen Hintern. Vermutlich bleiben Spuren. Gut so.

Ein tiefes Keuchen entkommt ihm. „Bela ... Ich ... bitte.“ Er presst seine Hüfte energischer gegen mich, härter.

Ich drück ihn ein Stück hoch und zur Seite, fahr mit meinen Fingern über seinen Bauch zu dem Haarstreifen, der aus seiner Jeans kommt, verharre am Bund. „Soll ich dich anfassen?“ Es sieht fast schmerzhaft aus, wie sich seine Hose über seinen Ständer wölbt. Und verdammt anziehend.

„Ich weiß nicht.“ Er lässt sich neben mich fallen, atmet einmal tief durch. Dann zieht er sich mit einem Ruck seinen Pullover über den Kopf.

„Kannst du ...?“ Er legt sich zurück. Sein Kopf landet auf meiner Lederjacke. Seine großen Finger legen sich heiß um meine Hüftknochen und ich bin mir wieder sehr bewußt wie wenig ich anhabe. „Ich will dich ...“ Er dirigiert mich über sich und ich sitz auf seinem Schoß, spür seinen Ständer unter mir.

Einen Moment betrachtet er mich von unten, dann öffnet er seine langen Beine und schiebt meinen Oberschenkel zwischen seine Beine. Im nächsten Moment stöhnt er hart und tief auf. „Oh, fuck!“ Er beugt sich zu mir hoch, zieht mich mit sich hinunter. Sein Schwanz drückt gegen meinen und er beginnt sich zu bewegen, findet einen Rhythmus, bei dem sein Atem nur noch stoßweise kommt. „Küss .... Bitte küss mich.“

Ich nicke einfach, kann nicht mehr antworten. Seine Lust macht mich so verdammt an, dass ich mit meiner Zunge in seinen Mund ficke. Ich bin so bei ihm, seiner hörbaren Begierde, seinen Händen auf mir.

Seine Finger schließen sich immer wieder reflexartig an meiner Hüfte. Er schiebt mich so wie er es braucht, stöhnt an meinem Lippen, in meinen Mund. Sein Wollen, sein Begehren ist so stark, dass ich meine eigene Erregung kaum wahrnehme, nur ihn, seinen Geruch, sein Stöhnen, wie er die Augen zu kneift und seinen Kopf nach hinten biegt, wenn es besonders gut ist.

Seine Finger auf meinem Arsch. Durch den dünnen Stoff spüre ich heiß seine verschwitzten riesigen Hände.

Eine hilflos steile Falte bildet sich zwischen seinen Augenbrauen. „Bela? Ich ...“ Er stößt mit seiner Hüfte nach oben, presst mich an sich, seine Bewegungen werden stockender. Er setzt sich ein Stück auf, sein Oberkörper strafft sich. Jeder Muskel in ihm scheint zum Zerreißen gespannt.

Seine Augen fallen zu. Er zieht zwischen den Zähnen Luft ein, stößt sie mit einem tiefen, grollenden Stöhnen wieder aus. Er vergräbt sein Gesicht an meiner Schulter. „Oh, fuck. Bela ...“ Ich fühle wie sein Schwanz zwischen uns zuckt. „Ja ...“ Ein weiteres Stöhnen, gedämpft, ein abgehacktes Keuchen. Er presst sich noch einmal an mich, dann sinkt er atemlos zurück.

Sein Orgasmus feuert durch mich wie ein Blitzschlag. Meine eigene Latte pocht hoffnungsvoll. Unsere Körper sind immer noch ineinander verschlungen, sein Herzschlag rast an meiner Brust. Nur ganz langsam beruhigt sich seine Atmung wieder.

Er legt sich einen Arm über das Gesicht, als möchte er nicht, dass ich ihn so sehe. Dabei gibt es kaum etwas Schöneres als ihn in diesem Augenblick.

Ich rutsche ein kleines Stück von ihm ab, lasse meine Hand kurz zwischen meine Beine wandern. Auf meinem schwarzen Slip zeichnet sich ein nasser Fleck ab.  

Auf einmal spüre ich seine Augen auf mir.

„Soll ich ...?“ Er lässt seine Hand in Richtung meiner Unterhose wandern, aber in seinen Augen taucht die Unsicherheit von vorher wieder auf. Ich sehe sie nicht gerne dort.

„Ähm, ick ... erledige dit schnell selbst. Aber ... Kannste mich weiter küssen?“

Ich lasse mich an seine Seite gleiten. Er beugt sich über mich. Sein großer Mund umschließt meinen, seine Zunge dringt in meinen Mund. Ja. Es braucht nur ein paar schnelle Bewegungen und ich komme stöhnend auf seine Jeans.

Fuck, war das gut. Besser noch als ich es mir manchmal ausgemalt hatte. Mein Kopf ist angenehm wattig, mein ganzer Körper so entspannt wie schon lange nicht mehr. Ich könnte einfach hier so mit ihm liegen bleiben.

Eine Bewegung neben mir. Jan rappelt sich hoch, sitzt zwischen Jacken und Schuhen. Ich stütze mich auf einen Ellbogen hoch. Mein Kopf dreht sich. Leicht schwindelig, sehe ich ihm zu, wie er beginnt ein paar Schuhe zu sortieren. Sogar ich weiß nicht, was ich sagen soll, will nur nicht, dass es seltsam wird zwischen uns. Dafür war es verdammt nochmal viel zu gut. Für ihn auch?

„Deine Hose klebt“, platze ich schließlich in die Stille im Flur hinaus. „Vermutlich nich nur außen, wa?“

Jan hat gerade einen Turnschuh in der Hand, sieht mich ungläubig an, dann wirft er seinen Kopf in den Nacken und beginnt schallend zu lachen. Mann, er ist so verdammt attraktiv, wenn er so leicht und unbeschwert ist. Er wischt sich eine Lachträne weg. Das Schweigen zwischen uns ist jetzt gemütlicher. Ich schlüpfe in meine Lederjacke, weil mir langsam doch ein wenig kalt wird.

Jan lehnt sich an die Wand und an meine Schulter. Ich streiche über seinen Nacken, sauge seinen Duft ein, der jetzt noch schwerer ist von Sex und Schweiß und verdammt lecker. Ich küsse ihn auf die Stirn und er brummt zufrieden. Sein Kopf an meiner Schulter wird immer schwerer. Er scheint wegzunicken und auch meine Gedanken werden immer zäher und ...

Auf einmal schreckt er hoch. „Was ...?" Er sieht mich und entspannt sich wieder. „Hey." Er grinst müde, dann gähnt er, gähnt so extrem, dass ich Angst hab, er renkt sich den Kiefer aus. Oder frisst mich auf. Wie kann man nur `nen so großen Mund haben?

Er löst sich von mir, kniet sich hin. „Ähm, Bela, sei mir nicht böse, aber ick muss echt pennen. Ick bin grad 36 Stunden durchgetrampt, um pünktlich für die Proben zurück zu sein. Außerdem hab ick tierisch Kopfweh.“

„Schatz, warum sachste denn nüscht?“, säusel ich wie eine besorgte Ehefrau.

„Dit war so `n bisschen schwierig.“ Sein Grinsen fällt leicht verlegen aus. „Außerdem ist es jetz besser geworden.“

„Dit freut mich.“ Ich recke mich zu ihm hoch, küss ihn auf die Wange, küss ihn auf den Mund und könnte einfach gleich noch eine zweite Runde mit ihm drehen. Von mir aus auch nochmal hier im Flur.

Er scheint es zu bemerken. „Sorry, Bela, aber ... Also, ick muss jetz echt pennen.“

„Na, dann komm mit.“ Ich rappel mich hoch, öffne meine Zimmertür.

Er sieht mich etwas verständnislos vom Boden an. Ich halt ihm meine Hand hin, zieh ihn unter Einsatz meiner letzten Kräfte hoch.

Er taumelt, will sich an der Garderobe festhalten, aber die existiert ja nicht mehr. „Woah. Kreislauf.“ Eine Hand landet am Türrahmen, die andere warm auf meiner Schulter.

„Ick muss echt schlafen.“

Ich deute auf meine offene Zimmertür.

Er wendet den Blick ab. „Am besten in meinem eigenen Bett.“

„Oh.“

Er drückt mich vorsichtig an sich. „Also, dit war so mein fester Plan, als ick hier zur Tür hinein gefallen bin und dann ... kam irgendwie allet anders.“ Er lässt mich wieder los, reibt sich über den Nacken. „Wann müssen wa denn heute bei der Probe sein?“

Scheiße. Ich versuch mich von seinem Stimmungswandel nicht hinunter ziehen zu lassen, aber es schmerzt trotzdem. „Erst um 14 Uhr.“

„Okay. ... Dit is echt jut. ... Dann ... Also ...“ Er drückt mich noch einmal an sich und ich kann wieder etwas leichter atmen.

Eigentlich ist alles gut, sehr gut sogar. Das war mehr, als ich mich getraut habe zu hoffen nach dem letzten Mal. Und trotzdem ...

„Jan?“ Ich hab Angst vor seiner Antwort, aber ich kann auch nicht nicht fragen. „War dit okay für dich?“

„Ähm, also ...“

Ich halt die Luft an.

„Ick ...“ Er blickt sich zaghaft im Flur um, schiebt mit seinem Fuß einen Schuh zur Seite. „Also, ick weeß nich so janz jenau, wat dit war, aber ...“ Endlich landet sein Blick wieder auf mir und ein Lächeln beginnt seine Mundwinkel langsam nach oben zu ziehen.

Ich kann wieder atmen. Mehr muss er eigentlich gar nicht sagen. Dieser Blick und sein leicht schüchternes Grinsen reichen mir.

 

 


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LYRICS

Depeche Mode - Behind the wheel

Depeche Mode - Home



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Chapter 21: 1983 - Vollmilch

Chapter Text

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* Teenagers in Love *





Lieder und Bilder farbig unterlegt im Kapitel.
Weiterführende Links am Ende.



1983 - Vollmilch





15. April - Niebuhrstraße 38b, Charlottenburg


Eine große Hand streicht durch meine Haare, über meinen Kopf. Ich hab voll keinen Bock aufzuwachen, aber es fühlt sich schön an. War das ein Kuss in meinem Nacken? So zart, dass ich ihn fast nicht gefühlt habe.

„Hey, Bela!“ Ein Flüstern an meinem Ohr. Diese Stimme. Schlagartig bin ich wach. Ich drehe mich herum und da ist er – ganz nah in der Dunkelheit meines Zimmers.

Seine Strähnen kitzeln auf meiner Wange. „Hey, du. Morn.“

„Also, eigentlich is es schon Mittach.“ Seine Worte haben so eine Sanftheit an sich, die ich viel zu selten bei ihm höre und die mich direkt im Herzen trifft. Dabei klingt seine Stimme oft warm und angenehm. Aber Jan hört sich auch immer noch leicht unsicher an. Doch er ist so nah.

Ich recke mich ihm entgegen. „Kriech ich `nen Guten-Morgen-Kuss?“

„Also für `nen Kuss gehste erstma Zähne putzen.“

„Uh, Prinzessin.“ Mann, hab ich ihn vermisst. Also, zumindest bis zu dem Moment, in dem er die Vorhänge mit einem Ruck zurück zieht. „Eyyyyy! Biste irre?“ Ich vergrabe mich unter meinem Kissen, das aber mit einem Ruck weggezogen wird. „Erbarmungslos.“ Ich setz meinen patentierten Welpenblick ein. Immerhin führt der dazu, dass er sich nochmal zu mir auf`s Bett setzt.

„Gar nich. Wir sollten halt echt los, wenn wa pünktlich da sein woll`n.“

„Och, menno. Du und dein deutscher Pünktlichkeitsfimmel. `n echtes Lehrer*innenkind. Komm doch einfach zu mir ins Bett und dann ... “

„Ah, jetzt versteh ick, weswegen du immer zu spät kommst.“ Es ist nicht bös gemeint, auch wenn ich ihn wirklich ständig, also s-t-ä-n-d-i-g, warten lasse. Aber er kommt auch nicht unter meine Decke, die ich hoffnungsvoll für ihn hochhalte. „Wir ham noch Zeit.“

„In deiner Welt vielleicht, du Schussel.“

„Nein. Ehrlich. Ick hab `nen neuen Proberaum für uns klargemacht.“

„Wat? Echt! Wo denn?“

„In Kreuzberg.“

„Ernsthaft?“ Er strahlt mich an mit seinem 1.000-Watt-Grinsen. Genau das war einer der Gründe, warum ich mich darum gekümmert hab. Außerdem ist es gut, wenn nich unsere ganze Band-Infrastruktur von Hans gestellt wird.

Auf einmal spür ich seinen Mund auf meiner Wange. Zwar nur ein dicker Schmatz, aber das geht doch schon mal in die richtige Richtung. Da könnt er gerne weiter machen. Doch schon ist er wieder weg.

„Endlich nich mehr nach Hermsdorf raus müssen.“ Seufzend lässt er sich auf meine Decke zurückfallen. Sein Kopf landet warm und schwer auf meinem Oberschenkel.

„Ja, dit dacht ick och.“ Er sieht von unten zu mir auf. „Und – es gibt noch `ne Überraschung, aber dit is noch nich janz eingetütet.“

„Überraschung?“ Sein Gesicht leuchtet noch mehr auf.

„Mhmmm.“ Ich bin sehr zufrieden mit mir.

„Wat is es denn?“ Leider setzt er sich vor lauter Aufregung wieder auf. Er sieht so aus, als wäre kurz davor so dressierter Seehund-mässig in die Hände zu klatschen.

Ich muss echt grinsen. „Verrat ick nich.“ Dann lass ich mein Grinsen wieder verblassen und heb ernst einen Zeigefinger in seine Richtung. „Eigentlich haste dir dit och echt nich verdient, du treulose Tomate. Vielmehr sollt ick dir den Arsch versohlen.“

„Gerne.“ Er steht nun ganz von meinem Bett auf und hält mir seinen Hintern hin.

Ich stutze. Meint er das ernst? „Na, denn ...“

An seiner hinteren Gürtelschlaufe zieh ich ihn wieder ans Bett ran. Ein Quietschen, dann landet er mit voller Wucht auf mir. Mhmmm. Das ist doch schon mal ein guter Anfang. Ich dreh ihn so, dass er über meinem Schoß liegt. Er wehrt sich nich mal wirklich. Okay. Ich klatsche ihm mit der flachen Hand auf seinen sehr lecker in Jeans verpackten Hintern.

„Auuuuuuu!“, heult er übertrieben laut auf.

Ich lang gleich nochmal zu. Geiles Geräusch.

„Au! Mann, Bela. Ja, is jut. Ick weeß, ick weeß. Ick hab`s verdient.“

„Aber hallo!“ Ich lass meine Hand auf seinem Po liegen. Ob er meine Latte durch die Bettdecke fühlen kann? Mit einer Hand fass ich in seinen Nacken und seine Augen fallen zu, öffnen sich dann wieder viel zu schnell und rappelt sich hoch.

„So, jetze müssen wir aber wirklich los. Raus aus dem Bett!“ Er zieht mir die Bettdecke weg und erstarrt dann einen Moment. Wahrscheinlich sollte ich mich peinlich berührt zur Seite drehen, stattdessen präsentiere ich ihm ungeniert meine hübsch in schwarzen Stoff verpackte Morgenlatte.

„Ähm, also, ... ick wart in der Küche auf dich.“

Spielverderber.


U7 Charlottenburg – Kreuzberg

Wir fahren mit der U-Bahn von der Wilmersdorfer direkt zur Gneisenaustraße. Perfekt.

Farin hat seinen Wal-kman herausgeholt und sich seine Kopfhörer übergestülpt. Wahrscheinlich ist er überfordert vom Alltagspublikum hier im Waggon. Oder hört er seine neue Musik aus London und sehnt sich zurück?

„Hey!“

Er wippt mit den Knien im Takt, aber hört mich nicht.

„HEY!“

Eine ältere Dame sieht sich um, schaut dann schnell wieder nach vorne, als sie mich erblickt. Geil. Sofort werden natürlich wieder alle Vorurteile abgerufen. Nur weil der Typ in der Lederjacke Lärm macht.

Ich lüfte vorsichtig einen von Farins orangen Kopfhörer. Er zuckt zusammen und dreht mir endlich sein Gesicht zu.

„Hey!“

Unsere Augen bleiben aneinander hängen. Sein Gesicht ist nur zwei Handbreit von meinem entfernt. Auf einmal steht gestern wieder voller Wucht zwischen uns. Also, nich zwischen uns, sondern vielmehr knistert es dort. Ich kann an seinem Blick sehen, dass er an das Gleiche denkt. Seine Augen wandern kurz zu meinem Mund. Er beißt sich auf die Lippen.

Fuck, allein das macht mich schon an. Ich lege eine Hand auf sein Knie. Er zuckt ein Stück zurück. Ach, Mann. Na, okay. Schade, aber okay. Ich versuche mich nicht zu sehr davon hinunter ziehen zu lassen, schnapp mir seine Kopfhörer und setz sie mir auf.

„Wat is `n dit?“, frage ich über das melodische Geschepper. Gefällt mir. Gute Stimme der Sänger.

Er zieht eine Kassettenhülle aus seinem Rucksack und drückt sie mir in die Hand, deutet auf das Bandlogo. Generation X.

„Klingt jut. Wo haste denn die entdeckt?“

Sein Mund bewegt sich.

„Was?“

Er zieht einen Hörer ein Stück weg. „London.“

Das Unwort. Bringt mich fast zum Fauchen wie eine Katze. Schnell unterdrück ich den Impuls. Grad ist es so alltagsgut zwischen uns und das will ich genießen.

Das Bandphoto zieht mich in seinen Bann. „Der blonde Typ sieht ja fast so aus wie du.“

Farin legt grinsend einen Zeigefinger an seinen Mund. Anscheinend habe ich mit den Kopfhörern und dem Regler auf Anschlag ähnlich laut gesprochen wie die Punkmucke in meinen Ohren.

Er hält den Kopfhörer wieder ein Stück von meinem Kopf weg. „Findeste?“

Ich nicke.

Er nähert sich meinem Ohr. „Und findste, dass der jut aussieht?“

Ich muster den Typen, dann Farin. „Nee.“

Er zieht die Augenbrauen hoch. „Okay.“

„Du siehst besser aus.“

Eine junge Frau auf dem Vierer neben unserem sieht zu uns herüber, betrachtet uns, wendet sich dann grinsend wieder ab.



Kreuzberg, Gneisenaustraße

Ich bin echt aufgeregt. Ein neuer Proberaum und das in Kreuzberg. Mal sehen, was Bela da an Land gezogen hat. Er führt mich die Gneisenaustraße runter und hält dann vor einem großen Backsteingebäude.

„Tada!“ Bela strahlt mich an. „Kennste die Panzerknacker mit Matzge?“

„Ja, hab ick schon ma bei `nem Konzert gesehen. Die machen eher so NDW-Mucke, oder?“

„Genau.“

„Is der Typ nich so `n Skin?“

„Ja, aber eener von den Juten.“

„Ick hab nüscht gegen Skins. Also, zumindest nich generell.“ Johns Gesicht taucht vor mir auf. Ich hätte echt gern noch mehr Zeit mit ihm verbracht. Vermiss ich London? Ja. Nein. Ja. Irgendwie war es gefühlsmässig dort unkomplizierter.

„Matzge und icke war`n zusammen wat trinken und sind dann noch `n bisschen durch Kreuzberg gezogen. Ick hab wohl rumgejammert wegen der Band ...“ Er wirft mir einen gedankenverlorenen Blick zu. „Und so ...“

„Okay.“ Vielleicht will ich es gar nicht so genau wissen.

„Und da hat er mir dann dit Angebot gemacht mit dem Proberaum.“

„Cool.“

„Wir soll`n halt `n bisschen was beisteuern für den Unterhalt.“

„Wie viel?“

„So `n Zwanni im Monat.“

„Okay, krieg`n wa hin.“ Vor dem sonnenbeschienenen Gebäude wachsen ein paar wilde Krokusse an der Hauswand. „Und wo ist der Raum?“

Bela hält mir die große Eingangstür auf und dann eine Eisentür. Der typische Berliner Kellermief schlägt mir entgegen. Oje. Wieder Keller. Egal. Kreuzberg! Yeeees!!!

„Hier unten.“ Bela geht vor mir eine Treppe runter.

Unten im Kellergang muss ich mich leicht bücken. Dennoch stoße ich mit dem Kopf an ein Rohr, dass sich an der Kellerdecke den Gang entlang zieht. Eine Spinnwebe landet in meinem Gesicht. „Iiiih! Igitt.“ Hektisch wische ich sie weg.

„Manchma is es echt besser nich so `n Riese zu sein“, prustet Bela in einem Lachanfall los.

Ich ziehe ihn an mich, will ihm eigentlich eine ordentliche Kopfnuss verpassen oder gehörig in den Schwitzkasten nehmen. Überraschend für mich wird daraus aber ein Kuss auf den Kopf.

Er gibt ein sehr zufriedenes Brummen von sich, schiebt mich dann gegen die Kellerwand, die sich kalt und feucht anfühlt. Ein Schauer läuft meinen Rücken runter. Bela presst sich warm an meine Brust und meinen Bauch. Dieser Schauer ist sehr viel angenehmer, aber ... Ich küsse Bela auf die Wange und drücke ihn sanft von mir weg.

Der Laut, den er von sich gibt, hört sich an wie akkustisches Schmollen.

Ein Schatten fällt auf uns. Der Skin von den Panzerknackern. Seine Augen glänzen im Halbdunkeln des Kellers und sie liegen eindeutig auf mir.

„Na, ihr Beiden?“  Er sieht immer noch mich an. „Schön, dass ihr hier Spaß habt.“ Matzge hat trotz seines martialischen Aussehens einen extrem weichen Süd-Dialekt. Schwäbisch?

„Dit is Farin“, stellt Bela mich vor.

„Na, deinen Großen kenn ich doch schon.“ Matzge nickt mit dem Kopf hinüber zu mir. „Also, vom Sehen. Auf Konzerten und so." Ich kann den Blick, den er über mich gleiten lässt, irgendwie nicht ganz deuten. Bela rutscht ein Stück näher an mich heran.

Matzge streckt mir seine Hand hin und ich schlage ein. Sie liegt warm in meiner, aber er hält sie eine Sekunde zu lang. Es ist nicht direkt unangenehm, aber seltsam. „Kommt. Ich zeig euch den Proberaum. Und das Studio.“

„Wie Studio?“

„Hat Bela nix erzählt?“ Er sieht ihn fast ein wenig vorwurfsvoll an.

Als er die Tür öffnet, erblicke ich auf einem Tisch aufgebaut ein Mischpult, Kabel, Mikrofone. „Wow. Dit is ja echt `n richtijet Studio.“

„Sag ich doch.“

„Krass, oder? Dit vermutet man gar nich, wenn man in diesen ollen Keller kommt, wa?“ Sein Coup ist echt geglückt. Bela wirkt fast noch stolzer als Matzge.

„Jörg und ich ziehen gerade was auf. Ist zwar nur ein Vierspur-Gerät, aber für so `n bisschen Punkrock reicht das ja erstmal.“

Bei näherer Betrachtung ist der Proberaum leider zwar sehr viel näher, aber nicht weniger böse als das Kellerverlies in Hermsdorf. Von der Wand hängt gelbes Dämmmaterial, dass ich als Glaswolle identifizieren. Autsch. Das Zeug erinnert mich an einen meiner zahlreichen Studi-Jobs. Glaswolle frisst sich unter die Haut und piekst dort tagelang echt fies.

Dennoch ist der Raum echt cool. Und groß. Da ein paar Heizungsrohre hindurch führen ist sogar recht kuschelig warm darin.

„Hey!“ Die Tür öffnet sich und Hans streckt seinen Kopf hindurch. „Na? Hey, Jan! Cool, dass du wieder da bist!“ Er umarmt mich.

Hans ist noch ein kleines Stückchen größer als ich, was mich manchmal ein wenig ärgert. Bei ihm liegt es wahrscheinlich an seiner finnischen Mutter. Bei mir kommt es wohl von der Vetterschen Seite. Mein Vater wurde schon sehr oft als „stattlich“ bezeichnet, sowohl von Frauen als auch von Männern. Ich klopfe Hans auf die Schulter. Oft hab ich nicht Leute auf Augenhöhe.

Vermutlich sieht das auf der Bühne auch ganz cool aus mit uns beiden blonden Hünen und Bela eingerahmt von uns als schwarzhaariger, drumstickschwingender Teufel. Irgendwie hab ich gerade wieder so richtig Bock auf unsere Band, unser Ärzte-Dreigestirn.

„Du strahlst so!“, grinst Hans mich an. „War`s gut in London?“

Ich sehe über Hans Schulter wie Bela das Gesicht verzieht.

„Joah. War janz jut in London.“

„Das hört sich aber nicht so an.“ Hans sieht mich fast prüfend an.

„Och, ick bin einfach froh wieder hier zu sein.“

Belas und mein Blick treffen sich. Und ich kann nicht anders als an gestern Abend zu denken. Wahrscheinlich werd ich sogar ein wenig rot, doch unaufhaltsam breitet sich auf meinen heißen Wangen ein Grinsen aus. Bela schmollt noch einen Moment, dann zwinkert er mir zu.

Hans grinst. „Find ich auch, du alter Vagabund.“

„So, jenuch gequatscht, ihr Beeden." Bela legt Hans und mir eine Hand auf die Schulter. "Für die Überraschung müssen wir ein paar Lieder üben.“ Er wechselt mit Hans ein verschwörerisches Grinsen.

Seit wann sind die beiden eigentlich so dicke? Seitdem du nicht da warst, sagt mein schlechtes Gewissen. Oder ist das Eifersucht?

Wir bauen alles auf. Ein bisschen muss ich mich noch an den neuen Proberaum gewöhnen, aber er hat eine bessere Energie, ist mehr Punkrock als der in Hermsdorf. Nebenan tüftelt Matzge etwas am Mischpult.

Bela setzt sich hinter sein Schlagzeug. „Wir starten mit „Zum Bäcker“. Alles klar, Hans? Farin?“ Er strahlt mich so an, dass ich nur nicken kann. Ich hänge mir meine Gitarre um und stöpsel sie in den Verstärker.

Bela vibriert vor Begeisterung. „Hey, ho – let`s go.“ Er schlägt seine Drumsticks zusammen. „Eins, zwei, drei, vier ...“

Durch das schnelle Spielen und die Heizungsrohre ist mir irgendwann echt wahnsinnig heiß. Bela anscheinend auch, denn er zieht seine Lederjacke aus. Er trägt immer noch das gleiche T-Shirt wie heute früh. Sein Anblick erinnert mich sofort wieder daran, wie wir vor ein paar Stunden im Flur ... Ich kann meine Augen nicht von ihm nehmen. Ich lieb es sowieso ihm beim trommeln zu zu sehen, wie er da hinter dem Schlagzeug sitzt. Aber jetzt ... Fuck, fuck, fuck!

Ab und zu blicke ich auch zu Hans. Der muss das doch checken, aber – okay. Hans ist manchmal so, dass er nichts wahrnimmt, was nicht in seine Welt passt. Gut so.

Gerade ist es einfach ein verdammt gutes Gefühl Bela wieder an meiner Seite zu haben. Der Typ ist echt so ein Energiebündel.

Nachdem wir „Zum Bäcker“ dreimal mit verschiedenen Tempi durch geprobt haben, probiere ich Ansagen dazu aus. „Wollt ihrrrrr das totaaaleeeee Brrrrrötchen?" Noch krasser kann man das R nicht rollen. Erinnert ja zum Glück auch gar nicht an jemanden.  „Dann, Kamerrraden, auf zuuum Bäckerrrrrrrr!"

Matzges Gesicht erscheint in der Tür. Er schüttelt den Kopf. „Ihr seid echt irre. Aber irgendwie klingt das auch ganz schön gut, was ihr da fabriziert. Eher so ein bisschen poppig, oder? Sagt mal, wenn ihr Bock habt – ich  würd gern mehr mit Euch aufnehmen und produzieren.“

„Klar. Wie sollen wir denn sonst reich und berühmt werden?“, antworten Bela und ich wie aus der Pistole geschossen.

Einen Moment sieht uns Matzge verblüfft an, dann verschwindet er lachend wieder.


*



Draußen ist es schon dunkel, als wir wieder aus dem Keller auftauchen. Bela und ich machen uns auf den Weg zur U-Bahn, Hans will noch irgendwas mit Matzge wegen der „Überraschung“ regeln. Die Beiden machen es echt extrem spannend.

„Das war echt richtig jut heut.“ Bela rammt mir unsanft seinen Ellbogen in die Seite. „Scheinst echt neuen Elan von deinem nervigen Trip mitgebracht zu haben. War vielleicht doch nicht nur doof.“

„Mhm.“ Irgendwie vermute ich, dass meine, trotz extremer Müdigkeit, fabelhaft gute Laune heute nichts mit London zu tun hat.

Wir lassen uns in der U-Bahn wieder auf einen Vierer fallen. Vor uns sitzt eine New Wave-Braut mit schwarzen Haaren. Kurz denke ich, es ist Gudrun Gut von Malaria! Bela war beneidenswerter Weise wohl mal mit ihr zusammen, aber mit wem war der noch nicht zusammen. Ich seufze leise.  

Die U7 rattert gleichmässig vor sich hin. Schönes Geräusch. Dieses Mal lasse ich meinen Walkman im Rucksack und ...

... erwache von einer Hand auf meinem Knie, fühle eine knochige, schmale Schulter unter meiner Wange, rieche Bela.

„Hey, wir müssen an der Nächsten raus.“ Seine Stimme ist ganz nah. Ich will noch nicht zeigen, dass ich wach bin.

„Farin?“ Er streicht mir über die Wange.

Behutsam schlage ich die Augen auf, aber Bela ist so warm neben mir und ich sooo müde, dass sie auf halbmast hängen bleiben.

„Komm. Kannst gleich weiter pennen.“ Er zieht mich vom Sitz hoch, führt mich die Niebuhrstraße entlang, schiebt mich die Treppen hoch, zieht meine Klamotten aus. Hm, fühlt sich gut an, wie er meine Hose öffnet, aber ich bin mir nicht mal sicher, ob ich wach bin oder das gerade träume.

Eine Hand drückt mich nach unten. Ein weiches Kissen. Ich rieche mein eigenes Bett. Oh. Irgendwie bin ich ihm dankbar, aber auch traurig und ein wenig sauer auf mich selbst. Tja, selber Schuld, dass ich heute morgen darauf bestanden habe, nicht in Belas Bett zu schlafen, angeboten hatte er es mir ja.

Dann bin ich auch schon eingeschlafen.


16. April - Niebuhrstraße 38b

Meine Mutter hat sich angekündigt. Sie wollte mich gerne mal sehen nach meiner Reise und auch endlich mal unsere WG. Bisher habe ich sie immer aus meinem neuen Reich herausgehalten, aber mir gehen die Ausreden aus. Außerdem haben wir gerade schon genug Streß miteinander.

Auf jeden Fall bin ich heilfroh, dass Bela aufgeräumt und geputzt hat. Ich bin immer noch ganz schön fertig von meinem Tramp-Marathon zurück nach Berlin.

Als ich in die Küche komme, sitzt Bela vor einer Tasse Kaffee und liest einen Comic.

„Muttern kommt heute vorbei.“

„Cool.“

„Findeste?“

„Ach, jetz komm. Deine Mutter ist wirklich cool. Also, ick meen, meine hat uns diese Wohnung beschert, aber sie ist halt eher so `ne richtige ... Mutti. Deine is ... eenfach schick. Und eben cool.“

„Grad nich so.“

„Echt? Warum?“

Ich hab ihm ja immer noch nichts über den Auslöser meines Londonbesuchs erzählt und hab gerade auch kein Bedürfnis danach, genauso wenig nach weiterem mütterlichen Druck und Berufsberatung.

Als sie dann in der Wohnungstür steht, merk ich auf einmal, dass ich sie doch vermisst hab. In der einen Hand hat sie eine Kuchenform, die ihr Bela abnimmt, in der anderen eine schwere Tasche mit dem „Metro“-Logo drauf.  

Sie umarmt erst mich – lange. Ihr vertrauter Geruch macht mir das Herz seltsam schwer vor Sehnsucht. Ich wünschte, ich würde mich ihr wieder so anvertrauen können wie früher, vor Gerd. Aber gut war da auch nicht alles. Trotzdem ...

Sie umarmt auch Bela.

„Ich hab euch eine Großpackung Kartoffelpüree und Fischstäbchen mitgebracht, Jungs.“

„Gepriesen seist du, Uta.“

„Na, ich lass euch doch nicht verhungern, ihr armen Künstler.“  

Das ist echt nett. Und verdammt notwendig. Der tolle Londontrip hat ein gewaltiges Loch in meine Finanzen gerissen.

Ich zeige ihr die Wohnung, lasse aber Belas Gruft aus. Zufrieden sieht sie sich um. „Ist klein, aber ihr braucht ja auch nicht viel, ihr Beiden. Gefällt mir.“

Bela strahlt zufrieden. Und noch mehr als sie den Kuchen aus der Form befreit. „Geil. Marmorkuchen. Mit Schokoglasur. Du bist echt die Beste, Uta!“ Bela grinst als hätte er Geburtstag und es ist ein bisschen süß.

Sie mustert ihn. „Was esst ihr denn sonst so?“

„Och, joa. Also, meistens ... nich so viel", murmelt er.

Sie betrachtet ihn aufmerksam mit so einem laserartigen Mutterblick, der durch alles hindurchsieht. Eine kleine Falte taucht auf ihrer Stirn auf. Ihr Blick wandert zu mir. Ein fast unmerkliches Kopfschütteln. „Na, dann ist es wohl gut, dass ich euch etwas mitgebracht habe.“

Ich nicke, bin wirklich dankbar. „Ja. Vielen Dank, Mama.“

Ihr Blick fällt wieder auf  mich. „Und wie war`s in London? Was hast du dort denn nun gemacht?“ Sie sieht wirklich interessiert aus.

„Viel Musikrecherche, auch `n bisschen Strassenmusik. Aber die Punkszene ist irgendwie nicht mehr so richtig cool.“

„Wie meinste `n dit?“ Bela sieht von seinem Kuchen auf, den er schon zur Hälfte verputzt hat.

„Die sin irgendwie nich mehr so spannend. Irgendwie is da die Luft raus. Außerdem nehmen die einfach zu viele Drogen.“

Bela zuckt zusammen und ich hoffe, dass meine Mutter mit ihrem siebten Elternsinn, dass nicht mitgeschnitten hat. Sie sagt aber nur: „Du weißt, Jan, wie froh ich bin, dass du damit nichts zu tun hast.“

Bela wird ein kleines bisschen rot. Wenn das Thema nicht so nervig wäre, fände ich es fast süß.

Schnell wechsle ich das Thema. „Aber ick gloob, da kommt bald wieder wat Neues. London ist uns echt immer voraus so mit Trends.“

„Und? Wie sieht es mit deinen Zukunftsplänen aus?“

Krass. Sie schneidet das Thema echt vor Bela an. Ich hatte gehofft, dass er ein Puffer ist zwischen uns.

„Also ...“ Ich hole tief Luft. „Ick werd erstma weiter Musik machen.“

„Aha. ... Aber wie willst du, wie wollt ihr denn damit Geld verdienen?“ Ihr Tonfall ist in Ordnung, aber ihr Blick hat wieder so eine sehr starke erwachsenen Ernsthaftigkeit, auf die ich einfach keinen Bock habe. Mann, ich hab gerade 13 Jahre Schule hinter mich gebracht, ich bin noch nicht mal 20.

„Dit muss sich halt noch klären.“ Mein Tonfall ist sehr viel angespannter als ihrer, aber vielleicht gibt sich meine Mutter auch Mühe, dass es nicht eskaliert. „Bis dahin jobb ick erstma weiter.“

Eine steile Falte erscheint auf ihrer Stirn. Eigentlich sieht sie für ihr Alter wirklich ganz gut aus, auch wenn ich das als Sohn wahrscheinlich schlecht beurteilen kann. Dieses „Strenge-Mutter“-Gesicht steht ihr allerdings gar nicht. Anscheinend denkt sie, dass wenn schon Gerd nicht hier ist, sie Durchsetzungsvermögen zeigen muss.

Bela sieht zwischen uns beiden hin und her. Seine krasse Empathie - also, zumindest wenn er nüchtern ist und manchmal sogar noch mehr, wenn er total auf irgendwas drauf ist – ist echt überausgeprägt und so bekommt er wohl die leichte Spannung in der Luft mit.

„Naja, also, wir ham schon `n Plan", sagt er schnell zu meiner Mutter. „Ick organisier für uns Gigs, also Konzerte und Auftritte.“ Dann senkt er verschwörerisch die Stimme. „Und - also, eigentlich is dit `ne Überraschung, aber ...“

„Ey, nüscht verraten“, springe ich dazwischen. Da ich keine Ahnung habe, um was es geht, ist es vielleicht besser, dass bleibt unter Verschluss. Meine Mutter empfindet nicht unbedingt die gleiche Freude bei einer Überraschung von Bela wie ich - hoffentlich.

„Aber, Jan, was willst du denn lernen? Irgendwas musst du doch als Beruf anstreben, nachdem du schon dein Studium abgebrochen hast.“

„Janz ehrlich: Ick weeß es immer noch nich.“

„Aber bist du nicht extra deswegen nach London?“

„Ja. Nein. Ick ...“ Fühl mich total in die Ecke gedrängt.

Bela sieht mich mit großen Augen an.

„Wir kommen schon klar, Uta.“ Er sieht sie sehr ernst an. Und ich bin ihm dankbar, dass er sich gerade einmischt, obwohl ich das auch nicht immer mag.

„Okay." Die dünnen Lippen habe ich von ihr geerbt. Ihre sind gerade gar nicht mehr sichtbar, so sehr versucht sie sich vor Bela zusammen zu reißen. „Aber ich erwarte trotzdem, dass du uns ... mir einen Plan vorlegst in den nächsten Wochen. So kann das nicht weiter gehen.“ Sie sieht mich lange über den Tisch an. Der Kuchen schmeckt danach viel zu süß und pappig.

Als meine Mutter sich endlich wieder verabschiedet, atme ich tief durch und sinke gegen unsere Wohnungstür.

„Wat war`n dit für `n Schauspiel?“ Bela sieht mich fragend an.

„Ick konnt`s dir noch nich erzählen. Also, vor zwei Wochen hat sie mich ...“

Es dauert echt lang alles zu erklären und nach ein paar Minuten lass ich mich an der Wohnungstür zu Boden sinken. Bela setzt sich zu mir.

„Tja, und dann ... Du warst nich da. Und du bist eenfach nich zurückgekommen und ick ... ick konnt eenfach nich mehr.“

Bela sieht zu Boden. „Ey, tut mir echt leid.“ Er rutscht neben mich, lehnt sich auch an unsere Wohnungstür. „Ick hab dit nich so jenau verstanden aus deinem Brief.“ Er legt eine Hand auf meine Knie.

„Wahrscheinlich hab ick`s och scheiße erklärt.“

„Und wahrscheinlich hab ick ..." Er sieht vorsichtig zu mir rüber. „Wahrscheinlich hab ick den Brief zerrissen.“

„Oh. ... ... Haste ihn denn gar nich gelesen?“

„Nur bis zu der Stelle, dass de nach London abhaust.“

„Und der Hunni?“

„Der ... also, den ...“ Seine Stimme wird immer leiser. „Ick hab den zu spät gesehen.“

Ich kann den Seufzer nicht zurück halten. „Oh, Mann, Bela.“

Er sieht echt bedröppelt zu mir hoch. Ich lege ihm meinen Arm um die Schultern und ziehe ihn an mich. „Tut mir leid, dass ick einfach so abgehaun bin. War och scheiße von mir, wa?“

„Mhm. `N bisschen.“

„Wo haste denn gesteckt die Tage?“

Er versteift sich. „Ick hatt da jemand Neues kennengelernt.“ Er spricht nicht weiter. Ungewöhnlich. Aber ich will auch nicht weiter nachfragen.



18. April - Kreuzberg, Gneisenaustraße

Heute ist der Tag der Überraschung. Und sie hat anscheinend etwas mit dem Proberaum zu tun. Bela springt neben mir her die Gneisenaustraße hinunter und bringt mich mit seiner fast schon kindlichen Aufregung immer wieder zum Lachen.

Unten im Keller dann totales Chaos. Ein Song brettert mit 160 km/h durch das Kellergewölbe. Mindestens 30 Leute drängeln sich dort, vor allem aber in dem kleinen Probe- und Aufnahmeräumen der Panzerknacker.

Ich winke irritiert Hans zu, der gerade mit einem Teil der Toten Hosen am Mikro steht. „Äh ... Dit is doch keene normale Probe. Oder warum sind Campino, Kuddel und Wölli da?“ Kurz bin ich echt überfordert, check grad gar nichts. „Wat is `n jetz die Überraschung?“

Micha kommt zu uns hinüber, klopft mir auf die Schulter. „Hey, Jan. Sieht man dich auch mal wieder?“

„Hey, Micha.“ Ich umarme ihn, bin froh über jedes bekannte Gesicht in diesem Proberaum-Moshpit. „Bela macht voll `nen auf geheimnisvoll. Warum seid ihr denn alle hier?“

„Na, wir nehmen `ne Platte auf!“

„Wie Platte?“

„Matzge und Jörg ..."

„Fukking", grinst Bela. „Warum hab ich nicht so einen geilen Nachnamen? Bei mir wäre der Name sogar Programm."

Ich seh ihn an, weiß aber nicht, was sich auf meinem Gesicht zeigt, weil ich selber nicht weiß, was ich genau fühle.

„Also, die beiden haben so `n Label gegründet", fährt Micha unbeirrt fort. „Schnick-Schnack – und die wollen so eine Fun- und Saufpunkplatte rausgeben. Und ihr sollt da auch dabei sein.“

Mein Blick wandert ganz langsam zu Bela. „Nich im Ernst?“

„Geil, oder?“

Ich trete einen Schritt auf Bela zu und schließe ihn fest in meine Arme. Ich bin fast gerührt, aber noch mehr euphorisiert. Und verwirrt als ich seinen Körper so warm und fest an meinem fühle. Schnell lasse ich ihn wieder los, sehe mich um. Nun macht der ganze Zinnober hier auch für mich Sinn. Ich lege Bela behutsam eine Hand auf die Schulter. „Welche Lieder sollen wir den aufnehmen?“

„Hans und ich dachten ...“

„So, so ... Hans und du, ja?“

„Ja. Darf ick dich dran erinner, dass du nich da wars? Also: Zum Bäcker, Zitroneneis und Vollmilch.“

„Auf jeden Fall Vollmilch“, grinse ich. „Abstruser geht`s echt nich.“ Ich umarme ihn, drück ihm einen Kuss auf die Wange. Als Hans auf uns zukommt, zieh ich mich schnell wieder zurück.

„Wow.“ Er wischt sich den Schweiß von der Stirn. „Die Tangobrüder, also Campino, Kuddel und Wölli, haben keinen Bassisten. Plus jetzt die Suurbiers. Mein Typ ist heute echt gefragt“, grinst er.

„Na, is doch schön für dich.“ Ich hau ihm auf den Rücken.

„Ja, schon. Aber ist schon mehr Arbeit, als die anderen haben.“ Er zuckt mit den Schultern. „Hey, Bela, wir sind als nächstes mit den Suurbiers dran.“


*



„Nun gut, Kollegen, ihr seid heiß!“ Micha am Mikro ist definitiv gut drauf. „Stellt euch auf und lasst uns beim Quertanz alle Sorgen vergessen." Das ist der "Fast ein bisschen zu gut drauf"-Micha.

Die Jungs von der Deutschen Trinkerjugend sind natürlich sofort dabei. Sie stellen sich in zwei Reihen zum Square Dance auf, pogen dann aber mehr durch das kleine Studio als das das irgendwas mit geordnetem Tanzen zu tun hätte. Dafür geben sie so „Yiiiehaaa!“-Cowboy-Rufe von sich.

Während Micha, Bela und Hans spielen, beobachte ich Bela am Schlagzeug. Bei den Proben und Konzerten tue ich das durchaus auch, aber meistens muss ich mich dann zu sehr auf andere Sachen konzentrieren.

Bei jedem Take wird es wilder. Bela beginnt nun wie bei unseren Auftritten mit den Ärzten in Michas Gesang hineinzuquatschen. Ich vernehme ein „Oller! Du stinkst nach Geier!“

Das sie sich auch so die Bälle zu spielen, macht mich seltsam eifersüchtig. Auf einmal sieht mich Bela an, zwinkert mir zu und macht einen weiteren Spruch. Ich kann gar nicht anders als mit einzufallen.

„Jetzt das Banjo“, brüllt Micha und jemand drückt mir eines in die Hand. Beim ersten Take klappt das gar nicht, aber beim fünften hab ich die Melodie ihres „Fiddle Diddles“ drin und kann mitjamen.

Anscheinend soll die Platte „Ein Vollrausch in Stereo – Schäumende Stimmungshits“ heißen, erklärt mir ein schon sehr angetrunkener Kuddel. Beim ersten Mal ist der Titel kaum zu verstehen, da er so lallt. Vollrausch trifft definitiv gerade sehr auf die Stimmung zumindest im Studio zu.

Drei Stunden später verkünden Matzge und Jörg, dass die Aufnahmen im Kasten sind und die gesamte Meute wankt weiter ins Risiko, also zumindest wollen sie dorthin. Jetzt weiß ich auch, was „um die Häuser ziehen“ bedeutet. Die meisten sind so dicht, dass wir uns auf dem Weg dorthin dreimal verlaufen.


Risiko – Kreuzberg, Yorckstraße

Als wir endlich angekommen sind, zieht mich Jenne, der Sänger der Deutschen Trinkerjugend, in eine Art Schwitzkasten, der aber auf Grund meiner Größe nicht sehr effektiv ist.

„Ey, Keule, jetze trinkste mal `nen mit hier!“

Bela scheint uns gespannt aus dem Hintergrund zu beobachten. Ich ziehe angeekelt eine Augenbraue hoch, als Jenne mir seine angesabberte Bierflasche in die Hand drückt.

Sofort sind seine Bandkollegen bei uns. Sie grölen „Trink, trink, trink!!!“, was ihre Bierfahnen sehr schön olfaktorisch zur Geltung bringt.

Ich drücke ihm höflich seine Bierflasche in die Hand zurück. „Du weißt doch, dass ick keenen Alkohol trinke.“

„Ich dacht, das wär nur so `n Ding um sich interessant zu machen. Was trinkst`n dann?“

„Na, was wohl?“ Ich grinse die versammelte Band an.

„Nee, oder?“

„Ich trink Vollmilch“, gröllt die Trinkerjugend.

Ich nicke und wende mich dorthin, wo ich Bela als letztes gesehen habe, aber der ist jetzt an der Theke Jägermeister heben mit Campino. Na, Prost.

Ein paar Minuten später ist Jenne zurück.

„Hey, is okay, Farin. Ich weiß du trinks nur Milch, nee, Bubi!“ Er drückt mir ein Glas mit Milch in die Hand.

Ich setze es an, als mir ein scharfer Gestank in die Nase steigt. Verdammte Punks!

Auf einmal ist Bela an meiner Seite. „Hier probier mal!“ Ich drücke ihm das Glas in die Hand.

„Ick will deene Milch nich.“

„Probier mal. Könnt dir schmecken.“

Bela zieht eine misstrauisches Gesicht und nippt. Seine Augen werden groß. Er sieht hinüber zu den DTJ-Jungs, die uns kichernd und tuschelnd beobachten.

„Wat is `n ditte?“, frage ich skeptisch.

„Batida de Coco, würd ick sagen.“

„Dit is Alk, oder?“

„Ja, Farin: Dit is Alk.“

„Na, dann kannste den haben.“

„Äh, okay. Danke. ... Wer hat `n dir dit Jesöff anjedreht?“

„Na, Jenne und seine Jungs.“

„Hätt` ick mir ja denken können.“ Empört stemmt er die Hände in die Seiten, dann stürmt er hinüber zur Deutschen Trinkerjugend. „Sach ma, spinnt ihr? Dit macht man nich. Nich mit meinem Jungen. Wat`n wenn der jute Farin `ne Alk-Allergie hat?"

Tatsächlich lassen die Jungs nach Belas Ansage ein wenig betroffen die Köpfe hängen. Einer fragt halblaut: „Kann man echt `ne Allergie gegen Alk haben?" Er sieht richtig geschockt aus.

Kopfschüttelnd kommt Bela zu mir zurück, nimmt einen Schluck von der „Milch.“ „Is nich janz mein Jeschmack, aber is nich direkt schlecht.“

Ich nehme seine Hand und ziehe ihn an mich. An seinem Ohr flüster ich: „Irgendwie fand ick dit sexy, du Ritter in schwarzer Rüstung.“

Seine Augen werden groß. „Echt, jetze?“

Ich nicke.

„Na, dit sollt ick wohl ma schnell ausnutzen.“ Er zieht mich an sich, aber ich weiche seinem Kuss aus, so dass er mich nur an der Wange trifft. Ich presse ihn nochmal fest an mich und höre ihn „Schade“ murmeln.

Er hat anscheinend kein Problem damit mich hier öffentlich zu küssen, aber für mich... Ich hab ja schon mit ihm allein bei uns zu Hause eins. Dabei fand ich es echt gut mit ihm heute früh – unerwartet, aber wirklich verdammt gut.



*
*





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LYRICS

Glenn Campbell – Sunflower

Generation X – Happy People

die ärzte – Zum Bäcker

The Clash – Lost in the supermarket

Die Toten Hosen – Frühstückskorn

die ärzte – Vollmilch



Schnick-Schnack Label / Matzge und Jörg

Ein Vollrausch In Stereo : 20 Schäumende Stimmungshits

Prawda 09 ab S. 94

Matzge

 Jörg Fukking




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Chapter 22: 1983 - Spree

Chapter Text

*




 

* Teenagers in Love *





Lieder und Bilder farbig unterlegt im Kapitel.
Weiterführende Links am Ende.



 

1983 - Spree





5. Mai - Niebuhrstraße 38b, Charlottenburg

Missmutig stocher ich im Essen herum. Farin, die alte Henne, hat mich einfach um vier Uhr aus dem Bett geworfen, weil „ich mal regelmässiger essen soll“ und weil ich angeblich „viel zu dünn“ geworden bin. Dabei sieht er selber auch nicht viel besser aus. Also, naja, gut aussehen tut er schon. Verdammt.

Gerade nervt es mich tatsächlich ab und zu, wie attraktiv ich ihn finde. Dieses dumme Ziehen in der Brust und im Bauch und tiefer ist nicht nur angenehm, vor allem da seit unserer kleinen Rangelei im Flur nichts mehr passiert ist. Deswegen bin ich jetzt auch wieder nachts regelmässig unterwegs. Ansonsten hab ich hier in der Niebuhrstraße zu viel Kopfkino. Und wenn`s zu Hause nix gibt, ess ich eben auswärts.

Bis auf heute. „Och, Mann. Drei Wochen Fischstäbchen und Kartoffelbrei am Stück haut och den härtesten Gourmet irgendwann aus den Latschen. Keen Wunder, das ick dünner werd.“

Er sieht zu mir hinüber und zückt seine Augenbraue wie einen Revolver. „Tja, Herr Gourmet, dann wirste wohl `n bisschen Geld verdienen müssen.“

Er klingt so hart, dass mir die Gabel aus der Hand auf den Boden fällt. Igitt. Ich hass es, wenn er so is, obwohl ich versteh, dass das Geldproblem wahnsinnig nervt. „Ick weeß schon: die Miete“, brummel ich unter dem Tisch, tauch mit Gabel wieder auf, halt aber den Kopf aber gesenkt.

„Jeden Monat das Gleiche.“ Farin wirft seine Gabel auf den Teller. Das Geräusch klirrt fies in meinem durchzechten Kopf. „Wenn wenigstens Besserung in Sicht wäre.“ Er seufzt.

Alltag ist echt so ein tierischer Runterbringer. Diese sehr vielversprechende Stimmung zwischen uns, das leicht Flirtige, das die letzten Wochen um uns herum geschwebt is, hat der dumme, doofe, blöde Alltag aufgefressen. Maaaaann!

Dabei haben wir uns eh nicht viel gesehen in letzter Zeit. Farin rennt jedem Studi-Job hinterher, is deswegen ständig weg. „Vielleicht find ick ja so noch wat, uf das ick Bock hab, so als Beruf“, war seine Ansage dazu.

Ich hab meinen Lieblingsberuf schon gefunden und fröhne weiterhin meinem Pseudo-Rockstarleben. Ich lieb diesen Lifestyle einfach zu sehr. Am professionellen Berufsleben hab ich mich ja schon ausprobiert. War nich so erfolgsgekrönt mit der Ausbildung und vor allem die Nicht-Übernahme. Als Nachtlebenprofi bin ich sehr viel erfolgreicher.

Mit meinen tausend Kontakten und Verbindungen, die ich in den Nächten mit anderen Profis knüpf, find ich immer einen Laden, indem ich den DJ geben kann. Leider gibt es aber oft dafür nur Freigetränke und damit kann ich halt nicht die Hausverwaltung oder Farin zufrieden stellen. Vielleicht müssen wir Farins Popstar-Idee echt mal etwas fachmännischer angehen.

Ich schlucke den pappigen Kartoffelbrei runter. „Ja, ja. Ick weeß. ... Hey! Vielleicht sollten wa ma unsere Idee mit reich und berühmt in echt ausprobier`n.“

Farin sieht mich verblüfft an. Neben seinen Fischstäbchen scheint er auf ein paar flapsige Widerworten herumzukauen, aber dann schluckt er runter und nickt. „Ja. Sollten wa wohl!“

Ich rutsch mit meinem Stuhl ein Stück näher an ihn heran, streck ihm über die Fischstäbchen und den Kartoffelbrei meine Flosse hin. „Okay. Schlag ein!“

Sein Grinsen wird immer breiter und ich bade einfach darin, während ich ihm meine Hand entgegen halte.

Er legt seine Gabel zur Seite. „Okay.“

Unsere letzte Berührung ist ein paar Tage her. Seine langen Finger berühren meine, leichte Schwielen an den Kuppen vom Saiten schlagen. Der Hautkontakt knallt wie eine ganz eigene Droge. Fast ziehe ich ruckartig meine Hand wieder zurück, weil das Gefühl so ungebremst durch meine Synapsen rast, genau wie sein Grinsen.

Was hat dieser Junge nur für eine krasse Anziehungskraft auf mich?



11. Mai - Dampferfahrt  

Als die vollkommen vollgestopfte MS Havelstern ablegt, beginnen die zwangsweise an Land Verbliebenen, und das sind immerhin gut 50 Leute, eine wüste Schlacht. Eine Flasche fliegt an meinem Kopf vorbei und zerschellt mit einem dumpfen „Dong“ an der Metallhülle des Schiffes. Splitter und Bier spritzen in alle Richtungen!

Yeah! Punkrock! Die geilste Idee überhaupt den record release mit einer Dampferfahrt zu feiern.

Zum Glück haben mich meine zwei starken Riesenbodyguards Farin und Hans aus der Menge noch an Bord gezogen, immerhin sind wir ja Teil des Konzerts. Bei den Jungs von der Trinkerjugend fehlt allerdings Jenne, der Sänger. Blöd.

Vollgepackt wie die Arche Noah schippert der Dampfer los durch die Spreebögen in der Stadt. Die Sonne scheint auf uns, die verschiedensten Spezien der Subkultur. Neben den üblichen Punks, sind mit meinem Freund Eddie auch ein paar Teddys an Bord und Matzge hat wohl die Skins mitgebracht. Sogar ein paar Hippies huschen durchs Gedränge. Barfuss trifft Springerstiefel und das nicht nur im übertragenen Sinne.  

Farin ist irgendwie abgetaucht mit ein paar alten Freunden aus Frohnau und Hermsdorf. Nopper und Kröte, Hans Bruder. Der ist ganz okay. Manchmal mag ich den sogar lieber als Hans, aber das kann auch sein, weil ich den einfach gerade etwas sehr viel sehe durch Frau Suurbier und die Ärzte.

War auf jeden Fall echt `ne coole Idee von Jörg und Matzge, auch wenn die beiden immer noch etwas gestresst wirken angesichts der immer mehr zunehmenden Schäden. Bisher war es an Bord aber noch relativ zivilisiert.

Die Crew sieht das aber vermutlich anders. Gerade schmeißt einer der Skins einen Stuhl über Bord ins Wasser, „um mal `n bisschen Platz zu haben“. Die Sicherheitscrew von den „Freedom Riders“ brüllt den Typen an, der so aussieht als würde er gleich die Fäuste auspacken. So nüchtern wie ich grad bin, will ich`s gar nich wissen.

Trotz oder wegen der leicht explosiven Stimmung auf Grund des Subkulturengemisches, kocht der Kahn, vibriert die Energie durch das Metall des Kahns wie durch `ne Telegraphenleitung und von dort direkt in mein partyempfängliches Nervensystem.  

Ich mach mich auf die Suche nach Farin. Hier oben an Deck is er nich, also hat er sich vielleicht nach unten gewagt.

Unter Deck höre ich die ersten Takte von „Bis zum bitteren Ende“. Auf der improvisierten Bühne röhrt Campino sich die Seele aus dem Leib. Für seine berühmten akrobatischen Einlagen ist hier unten allerdings kein Platz. Für schräge Bühnenoutfits schon und deswegen klebt sein Plastikstoffhemd auch sehr schick und vor allem schweißnass an seinem Körper.

Manchmal weiß ich nicht, ob ich Campino und seine Crew genial mutig und unerschrocken finde oder mich für ihr Outfit schäme, dabei hab ich ja damit gar nichts zu tun. Ich trage inzwischen fast ausschließlich schwarz.

Heute trägt der Große Campino ein rotes Nylonhemd mit rosa und lila Blumen drauf, von dem ich schon aus der Ferne Augenkrebs bekomme. Die Farbpalette komplimentieren grellgrüne Patchwork-Schlaghosen. Nich mal Schlagerfuzzis sind so übel angezogen. Kuddel sieht etwas normaler aus. Obwohl - „normal“ ist ja auch `ne Spießerkategorie.

Also, insgesamt ist es so schlimm, dass es irgendwie fast schon wieder cool ist. Aber in so was würd man mich nicht mal tot kriegen. Ein bisschen Stil muss schon sein. Heute trag ich zur Feier des Tages ein schwarzes Hemd mit weißen Totenköpfen drauf.

Campi brüllt ins Mikro, als gäbe es kein Morgen mehr. Das ist wahrscheinlich Teil dieser alten „No future“-Idee oder des Sauf-Ethos. Trink-, okay, Sauflieder gehen immer. Und wenn ich nich nüchtern bleiben müsste, würd ich mich ja selber in den mosphit stürzen.

Eine Frau neben mir mit einem blauen Iro singt begeistert mit, legt mir irgendwann ungefragt einen Arm um die Schulter und zieht mich an sich. „Dat is so `ne geile Party.“ Der Ruhrpott ist deutlich in ihren Worten hörbar. „Ich bin die Andi.“

„Äh, hi. Bela.“

„Findste die Hosen auch gut?“

Jetzt bloß nichts falsches sagen. Die Frau hat echt Kraft. Ihre halbe Umarmung ist eher wie ein Schwitzkasten. „Aber dit sin doch gar nich die Hosen“, würge ich hervor.

„Ja, schade. Also, findeste se trotzdem gut?“ Sie zieht mich noch enger an sich. Von außen muss es aussehen, als würde sie mich küssen oder ich sie. Ihr Gesicht ist nun sehr, sehr nah vor meinem. Puh. Hab ich auch eine so grausame Fahne, wenn ich gebechert hab?

Generell hab ich echt nichts gegen spontane Umarmungen von attraktiven Frauen und Männern, aber ich bin noch nicht auf Pegel. Und – irgendwie ist es einfach sehr anders als sonst. Fühlt sich schräg an. Wo ist Farin?

„Also, wat is nu?“, fragt die blaue Irofrau vor mir.

Ich flieh.

„Ey, du! Du kannst doch nich einfach ...“ Den Rest hör ich nich mehr.

Ich werd übelkeitserregend krass hin und her geschubst. So `n bisschen seekrank bin ich wohl doch von den leicht schlingernden Bewegungen unseres vollgepackten Kahns. Vorsichtig stelle ich mich hinter eine eiserne Säule im Raum und lass meinen Blick über die Menge schweifen. Mein Blick fällt auf einen großen Blonden - Sahnie am Bass.

Apropos großer, langer Typ ... Verdammt, wo ist Farin? Und ich muss gleich mit den Suurbiers auf die Bühne.

Sahnie muss gleich nochmal `ne Stunde spielen und dabei trieft hier die Luft schon vor Schweiß. Er tut mir echt leid, aber er schlägt sich bisher ganz wacker neben dem hibbeligen Campino. Meistens sehe ich Hans ja bei den Ärzten und den Suurbiers nur von hinten, von meinen Drums aus. Aber ich muss sagen, es hat schon etwas so ein Hüne am Bass.

Ein Paar große Hände legen sich über meine Augen. Theoretisch könnten das wirklich viele Leute sein. Ich kenn hier mindestens Dreiviertel des Publikums vom Sehen, viele davon relativ gut. So gut wie man Leute nachts halt kennenlernen kann.

Aber ich weiß sofort, wer es ist. Trotzdem spiele ich das Spiel mit, einfach weil die Nähe so schön ist.

„Äh, bist du ... Campino?“

Unterdrücktes Lachen hinter mir und ich weiß, dass er es genau so witzig, findet wie ich, da Campino anhand des Gegröles vor uns eindeutig auf der Bühne steht.

„Hans?“, mach ich weiter, um es auf die Spitze zu treiben.

Er rutscht ein Stück näher an mich heran. Es ist schön ihn endlich mal wieder so nah zu haben. Jetzt kann ich ihn auch riechen. Verschwitzt und anziehend. Sein Atem bläst an meinen Hals. „Darfst noch einmal raten“, flüstert er mir ins Ohr.

„Jan.“ Die Fingern lockern sich, fallen aber nicht ganz weg. Ich drehe mich um, seine Hände liegen nun an meinem Hinterkopf. Es ist immer wieder ein Wunder, wenn er so nah vor mir aufragt. Ich spüre sein Zögern, sehe den kurzen, unruhigen Kampf in seinem Blick, der zwischen meinen Augen hin- und hergleitet.

Dennoch ist es ein eindeutiger Blick und andere Menschen würden mich jetzt küssen oder ich sie, aber ... Mann. Ich wüßt schon echt gern, was in seinem hübschen Kopf vor sich geht, warum er so plötzlich wieder meine Nähe sucht.

Er schließt kurz die Augen und legt dann einen Arm um mich. Allerdings bringt das den spannungsgeladenen Moment nicht zum Eskalieren, sondern Farin mutiert neben mir auf einmal wieder zu meinem Kumpel, meinem besten Freund, meinem Bandkollegen.

„Ick hab mit Jörg ...“

„Fukking.“

„Der wird nie alt, wa?“ Er grinst mich mit viel weißen Beißerchen und rosa Zahnfleisch an. Die Stimmung zwischen uns ist jetzt wieder normal – leider. Oder ist das vielleicht doch besser so?

Ich schüttel enthusiastisch den Kopf.

„Also, der Zeitplan ist ziemlich im Verzug und wir sind erst in zwei Stunden dran.“

„Och, Menno. Dit war ja `ne geile Idee mit dem Auslosen. aber dit wir als Vorletzte spielen müssen.“ Ich fass mir theatralisch an die Stirn. „Jetz kann ick nach den Suurbiers nochma vier Stunden uf mein erstet Bier warten, oder wat?“

„Na, kannste mir halt mal Jesellschaft leisten beim Nicht-Trinken.“

„Yeah ... Kuckste dir unseren Auftritt mit Frau Suurbier an?“

„Na, klar. Ihr seid super. Und Micha schreibt einfach so geniale Lieder.“ Er sieht fast ein bisschen wehmütig aus. „Schon komisch, wenn zwei Drittel der Ärzte spielen. Kann ick euch ja nachher noch so `n paar Tipps geben wegen Bühnenpräsenz und so.“ Jetzt grinst er wieder sein Farin-Grinsen.

„Untersteh dich. Obwohl ... Hans kannste gerne wat erzählen.“


*



Bei „Wie ein Kind“ treffen sich Farins und mein Blick über den Köpfen der Menge. Ich kann sehen wie sehr ihn das Lied berührt. Ich denke zurück an den Nachmittag, als wir Micha für`s Kino abholen wollten. Der Mensch, der jetzt vor meinem Schlagzeug auf der Bühne steht und fast zu verglühen scheint, hat wenig mit dem Micha von damals zu tun.

Hans hat erzählt, er hätte „Wie ein Kind“ zusammen mit Micha geschrieben. Ich wünschte echt, er würde sowas auch mal für die Ärzte zu Stande bringen. Bisher kam bei unseren Proben da von seiner Seite nicht besonders viel. Naja, vielleicht wird das noch.

„Nimm mich, denn ich bin ein Fels im Meer“, tönt es durch den jetzt etwas ruhiger gewordenen Raum, als wir "Nimm mich" spielen. Als mein Blick - mal wieder - über Farin streift, grinst dieser mich an. „Schau nach links, dann nach rechts. Denn das ist alles gar nicht so schlecht, gar nich so schlecht.“ Aber wir schauen nicht nach links und rechts. Unsere Blicke bleiben so aneinander hängen, dass es nur noch ihn und mich in diesem komplett überfüllten Raum gibt. „Entscheide dich! Und nimm mich. Und nimm mich! Nimm mich!“

Der nächste Song ist „Neue Art von Liebe“. „Ich such `ne neue Art von Liebe, eine neue Form von Glück. Denn alles, was ich bisher so liebte, machte mich eher unglücklich.“ Farin bricht die Verbindung, sieht zu Boden und mein Herz sinkt, ich komm aus dem Takt. Farin sieht wieder auf, lächelt mir unsicher zu und ich lächel genauso vorsichtig zurück.

Danach stimmt Micha „Mein wildes Herz“ an. Da sind Hans und ich arbeitslos, weil das einer von Michas typischen Liedermacher-Song ist. Er allein mit seiner Gitarre. Ein Teil des Publikums geht pinkeln, Bier oder Luft holen, sogar Hans haut ab, aber ich sitze hinter meinen Drums und mein Blick fällt abermals auf Farin, der ganz ruhig an die Wand gelehnt steht.

Beim nächsten Song singt Micha: „Ich bin kein Mann für eine Nacht“, Immer wieder landet mein Blick bei Farin und das passiert nicht nur, weil er wie ein verdammter Magnet in der Menge ist, sondern auch weil ... „Du siehst mich nie in lauten Diskotheken, da wo die Boxen dröhnen, obwohl sich alle nach stiller Zweisamkeit sehnen. Da such ich mir lieber ein idyllisches Plätzchen ...“ Es passt. Er und ich - so unterschiedlich. Oder?

Nach meinem Auftritt kann ich endlich zu ihm. Ich schnapp mir noch an der Bar eine Flasche Wasser. Ganz vorsichtig nehme ich einen kleinen Schluck. Angeekelt kneife ich die Augen zusammen. Keine Kohlensäure. Widerlich. So muss sich der Teufel beim Anblick von Weihwasser fühlen.

„Hey! Na, du!“ Farin lächelt mich zögerlich an. Es ist irgendwie, als hätten wir uns über Michas Lieder zum ersten Mal wirklich über uns unterhalten.

„Lass uns ma raus aus dem Chaos.“ Ich fass ihn am Arm und sein Lächeln wird etwas entspannter. „Nüchtern is dit ja nich zu ertragen.“ Meine extra grummelige Miene kitzelt ein echtes Lachen aus ihm heraus.

Er zieht mich an der Hand nach oben auf das Deck in die Sonne. Der Mob tobt unter uns weiter, hier ist es im Gegensatz dazu fast schon beschaulich ruhig, obwohl sich hier die Hölle los ist. Inzwischen haben wir Charlottenburg erreicht. Vor uns funkelt und glitzert die Spree im Sonnenlicht. `Ne Sonnenbrille wäre wohl schlau gewesen.

Ich lass mich auf eine der festgeschraubten Bänke fallen, die ganz hinten noch frei ist. Farin lümmelt sich neben mich und verschränkt die Hände hinter seinem Kopf. „War echt `n super Auftritt von euch.“ Er blinzelt gegen die Sonne.

Aha. Das Lied-Gespräch ist vorbei. Okay. „Dit is aber keene echte Bühnenkritik, meen Lieber.“

„Na, ick hab ja och nüscht anzumerken. Et war einfach jut.“ Er richtet sich neben mir auf, klingt nun auf einmal doch seltsam ernst.

„Vielen Dank.“ Ich mach einen angedeuteten Diener, um ihn zum Lachen zu bringen, was aber dieses Mal nich funktioniert.

„Ick wünschte, ick könnte so jute Songs schreiben wie Micha.“ Er faltet seine Hände zwischen seinen langen Beinen, wirkt auf einmal sehr viel weniger hünenhaft. „Ick muss echt besser werden. Wenn ick ehrlich bin, dann ... Die Lieder von den Suurbiers sind einfach so viel melodiöser und die Texte ... Wat ick bisher für die Ärzte geschrieben hab ... Naja, es macht Spaß, aber bei Micha ... Weeßte, da steckt irgendwie echtet Herzblut drin un da trau ich mich nich so richtig ran, weil ...“

Leider endet hier sein stockender Monolog, der unerwartet so erstaunlich tief hat blicken lassen, wenn auch nich zu dem Thema, dass mir sehr viel mehr auf der Seele brennt.

„Weil?“, frag ich wie beiläufig nach.

Farin schweigt. Oder denkt nach.

Links und rechts gleiten die Ufer vorbei. In der Ferne leuchten ein paar goldene Figuren des Charlottenburger Schlosses über den Wipfeln des Schlossparks.

„Ick ...“

Ich seh absichtlich nich zu ihm rüber, damit er sich nich beobachtet fühlt, weiter spricht.

„Ick gloob, ick hab `n bisschen Angst, weil da is grad janz schön viel los hier drin.“ Er legt sich eine Hand auf sein abgewetztes T-Shirt.

„Hmmm.“ Behutsam schiebe ich seine Hand ein Stück zur Seite, warte, ob das okay ist. Er zuckt kurz zusammen, aber bleibt ruhig sitzen. Ich lege meine Hand auf sein Herz. Unter meiner Handfläche spüre ich tief in ihm die einzelnen Schläge. Stark und fast beunruhigend schnell. Es hypnotisiert mich, als würde ich an meinen Drums sitzen.

Er legt seine große Hand über meine und nach einiger Zeit wird sein Herzschlag ruhiger.

„Biste och ufjeregt wegen dem Aufritt?“ Er sieht mich vorsichtig an.

„Ick mag dit ufjeregt zu sein“, sag ich leise. „Wär doch schade, wenn nich. Dafür is et doch viel zu genial. ... Haste deswegen so `n Herzklopfen?“

Vorsichtig lässt er seine Hand sinken und auch ich nehme meine Hand von seinem Brustkorb.

Er sieht weg von mir, hinüber zum anderen Ufer, an dem ein paar schicke Gründerzeithäuser an uns vorbei ziehen. „Unter anderem.“

Auf einmal wird es um uns dunkel. Der Schatten einer Brücke, dann knallt auf einmal etwas neben uns aufs Deck.

„Moin.“ Jenne von der Deutschen Trinkerjugend rappelt sich auf.

„Alter, biste irre?“ Ich fass mir an die Brust oder vielmehr an mein aufgeknöpftes Hemd. „Aber geil aufgekommen. Wie Batman.“ Begeistert von dem Stunt klopf ich Jenne auf die Schulter. „Komm, uff den Schreck trinken wir einen.“ Ich werfe einen Blick zu Farin. „Kommste mit?“

„Ja, Farin!“ Jenne ist sofort Feuer und Flamme. „Ich lad dich auf einen Batida de Coco ein.“

Farin zeigt nur ein Zähnefletschen, dass mit seinem Gebiss einfach tödlich wirkt.

„Wohl eher nich“, murmelt Jenne neben mir.

„Och, komm doch einfach trotzdem mit“, bettel ich hin und her gerissen zwischen den ganzen Verlockungen dieser Bootstour.

Es wirkt, als würde er tatsächlich überlegen. „Nee, schon okay.“

Ich war wieder viel zu impulsiv. Eigentlich sollte ich bei ihm bleiben. Wir waren gerade an einem Punkt.

„Wat is nu, Bela?“

Ich seh zwischen Jenne und Farin hin und her.

„Na, hau schon ab!“, meint dieser nur.

„Wirklich?“

„Ja, klar.“ Er lächelt. „Ick bleib noch `n bisschen in der Sonne sitzen.“ Schön sieht er aus. Seine Haare leuchten blond gegen den blitzblauen Maihimmel.

„... Okay.“


 

*


Von wegen Sonne.  Als Bela mit Jenne verschwindet, wird es irgendwie kühler hier oben an Deck. Aber wenn alles um Bela herum Party ist und die Luft brennt – tja, da kann ich leider nicht mithalten und ich will ihm das echt nicht nehmen. Manchmal wünschte sogar ich, dass das mit den Drogen und mir ... Egal. Geht nicht.

Vielleicht ist es auch gut so, dass Jenne in den Moment gesprungen ist, dass Bela gegangen ist. Ich komm einfach immer noch nicht klar mit dem, was noch so neu ist zwischen uns, die Option, dass wir beide vielleicht ... Ja, was?

Wir waren gerade so nah dran, viel zu nah dran an ... Und vielleicht sollten wir es nicht aussprechen, auch wenn das Vage mich oft krass nervös macht.

Gitti kommt zwischen den Bänken durch und steuert ausgerechnet auf mich zu, setzt sich auf Belas Platz. Seine Abwesenheit neben mir ist jetzt noch präsenter. Ich muss mich erstmal an sie gewöhnen, denn ich bin nicht immer ihr größter Fan. Sie presst ein rotbeflecktes Taschentuch auf ihren Arm.

„Was `n mit dir los?“

„Flasche druf bekommen. Die Vollassis vom Ufer ham uns ja echt jut eingedeckt, wa? Voll geil die Konzerte mit sowat zu starten.“

„Eigentlich bin ick nur deswegen hier aufgeschlagen“, sage ich todernst, um dann ein fettes Grinsen folgen zu lassen, dass sich noch nicht ganz echt anfühlt.

„Haha.“ Sie rutscht näher an mich heran. „Und? Wie war London? Erzähl ma `n bisschen.“

„Jut.“ Ich grinse wieder.

„Wow. Nich gleich so euphorisch.“

„Also, et war wirklich jut.“ Ich versuche mein Grinsen echter wirken zu lassen. War ja auch irgendwie schön dort. Auf jeden Fall sehr viel unkomplizierter.

„Aha.“ Sie sieht mich mit einem skeptischen Ausdruck an. „Du weeßt schon, dass Bela krass abgegangen is deswegen. Der hat vielleicht uf dich jeschimpft.“

„So?“

„Wat gloobste denn? Der fand dit unmöglich, dass de eenfach so abjehauen bis.“

„Oh. Ähm, ja. Na, hätt ick mir wohl denken können, wa? Und ... wie ging`s ihm sonst so?“

„Also, dit weeß ick och nur zum Teil.“ Sie zieht eine Grimasse.

Ich runzel die Stirn. „Okay.“

„Ja, der Olle hat sich echt nur ab und zu bei mir blicken lassen. Schien total mit seiner neuen Flamme beschäftigt zu sein.“ Den Rest des Satzes höre ich nur leicht gedämpft.

„Welche... welche neue Flamme, meinste denn?“ Ich komm mir echt doof vor mit meinem Unwissen und meiner schlecht versteckten Detektivtätigkeit. Außerdem sticht irgendwas in meiner Brust fies. Aber ich würde echt gerne wissen, was Bela mir bisher verschwiegen oder zumindest noch nicht erzählt hat.

Ist das die – oder der? - mysteriöse „Ick hatt da jemand Neues kennengelernt.“-Mensch, den er letztens nur so angedeutet hat. Normalerweise hält er mit seinen Eroberungen ja nicht wirklich hinter dem Berg und oft bekomme ich mehr Infos geliefert als mir eigentlich lieb sind.

„Is wohl so `ne Lack- und Ledertante. Soll ziemlich schick sein und macht wohl ...“ Gitti senkt bedeutsam ihre Stimme. „... so extravagante Dinge.“

„Aha.“ Ich habe nur eine sehr nebulöse Ahnung, was sie damit andeuten will.  

Gitti scheint zu merken, dass irgendwas nicht ganz passt, seltsam ist, aber in dem Moment erscheint Bela wieder. Ich bin noch viel zu gewürfelt von der neuen Erkenntnis, die ja eigentlich gar keine Neue ist, denn was soll Bela sonst gemacht haben, als das was er immer macht: seinem Sex, drugs and Rock `n Roll-Hobby fröhnen – und zwar exzessiv.

Bela drückt Gitti einen Kuss auf die Wange. Komischerweise sticht mich dabei das Engegefühl nicht in die Brust. Nur wenn es um die ominöse neue Flamme geht.

Bela lässt sich auf meine andere Seite fallen. Ich beiße mir auf die Lippen, sag dann schnell: „Hey, biste schon wieder da?“

„Ja. Wenn ick da unten bleib, dann fang ick nur dit mitsaufen an. Aber ick will ja fit bleiben für unseren Auftritt, nee!“ Er rutscht noch ein Stück näher an mich heran. Unsere Hüften stoßen zusammen und ein Kribbeln zieht durch mich.

Es ist einfach angenehm ihn wieder so warm neben mir zu haben. Und in eineinhalb Stunden zünden wir unser besonderes Bela-und-Farin-Feuerwerk. Auf der Bühne ist mit ihm alles einfach.

Bela rutscht auf der Bank ein Stück zurück - und auch näher an mich heran, wie ich und mein Herz bemerken, reckt dann sein blasses Gesicht der Sonne zu.

„Pass bloss uf, Herr Graf, dass de nich gleich Feuer fängst und nur `n Aschehaufen übrich bleibt.“

Bela öffnet die Augen nicht, grinst nur und zeigt mir den Mittelfinger.

Gitti sieht leicht irritiert zwischen uns hin und her, dann lächelt sie mich an. „Na, scheint ja wieder eitel Sonnenschein im Hause Vetter-Felsenheimer zu herrschen.“ Sie zwinkert mir zu.

„Dit hab ick jenau jeseh`n“, schaltet sich Bela ein und setzt sich wieder auf. Er legt seinen Arm um mich und zieht mich an sich. „Mit meinem Farin brauchste gar nich dit flirten anzufangen.“ Er streckt Gitti die Zunge raus.

„Seit wann sin wa denn so besitzergreifend?“ In ihren Augen erscheint ein lauerndes Glitzern.

Ich rutsche ein kleines Stück von Bela weg und der lässt mit einem leisen Seufzen, von dem ich vermute, das es mir gilt, seinen Arm von meiner Schulter gleiten. „Ick geh ma wieda runter.“

„Ick komm mit“, sagt mein Mund schneller als ich nachdenken kann.

Unten sind gerade Blasinstrumente zu hören und es klingt leicht Ska angehaucht vom Takt, also spielen vermutlich gerade die Panzerknacker. Gefällt mir. Macht gute Laune die Mucke.

Bela hat seinen alten Freund Eddie getroffen. Ich hab ihn schon länger nicht mehr gesehen und bin echt erstaunt. Eddie war früher so `n typischer Ted mit Tolle und Jeansjacke. Jetzt trägt er ziemlich viel schwarz, was ihm auch gut steht, aber ich muss erstmal mit dem eklatanten Wechsel klar kommen.

Nach ein paar Liedern erklingt von der Bühne sehr unerwarteter Weise „Una Festa Sui Prati“ von Adriano Celentano als Akkustikset.  Mein Bauch macht einen ganz merkwürdigen Salto und funkt an meinen Kopf Bilder vom letzten Sommer. Im Schnelldurchlauf ziehen die Punker in Venedig, die Nacht mit Gianni, Sardinien, Sizilien und der Ätna an mir vorbei und bleiben dann bei Felice in Neapel stehen.

Es fühlt sich an, als wäre ich ewig in meine Erinnerungen versunken gewesen, aber das Lied war maximal ein bis zwei Minuten lang. Als ich wieder auftauche, ist es fast ein Schock mitten in einer hin und her schwankenden Masse zu stehen.  

Als die Jungs von der Deutschen Trinkerjugend die Bühne entern für ihr Set bricht das komplette Chaos aus. Ich bin zum Glück nur am Rande dabei. Jemand wirft einen Pappbecher und trifft mich mitten auf der Brust. Ein Schwall Bier schwappt über mich. Na, super. Jetzt bin ich auch getauft für unsere Dampferfahrt. Woah, ist das eklig.

„Vorsicht!“ Auf einmal ist Bela da, zieht mich am Arm zur Seite. Ein dünner Punk knallt gegen die Wand, vor der ich gerade noch stand. Zwei feiste Teds drängen sich durch die Menge in unsere Richtung, hinter ihnen die Securities von den „Freedom Riders“. Innerhalb von Sekunden liegt eine fiese Spannung in der Luft und ein Leuchten in Belas Augen.

„Tut mir leid, Mr. Hyde.“ Ich packe ihn an der Hand und ziehe ihn in Richtung Aufgang zum Deck. „Sie ham noch `nen Auftritt zu meistern.“

„Ja, Mama.“

Oben an Deck ist es inzwischen Abend geworden und sehr viel kühler. In Richtung Bug explodiert vor uns ein spektakulärer Sonnenuntergang.

„Wow!“ Bela steht mit offenem Mund da und ich betrachte ihn, während er das Feuer am Himmel vor uns betrachtet.

Schließlich dreht er sich zu mir und ich blicke schnell weg. „Gib mir ma deen T-Shirt. Ick wasch dit raus und dann könn wir et ja hier im Fahrtwind oder so trocknen.“ Ich quäle mich aus dem klebrigen Stoff. Auch wenn das alte, abgeschnittene Shirt nur noch ein Fetzen ist, ohne komme ich mir seltsam nackt vor, dabei hat unter Deck die Hälfte der Typen kein Oberteil mehr an.

Zwei junge Frauen, ihren Klamotten nach zu urteilen vermutlich von der Ted-Fraktion, sehen zu mir hinüber. Eine hält sich eine Hand vor den Mund und lacht. Na, super. Am liebsten würde ich die Arme um mich schlingen oder zumindest vor meiner Brust verschränken. Stattdessen straffe ich meine Schultern.

Bela fährt mit seinen Fingern über meinen Arm. Er sieht auf meine Brust, die von einer Gänsehaut überzogen ist, leckt sich - bewusst oder unbewusst - über die Lippen.

„Is kalt, nee? Willste die ham?“ Er schlüpft aus seiner Lederjacke und hält sie mir hin. „Also, eigentlich is es ja schade deinen Adoniskörper wieder zuverhüllen, aber soll`s ja och nich krank wer`n.“

„Ja. Äh, danke. Also, wenn sie mir passt.“

Bela haut mir mit Schmackes seinen Ellbogen in die Rippen. „Mann. Ick bin nu och keen Zwerg, Herr Riese.“

„Nee, biste nich.“ Dennoch sitzt das weiche Leder recht knapp. Schlagartig bin ich umhüllt vom typischen Bela-Duft nach Rauch, Haarspray und eben Leder. Ich strecke die Hände nach vorne. Die Ärmel enden an meinen Unterarmen. „Passt perfekt.“

Bela verkneift sich ein Lachen, verschwindet, kommt mit meinem T-Shirt als triefendem Lappen wieder, denn er über Bord auswringt und dann wie eine Flagge in die laue Nachtluft hält.

Die Dämmerung legt sich inzwischen tiefblau über die Häuser, die an den Seiten vorbei gleiten. Eine seltene Perspektive und deswegen ein um so schönerer Anblick. Fast fühle ich mich hier auf der Spree ein bisschen freier, als würde die Mauer hier nicht existieren. Dabei ist das Boot ja eine echte physische Grenze, über die man schwer drauf kommt und wieder runter – außer man springt von einer Brücke oder ins Wasser.

„Guck mal.“ Bela deutet auf eine Art Metallschacht, hinter dem man sich prima verstecken kann. Zumindest wenn man über die deutlich gekennzeichnete Absperrung klettert.

Wir lassen uns hinter den breiten Schacht fallen.

„Oh, tut dit jut“, seufze ich. Es fühlt sich fast an wie Ruhe, raus aus der Menge zu sein.

„Schau mal, man kann die Sterne sehen.“ Bela zeigt nach oben. „So nah. Als könnte man nach denen greifen.“

Tatsächlich. Trotz der vielen Großstadtlichter zeichnen sich die Sterne heute klar im dämmerungsblau ab. Ich rutsche ein Stück an den Schacht gelehnt nach unten und ein Stück näher an Bela heran, dränge mich vorsichtig ein bisschen mehr an ihn, spüre wie auch er meine Nähe sucht, sich ganz leicht an mich drückt.

Bela lehnt sich noch ein Stück weiter zu mir hinüber. Ein dunkles Flüstern. „Solltest öfter Leder tragen.“

„Findeste?“

„Wirkst irgendwie härter. Gefällt mir.“

„Ick hat schon mal `ne Lederjacke. Hinten hat ick mit weißer Plakafarbe „Verschwende deine Jugend“ drufjepinselt. ... Sach ma, is dir nich kalt?“

„Nööö. Gar nich.“ Bela klappert dramatisch laut mit den Zähnen. „Außerdem bin ick gern dein Held mit blauen Lippen.“

Ich schlüpfe aus einem Ärmel seiner Jacke. „Hier!“ Er rutscht noch näher an mich, damit wir beide darunter passen. Nach dem Krach und Gepoge unten sitzen wir wie in einem kleinen Kokon. Sein nackter Oberarm liegt an meinem nackten Brustkorb – und Fuck!

„Mhmmm.“ Ich kann nicht mal sagen, ob der leise Seufzer von ihm oder mir kam.

Vorsichtig drehe ich den Kopf. Nah. Ganz langsam strecke ich meine Hand nach ihm aus, streiche mit meinen Fingern über seinen Nacken, was ihn zusammen zucken lässt, streiche über seine Wange. Mir ist durchaus bewußt wie intim die Geste ist und Bela wohl auch. Mein Herz rast, will mich weiter locken, scheint mich gleichzeitig zu warnen. Ich lasse meine Finger an Belas Kinn gleiten und drehe sein Gesicht zu mir.

„Jan?“ Er fragt es ganz leise.

Ich antworte nicht, neige nur meinen Kopf, so dass meine Stirn an seiner ruht. Ich höre ihn tief einatmen. Er dreht sich mir entgegen. Ganz leicht streiche ich mit meinen Lippen an seiner Wange entlang. Sein Atem beschleunigt sich. Oder ist es meiner?

Ich spüre seinen Mundwinkel, küsse ihn vorsichtig, fühle wie er in den Kuss lächelt, streiche mit meinen Lippen leicht über seine zu seinem anderen Mundwinkel, küsse ihn.

„Mhmmm.“ Ein Brummen dringt aus Belas Brust.  

Neben uns werden Stimmen laut. Ich kann Campinos lautes Organ erkennen und schiele vorsichtig um den Schacht herum. Bingo! Der andere Typ steckt in einem Militärmantel, der ihm außerordentlich gut steht. Überhaupt ziemlich schick. Auch wenn ich einen ganz anderen Haarschnitt habe, mag ich seinen. Sehr akkurat. Steht ihm. Das muss dieser Brite sein, der angeblich schon mit Joy Division gearbeitet hat.
Da wir versteckt im Dunkeln sitzen und die Beiden so vertieft sind in ihre anscheinend irre wichtige Unterhaltung, haben sie uns nicht entdeckt.

Bela neben mir ruht komplett still an meiner Brust, dann gleitet seine Hand in meine. Er drückt einmal leicht zu.  

„Ich hoffe echt, dass morgen alles gut geht. So cool, dass du das organisiert hast, Mark.“ Campis Stimme trägt sogar über den Höllenlärm in der unteren Etage des Bootes.

„Die andere komme rechtszeitig an aus Düsseldorf, oder?“ Dieser schicke Brite ist sehr viel schlechter zu verstehen, redet viel leiser, so als wäre das, was sie besprechen irgendwie geheim.

„Ja. Die wär`n auch heute schon gern dabei gewesen, aber ging nich anders.“

„Okay. Keine Problem, aber sie musse punktlich da sein morgen fruh fur die Ubergang.“

„Ey, klar. Du kannst dich auf uns verlassen.“

„Aber ihr musst gehen einzeln. Ihr konnt nich so als bunte crowd da ankommen. Und diese Klamotte geht gar nich. Viel zu auffallisch. Die sind ganz empfindlich mit non-conform style, you understand.“

„Sure. I get it. No worries. We will be totally unnoticeable“, antwortet Campino in fließendem Englisch. Mir fällt wieder ein, dass er ja zwei-sprachig aufgewachsen ist. Und ein Jahr lang noch während seiner Schulzeit in L.A. war. Ich bin da regelmässig ein wenig neidisch drauf.

„Thanks again, Mark. We couldn`t have done it without you.“

„I have to thank you for taking the risk. I`m so excited for this to happen, but ... wir durfen morgen echt nicht sein dumm, okay? Es kann werden ein echt große Problem. Du musst sein dort um Punkt dreizehn Uhr. Die andere folgen in Abstand von 20 Minute. Planlos warten auf die andere Seite auf dich, okay?“

Klingt nicht so, als wären sie planlos. Ich sehe hinüber zu Bela. Der zuckt leicht mit den Schultern.

„Dann du gehst holen die instruments und wir treffen uns später in die Kirche ...“ Ihre Stimmen werden leiser, anscheinend gehen sie wieder hinunter.

„Haste `ne Ahnung, wat die da bekakelt haben?“, frag ich Bela leise. „Klang irgendwie super konspirativ, oder?“

„Oh ja, geil. `ne echte Verschwörung.“ Bela reibt sich die Hände. Ein Leuchten erscheint in seinen Augen. Ein noch Größeres als er ohnehin schon den ganzen Abend hat. Heute nacht ist er echt mal wieder voll angezündet. Aber immerhin noch relativ nüchtern.

„Hey, wir sollten langsam mal wieder runter. Nur noch `ne halbe Stunde bis zu unserem Auftritt.“

„Schade.“ Der Moment bis Campino und Mark aufgetaucht sind, war so ...

„Find ick och. Krieg ich noch `n Kuss?“ Seine Augen imitieren sehr gekonnt einen kleinen Hundewelpen und – fuck! Er kann echt süß sein.

Ich küsse ihn auf die Wange, aber Bela dreht den Kopf und will uns anscheinend in eine wildere Knutscherei verwickeln.

„Hey, Bela?“

„Mhm?“

„Dit is jetz keene so jute Idee, wenn ick nich vor der versammelten Meute mit `nem Ständer stehen will.“

„Tja, blöd, wenn man Gitarrist is, wa?“ Sein Grinsen ist fast so breit wie meins. „Ick kann mein ja schön hinter`m Schlagzeug verstecken.“

„Haha!“ Ich rappel mich mühsam hoch und halte ihm die Hand hin. Er zieht sich daran hoch und presst sich dann nochmal fest an mich, lässt mich spüren, was er verstecken muss.

„Mhm.“ Ein leises Stöhnen an meinem Hals. „Du fühlst dich echt verdammt jut an.“

Mein Körper will mehr, mein Kopf sagt, wir müssen aufbauen und mein Herz morst: SOS!

Ich schlüpfe in mein fast trocknes, aber eisiges T-Shirt und gebe Bela seine Lederjacke zurück. Sofort fehlt mir die warme Umarmung des Leders.


 

*



„Hey, Bela!“ Schulterklopfen. „Wo warste denn? Wir müssen jetzt endlich einen zusammen kippen.“ Alle wollen irgendwas von mir unter Deck. Es ist so viel los, dass ich Farin sofort aus den Augen verliere.

Die Deutsche Trinkerjugend grölt gerade „Eisgekühlter Bommerlunder“ und ich weiß jetzt schon, dass ich davon mindestens drei Tage einen Ohrwurm haben werde.

Wo ist Farin? Der ist doch eigentlich so `n Leuchtturm, aber keine Chance. Dafür finde ich den anderen. „Hey, Hans, haste Farin gesehen?“

„Äh, nö. Vor einer Stunde oder so das letzte Mal, danach war er wie vom Erdboden verschwunden.“

Ich verkneife mir ein Grinsen.

„War geil, oder?“ Er grinst mich an, aber sein Grinsen ist soo anders als Jans. „Bis zum bitteren Ende kam super an. Ich bin echt stolz, dass ich da dran mitgeschrieben habe.“

„Ah, echt? Wow. Dit is echt genial.“ Ich hau ihm auf die Schulter. „Könnst ja och ma für unsere Combo sowat schreiben.“

„Ähm, ja. ... Ja, klar. ... Also, wir sollten mal anfangen unser Equipment zu checken.“

„Ja, hast recht.“ Eine Frau fällt mir auf. „Bin gleich wieder da.“ Die Gute könnte sehr nützlich sein, denn die Neugierde brennt immer noch in meiner Hirnrinde seit diesem „geheimen“ Gespräch. Ich quetsche mich durch die Menge zu ihr durch.

Immer noch schlagen mir Leute auf die Schultern und ich hör ständig ein „Hey, Bela!“ Schon irgendwie echt cool. Aber ich bin gerade auf einer Mission. Ich schiebe mich weiter auf sie zu.

„Na, schöne Frau? So allein“, raune ich über ihre Schuter. Ich weiß, es ist ein doofer Spruch, aber ich schraube meine Stimme in gänsehauterregende Tiefen, zumindest so tief wie es geht.

Irritiert dreht sie sich zu mir um. Es scheint zu wirken. Ihr Gesichtsausdruck wird freundlicher, als sie mich erspäht. „Herr Felsenheimer!“

Die Schönheit ist die Freundin von Campino. Sie heißt – wie könnte es anders sein – Andrea.

Die Leute drüben im tiefen Westen scheinen nicht besonders einfallsreich zu sein. Allein bei den Toten Hosen gibt es drei Andrease. Und dann heißt auch noch seine Freundin so?

Aber abgesehen vom Namen ist diese Frau echt eine Show. Sie scheint ein, zwei Jahre älter zu sein als Campi und hat definitiv einen sehr, sehr viel besseren Kleidungsgeschmack. Knapper Lederrock mit Netzstrumpfhose geht immer. Ihr Oberteil ist hochgeschlossen, aber dadurch wirkt es nur noch anziehender. Andrea hat Klasse. Keine Ahnung wie so ein Clown wie Campino, die klar gemacht hat.

Ich mache es mir ihr gegenüber auf einem frei werdenden Barhocker am Tresen gemütlich. Um uns herum rempeln und torkeln die Punk-Passagiere.

Sie lächelt mich, wie ich finde, leicht anzüglich an. „Sie auch so allein in dieser schönen Maiennacht? Kommt bei Ihnen auch nicht so oft vor, oder?“

„Da könnten Se durchaus recht ham, gnädige Frau.“

Sie lacht. Gut. Gut für meinen Plan, aber auch so. Sie ist echt verdammt hübsch – und witzig. Da hat Campino echt einen guten Fang gemacht – auch wenn man Frauen jetzt nicht direkt fängt. Oder vielleicht doch ein bisschen?

„Haste Lust auf `n paar kleene Jägermeister?“

„Aber immer.“ Sie grinst und ich finde die kleine Lücke zwischen ihren Vorderzähnen viel zu charmant. Wahrscheinlich sehe ich ihr einen Ticken zu lang auf ihre Lippen, aber es scheint sie nicht zu stören.

Gitti beäugt uns vom anderen Ende des Tresens. Ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, fände sie es sehr viel besser, wenn ich wieder mit Farin flirten würde.

Der Bartyp stellt uns die georderten zehn Jägermeister in einer Reihe auf. Ich nehme mir den ersten und drücke ihn Andrea in die Hand, nehme mir selbst einen. Endlich! Yeah. Das brennt. Tut gut.

„Sach ma, diese ...“ Ich beuge mich noch ein Stück mehr zu ihr. „... geheime Sache morgen.“

Sie stutzt. „Woher weißte dat denn?“

„Na, Campi hat mich so `n bisschen eingeweiht.“

Sie entspannt sich wieder. „Ach so. Ist total cool, oder? Und – biste morgen auch dabei?“

Wenn ich wüßte bei was, würde mir die Antwort definitiv leichter fallen. „Nee.“ Ich verziehe das Gesicht zu meiner besten „Ganz trauriger Bela“-Miene. „Voll schade, ey. Ick wär so gern dabei gewesen.“

„Ja, dat is echt schade. Dat is ja schon fast eine historische Sache.“

Na, super. Ich werd immer neugieriger, was da los ist und was ich verpasse.

„Aber du, du bist dabei?“

„Ja, klar. Dat verpass ich doch nicht. Wann spielt die Band des eigenen Freundes schon mal in der DDR?“

Ich verschluck mich fast an meinem zweiten Jägermeister. „Ja, ... ähm, echt so cool.“

Sie hält mir einen weiteren Jägermeister hin und nimmt sich dann selbst einen. „Auf die Toten Hosen in Ost-Berlin“, flüstert sie mir ins Ohr. Ein Schauder läuft mir über den Rücken und noch ein Stück tiefer, aber schon hat sie sich wieder zurück gelehnt. Ich bin von Farin immer noch viel zu sehr aufgegeilt.

„Cheers, Bela!“

„Ähm, ja. Cheers.“ Ich kippe das bittere Gesöff herunter. Angenehm das leichte Brennen in der Kehle, dann ein Schwall Wärme, der sich in meinem Magen ausbreitet.

Neben Gitti steht nun Farin und beide sehen etwas seltsam zu mir und Campinos Freundin rüber. Schließlich stößt er sich vom Tresen ab und kommt zu uns hinüber.

„Hi Andrea!“

„Hallo Farin! Ihr seid gleich dran, oder?“

Er nickt. „Deswegen sollten wir nun auch los.“ Er nimmt meine Hand. Mhmmm. Fühlt sich gut an. Ich kippe schnell noch einen vierten Jägermeister und winke Andrea zu. Dann zieht mich Farin weg, bahnt uns einen Weg durch die Menge auf die improvisierte Bühne.

„Ey, Bela, also „Ick bin gleich wieder da.“ geht auch anders, oder?“ Hans sieht wütend aus. Obwohl er recht hat, nervt es mich.

„Is ja schon jut.“ Das erste Lied trommel ich extra laut runter, weil mir der Vorwurf noch so quer zwischen den Rippen steckt. Pünktlichkeit ist halt einfach meine Archillesferse.

Natürlich fällt die Trinkerjugend sofort bei Vollmilch mit „Milchtrinker raus"-Rufen ein. Das is echt `ne Combo.

Auch der Anblick von Farin vor mir lockert meine Laune. Das T-Shirt ist nicht wirklich trocken, oder schon wieder nass vom Schweiß, aber es bringt seine Arme wahnsinnig vorteilhaft zur Geltung.

Wir rackern uns durch unser Repertoire. Die Luft unter Deck ist so dick, dass ich meine auf Widerstand zu stoßen, wenn ich meine Sticks auf die Felle knalle. Kein Wunder. Das Publikum tobt und grölt und pogt.

Und Farin strahlt.

Allerdings sieht er bei „Teenager Liebe“ kein einziges Mal zu mir. Das ist das erste Mal, dass das passiert. Das hat er vorher noch nie gemacht, schließlich ist das für uns ein echt wichtiges Lied. Keine Ahnung, warum er es dieses Mal fast stumpf heruntersingt.

Nach eineinhalb Stunden sind wir mit unserem Set durch. Der Abschluss ist das diabolische „Halloween“.

Da es kein Backstage auf dem Dampfer gibt, bauen wir einfach schnell ab, damit die Mimmis aus Bremen auf die Bühne können und kämpfen uns dann durch die verschwitzte, aufgepeitschte Menge.

Noch mehr Schulter klopfen. Leute brüllen mir etwas Unverständliches ins Gesicht. Die meisten haben eine tierische Fahne und ich weiß nicht, ob mich das anfixt jetzt endlich selber mal ein Bier zu kippen oder mich anekelt.  

„Hey, war cool, oder?“ Farin steht vor mir, leuchtend und strahlend. Er streicht mir durch die verschwitzten Haare, über die Wange. Und – verdammt. Trotz des Auftrittadrenalins werd ich unerwarteter Weise irgendwie innen ganz weich davon.

Er beugt sich ein Stück herunter zu mir und legt seinen Kopf auf meine Schulter. Seine Strähnen kitzeln mich im Gesicht. Ich streiche über sie, spüre den Schweiß kühl in seinen Haare.

Er zieht mich nach oben an Deck, will wieder in Richtung Bug zu unserem Schacht und ich weiß, was er vorhat und es peitscht durch mich. Ich kann nicht mehr so lange warten und schiebe ihn hinter den großen Schlot. Eine Wolke aus Schwerölrauch deckt uns ein und ich fange an zu husten, ziehe ihn ein Stück weiter in den Aufgang zur Brücke, dränge mich an ihn.

Sein Kuss ist wild und gierig, sein Körper so heiß an meinem. Ich bin so geil auf ihn, dass ich gerade für nichts mehr garantieren kann.

„Dit wollt ick heut schon den janzen Tag machen“, stößt er hevor, als wir einen Moment Luft holen.

„Juter Plan“, keuche ich.

Sein Mund ist hart und drängend auf meinem. Fuck, ist das gut. Ich presse mich fester an ihn. Er beisst leicht in meine Lippe und ich greife nach seiner Hand, weiß genau, wo ich die gerade haben will.

„Finger weg von meiner Freundin, du dreckiges Schwein." Auf einmal packt mich etwas am Kragen meiner Lederjacke und zieht mich daran hoch, schleudert mich herum.

Es ist wie ein schwindelerregendes Karussel und ich check nich, was auf einmal los ist, nur dass es weh tut und ganz plötzlich wieder vorbei ist.

Ein dumpfer Knall neben mir. Farin drückt einen mir unbekannten Punk hart gegen die Bordwand, sein Unterarm an seiner Kehle.

Damit hatte mein Angreifer anscheinend nicht gerechnet. „Häh???“, würgt er nich sehr intelligent heraus.

Farin verstärkt nochmal den Griff, dann lässt er ihn abrupt los, tritt einen Schritt zurück und noch einen bis er schräg hinter mir steht. Ich kann seinen schnellen Atem hören.

Die Augen des Typen werden groß, als er Farin erkennt. „Dat is ja gar nich Andi ...“ Er sieht zwischen mir und Farin hin und her. „Wat macht`n ihr beide ...?“

Hinter dem mir unbekannten Punk kommt nun auch noch Campino auf uns zu. „Was is hier los?“ Er klingt nach zehn Bier. Er beäugt mich misstrauisch. „Brauchste Hilfe, Tüte?“ Sein wilder Blick macht mir echt Angst.

Der Typ – Tüte? – stammelt los. „Zuerst hat sich der Wicht hier an Andi ran gemacht und dann erwisch ich ihn mit seinem Gitarristen."

Tüte hat eine wirklich, wirklich laute Stimme, lauter als Campino. Farin hinter mir wird immer kleiner.

„Niemand macht meine Andi an, haste dat verstanden?“ Tüte kommt mit breitem Kreuz leicht schwankend auf mich zu und ich kann spüren wie Farin sich neben wieder strafft.

Kaum packt mich Tüte am Arm, ist er da - groß und schnell und wütend.

„Ey, nimm deine Flossen von ihm“, schreit er ihn an.  

„Ey, ey, is ja jut.“ Tüte hebt schützend die Hände. „Ich hab kein Problem damit, wenn ihr schwul seid, aber er ...“ Sein Zeigefinger deutet sehr energisch auf mich. „Er lässt meine Freundin in Ruhe.“

„Alles klar.“ Ich heb die Hände, obwohl ich überhaupt nichts versteh, aber ich möchte vor allem nicht, dass die Situation noch mehr eskaliert. Zum Schluss schalten sich noch diese üblen Rocker von den Freedom Riders ein.

Campino zieht gleichzeitig seinen Kumpel weg und starrt Farin und mich böse an.

„Wer ist denn überhaupt seine Freundin?“, frag ich ihn hilflos.

„Blauer Iro“, kommt die knappe Antwort.

„Oh. Aber ick hab ja jar nüscht ...“

„Halt die Klappe, Bela.“ Campinos Blick wirkt auf einmal sehr klar. „Ich hab dich auch mit Andrea gesehen. Keine Ahnung, was mit dir abgeht. Du lässt echt nix aus, Felsenheimer!“ Er sieht zwischen mir und Farin hin und her.

Farin beißt sich auf die Lippen. Seine ganze Haltung zeigt, dass er lieber über Bord springen würde, als so gemustert zu werden.

Campinos Blick entspannt sich wieder. „Okay, also wenn ihr Beide ..." Er zeigt zwischen mir und Farin hin und her.  „Is cool, okay? Dat wär mir echt lieber, als wenn du unsere Freundinnen anmachst, Felse. Also, lasst euch nich stör`n, Jungs.“ Er hebt noch mal die Hand und ist weg.

Aber leider lässt Farin sich doch stören. Er fährt sich mit den Händen über das Gesicht, verschwindet dahinter.

„Hey ...“ Vorsichtig trete ich auf ihn zu. „Hey, Jan.“ Ich fasse ihn am Arm, er zuckt zusammen.

„Sorry, Bela. Ick ...“ Er taucht wieder auf, schüttelt den Kopf, wirft mir ein trauriges Lächeln zu, dreht sich dann der Spree zu und stützt sich auf der Reling ab.

„Biste okay?“

„Ick ... ick hatte den Typen so krass gepackt und ... Ey, ick war echt zu allem bereit." Sein Atem kommt immer noch stossweise. Aber dieses Mal nicht im Guten. „Es ... Es ... hat mir Angst gemacht.“

„Scheiße. Echt. Sorry, Jan. “ Ich trete einen Schritt auf ihn zu, will ihn in die Arme nehmen.

„Du kannst ja nüscht ...“ Er bricht ab. Vielleicht ahnen wir beide, dass ich irgendwie doch was dafür kann, auch wenn nicht in diesem konkreten Fall.

Und wieder eine verpasste Gelegenheit. Und die sind eh schon so rar.



 


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LYRICS


F.S.K. - Was kostet die Welt?

Generation X - One hundred punks

Die Toten Hosen - Bis zum bitteren Ende

The Feelies - When company comes

Die Toten Hosen - Niemandsland

Die Toten Hosen - Eisgekühlter Bommerlunder

die ärzte - Halloween
Die Lyrics sind etwas schwierig. Es ist sehr stark anzunehmen, dass es sich um einen in schwarz gekleideten Mann handelt.



Additional Songs

die ärzte - Bootlegs und Setlist

Alle Bands und Lieder der Dampferfahrt
Aufmerksamen Beobachter*innen fällt evtl. auf, dass die Hosen gar nicht an Bord waren. Nennen wir es erzählerische Freiheit. ;-)

Frau Suurbier – Neue Art von Liebe

Frau Suurbier – Mein wildes Herz



Frau Suurbier

Wiki

Die Suurbiers -- Wie ein Kind (live)
Die Suurbiers spielen ‚Wie ein Kind“ im Wild at Heart in Berlin im Mai 2015. Das Lied ist im Original von den Suurbiers und Sahnie brachte das Lied zu den Ärzten, die das Lied dann ‚klauten‘. Farin und Bela wussten zur dieser Zeit jedoch noch nicht, dass das Lied eigentlich Michael Suurbier geschrieben hatte.

Die Suurbiers Berlin SO 36  - Wie ein Kind



Die Toten Hosen

28.3.1983 – Konzert Erlöserkirche

Tagesspiegel Artikel - Dokumentarfilm "Geheimsache Punk" über die Toten Hosen

Dokumentation über Die Toten Hosen, 1983

Auswärtsspiel – Die Toten Hosen in Ost Berlin – Grenzgänger – S01 E01

Cover LP Opelgang

Schnusel von Bela für das 40-jährige Bandjubiläum beider Bands

Podcast 1LiveIkonen - Die Toten Hosen


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Chapter 23: 1983 - Der Graf

Chapter Text

*




 

* Teenagers in Love *





Lieder und Bilder farbig unterlegt im Kapitel.
Weiterführende Links am Ende.

Leichte Triggerwarnung für die Mitte des Kapitels
Kennzeichnung am Anfang und Ende der Szene mit:
(!) verbale Gewalt und (!!) Erinnerung an körperliche Gewalt
Und am Ende eine Alptraum-Sequenz.




 

1983 - Der Graf






12. Mai - Niebuhrstraße 38b, Charlottenburg

Um neun klingelt das Telefon. Ich bin zwar schon wach, aber nach dem gestrigen Exzess irgendwie noch ziemlich wacklig auf den Beinen.

„Morgen, Jan!“ Meine Mutter. „Ich wollte nochmal sicher gehen, dass du auch wirklich kommst heute.“

„Ähm, ja. ... Zu was?“

„Na, zu Tante Evas Geburtstagsessen.“

„Sch...“

„Natürlich. Du hast es vergessen.“ Sie klingt fürchterlich enttäuscht. „Jan, es wäre wirklich schön, wenn du dich mal wieder ein bisschen mehr um die Familie kümmern würdest.“

„Ja...“

„Also, wir erwarten dich um 15 Uhr.“

„Ja. Ick bin da.“ Ich mag Tante Eva. Zum Glück hat meine Mutter mich erinnert. Allein schon zu erleben wie sie Gerd widerspricht, ist als hätte ich auch Geburtstag. Tante Eva ist die Schwester meines „richtigen“ Vaters und, im Gegensatz zu diesem, immer da gewesen – seitdem ich denken kann.

Einmal habe ich meine Mutter als kleiner Junge gefragt, warum sie nicht Tante Eva geheiratet hat, wenn Joachim eh nie Zeit hat. Da hat sie so gelacht, dass ihr Tränen die Wangen runter gelaufen sind, dann ist sie sehr ernst geworden. „Da hast du nicht ganz Unrecht.“

Ein halbes Jahr später hat sie sich von Joachim getrennt. Aber wirklich etwas dazu gelernt, hatte sie leider dennoch nicht.

Tante Eva wäre immer noch meine Nummer eins Kandidatin als „Vater"-Ersatz.  

Und natürlich ist sie Gerd ein Dorn im Auge. Aber es gibt Punkte, in denen sich meine Mutter in ihrer zweiten üblen Ehe durchsetzt. An ihrem Geburtstag ist Tante Eva traditionell immer bei uns zu Kaffee und Kuchen eingeladen.


Senheimer Str. 44, Frohnau

Der Weg durch das hübsche, sommerliche Frohnau wirkt surreal in seiner Idylle nach der hektischen Stadt. Als ich langsam auf das gelb gestrichene, verwinkelte Haus zu gehe, gibt es mir einen Stich aus Sehnsucht und Widerwillen.

Tante Eva öffnet mir die Haustür. Sie trägt ein schlichtes hellblaues Leinenkleid über tiefgebräunter Haut. Gut sieht sie aus. Eine echte Erscheinung mit ihren 1,80 m. Sie sieht überhaupt nicht aus, als wäre sie schon weit über 50. Ich hoffe, wenn ich mal so alt bin wie sie, dann ...

„Jan! Wie schön dich zu sehen.“

Aus dem Wohnzimmer erklingt eine kleine Klaviermelodie. Ich höre wie Julia Claire Waldorff imitiert und muss grinsen.

„Als ich noch ein kleines Jör
Da wohnten wir im Hinterhause Niebuhrstraße 10
Spielten jroßes Pferderennen mit den eijenen Flöhen -
Nein, wie war dat Leben schön!

 

Tante Eva umarmt mich lange. „Es ist schon wieder viel zu lange her.“

„Na, dieses Mal lag`s nich an mir.“

„Stimmt.“

„Wie war`s denn in Äthopien?“ Sie arbeitet dort seit einem Jahr als Ärztin. 

„Fantastisch. Wahnsinnig tolle Leute, wunderschönes Land. Das würd ich dir echt gerne mal zeigen. Aber halt im Sahel. Wenn es dort nicht bald regnet, dann wird das noch schlimmer mit dem Hunger und der Armut.“

„Jaaaan!“ Julia rennt auf mich zu und springt mir ohne Vorwarnung einfach in die Arme, weil sie weiß, dass ich sie immer auffangen werde. Dabei erschrecke ich mich kurz wie sehr sie wieder gewachsen ist, viel zu nah schon an der Pubertät, vor deren Untiefen ich sie so gerne bewahren würde, aber es natürlich nicht kann. 

Erwachsen werden ist einfach scheiße. Mit einem selbst werden auch die Probleme erwachsener, größer. Bei der... Sache mit Bela fühle ich mich aber vor allem unsicher, als wäre ich in der Pubertät stecken geblieben. Ein tiefer Seufzer schleicht sich über meine Lippen, wenn ich an gestern denke. Es war so schön bis zu dem Moment mit dem aggressiven Arschloch. 

Apropos Arschloch: Bisher hab ich Gerd weder gehört noch gesehen. Vielleicht will er dieses Mal einer Konfrontation mit Tante Eva aus dem Weg gehen. Oder mit mir. Von der neuen Taktik könnte ich fast Fan werden.

Julia packt mich an der Hand, zieht mich in Richtung Klavier und beginnt eine mir sehr bekannte Melodie zu spielen. Verdammt, ist sie gut geworden. 

„Ick hab och noch `n Lied von den Comedian Harmonists geübt. Dit haste früher immer gepfiffen und gesungen. Oh, singste dit bitte mit mir.“

Ich ahne schon, was jetzt kommt und quetsche mich grinsend neben sie auf den großen Hocker vor dem Klavier. 


„Wenn ich vergnügt bin, muss ich singen,
überall soll mein Lied erklingen:
Ene mene deene kleene dacke dicke puppe licke acka wacka eia weia weg!
Ja, wolln’s auch die ander’n Leut nicht hören -
Ich lass‘ mich überhaupt nicht stören:
Ene mene deene kleene dacke dicke puppe licke acka wacka eia weia weg!“


Meine Mutter kommt gerade mit dem Kuchen herein. Aus dem Augenwinkel sehe ich wie sie im Türrahmen stehen bleibt und sich über das Gesicht wischt.

„Na, mein Großer!“ Sie lächelt mich an und mir wird selber ein wenig melancholisch im Herzen.

Wir setzen uns in den alten angebauten Wintergarten mit Blick auf den großen Kastanienbaum und den blühenden Garten. Ich vermiss den Garten und überhaupt.

„Gerd? Wir wollen anfangen. Kommst du?“, ruft meine Mutter die Treppe rauf.

Mein Herz nimmt einen neuen Rhythmus auf – unangenehm schnell. Ich setze mich möglichst weit weg von dem Stuhl auf dem Gerd immer trohnt. Ohne mich eines Blickes zu würdigen, lässt er sich auf diesen sinken.

„Na, Jan?“ Tante Eva sieht mich interessiert an. „Joachim hat erzählt, dass du dich gar nicht so schlecht gemacht hast bei ihm im Büro. Aber dann bist du wohl abgehauen nach London?“

„Ähm, ja. Ick musste ma raus.“

Sie grinst mich an. „Ich wünschte, ich wäre auch früher schon so mutig und abenteuerlustig gewesen.“

„Als ob das was damit zu tun hätte“, brummelt Gerd am Tischende.

„Hast du etwas gesagt?“, fragt sie ihn so unschuldig, dass klar ist, sie hat es genau gehört.

Gerd scheint zu überlegen, ob er sich auf ein Wortgefecht mit Tante Eva einlassen will.

„Ab und zu spielt mir Joachim och mal `nen Job bei einem seiner Bekannten zu", ziehe ich ihre Aufmerksamkeit wieder auf mich.

„Na, immerhin ist er dein Vater. Der soll sich mal anständig kümmern um seinen Sohn.“ Sie lacht, aber es klingt nicht sehr fröhlich. „Der hat doch immer nur seine Karriere im Kopf.“

„Naja, so schlecht is dit vielleicht och ja nich mit der Karriere ...“ Sofort ernte ich einen höhnischen Blick von Gerd. „Bela und ich wollen uns auch mehr professionalisieren.“

„Na, das ist doch schön. Habt ihr immer noch diese tolle Band, die ihr nach meinem Berufsstand benannt habt?“

„Pfff“, tönt es vom Tischende.

Meine Kiefernmuskeln krampfen sich zusammen. Ich blicke zum ersten Mal heute Nachmittag bewußt zu ihm hinüber.

„Da brauchst du mich gar nicht so blöd ansehen, Junge. Bisher haben wir ja wohl noch keinen Beweis dafür sehen können, dass das mit deiner Karriere klappt – in irgendeine Richtung. Außerdem ...“ Seine Augen werden schmal. „Steht das nicht im Gegensatz zu den ganzen tollen Werten, die dieser Punk angeblich hat?“

Julia legt ihre Hand auf meine, schmal und trotzdem stark. Es ist kein Zurückhalten, sie gibt mir einfach nur Kraft es durch zu stehen.

„Wir woll`n och gar nich soo sehr in die Punkrichtung gehen. Ick würd gern mehr Popsongs schreiben.“

Tante Eva sieht mich irritiert an. „Also, nenn mich alt und unwissend, aber ist das dann nicht eher sowas für die Bravo oder die Formel eins?“

„Ja, so ungefähr.“

„Als ob ihr Popstars seid. Nicht mal dieses Drecksblatt von Bravo würde so jemanden wie dich oder diesen Junkie abdrucken, so wie ihr ausseht.“

„Wenn du nichts positives zu sagen hast, Gerd, würde ich vorschlagen, du sagst einfach gar nichts.“ Tante Evas Stimme ist dabei noch nicht mal angriffslustig, einfach nur sehr klar.

„Das ist immer noch mein Haus, Eva.“

Sie ignoriert ihn einfach und sieht stattdessen wieder zu mir. „Aber ich dachte, Punk wäre dir wirklich wichtig.“

„Ja, schon. Aber eben im Sinne von „Tu, was du willst“.“

„Mhm. Das bedeutet dann wohl „Tu gar nichts“.“

„Gerd.“ Das typisch hilflose Zurechtweisen meiner Mutter. Ich will niemals heiraten, wenn das bedeutet, dass man dann jahrelang so ein festes Drehbuch herunterbeten muss. Was für ein Scheißkonzept.

Ich beiße mir auf die Lippen, schmecke neben dem Kuchen auf einmal Blut.

„Ick ...“ Brauch eine Ausrede, um von Gerd wegzukommen. Ich stehe auf und schiebe meinen Stuhl zurück. „Ick räum schon mal `n bisschen in der Küche auf.“

„Das brauchst du doch nicht.“ Meine Mutter steht ebenfalls schon halb. Gerd legt ihr eine Hand auf den Arm.

„Lass ihn doch. Der kann sich ruhig mal nützlich machen.“

Sie sieht mich an, setzt sich dann widerwillig wieder.

Ich lasse gerade Wasser in die Spüle laufen, als meine Mutter dann doch in die Küche kommt.

„Es tut mir le...“

„Lass es. ... Bitte.“ Ich hoffe, es klingt nicht böse. Was ich fühle ist vor allem Resignation.

Sie seufzt. Für ein paar Minuten räumen wir stumm nebeneinander auf.

„Ach, Jan, ich schulde dir noch 50 Mark für das Geschenk für Julia.“

„Oh. Echt?“

„Ja, du hast das doch ausgelegt im März. Entschuldige, dass ich das vergessen hab.“

„Ähm, kein Problem. Ick hatt`s ja och vergessen. Is auf jeden Fall sehr willkommen.“

Sie holt ihre Handtasche von der Garderobe. „Hier.“ Sie drückt mir einen 50-Mark-Schein in die Hand.

Neben mir knallt ein Teller auf die Anrichte. Ein Wunder, dass er nicht kaputt geht. Gerd ist wie ein Schatten hinter ihr aufgetaucht. „Ach, da geht unser sauer verdientes Geld hin.“

„Das ist ein Missverständnis“, versucht meine Mutter schnell zu erklären.

(!)

„Sieht mir aber nicht danach aus.“ Es passiert nicht oft, aber dieses Mal ist sein abfälliger Blick auf sie gerichtet.

Ruhig. Ich versuche mich aus der Szene herauszubeamen. Ganz ruhig, sage ich mir selbst.

Anscheinend treibt ihn aber heute meine Ruhe zur Weißglut. Irgendwie ist es auch egal, was ich mach. Es endet ja doch immer mit dem Gleichen.

Er tritt einen Schritt auf mich zu, muss ein gutes Stück zu mir aufsehen. Seine Augen sind hart und kalt und eklig. „Du hässlicher – armer – kleiner Schmarotzer! Wie lang soll ich dich denn noch mit durchfüttern?“

Es kribbelt in meiner Hand, in meinem ganzen Arm. Die Muskeln spannen sich an, ein Zucken. Meine Hände sind Fäuste und die Küche verwandelt sich in einen dunkelroten Tunnel.

Zum Glück ist mein Fluchtinstinkt schneller als jeder rationaler Gedanke. Meine Beine tragen mich automatisch die Treppe hoch in mein altes Zimmer. Leer wirkt es ohne Poster und meine Bücher.

Ich schlage gegen die Wand, genieße den Schmerz, der mich in die Wirklichkeit zurück holt. Aber meine Hände zittern immer noch. Dieses Arschloch erwischt immer meine Unsicherheiten, genau die, die mich eh schon oft genug heimsuchen. Ja, ich hab verdammt nochmal gerade kein Geld und keinen Plan.

Ich blicke ihn den großen Spiegel an meinem Schrank, wisch mir eine Wutträne weg. Ich seh nicht direkt schlecht aus, aber mit meinem krassen Wachstumsschub vor ein paar Jahren komm ich immer noch nicht so ganz klar, auch wenn es langsam besser wird.

Ich steche halt immer heraus aus der Menge, ob ich will oder nicht. Und mein Gesicht und mein breiter Mund sind halt etwas besonders. Meine Lippe blutet immer noch.

(!!!)

Ich fahre über die Narbe an meinem Kinn. Als Gerd und sein Gürtel sich mal wieder über mich hergemacht haben, ich weiß nicht mal mehr, was er damals als Grund angegeben hat, da bin ich auch geflohen, aber habe leider ein paar Schuhe übersehen, die vor dem Treppenabsatz standen und bin mit dem Kinn zuerst aufgekommen.

Ich sei die Treppe hinunter geflogen, hat meine Mutter der Ärztin erzählt, die die Platzwunde genäht hat. So irgendwie stimmte das ja auch. Der dunkle Fleck von meinem Blut ist auf der Treppenstufe immer noch sichtbar, wenn man ihn sehen will.

(!!!)

Es klopft an der Tür. Ich will gerade meiner Mutter nicht gegenüber treten. Nicht nach der Erinnerung.

„Kann ich reinkommen, Jan?“ Tante Eva.

„Ja.“ Es klingt sehr kläglich.

Langsam geht die Tür auf. Sie mustert mich kurz aufmerksam, setzt sich dann auf mein unbezogenes Bett und seufzt. „Immerhin musst du nicht mehr hier wohnen.“

„Aber Julia.“

„Er lässt sie in Ruhe.“

„Ick weiß.“

„Wie geht es dir denn ansonsten?“

Mit einem tiefen Seufzer lasse ich mich neben sie fallen.

„Na, das klingt ja dramatisch.“

„Nee, eigentlich is allet jut.“

„Nur ...?“

„Bisschen unklar ... so `n paar Sachen.“

„Aha. ... Herzschmerz?“

„Hellseherin.“

„War ich doch schon immer.“

Stimmt. Ich lehne mich an ihre Schulter und sie strubbelt mir durch die Haare. Es tut verdammt gut.

„Und wer ist die Herzensbrecherin?“

Bine, sollte ich sagen. Es wäre ganz einfach zu erklären. „... Bela?“ Ich bin mir so unsicher, dass ich es nur leise, tastend wie ein Frage formuliere.

„Mhm. Das ... kann knifflig sein, wenn ihr eigentlich Freunde seid, zusammen wohnt.“

Ich nicke an ihrer Schulter.

„Mag er dich denn nicht?“

„Doch.“

„Aber dann ...“

„Ja, ick weeß. Es ... Ick bin manchmal `n bisschen kompliziert.“

Sie streicht mir wieder durch die Haare, ruhiger dieses Mal und ich schließe die Augen, bin wieder vier Jahre alt und alles ist noch so relativ in Ordnung in meinem Leben.



Niebuhrstraße 38b, Charlottenburg

Als ich aufsteh, is in der WG alles ruhig. Ich mach mir `nen Kaffe und setz mich in die Küche. Allein.

Mir is langweilig. Jans Tür ist zu. Normalerweise sollte der seit Stunden die WG mit seiner oft unerträglich guten Laune heimsuchen. Ich sehe auf die Uhr. Zwei.

Mhm. Ich blätter lustlos in der „Zitty“ in den Tagesveranstaltungen bis meine Augen über das Wort „Nosferatu“ huschen. Heute Abend kommt in der Filmkunst ernsthaft ein Nosferatu-Spezial mit dem alten Film und dem neueren mit Kinski.

Ich bin sofort voll angezündet vom Dracula-Fieber. Seit Jahren will ich Bram Stoker im Original lesen. Schon bin ich im Flur und schlüpf in meine Schuhe. Bis zur Staatsbibliothek ist es eine halbe Weltreise mit dem Fahrrad durch Berlin, aber es ist ein echt schöner Sommertag draußen.

Die Staatsbibliothek ist voll so ein moderner Kasten. Was für ein Riesengebäude. Aber gerade deswegen haben sie bestimmt das, was ich suche.

Ich hüpf die Treppen hoch bis zur Abteilung „English Literature“, komm mir etwas seltsam vor zwischen all den sehr geschäftig und gelehrt wirkenden Leuten. Allein schon die Stille in diesem großen weißen Raum. In meinen schwarzen Klamotten komm ich mir irgendwie fehl am Platz vor.

Aber ich find, was ich gesucht hab. Ich riech an den Seiten. Alt. Es hat etwas Erhabenes.

Ein Regalbrett weiter liegt noch ein großes Buch. Auch dieses Cover wirkt sehr vielversprechend. Ich blätter hinein. Cool. Ein Comic.

Mit meinem Fang mach ich noch einen kleinen Abstecher zu Gitti. Das Konzert und das Geknutsche gestern mit Jan haben mich viel zu heiß gemacht, ohne das wirklich etwas passiert wäre.

Sehr viel entspannter und beschwingter kehre ich in die Niebuhrstraße zurück. Es ist sechs Uhr abends als ich die Wohnung aufsperre. Jans Tür ist immer noch zu. Das gibt`s doch nicht. Oder ist er gar nicht mehr hier? Vielleicht ist er zu Ecky oder so. Aber eigentlich lässt er dann die Tür offen.

Vorsichtig klopf ich bei ihm an. Keine Reaktion. Ich drück die Klinke hinunter. Ein blonder Schopf ragt unter der Decke hervor. Mein erster Gedanke ist: Er ist tot.

Ich knie mich vor seine Matratze auf den Boden. „Hey, Jan! Allet okay mit dir?“

Keine Reaktion. Vorsichtig schlag ich die Decke ein wenig zurück. Immer noch keine Reaktion. Das hab ich bei ihm noch nie erlebt. Vorsichtig leg ich meine Hand an seinen Hals. Blut pulsiert durch seine Adern. Ich atme auf. „Jan?“

„Mrhmmm.“ Es kommt etwas Bewegung in seinen viel zu still daliegenden Körper.

Ich streiche ihm durch die Haare.

„Mhmmm.“ Langsam schlägt er die Augen auf. Sie sind krass rot, wirken fast blutunterlaufen.

„Oh.“ Ich seh ihn prüfend an. „Allet okay?“

„Mhmm. ... Ja. ... War nur müde ... wegen gestern.“

„Haste den janzen Tag gepennt?“

„Nee. Ick war am Nachmittag in Frohnau. Tante Evas Geburtstag.“

„Ick hoff, du hast se schön von mir gegrüßt.“

„Immer noch verknallt in sie, wa?“ Ein leichtes Grinsen. Immerhin.

Ich merk, dass ich fast `n bisschen rot werd. Die Frau ist aber auch echt schick. Und das in dem Alter. Außerdem die familiäre Ähnlichkeit. Schnell das Thema wechseln. „Hey, weeßte wat heut Abend in der Filmkunst läuft?“

„Äh, nee.“ Er streckt sich und gähnt herzhaft.

„Ein Nosferatu-Spezial.“

„Oh. Okay.“

„Du wolltest wahrscheinlich sagen: Absoluter Wahnsinn, Bela. Da müssen wir unbedingt hingehen.“

„Äh... Nich wirklich.“

„Egal. Wir gehen dahin. Bela Lugosi und - Isabelle Adjani!!!“ Das was sich warm in mir breit macht, umschreibt das Wort Verzückung vielleicht am besten. Drei Stunden den „dunklen Fürst der Finsternis“ beziehungsweise die Schauspielerin anschmachten. Der perfekte Abend mit Jan.

Der sieht allerdings nicht ganz so begeistert aus, wie ich ihn gerne hätte. Er meinte mal bei Jörg, dass er das ganze unrealistische Splatterzeug gut abkann, aber Horror wäre ja nochmal was anderes. Knarrende Treppen. Schatten an der Wand. Türen, die sich langsam öffnen. Er hat sich dann über Nacken gerieben, als hätten sich dort alle Härchen aufgestellt.

Aber diese Filme sind ja echt nicht schlimm. Eher schön in ihrer besonderen Ästhetik. Und hey - Isabelle Adjani!

„Wir können uns schon ma auf den Filmmarathon einstimmen. Kiek ma, wat ick in der Stadtbibliothek jefunden hab.“ Ich hol meinen Rucksack und zieh das riesige Buch mit schwarz-goldenem Einband heraus. „Rutsch ma.“ Ich deut auf seine Matratze. „Ick les dir wat vor, also, sofern man dit bei `nem Comic kann.“

Er macht mir Platz und rutscht dann zögerlich wieder an mich heran. Mit jedem Zentimeter, den er näher kommt, nimmt die Spannung in mir zu, dabei war ich doch gerade erst bei Gitti und ... Jan ist wie eine offene Steckdose für mich. Ich für ihn auch?

Er wirft einen skeptischen Blick auf das Cover. „Sieht ... ähm, interessant aus.“

„Ja, nee? Die sind echt geil gezeichnet.“

Er schielt über meine Schulter, legt dann sein Kinn darauf ab. Ich blätter um und beginn zu lesen.

„Kapitel 1 – Whitby
Der Friedhof auf den Klippen. An ihrem äußersten Ende ist die Klippe eingestürzt und hat die Gräber, die sich dort befanden mit sich gerissen.“


Ich lasse meine Stimme höher klingen, weil diese Worte von Mina stammen.

Der Comic ist sensationell. Ich wünschte, ich könnt so zeichnen. Atemberaubend ästhetisch und dennoch haben diese schwarz-weiße Zeichnungen etwas unterschwellig Bedrohliches.

Die Geschichte beginnt sich langsam zu zu spitzen. Jans Kinn liegt schwer auf meiner Schulter, aber nicht ungenehm. Sein Atem bläst ruhig gegen meinen Hals. Ist er wieder eingeschlafen?

Vorsichtig blätter ich um. „Wow, `ne Orgie“, entfährt es mir.

Anscheinend ist Jan doch noch wach, denn ich kann förmlich spüren wie er mit den Augen rollt. „Sieht eher aus, als wollten se den armen Jonathan uffressen. Oder trinken.“

„Wär auch okay. Gefällt dir das?“

„Die Bilder?“ Jans Stimme wird tiefer. „Oder das du denkst, dit is `ne Orgie?“

Also, wenn er mir die Wahl lässt. „Die Orgie.“

„Mhm. Weiß nich. ... Haste ... haste sowas schon mal gemacht?“

„Sex mit mehreren Leuten? Ja, klar. Weeßte doch. Früher mit Ades und seinen Jungs, also ... da ging einiges. Und halt mit Pony und Gitti. Du?“

Ich kann spüren wie er den Kopf schüttelt. „Und ... Fandste dit jut?“

Warum fragt er das? Was fragt er eigentlich? Und gibt es eine „richtige“ Antwort? Na, es kann ja eigentlich nur eine geben. Die Wahrheit. „Mhm. Ja, schon. Is halt aufregend. `n Experiment. Also, jetz nüscht, was ick immer ham will. Kann och schnell ma komisch werden.“

„Okay.“ Klingt er erleichtert? Endlich sind wir mal bei einem interessanten Thema angelangt.

„Kannste weiter lesen?“

Ach, Jan. „Okay.“ Ich blätter auf die nächste Seite. „Wenn du mal was ausprobieren willst, ne, ick ...“ Ich dreh meinen Kopf und küss ihn auf die Wange. „... bin dem nicht abgeneigt. Weißte ja.“

Er brummt. Es klingt angenehm.

„Heute ist es vier Wochen her, dass mein lieber Jonathan abgereist ist. Seitdem habe ich nichts mehr von ihm gehört ...“

Ich stock beim Lesen, seh zu Jan. „Erinnert mich irgendwie an jemand. Mhmmm. Wer war dit gleich nochmal?“

„Mann, ick hab mich entschuldigt.“

„Kannste gerne nochma machen, du ... du ...“

„Weltenbummler?“ Aus dem Augenwinkel seh ich, wie seine Augenbraue in die Höhe wandert.

„Hmmm“, brummel ich. „Ab jetzt nenn ich dich Jonathan – außer du gibst mir `nen Entschuldigungskuss.“

Er zieht seine Augenbraue noch höher, weiß genau, wie das auf mich wirkt.

Schnell wechsel ich zu einem unschuldigen Grinsen und halte ihm meine Wange hin. Er seufzt resigniert, gibt mir dann einen übertrieben dicken Schmatzer auf die Wange

„Und auf die andere.“ Ich dreh meinen Kopf.

Er lacht. Dieses Mal verweilt er ein wenig länger und das Knistern flammt sofort wieder hoch. Ein Lodern, von dem ich nicht weiß, wohin damit.

Und er schon gar nicht. „Komm. Lies weiter!“ Er lehnt sich wieder zurück, bleibt aber halb gegen meine Schulter gelehnt. Es ist schön und gemütlich hier mit ihm, er unerwartet zutraulich nach gestern. Meine Beobachtung ist, dass er hier in unserer Wohnung immer ein bisschen mehr Abstand hält zu mir, zu Gelegenheiten, die zu mehr führen könnten, aber vielleicht interpretier ich da auch zu viel hinein. Gestern war auf jeden Fall unerwartet.

Als ich umblätter, ist es auf einmal da – das Monster. Dieses Mal erschrecken wir uns beide.

Jan neben mir zuckt echt hart zusammen. „Können wir vielleicht das Buch lesen?“, schlägt er vor.

„Äh, ... Ja. ... Klar. ... Aber ick dachte, du magst Comics.“

„Mag ich ja och. Und die Zeichnungen sin echt jut, aber ... Irgendwie och ziemlich gruselig“, fügt er noch leise hinzu.

„Findste?“ Ich werf einen kritischen Blick auf die Seite, find es aber genau deswegen einfach nur genial. „Mhm. Okay. Aber dann muss du lesen. Mein Englisch is nich so ... schick wie deins, Mr. London Calling.“

Ich drück ihm Bram Stokers Dracula in die Hand. Jan schlägt das alte Buch auf. „Da hat man ja fast dit Jefühl, dass de erstmal den Staub von der Seite blasen musst.“

„Riech ma dran.“

Tatsächlich hebt er das Buch an seine Nase. „Mhm.“ Er lächelt. „Alt.“

„Schön, oder?“ Es macht mir ein warmes Gefühl im Bauch, dass er sofort meine Faszination daran versteht.

„Ja, du alter Bücherwurm.“

„Na, dit bis ja wohl noch immer du. Und jetz lies!“

Jan räuspert sich.

Chapter 1

Jonathan Harker’s Journal. 3 May. Bistritz.

Left Munich at 8:35 P.M., on 1st May, arriving at Vienna early next morning; should have arrived at 6:46, but train was an hour late. Buda-Pesth seems a wonderful place, from the glimpse which I got of it from the train and the little I could walk through the streets. I feared to go very far from the station, as we had arrived late and would start as near the correct time as possible.The impression I had was that we were leaving the West and entering the East ...“


War doch `ne gute Idee – vor allem, dass er liest. Ich mag seine Stimme. Bei ihm klingt es immer so, als wäre sein Verstärker schon natürlich eingebaut. Aber er verzerrt seine Stimme nicht, sondern macht sie nur noch melodiöser. Kein Wunder, dass er so gut klingt beim Singen. Von mir aus könnt er mir auch Telefonbücher oder Gebrauchsanweisungen vorlesen.

Ich rutsch auf seiner Matratze nach unten, platziere seine Hände mit dem Buch auf meinem Bauch und mach es mir auf seinem Oberschenkel gemütlich. Die Pyjamahose, die er trotz des warmen Sommerwetters trägt ist weich. Ich fahre mit einem Finger das ausgewaschene Streifenmuster nach. Er zuckt, lächelt zu mir hinunter. „Kitzlig.“

Ich lass meine Finger nochmal drüber gleiten, aber er schubst meine Hand zur Seite, liest dann weiter. Von unten seh ich zu ihm nach oben. Aus dem Blickwinkel fällt mir die Narbe an seinem Kinn auf. Ich strecke meine Hand danach aus, aber als ich sie berühre, hält er sehr bestimmt meine Finger fest. Aber selbst das fühlt sich gut an.

„Soll ick jetz lesen oder willste mich nur ärgern?“ Es dauert einen Moment bis er wieder in seinen Leserhythmus gefunden hat. Nach ein paar Sätzen bin ich wie hypnotisiert von seiner Stimme, dem Dialekt. Obwohl – ein bisschen tut der auch weh. Wenn er will, klingt er total britisch.

„So. Zweites Kapitel.“

„When I went into the dining room, breakfast was prepared, but I could not find the Count anywhere. So I breakfasted alone. It is strange that as yet I have not seen the Count eat or drink. He must be a very peculiar man! After breakfast I did a little exploring in the castle. I went out on the stairs, and found a room looking towards the South.

The view was magnificent, and from where I stood there was every opportunity of seeing it. The castle is on the very edge of a terrific precipice. A stone falling from the window would fall a thousand feet without touching anything! As far as the eye can reach is a sea of green tree tops, with occasionally a deep rift where there is a chasm. Here and there are silver threads where the rivers wind in deep gorges through the forests.

But I am not in heart to describe beauty, for when I had seen the view I explored further. Doors, doors, doors everywhere, and all locked and bolted. In no place save from the windows in the castle walls is there an available exit.

The castle is a veritable prison, and I am a prisoner!“


Jans Stimme wird immer leiser, schließlich klappt er das Buch zu. „Hey, Bela?“

„Hm?“

„Sach ma, hatteste dit als Kind och manchma, dass de ... Also, ick hab echt viel gemalt, früher in Moabit, aber dann och in Frohnau, weil ... “

Ich puzzle in meinem Kopf die paar Brocken zusammen, die er mal über seine Kindheit in der WG in Moabit heraus gelassen hat. Es klang nach viel Selbstbeschäftigung, nach vielen einsamen Nachmittagen, weil die Erwachsenen alle mit anderen Sachen beschäftigt waren und die anderen Kinder auf der Straße um 18 Uhr zum Abendessen nach Hause mussten.

„Also, ick hab dann oft so Bilder aus meinen Träumen gemalt. Also, da war viel so Abenteuerzeug, wie ick die Welt entdeck und so, aber da war`n auch ziemlich ... nich so Jute.“ Er holt tief Luft. „Einmal da war ick wohl so vier, da war so `n Gewitter und ... Der Blitz wollte praktisch durch die Scheibe nach mir zu greifen. Dit hat sich total in meinem Kopf eingebrannt.“

„Hatteste deswegen damals so Schiß im Zelt?“

Er nickt vorsichtig.

Wie kommt er jetzt auf das Thema? Wegen der Comicbilder? Dem Monster? Gerade ist er viel zu ernst. Ich will ihn umarmen, will ihn aufmuntern, den viel zu ernsten Zug um seinen Mund wegküssen.

„Gestern als ick den Typen so in den Schwitzkasten genommen hab ...“

„Ja?“

„Ick ... Ick hab manchmal so Schiß, dass ick so werd wie Ge...“ Er bricht ab. Was wollte er sagen? Gerd? Ich wünschte, er würde sich nicht zensieren. Was ist da nur gelaufen in dem hübschen Häuschen im idyllischen Frohnau? Redet er von heute oder von früher?

„Also, ick hab Angst, dass ick die Kontrolle verlier und och so `n Schläger werd.“ Seine Stimme ist leise, aber eindringlich. Er sieht mich mit so verlorenen Augen an. „Ick will dit nich.“

„Hey, Jan. Ick kenn dir jetz so lang. Du bist einiges, aber keen Schläger.“

„Mhmmm.“ Er scheint lange nachzudenken über meine Worte. „Okay. ... Danke. ... Ick hab irgendwie trotzdem ...“

Ich nehm ihm das Buch aus der Hand, setz mich auf und schließ ihn ganz fest in meine Arme, vergrab mein Gesicht an seinem Hals. Dieses Mal springt mir sein Geruch nicht direkt zwischen die Beine, sondern ins Herz und ... Ach, Jan.

Er lässt mich gewähren, kuschelt sich sogar noch etwas dichter an mich und nun kippt es doch. Ich küss ihn auf den Hals, will darüber lecken, ihn beißen.

Vorsichtig befreit er sich aus meiner Umarmung. „Es ist fast acht. Wenn wir noch pünktlich zum Vorspann kommen wollen, müssen wa jetz los.“



Filmkunst 66, Bleibtreustraße, Charlottenburg

Wahrscheinlich ist es echt eine dumme Idee von mir Bela auf seinen Double Feature-Horrortrip zu begleiten. Aber ich will so gern den Abend mit ihm verbringen. Weiter lesen wäre mir allerdings sehr viel lieber gewesen.

Immerhin sind die Stühle in der Filmkunst super bequem. Ich bin immer noch total müde. Die Müdigkeit hängt in mir wie eine knochentiefe Erschöpfung. Vielleicht penn ich einfach weiter.

„Nosferatu“ flimmert der Titel über die Leinwand. Danach „Eine Symphonie des Grauens“. Na, super.

Ich seh zu Bela, aber der hat nur Augen für die Leinwand.

Für einen schwarz-weiß Stummfilm ist es wirklich toll gefilmt. Und gar nicht so gruselig. Aber die Musik.

Musik kann so vieles ...

Bei einigen Szenen versuche ich mich zum einen hinter meiner vorgehaltenen Hand zu verstecken und zum anderen zu verstecken, dass ich mich verstecke. Irgendwie bin ich gerade viel zu dünnhäutig für solche Bilder.

Zum Glück ist Bela zu gefesselt von dem hässlichen Kerl auf der Leinwand, so dass er nicht mitbekommt, dass ich mich wirklich grusel. Wahrscheinlich würde er mich auslachen. Für seinen Filmgeschmack in dem Bereich hat das ungefähr den Horrorfaktor der Sesamstraße.

Endlich ist der Film zu Ende. Pause. Wir teilen uns eine Cola im Foyer, da die ganz schön teuer ist, aber vielleicht macht sie mich wieder wacher.

Die junge Frau hinter dem Tresen kennt uns schon. „Na, ihr Beiden? Ich hat mir schon gedacht, dass ihr heute hier seid.“ Sie grinst uns an.

„Ja, dit hätt ick mir um nichts auf der Welt entgehen lassen.“ Belas Augen leuchten und ich freu mich doch mitgekommen zu sein.

Wir setzen uns auf die Stufen zu Saal 2.  Ich nehm einen Schluck von der Cola und halte sie dann Bela hin.

„Warum magste eigentlich Dracula so gern?“ Ich versteh die Ästethik, aber nicht so klar die Faszination wie er.

„Da fragste noch? Ein mysteriöses Wesen, dass nur im Schutz der Nacht existieren kann trotz seiner immensen Fähigkeiten. Die Magie davon, etwas von diesen Fähigkeiten weiter zu geben und zwar in einem Akt, den ich als durchaus erotisch bezeichnen würde.“

Seine Hand landet auf meinem Knie und er strahlt mich mit einem euphorisierten Blick an. „Und dann diese Anziehungskraft, der sich niemand entziehen kann ... Vampire sind stark und verletzlich zugleich, sie sind nich eindeutig, weißte.“ Er beugt sich näher zu mir, sieht mich intensiv mit seinen kajalumrandeten hellgrünen Katzenaugen an und leckt sich über die Lippen. Ich befürchte, ich verstehe gerade sehr gut, was er meint.

„Außerdem sind ja och die meisten Menschen nich nur so eindimensionale Charaktere. Wir tragen doch viele sehr unterschiedliche Wünsche in uns. Und manchmal widersprechen sich die sogar." Er sieht mich so eindringlich an, als wollte er mir damit noch sehr viel mehr sagen. Ich kann nur wie hypnotisiert von seinem kleinen Monolog nicken.

„Und Vampire sind halt gleichzeitig Femme fatale oder Gentleman und Monster. Ich glaub dit Ambivalente zieht mich total an, dass da unter der Oberfläche immer so wat Gefährlichet lodert."

Der Augenblick dehnt sich und ich habe wohl die Augen geschlossen, denn auf einmal fühle ich seine Lippen auf meinen. Nur für einen Moment mitten hier im Kinofoyer, in dem uns echt viele Leute vom Sehen kennen. Ich warte darauf, dass die Panik hochkocht, aber anscheinend hab ich mein Pensum für heute schon verbraucht.

Eine kleine Glocke signalisiert, dass es weiter geht. Bela nimmt meine Hand und wir gehen zurück in den Saal, sinken wieder in unsere Sitze. Ich rutsche ein Stück zu ihm hinüber und lege meinen Kopf auf seine Schulter. Das ist viel besser. Ich entspanne mich ein wenig.

Irgendwie hab ich Kopfweh und es wird immer schlimmer. Wahrscheinlich weil die Luft so `n bisschen plüschig stickig ist. Im Licht des Projektors kann ich den Staub in der Luft wie Sternschnuppen leuchten sehen.

Belas Blick klebt an der Leinwand. Ab und zu murmelt er eine Zeile mit. Keine Ahnung, wie oft er den Film schon gesehen hat.

Auch Werner Herzogs Version ist visuell etwas Besonderes.  Sie hat etwas Hypnotisches, dem ich mich nicht entziehen kann. Und ja die Schauspielerin ist unglaublich schön. Es dauert fast den halben Film bis ich merke, dass mein Hemd total durchgeschwitzt ist.

Bela beugt sich zu mir hinüber. „Hey? Allet paletti?“, flüstert er mir zu.

Anscheinend ist sein sechster, vielleicht sogar sein siebter Sinn, wenn es um mich geht, angesprungen. War schon oft so. Ist bei mir ähnlich. Irgendwie sind wir da auf eine merkwürdige Art miteinander verbunden.

Deswegen halte ich es auch oft nur so schlecht aus Teil seiner nächtlichen Streifzüge zu sein. Meist passieren ab einem gewissen Pegel seinerseits zwei Dinge: ich verliere das unbennenbare Band zwischen uns. Und entwickle dann stattdessen so eine Art Katastrophenfilter, der auf Bela und sein Verhalten ausgerichtet ist und ständig Alarm schlägt.

Den hat er jetzt wohl für mich gerade angeworfen, denn auf einmal habe ich seinen Arm um meine Schulter. Bela rutscht noch näher zu mir hinüber, sein Gesicht taucht vor meinem auf.

„Du siehs so `n bisschen blass aus. Oder is dit das Licht vom Projektor?“ Sein Blick ist wie eine scharfe, wache Präsenz auf mir, tut gleichzeitig gut und lässt mich Schutz suchen vor seinen Suchscheinwerfer-Augen.

Er sucht meine Hand und drückt sie. Seine Finger warm auf meiner Hand. „Wuh, die ist ja eisig. Hey, wir können och gehen, ne.“ Er nimmt meine Hand zwischen seine und ich seufze auf. Mir war gar nicht bewusst, wie sehr meine Muskeln in diesem Durchhalte-Modus verkrampft haben.

„Quatsch. Du hast dich so gefreut.“ Ich klinge echt super kläglich. „Vielleicht geh ick einfach hei...“

„Dit is keene Isabella Adjani wert, dass ick dich alleen in dem Zustand...“

„Nee, jeht schon. Wenn ick hier raus bin, dann ...“

Seine Augen werden auf einmal groß. „Haste Schiss wegen dem Film? Warum sachste denn nüscht?“

Ich will schon vehement widersprechen, aber irgendwie stimmt das auch, obwohl das nicht wirklich wegen dem Film ist, glaube ich. Aber warum dann? „Nee, hab ick jar nich.“

Belas Mutterhennen-Gen ist aber nun angesprungen. „Komm.“ Er steht auf.

„Könnt ihr mal ruhig sein da hinten?“, keift jemand uns an.

Bela reagiert gar nicht auf den Typen, zieht mich schwer hoch. „Wir geh`n nach Hause.“ Das ist seine „Keine-Widerrede“-Stimme. Also, trotte ich neben ihm her die Niebuhrstraße runter, zurück nach Hause.

„Du legst dich am Besten hin und ick mach dir noch `n Tee.“

„Ja. Tee wär jut.“

„Soll ick dir noch was vorlesen?“

„Ja. Gerne. Aber bitte nicht noch mehr Vampire.“

„Oh. ... Schade. Was willste denn hören?“

„Donald Duck.“ Keine Ahnung, wie ich darauf komm, aber irgendwie will ich das jetzt haben.

Er schmunzelt, nickt dann.

Entenhausen ist echt ein Hort der Glückseligen – bis auf Donald – im Gegensatz zu unserem bisherigen Themenabend. Durch Belas Stimme bin ich schon ein wenig weggedämmert, aber als eine Hand mich sanft in die Waagrechte zieht, wache ich doch kurz wieder auf.

„Ick lass dich ma schlafen, wa?“ Bela klappt leise das lustige Taschenbuch zu, löscht das Licht und geht hinaus.

Schade, dass er nicht einfach geblieben ist, denk ich, dann dämmer ich auch schon wieder weg.

Die Bilder verfolgen mich bis in die Nacht, bis in meine Träume.

 



Fliehen. Ich muss weg. Fliehen. In mein Zimmer. Etwas ist hinter mir her. Eine Tür. Dahinter eine Treppe. Rauf, rauf, rauf. Schnell.

Am Ende der Treppe. Eine neue. Weiter, weiter, nur weg.

Nach oben. Noch eine Treppe. Haste Stufen hinauf – laufe, laufe, laufe. Meine Beine brennen. Aber ich komm meinem Ziel nicht näher. Keine Sicherheit.

Aber diese Treppe kenn ich. Mein Zimmer ist nah. Nur noch ein paar Stufen. Doch auf dem Absatz, baut sich die nächste Treppe wie ein Gebirgsmassiv vor mir auf.

Auf einmal geht es rückwärts. Etwas zieht mich zurück, hinunter. Treppe für Treppe.

Ein Keller. Dunkel und moderig. Etwas lauert in der Dunkelheit. Adrenalin heizt durch meinen Körper, macht mich bereit für den Kampf, der jetzt unweigerlich folgen muss.

Hinter mir. Es ist hinter mir. Ich fahre herum ...

Etwas stimmt nicht. Die Szene verändert sich.

Ich weiß nicht, wo ich bin.

Der Schatten eines Baumes vor einem Fenster. Das ist – mein Zimmer. Mein anderes Zimmer. Oder? Bin ich entkommen?

Ich setze mich auf. Langsam drehe ich meinen Kopf, weil mir so schwindelig ist.

Ja. Niebuhrstraße. Zuhause. Langsam, ganz langsam verstehen auch meine aufgewühlten Emotionen, dass ich in Sicherheit bin.

Ich fahre mir über`s Gesicht. Nass. Tränen?

Ich sink zurück auf die Matratze, die sich klamm und kalt anfühlt. Ich bin sooo müde. Doch sobald ich die Augen schließ, sind die Treppen wieder da.  

Ich rappel mich von meiner Matratze hoch, tast mich an der Wand entlang zur Tür. Der Griff rutscht aus meiner Hand, zweimal. Ich hab keine Kraft.

Bin ich doch wieder in dem Traum gefangen?

Meine Hände sind schweißnass. Ich krieg Panik, dass ich die Tür nicht aufbekomm, es nicht zu Bela schaff. Ich konzentrier mich nur auf den Griff – offen.

Ich tast mich weiter über den Flur, bin froh über die Vertrautheit. Dennoch stolper ich über etwas am Boden, fall gegen die Wand. Der Schmerz ist seltsam dumpf. Dafür brennt und hämmert mein Kopf wie in einer Schmiede.

Belas Tür ist zum Glück nur angelehnt. Ich drück mich dagegen, meine Schritte sind langsam, als würd ich kriechen. Weich. Sein Bett. Decke. Eine Schulter unter meinen Fingern. Sicherheit. Geschafft. Fast geschafft.


 

*


„Bela?“

Eine Hand an meiner Schulter holt mich aus dem Schlaf und ich fahre hoch. „Mrm ... Was?“

„Hey, Bela ...“

„Jan?“ Das träum ich. Oder?

„Kann ick zu dir ins Bett?“ Seine Stimme wabert irgendwie, wahrscheinlich weil ich noch so verpennt bin.

„Klar.“ Ich rutsch ein Stück zur Seite und schlag die Decke für ihn zurück.

Eine Hand tastet über das Bett, bleibt heiß auf meinem Arm liegen, ist wieder weg. Die Matratze sinkt ein. Jans großer Körper klettert in Zeitlupentempo neben mich.

Ich kann echt nicht einschätzen, was mir diesen seltenen Besuch beschert. Mit einem tiefen Seufzer, so als wäre er 100 Jahre alt, lässt er sich neben mich fallen, ist auf einmal wahnsinnig nah.

„Allet okay mit dir?“ Irgendwie frag ich ihn das heut schon den ganzen Tag in Dauerschleife. Aber irgendwas stimmt auch nicht, sagt mir mein sechster Sinn.

„Ick... Ick hab irgendwie voll übel geträumt.“

Ich wart drauf, dass er weiter spricht. Aber da kommt nichts. „Magste drüber reden?“

„Hab’s schon wieder vergessen.“

Ich glaub ihm kein Wort, aber das hilft ja auch nich, wenn ich ihm das in seinem Zustand um die Ohren hau. Stattdessen fahr ich behutsam mit meinem Arm unter seinem Nacken durch und zieh ihn an mich.

Ein dankbares Murmeln. Er dreht sich zu mir und kuschelt sich an meiner Seite zusammen, legt sein Gesicht an meinen Hals. „Oh. Du bist schön warm“, nuschelt er. „Mir is so kalt.“

Tatsächlich zittert er, seine Zähne schlagen leicht aufeinander. Seine Haut fühlt sich verschwitzt an. Sein Gesicht, sein ganzer Körper ist heiß, sein Shirt nass. „Jan?“ Ja, da stimmt etwas ganz gewaltig nicht. „Jan? Ick glaub, du hast Fieber.“

„Was?“

„Fieber. Ham wir `n Thermometer?“

„Thermo...?“

„Okay. Dit brauch‘ n wa gar nich. Dr. B. kann die Diagnose och so stellen.“ Ich setz mich vorsichtig auf. „Dit kommt bestimmt von deinem schicken freien Oberkörper gestern. Oder ..." Der Gedanke begeistert mich mehr als ich ihm eingestehen sollte. „Oder du wurdest von einem Vampir gebissen. Und das is jetzt deine Wandlung.“

„Keine Vampire“, nuschelt er.

„Na, wer’n wir gleich sehen.“ Ich knips meine Nachttischlampe an. Volle Blendung.

„Uhhha.“ Jan versteckt sich unter der Bettdecke.

„Oje. Dit is keen jutes Zeichen.“ Ich glaub, er teilt meinen Humor grad nich so wirklich. Vorsichtig schieb ich die Decke beiseite.

Schweißperlen glänzen auf seiner Stirn. Seine Wangen sind rot, um den Mund hat er ein auffällig weißes Dreieck. Keine Ahnung, ob das was besonderes bedeutet. Dafür müsste ich wohl wirklich studieren. Aber was eindeutig zu sehen und zu spüren ist, ist das Zittern. Sein T-Shirt ist so nass wie gestern nach dem Konzert.

„Also, so `n richtiger Arzt bin ick ja dann doch nich, aber ick glaub, du solltest aus deinen verschwitzten Klamotten raus.“ Ich schwing meine Beine über die Bettkante.

„Nich weg gehen.“

„Ich hol nur schnell frische Klamotten von dir.“

„Mhm.“

In seinem Zimmer ist alles wie immer gut organisiert und aufgeräumt. Ich nehme ein schwarzes Sweatshirt, dass er meiner Meinung viel zu selten trägt, da er gerade auf dem Weiß-Trip ist. Vermutlich weil das seine Sommerbräune so vorteilhaft zur Geltung bringt. Auch wenn er gern so tut als wäre nur ich derjenige, der „Stunden“ im Bad braucht - er ist schon auch eitel.

Als ich mit frischen Klamotten wieder drüben bin, hat er sich komplett unter der Decke verschanzt. Ich grab ihn behutsam aus.

„Hey, kannste dich ma hinsetzen und dein T-Shirt ausziehen?“

Er schüttelt den Kopf, versucht die Decke wieder über sich zu ziehen, die ich festhalte.

„Komm, bitte. Setz dich ma hin.“

„Wieso`n?“

„Na, weil dein T-shirt total verschwitzt ist.“

Langsam quält er sich hoch. In den drei Jahren, die ich ihn nun kenne, ist dieser Jan am nähesten an dem Zustand von besoffen sein dran. Es rührt mich seltsam ihn so zu sehen, ohne die oft hinter Grinsen und Kontrolle hoch gezogenen Schutzmauern, auch mir gegenüber. Aber er tut mir auch echt leid, wie er da wie ein aus dem Nest gefallenes Kücken auf meinem Bett sitzt.

„Kriegste es hin dein Shirt auszuziehen?“

Er sieht mich ratlos an, dann scheint die Botschaft doch durch seine fieberwirren Gehirnwindungen zu klicken. Hilflos zieht er an dem nassen Stoff, schafft es aber nur so halb über seinen Kopf, dann verlassen ihn anscheinend die Kräfte.

„Ich helf dir, okay?“

„Mhm.“

Ich zerr das T-Shirt über seinen Kopf. Schnell schlingt er die Arme um seinen Oberkörper. Das Zähneklappern wird stärker. Ich leg ihm die Bettdecke über die Schultern, geh hinüber ins Bad und hol ein Handtuch, reib den Schweiß von seiner Haut. „Mach ma die Arme hoch.“

Ausziehen geht, aber ich hab wirklich noch nie jemanden angezogen, vor allem in dieser Größe. Ihn in ein T-Shirt zu bekommen, ist unerwartet schwierig. Schließlich hab ich es geschafft. Wir sind beide außer Atem.

„Ick bin so müde, aber ick will nich mehr schlafen.“ Er scheint ein wenig klarer zu denken.

„Wegen den Träumen.“

Er nickt. „Ick geh besser wieder rüber, wa? Ick will dich nich anstecken.“

„Sie bleiben ma schön hier, junger Mann.“

„Aber ...“

„Nüscht aber ... So, und nu erzähl ick Ihnen ma `n bisschen wat zur Ablenkung, okay?“

Er kuschelt sich dankbar an mich und nickt.

„Also, wenn wir beede bald Popstars sind, dann werden unsere Lieder im Radio laufen und wir werden vom rbb eingeladen, bei denen in einer Show aufzutreten.“

Jetzt grinst er. Ah, tut das gut, das zu sehen. Er hat mir echt Angst gemacht. „Im Fernsehgarten, wa?“

„Genau. Und die Bravo macht dann `ne Homestory über uns.“

„Klar.“ Er zieht die Decke enger um uns. Sein Körper ist wie ein Hochofen neben mir und ich überleg, was meine Mutter früher immer gemacht hat, wenn ich Fieber hatte. Wadenwickel?

Sein Gesicht entspannt sich ein wenig. Ich wische die Schweißtropfen auf seiner Stirn weg. Er zuckt kurz, aber scheint schon wieder zu schlafen.

Am besten ich lass ihn einfach pennen und morgen sehen wir weiter. Es ist schön ihn neben mir zu haben. Ich hätte das gerne öfter, aber er muss dafür wohl erst Fieber bekommen.

Ich knipse die Nachttischlampe wieder aus. Mach mir noch ein paar Minuten Sorgen über Jans Zustand, dann bin ich wohl auch eingeschlafen.


 


*
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LYRICS

Claire Waldorff - Die Großstadtpflanze

Comedian Harmonists - Wenn ich vergnügt bin, muss ich singen

die ärzte - Rebell

Blue Öyster Cult - Nosferatu

New Order - Dreams never end

Death in June – Nosferatu

Elvis - Fever



ADDITIONAL VIDEOS

die ärzte – Rebell Live, 2004

die ärzte - Rebell live auf dem Montreux Jazzfestival, 2008 - Improvisationen Teil 1
Ein ziemlich außer Kontrolle geratener Versuch "Rebell" zu spielen. ;-)  



FILME

Wikipedia - Nosferatu, 1922

Wikipedia - Nosferatu, 1979



INTERVIEWS

Hotel Bela mit George Romero
Leider wurde das Format nach nur einer Ausgabe wieder fallen gelassen.

Bela B bei Bauerfeind - Teil 1

Düsseldorfer Anzeiger - Interview mit Bela B, 2019

Bela B. - Durch die Welt der Comics mit dem Die-Ärzte-Schlagzeuger



BÜCHER

Bram Stoker - Dracula (english)



*

Chapter 24: 1983 - Zitroneneis

Chapter Text

*




 

 

 

 

* Teenagers in Love *





Lieder und Bilder farbig unterlegt im Kapitel.
Weiterführende Links am Ende.

Es wird am Ende ein bisschen expliziter.
Just so you know, falls du da nicht so viel Bock drauf hast.



 

 

 

 

1983 - Zitroneneis






13. Mai - Niebuhrstraße 38b, Charlottenburg  

„Soll ich nich wieder rüber gehen?“ Jan ist etwas mehr bei Sinnen als gestern Nacht. Und schon ist die Unsicherheit seinerseits zurück. Ich wünschte, ich könnte die wegargumentieren, wegstreicheln, wegküssen, aber davon hält mich nicht nur die Ansteckungsgefahr ab.  

„Nö. Ick finds schön dich hier bei mir im Bett zu haben.“

„Aber ick bin dit totale Wrack.“ Seine Augen fallen wieder zu. „Und außerdem steck ich dich mit Sicherheit an.“

„Is mir egal.“

„Dit sachste jetz.“ Sein Kopf fällt zur Seite, kommt an meiner Schulter zu liegen. Seine Stirn ist immer noch ziemlich heiß. „Wart mal ab bis de abwechselnd nur noch frierst und schwitzt“, murmelt er in mein T-Shirt.

„Nö. Is mir wirklich egal.“ Egal trifft`s nich ganz, aber ich bin einfach so froh, dass er hier ist. So nah waren wir uns schon lange nicht mehr. „Hab schon ganz andere Sachen überlebt.“

„Haha.“ Er kuschelt sich noch enger an mich und nach ein paar Minuten geht sein Atem gleichmässig.

Draußen regnet es und ich kann mir grad nichts Schöneres vorstellen, als einfach hier mit Jan im Bett zu liegen und Comics zu lesen. Er ist irgendwie süß, wenn er krank ist, viel anhänglicher und richtig anschmiegsam. Es gibt ja viele Leute, die zu echten Arschgeigen mutieren, wenn es ihnen nicht gut geht. Er scheint sich dagegen in einen Teddy verwandelt zu haben.

Es läuft allerdings nichts zwischen uns, obwohl wir stundenlang eng nebeneinander im Bett liegen, denn Jan schläft vor allem. Wahrscheinlich würde auch sonst nichts passieren. Es scheint irgendwelche Regeln zu geben für ihn, wann er mit mir rummacht und wann nicht, aber die kenn ich nicht. Vielleicht kennt er sie nicht mal selbst.

Gerade will er vor allem vorgelesen bekommen und Hörspiele hören, wie er mir mit fieberglänzenden Augen und Wangen mitteilt.

Es erinnert mich an früher, als krank sein bedeutet hat legal die Schule schwänzen zu dürfen und Mama sich mal wirklich um mich gekümmert hat. Das will ich für ihn auch machen. Nur sein Fieber macht mir Sorgen.

„Vermutlich Sommergrippe, die geht grade rum“, meint Eckys Freundin Nicole. Ich hab sie zum meinem Schutzengel in Bezug auf Verletzungen und Krankheiten auserkoren. Klar ist sie keine Ärztin, aber als Krankenschwester weiß sie genügend, beschließe ich. Wir sollen einen Arzt rufen – einen Echten, betont sie – wenn Jans Fieber über 40 Grad steigt.

Jan schläft wie ein Stein und ich gebe in einer Apotheke viel zu viel Geld für ein Thermometer aus, aber ich will echt kein Risiko eingehen. Mit einem Grinsen halte ich es ihm hin, als er endlich aufwacht. „Dit muss in deinen Hintern.“

Sofort ist er sehr viel wacher. „In deinen Träumen, Felsenheimer.“ Er versucht eine Augenbraue hochzuziehen, aber es wird nur eine schmerzverzehrte Grimasse. „Kopfweh.“

„Nee. Ernsthaft. Da kriegste dit klarste Ergebnis, hat meine Mutter immer gesacht.“

„Maaann. ... Ja, okay, hat meine och gemacht.“ Er zieht sich umständlich unter der Decke die Hose runter.

„Soll ick dir helfen?“ Ich lasse es fürsorglich klingen, kann mir aber das Grinsen nicht verkneifen. Okay, ich genieße die Situation defintiv etwas zu viel.

„Untersteh dich.“

„Würd mir nüscht ausmachen.“

Er sieht mich skeptisch an.

„Wirklich!“ Jan ist viel zu verspannt, wenn es um sowas geht.

„Bin schon fertig“, grummelt er. „Zufrieden?“

Ich nick, kann mir ein weiteres Grinsen nicht verkneifen. „Drei Minuten drinlassen.“ Ich seh auf die Uhr, warte. Er sieht überall hin, nur nicht zu mir. Ich wünschte, ich könnte etwas tun, dass er sich wohler fühlt. „Okay, kannst es wieder rausnehmen.“ Ich halt ihm auffordernd die Hand hin.

„Dit mach ick selber.“

„Hey, Jan. Jetz ma ehrlich. Ick find dit echt nich schlimm. Ick hab da schon janz andre Sachen gemacht, die mit Poperzen zu tun haben. Findeste dit echt so eklig?“ Oje, wenn er jetzt ja sagt, dann kann ich mir manche Fantasien in Bezug auf ihn und mich wohl abschminken.

„Is etwas gewöhnungsbedürftig“, bringt er schließlich raus und seine Wangen werden unter dem Fieber noch etwas röter.

Na, das lässt doch noch Spielraum für ein paar glitzernde Funken Hoffnung.

 

 

 


*


Jörg ist so lieb uns seinen VHS-Rekorder und ein paar seiner wenigen Nicht-Horror-VHS-Kassetten vorbei zu bringen. Eine davon ist Blade Runner. Den wollte ich schon ewig sehen. Rein kommen will er wegen der Ansteckungsgefahr allerdings nicht.

Natürlich hab ich diese komplett unterschätzt und zwei Tage später bin ich total matschig, hab allerdings kein Fieber. Immerhin geht es bei Jan langsam wieder bergauf. Er hat geduscht, mein Bett neu bezogen und Wäsche gewaschen.

Uta ist so lieb und bringt uns ein Tüte mit „viel Vitaminen“ vorbei und Hühnersuppe für mich, da Jan ja kein Fleisch mehr ist.

„Deine Mutter ist echt super.“

„Ja. ... Kann sie sein.“ Der ganze zutrauliche Jan scheint wieder hinter einer Mauer zu verschwinden und ich kann seinen Gesichtsausdruck nicht deuten. „Ick mach ma den Abwasch.“

„Äh, ... cool. Danke.“

„Na, klar. Du hast soviel gemacht die letzten Tage. Echt. Danke nochmal.“

„Für dich würd ick doch immer die heiße Krankenschwester spielen.“

„Ach, deswegen ...“ Sein Grinsen ist wieder breit und weiß und frisch.

Ein paar Minuten später klingelt das Telefon im Flur.

„Jan Vetter?“

„...“

„Äh, ja, okay.“

Er erscheint mit dem Telefonhörer im Türrahmen. „Is für dich, Bela. Eine Manu.“

Scheiße. So schnell ich in meinem Zustand kann, quäl ich mich aus dem Bett. Jan drückt mir den Hörer in die Hand.

„Hallo?“

„Sag mal, es wird wohl Zeit, dass ich dir mal wieder Respekt einbläue.“

Fuck. „Äh, ja. Tut mir echt leid. Ich hab die Grippe.“ Ich lass meine Stimme besonders kratzig und kläglich klingen.

„Und da kann man nicht mal absagen, oder was? Das ist echt das letzte, das allerletzte Mal, das ich mich von dir so versetzen lasse. Ich erwarte ab jetzt, dass du dich wieder regelmässig bei mir an – und abmeldest. Wenn du das nicht hinbekommst, dann kannst du dir eine andere Mistress suchen.“

Jan steht mit tropfender Abwaschbürste in der Küche und sieht mit zusammen gezogenen Augenbrauen zu mir hinüber. Ihre Stimme trägt definitiv sehr erfolgreich durch den Flur. Ein längeres Kabel für das Telefon wäre grad sehr hilfreich.

„Mhm.“

„Hast du das verstanden? Ich will eine klare Antwort.“

„Ja. Ich hab verstanden.“

„Sag mal, hast du echt alles verlernt? Das heißt „Ich habe verstanden, Mistress Manu!“

Ich drehe mich zur Seite und lege eine Hand um den Hörer. „Ick kann grad nicht so jut sprechen, aber ick hab verstanden, Mistress Manu!“, flüster ich.

„In Ordnung. Ich erwarte dich nächsten Donnerstag um Punkt 18 Uhr bei mir.“

„Verstanden, Mistress!“

„Gute Besserung, Bela, und bis dann.“

Ich leg auf. Ein Riesenseufzer liegt in meiner Kehle, aber ich will den nich entkommen lassen.

„Die klang, als wär sie deine Chefin.“ Jan sieht mich mit immer noch gerunzelter Stirn an.

Ich sollte es ihm vermutlich erklären, aber ich bin noch viel zu aufgewühlt von dem unerwarteten Anruf und mein Kopf wummert böse. Muss ich es ihm erklären? Wahrscheinlich, denn ich hab definitiv vor, dass mit Manu nicht zu verbocken. Mit ihr erlebe ich Dinge, die mir bisher kein anderer Mensch so geben konnte.

„Ja ... Sowas in der Art.“

„Aha.“ Jans Blick verweilt noch einen langen Moment auf mir, dann dreht er sich um und wäscht weiter ab.


21. Mai - Niebuhrstraße 38b

Ich sehe zu Bela ins Zimmer. „Und? Könn wa los zum Proben?“ Endlich sind wir beide wieder fit. Es war echt seltsam das Fieber. Eigentlich mag ich es gar nicht so hilflos und ausgeliefert zu sein, aber mit Bela ... Irgendwie war es gut, angenehm, vertraut.

„Jep. Hey, lass uns heut die Fahrräder nehmen. Dit is draußen viel zu schön für die dunkle U-Bahn.“

„Und das von dir?“

„Jetzt guck nich so geschockt. Wann hat es denn ma 26 Grad im Mai gehabt? Dit müssen wa ausnutzen nach dem janzen Regen. Außerdem ...“ Bela baut sich vor mir auf und lässt seine Bizeps spielen. „Ick bin sehr wohl sportlich. Glaubste die Bullen nehmen jeden?“

Seine Muskeln haben wohl eher was mit dem Schlagzeug spielen zu tun, aber egal. Sehen ja auch wirklich gut aus. Ich mag das Sehnige, Drahtige an Bela und irgendwie auch, dass er so dünn ist, dass ich ihn ohne Probleme einfach hochheben könnte. Aber viel dünner sollte er allerdings echt nicht werden. Vielleicht koche ich einfach mehr in den nächsten Tagen.

Ich knalle vor ihm die Haken zusammen und salutiere. „Dit hat ick schon wieder vergessen, Herr Oberwachtmeister.“

 

 

 


*

Die Probe verläuft ganz okay.

Hans hat tatsächlich ein neues Lied geschrieben mit einem seltsamen, aber perfekten Titel für unsere Combo: „Kamelralley“. Immerhin haben wir damit für unseren Gig in Bremen ein Lied, das wir dort uraufführen.

„So, Feierabend!“, sagt er um 21 Uhr. „Ich muss morgen wieder an die Uni.“

Bela und ich sehen uns an. Eigentlich wollten wir noch mal die Setlist für Bremen durchgehen, aber das können wir ja auch noch auf der stundenlangen Fahrt dorthin machen. Ich zucke mit den Schultern und Bela nickt.

In der Dämmerung fahren wir auf den Rädern wieder zurück Richtung Westen. Ein Rest Sonnenuntergang schimmert noch über die Hausdächer und in den Straßenschluchten.

Die Nacht ist lau und es war echt eine gute Idee von Bela mit den Rädern, auch wenn meine Gitarre schwer auf meinem Rücken hängt. Die Straßen sind ruhig und wir fahren nebeneinander her. Die milde Luft ist durchtränkt vom Duft der blühenden Linden. Es erinnert mich an Sommer und gleichzeitig an Winter und Erkältungstee. Davon hatte ich in den letzten Tag mehr als genug.

„Is schön mit dir unterwegs zu sein.“ Bela grinst zu mir rüber, lässt den Lenker los und breitet die Arme aus. Der Fahrtwind streicht seine immer länger werdenden Haare zurück. „Voll geil, dass es noch so lang hell is.“

„Ich dachte, Sie bevorzugen die Nacht, Herr Graf?“

„Wenn ick mich entscheiden müsste, dann ja. Aber lange Sommerabende haben och wat für sich.“ Plötzlich bremst Bela mitten auf der Straße ab und starrt den Berg des Viktoriaparks hinauf. „Häh? Was `n das?“

„Na, der Wasserfall.“

„Du sachst dit, alles wär et normal mitten in Berlin.“

„Kennste den echt nich? Du bist doch oft hier in der Ecke.“

„Na, halt im  Risiko. Nachts. Oder früh morgens.“

„Nachts müssteste de es noch geiler finden. Hier gibt’s Fledermäuse.“

„Echt jetzt? Cool. Die will ich sehen.“ Bela steigt ab und schiebt sein Rad hinüber an den Rand des kleinen Sees am Fuße des Wasserfalls. „Okay, dann lassen Se uns ma diesen Viertausender besteigen, Reinhold.“

„Schau da!"

„Was da?"

„Da is eine von deinen Fledermäusen." Sie fangen wohl über dem Tümpel Insekten.

„Aaawww." Bela verfolgt mit hingebungsvollem Blick das Geflatter und den dann wieder eleganten Flug des schwarzen kleinen Tieres.

Nach ein paar Minuten Fledermausflugobservation, in denen Bela sehr entzückte Laute von sich gibt, was ich wiederum sehr putzig finde, schließen wir unsere Räder an und stapfen auf den kleinen Wegen durch den dunklen Park. Der fröhlich vor sich hin sprudelnde Wasserfall begleitet akkustisch unseren Aufstieg.

Oben auf dem Berg befindet sich ein großes Denkmal und die Aussicht über Berlin ist einfach phänomenal. Unter uns rauschen die Bäume des Viktoriaparks, aber hier oben kann man ganz Berlin sehen. Ganz Berlin.

Links von uns leuchtet die angestrahlte Goldelse und der Funkturm und vor der letzten Dämmerung zeichnen sich in der Ferne die Türme des Teufelsbergs als Silhouetten ab.

Rechts von uns im Osten ragt die Discokugel des Fernsehturms auf. Ich mag die, auch wenn ich irgendwie nicht wirklich einen direkten Bezug zu ihr habe. Dennoch gehört sie zu meinem Berlin-Panorama – nicht so wie Ost-Berlin an sich.

Vor ein paar Tagen habe ich mit Julia „Die unendliche Geschichte“ im Kino gesehen. Sie ist jetzt der totale Atreju-Überfan, aber auch ich war auch echt umgeworfen von der Geschichte und der Darstellung. Besonders beeindruckt war ich von der Idee und der Darstellung des Nichts.

Und gerade hab ich genau dieses surreale Gefühl, wenn ich im Osten die Lichter blinken sehe. Es ist als würde ich ins Nichts blicken. Es existiert, aber gleichzeitig ist es fern und fremd und gefühlt unbetretbar.

Bela scheint ähnliche Gedanken zu haben. „Krass, oder, dass Campi und die Hosen dort drüben ein Konzert in einer Kirche gespielt ham. Dit is für mich wie ... Niemandsland – dabei könnten wa ja locker rüber fahren“

„Mhm.“ Im Gegensatz zu Campino und seinen Kumpanen kann ich es mir ganz schwer vorstellen rüber in den Osten zu machen, obwohl doch ich der Ur-Berliner bin, der in der geteilten Stadt aufgewachsen ist. „Schon echt krass, dass die dit so einjefädelt haben.“ Ich bin echt ein bisschen neidisch, dass der schicke Engländer das mit den Hosen organisiert hat.

Bela lehnt sich gegen den eisernen Zaun, der das Denkmal hinter uns umgibt. „Fandste dit eigentlich schlimm damals auf`m Dampfer, dass der Typ uns so gesehen hat? Und Campi hat wohl auch kapiert, dass wa ...“

Wir sehen uns im Halbdunkel an. Bela scheint kein Wort zu finden. Nicht mal er, der sonst kein Problem hat alles beim Namen zu nennen.

Aber ich kann es gut nachvollziehen. Ich hab auch keins für – uns.

Ein Leuchten am dunklen Himmel. Über uns flitzt eine langezogene Sternschnuppe entlang. „Oh, wow. Jan, wir könn uns wat wünschen ...“ Ein zufriedenes Lächeln breitet sich auf Belas Gesicht aus, dann grinst er. „Ick glaub, mein Wunsch lässt sich sofort erfüllen.“

„Aha?“

„Also ... wenn du dabei bist.“ Sein Grinsen wird noch breiter, als er sich zu mir hinüber beugt. Seine Augen leuchten in den letzten Resten der Dämmerung. Sein Blick auf mir ist sanft und hungrig zugleich, beschwört unseren Kuss auf dem Dampfer wieder hoch.

Ich sehe mich vorsichtig um. Wir sind nicht allein. Das romantische Plätzchen hat noch andere Leute angezogen, darunter viele Pärchen – ein Mann und eine Frau.

„Komm.“ Von mir selbst und meiner Initiative überrascht, nehme ich seine Hand und ziehe ihn die große Treppe hinunter, den Weg entlang, dann durch ein niedriges Gebüsch und ein paar Farne direkt an den kleinen Wasserfall.

Wir setzen uns nebeneinander auf ein paar der großen Felsbrocken, die der Wolfsschlucht authentisches Flair geben und lassen die Beine über dem wild den Berg hinunter tobenden Wasser baumeln. Es rauscht wirklich wie bei einem Gebirgsbach.

Ich drehe mein Gesicht zur Seite, zu Bela. Ein silbernes Schimmern in meinem Augenwinkel. „Schau mal.“ Ich deute auf die Baumwipfel hinter uns. Ein paar Strahlen fallen durch das Dickicht in unser kleines Versteck.

„Oh, der Mond. Wirklich sehr romantisch, Herr Urlaub. Ham Se dit allet so arrangiert für uns?“ Bela rückt ein Stück näher an mich heran und es zieht durch mich, durch jede Faser. Die Härchen an meinen Armen stellen sich auf. Der Moment ist so verzaubert und herausgefallen aus unserem Alltag und ich spür Belas Nähe so intensiv, dass es mir Angst macht.

„Selbstverständlich, Mister Heartbreaker. Für Sie nur dit Beste.“ Halb um mit Humor gegen meine Ergriffenheit zu arbeiten, halb weil es tatsächlich ausdrückt wie ich mich gerade fühle hier mit ihm, beginne ich eine kleine Melodie zu summen.

„Fränkie-Boy, der olle Mobster.“ Bela lacht, wird dann wieder ernst. „Würden Se mir dann vielleicht noch `nen weiteren Gefallen tun, Mr. Drifter?“

„Aber selbstverständlich.“

Bela sieht mich lange an. Sein Gesicht leuchtet in den schwachen Strahlen des Mondes. Sogar seine Augen leuchten hell umrandet vom dunklen Kajal. Er sieht nun wirklich aus wie ein Geschöpf der Nacht. Ich versinke in seinen Anblick, nehme ihn, seine Präsenz, so anders war als sonst in den Kneipen Berlins oder im Proberaum oder in der Niebuhrstraße.

Im Schutz der niedrigen Bäume, die den Wasserfall einsäumen, fühle ich mich wie in einem Versteck, wie außerhalb der Welt, als wäre die gar nicht real. Bela und ich sind die einzigen Planeten im Universum, die umeinander kreisen.

Sein Blick ist so ernst, wird noch intensiver. „Küss mich.“

Das Lied läuft in meinem Kopf weiter. Ich nehme sein Gesicht zwischen meine Hände.

Ich habe Angst das Gefühl, das als „Ich liebe dich“ auf meinen Lippen liegt, so klar und offen in den Kuss zu legen, aber Bela scheint es trotzdem zu spüren. Es ist nur ein einziger Kuss, ruhig und ungewohnt zart, aber er erschüttert mich mehr als alles, was wir bisher gemacht haben. In mir verschieben sich tektonische Platten.

Als würde er den Aufruhr in mir bemerken, legt Bela einfach nur behutsam seinen Kopf an meine Schulter. Noch nie hab ich mir erlaubt mich einem Menschen ohne wenn und aber so nah zu fühlen. Es tut weh.

Er fragt nicht, warum ich weine. Er wischt einfach nur meine Tränen weg und küsst mich auf die Stirn. Auch auf seinen Lippen scheint ein „Ich liebe dich“ zu liegen.



1. Juni - Prinzenbad, Kreuzberg

Es riecht nach Sonnencreme, Chlor und Pommesfett. Die unerwartete Hitzewelle hält an und alle strömen in die Freibäder. Farin und ich haben uns ins hinterste Eck des Prinzenbad zurück gezogen. Es ist trotzdem tierisch voll.

Ich liege unter einem Baum im Schatten, denn ich lass mit Sicherheit meine zarte blasse Haut nicht von der bösen Sonne verbrutzeln. Um mich herum brüllen die Kreuzberger Gören und ich summe die Melodie von „Kleine Kinder schmecken gut“.

Farin hat sich natürlich mitten in die Sonne geknallt und seine Nase mal wieder in einem fetten Wälzer vergraben. Es sind zwei Schlangen darauf zu sehen, die einander in den Schwanz beißen. „Die unendliche Geschichte" steht darüber. Na toll. Dann kommt er wohl nie wieder aus dem Buch zurück. Oje.

Er ist schon knallbraun – so wie damals, als wir uns zum ersten Mal gesehen haben. Seine blonden Haare glänzen wie ein reifes Kornfeld und leuchten im Kontrast zu seiner braunen Haut heute besonders schön in der Sonne.

Die ersten Stunden hab ich hier einfach nur gepennt, weil es gestern doch wieder viel zu spät war. Farin hat mich mit seiner unerträglich guten Laune mehr oder weniger handgreiflich aus dem Bett ins Freibad geschleppt. Um 11 Uhr.

„Das wird lustig“, meinte er. Er wolle mit mir ein wenig den Sommer genießen.

Mhm. Super. Das, dass auch noch um 16 Uhr gut geht, hat er nicht gelten lassen. Jetzt ist es 16 Uhr, ich bin endlich ausgeschlafen und – mir ist langweilig.

Ich sehe aus dem Schatten hinüber zu Farin. Seine knappe rote Badehose strahlt sehr einladend zu mir hinüber. Ich bin mir sicher, er hat sie mit Absicht angezogen, denn sie – sagen wir mal, sie präsentiert ihn in recht gutem Licht, zeigt mehr, als sie verbirgt. Mein Blick bleibt genau daran hängen.

Ich beginn kleine Dinger von dem Baum, unter dem ich lieg, zu ihm hinüber zu werfen. Das fünfte Teil trifft in voll an der Stirn. Irritiert sieht er sich um. Ich schließ schnell wieder die Augen, muss aber grinsen.

„Na? Ausgeschlafen, Schneewittchen?“

„Ick acht halt im Gegensatz zu dir auf `nen makellosen Teint.“ Allerdings bemerk ich, als ich so an mir hinunter seh, dass auch jede einzelne meiner Rippen unter meiner blütenrein weißen Haut heraus sticht. Hat auch eine gewisse Ästhetik, oder?

Andererseits ist Farin auch nicht sehr viel breiter gebaut, ist ähnlich dünn trotz seiner Größe. Er vergisst allerdings weniger oft das Essen wie ich in meinen Feierexzessen und hat ohne den Drogennebel öfter Hunger.

Jetzt gerade hab ich auch Hunger. Allerdings nicht auf Essen. Farin scheint meinen leicht gierigen Blick zu bemerken.

Er zückt eine Augenbraue. „Der Herr scheint eine Abkühlung zu benötigen.“ Er legt sein Buch zur Seite und rollt sich In einer eleganten Bewegung hoch. In mir spannen sich alle Muskeln an, als er wie ein Raubtier auf mich zu schleicht, lauernd auf mich hinunter blickt.

Ich werd mir wieder bewußt, was ich für ein schmales Hemd bin, will mich irgendwo festhalten, um zumindest den Hauch einer Chance zu haben, aber da ist nichts. Neben uns liegt eine Clique von Mädels, wohl so 14-15 Jahre alt und es ist mir vor denen ein bisschen peinlich, dass ich Farin gleich so gar nichts entgegen zu setzen haben werde.

Um nicht ganz kampflos zu sein, heb ich ebenfalls herausfordernd eine Augenbraue. Sein Blick wird für einen Moment härter, dann spöttischer. Herausforderung angenommen.

Als er mit seinen Pranken nach mir greift, wirbel ich zur Seite weg und spring wie ein junges Reh über die Handtücher auf der Wiese, schlag Haken um die, mit Leuten drauf. Hinter mir höre ich Farin grollen.

Eine Hand auf meiner Schulter zieht mich mitten in meinem Sprint von den Beinen. Heiße, nackte Haut auf meiner. Wir kugeln als ein Knäuel aus Armen und Beinen weiter über das Gras, direkt vor die Füße eines älteren Herren mit einem Eis in der Hand.

„Aber, aber, Jungs. Das ist doch kein Benehmen.“

WIr rappeln uns beide hoch und spielen ein bisschen betretenes Köpfe senken. Kaum hat der Alte uns den Rücken zudreht, packt mich Farin und wirft mich über seine Schulter, als würde ich gar nichts wiegen. Ich stoß einen peinlichen Quietscher aus und spür wie seine Schulter unter meinem Bauch vibriert vor Lachen. Arsch. Ich hatte echt nicht gedacht, dass er das schafft.

Ich komm mir fast ein bisschen klein vor, obwohl ich auch fast 1,80 bin. Aber neben Farin wirk ich immer viel kleiner als ich eigentlich bin und – irgendwie mag ich das. 

Dennoch trommel ich auf seinen Rücken. „Lass mich runter, du Wichser!“ Keine Antwort, das Lachen wird noch stärker. Dann werd ich auf einmal doch hinunter gelassen oder vielmehr geworfen. In Erwartung, dass gleich kaltes Wasser über mir zusammen schlägt, krampf ich mich zusammen, doch das Wasser ist unerwartet warm - und sehr seicht. Ich öffne die Augen. Um mich herum nur kleine Kinder und Mütter, die mich wütend anstarren.

So würdevoll wie möglich erheb ich mich aus dem Kinder-Planschbecken. Farin hat sich hinter einem Baum versteckt, aber sein lautes Lachen verrät ihn. „Du bist echt so ekelhaft, Vetter! Mitten in die vollgepisste Brühe.“

Die Blicke der Mütter werden noch finsterer.

„Du-hu ...“ Langsam kommt er wieder hinter dem Baum vor, aber er kann vor lauter Lachen nicht sprechen und ich sehe nur viele große Zähne. „Du fandst - dit andere - doch immer - zu kalt.“

Ich pack ihn am Arm, aber meine Hände sind nass und glitschig und er entkommt, sprintet davon, flüchtet sich vor mir auf den Sprungturm. Ich hass diesen Scheiß-Machoturm. Er läuft auch nur hinauf zum Einer, das gerade frei ist, federt einmal auf dem Brett. Alle Muskeln in seinem Oberkörper spannen sich an, einen Moment schwebt er waagrecht in der Luft, dann taucht er mit einem gekonnten Kopfsprung ins Wasser und ist weg.

Prustend erscheint er nach ein paar Sekunden wieder vor mir am Beckenrand. Tropfen perlen über sein Gesicht, nur seine Haare scheinen wasserabweisend zu sein und stehen weiterhin unbeeindruckt von seinem Kopf ab, leuchten weizenblond gegen das türkise Wasser hinter ihm.

Er hält mir die Hand hin und in meiner Verzauberung fall ich auf den wirklich ältesten Freibadtrick der Welt hinein – im wahrsten Sinne des Wortes. Kalt. Dieses Mal ist das Wasser wirklich kalt. Aber immerhin spült es die Ekelsuppe von vorhin weg. Ich öffne unter Wasser die Augen, sehe rot. Also wirklich. Als Rache ziehe ich an Farins schicker roter Badehose. Mhmm, viel weiße Haut. Darunter ist er gar nicht mehr so braun. Ich muss grinsen, aber vor allem brauch ich Luft..  

Zum Glück ist Farin mit seiner Hose beschäftigt, so dass ich wenigstens eine Chance habe Luft zu holen, bevor ich schon wieder hinunter gedrückt werde. Gegen diesen Lulatsch hielft nur unfair kämpfen und so fange ich an ihn zu kitzeln, die einzig hilfreiche Taktik. Im nächsten Moment windet er sich ganz wunderbar. Sein Kichern ist allerdings so ansteckend, dass es mich mitzieht.

Ein paar Minuten später hängen wir beide keuchend am Beckenrand, er schnappt sogar noch ein wenig mehr nach Luft als ich. „F-Friede?“ Er hält mir seine Hand hin.

Ich schlag ein und zieh mich an ihn. Mein Oberschenkel landet zwischen seinen und seine Augen werden groß. Einen Moment später sogar noch größer.

„Hey, Bela, Farin! Was macht ihr denn hier?“ Jörg blickt auf uns beide hinunter.

Schnell löst sich Farin von mir. Das ist vielleicht schlau und auch verständlich, aber es sticht trotzdem fies.

„Na, wat wohl? Skifahren!“ Gut, dass der Große trotzdem gerade so schlagfertig ist. Ich schweb schon viel zu sehr in anderen Sphären.

„Cool euch zu sehen, aber ick hab leider gar keene Zeit. Hab `n Date“, erklärt er fast schüchtern, aber dann stiehlt sich ein Lächeln auf sein Gesicht. Es ist breit, aber weniger breit als Farins, obwohl er einen ähnlich großen Mund hat.

„Schön für dich.“

Jörg wirkt fast ein wenig verliebt und ich wüßte echt gerne, wer die Glückliche ist. „Wir sehen uns am Samstag vor dem ICC, nee?“

„Was?“

„Och, nee. Felse, haste dit jetz echt schon wieder vergessen?“

„Nee, nee. Natürlich nich. Bis Samstag. Und allet Jute für dein Date, ne!“

Er hat wieder dieses fast schon druffe Lächeln auf den Lippen. Ach ja, die Liebe.

Als Jörg auf Freiersfüßen davon getänzelt ist, zieh ich mich aus dem Wasser. „Brrr. Kalt.“

Farin steht tropfnass neben mir. „Komm.“ Für einen Moment sieht es so aus, als wollte er nach meiner Hand greifen, dann lässt er sie wieder sinken, fast bedauernd, aber schon ist der Moment wieder vorbei. Ein Glitzern füllt seine Augen. „Wer zuerst wieder am Platz ist.“

„Unfaiiir! Mit deene lange Beene ...“

Vollkommen außer Atem komme ich viel später als er wieder bei unserem Platz an. „Brrrr. Erstmal wieder trocken werden.“ Ich zieh mein Handtuch aus dem tiefen Schatten in die knallige Sonne und lass mich neben Farin fallen. Oh, das tut gut. Nicht nur die Sonne.

Farin streckt sich, ich würde sogar das Wort räkeln benutzen, neben mir. Dann schnappt sich der Langweiler wieder seinen Wälzer. Ich mir seinen Walkman.

 


Ich bin so allein
Ich will bei dir sein
Ich seh‘ deine Hand
Hab‘ sie gleich erkannt
Mein Kopf tut weh, mach die Augen zu
Ich lieg‘ im grünen Gras und erzähl‘ mir was


„Dit hörst du?“

Farin wirkt fast ein wenig ertappt, dann defensiv. Immerhin legt er endlich das Buch weg. „Wieso denn nich? Du magst die doch och.“

„Stimmt.“ Ich trommel im Takt zum Lied in die Luft. Farin schmunzelt. Ich montier einen Hörer ab und halt ihm den hin, dreh mich zu ihm hinüber und sing theatralisch in ein imaginäres Mikro. Die Mädchen neben uns sehen zu mir hinüber und kichern hinter vorgehaltenen Händen.

 


Ich hab‘ heute nichts versäumt
Denn ich hab‘ nur von dir geträumt
Wir haben uns lang nicht mehr gesehen
Ich werd‘ mal zu dir rüber gehen


Bei der letzten Zeile rutsch ich neben Farin auf sein Handtuch und beug mich ein Stück über ihn, seh ihm direkt in die Augen.

 


Alles, was ich an dir mag
Ich mein das so, wie ich es sag


Ich halt während ich sing die ganze Zeit Blickkontakt und auch er sieht nich weg.

 


Ich bin total verwirrt
Ich werd‘ verrückt, wenn’s heut passiert


Als das Lied vorüber ist, lass ich mich erschöpft neben ihn fallen. Wow. Nena hat echt Energie. Ich bin sogar ein kleines bisschen außer Atem.

Ganz vorsichtig taste ich nach Farins Hand. Seine Finger zucken in meinen, dann streicht er vorsichtig über meine Handinnenfläche, malt kleine Muster hinein. Es kitzelt und blitzt durch mich, dann fasst er meine Hand, verschränkt seine langen Finger mit meinen.

Ich komm mir fast ein bisschen klein vor, obwohl ich auch fast 1,80 bin. Aber neben Farin wirk ich immer viel kleiner als ich eigentlich bin und – irgendwie mag ich das.

Wir liegen beide auf dem Rücken und blicken in den blauen Himmel, an dem weiße Wolkenschiffe schweben. Auf einem Ohr läuft die übliche Freibad-Soundcollage, auf dem anderen singt Nena von vielen, vielen Luftballons.

„Schau mal!“ Ich deute auf eine Wolke am Horizont. „Spinn ick oder sieht die aus wie `n ....?“

„... Fragezeichen? Äh, ja.“ Farin blickt nun auch intensiver in das Blau über uns. „Und da ... Schau mal. Eine Wal-Wolke.“

„Welche?“

„Na, die dicke, bauchige mit der Flosse hinten dran.“

„Haha. ... Oh, echt. Krass!“

Wir starren weiter in den blauen Sommerhimmel. Überall tauchen nun Formen und Figuren auf. Es ist fast wie auf Trip.

Auf einmal fängt Farin an zu lachen. „Also, die is och recht eindeutig, wa?“

„Welche?“

„Na, die da.“

„Ick seh die nich.“ Farins Haare stehen immer noch trotz des Wassers und kitzeln mich an der Wange.

„Seltsam, dass dir sowas entgeht.“

Er dreht den Kopf und rückt ein Stück näher an mich heran. Mhmm. Sehr angenehm. Er riecht nach Chlor und Sonnencreme und Schweiß deutet auf eine Wolke.

„Oh. Ick hab die ganze Zeit nach `nem Tier jesucht. Ick wusst ja nich, dass du Wolkenpornos herbei fantasierst.“

„Ach, komm. Nur weil ick eenmal ...“

Eigentlich hätt ich gerne weiter meine Rolle gespielt, aber jetzt muss ich doch lachen. „Okay. Mit sehr viel Vorstellungskraft. ... Da. Schau mal. Ick hab im Gegensatz zu dir, du Sexmonster, wat viel romantischeres gefunden.“

„So, so.“

„Ja, kiek ma.“

„Hmmm. Schön.“

Ich verlier mich im Himmel und Jan neben mir. „Danke, dass de mich hierher geschleppt hast.“

„Mhmm.“ Er klingt, als wär er kurz vor`m Einschlafen.

Ein paar Minuten später dreht er sich zu mir hinüber. Ich bin mir unsicher, ob er wirklich weggepennt ist. Aber würd er das machen, wenn er wach wär? Sein Gesicht liegt nun ganz nah an meinem. Wenn ich meinen Kopf drehen würde, könnt ich ihn küssen. Und das mach ich, aber nur ganz leicht auf die Stirn. Er murmelt etwas. Anscheinend schläft er wirklich.

Er dreht sich noch ein Stück, schiebt sich näher an mich heran. Sein Knie liegt jetzt auf meinem Oberschenkel. Warm. Heiß. Sehr heiß. Ich bin froh, dass ich eine etwas weiter geschnittene Badeshort trag.

Wenn er das doch auch einfach so öfter machen würde. Ich bleib wie in Trance ganz still liegen. Seine Nähe rauscht durch mich – fast wie eines meiner geliebten Mittelchen, die die Nächte noch zauberhafter machen.

Eigentlich sollt ich aus der Sonne. Die verbruzelt nicht nur meine Haut, sondern auch meinen Kopf unter den schwarzen Haaren. Aber ich kann das magnetische Umfeld um Farin nicht verlassen.

Ich versinke in seinem Anblick, will über seine braune Haut fahren, über die blonden Härchen an seinem Arm, die Muskeln, die sich darunter abzeichnen. Ich merk, dass mich seine Nähe, sein Geruch nun echt geil macht, drehe mich zur Seite, zu ihm, um meinen Ständer vor dem interessierten Freibad-Publikum zu verbergen. Außerdem rieche ich ihn so besser. Sein Schweiß. Lecker. Er riecht einfach so verdammt gut ....

Ein paar Minuten später zerreißt lautes Gebrüll die sommerliche Atmosphäre. Ein Typ brüllt seine Freundin lauthals an. Was für ein Arschloch! Die Adern an seinem Hals stehen hervor. Ich check die Lage, ob die Dame vielleicht Hilfe braucht gegen diesen ekelhaften Macker, aber die scheint schon eine Strategie zu haben.

„Fick dich doch einfach selbst, Dieter.“ Sie sagt es recht ruhig, aber untermalt es mit dem Mittelfinger. „Ich hab echt keinen Bock mehr auf deine scheiß cholerischen Anfälle. Das war`s.“ Sie packt ihre Sachen zusammen und geht.

Die Mädels neben uns sehen sehr beeindruckt aus und wirken fast so, als wollten sie applaudieren.

Farin zuckt an meiner Seite zusammen. „Mrrmmm...“ Er schlägt die Augen auf, aber scheint einen Moment zu brauchen, um sich zu orientieren. „Oh. ....“ Er hat wohl bemerkt, wie zusammengekuschelt wir liegen - und schon rollt er von mir weg, murmelt „Tschuldige.“

„Oooch, Jan. Dit einzije wofür du dich entschuldigen kannst, is, dass de dit nich öfter machst.“

Er stutzt. „Was ... Wie meinst`n das?“ Er klingt immer noch ziemlich verpennt.

„Ick mag dit. Na, dass de mal `n bisschen anhänglicher bist.“

Ein Grinsen schleicht auf sein Gesicht. „Dit sieht man.“

„Na, du musst reden.“ Ich deute auf seine Badehose. Er sieht an sich runter, seine Wangen werden fast so rot wie seine Speedo. Anscheinend hatte er seinen eigenen Ständer noch nich bemerkt gehabt.

„Oooh.“ Er dreht sich schnell auf den Bauch. „Mann, hey! Dit is die Sonne."

„Ach? Ick wußt gar nich, dass ick Sonne heiße."

„Blödmann." Er stützt sein Gesicht in die Hände. "Hrmm. Manchma nervt dit och echt."

„Find ick ja nich. Und – damit musste dich echt nich verstecken.“

„Klar, weil ick unbedingt als Exhibitionist von den Bullen aus dem Freibad geführt werden will.“

„Ick find dit sieht ziemlich .... lecker aus.“

„Scheinst ja genau genuch hingesehen zu haben, um dit zu wissen:“

„Öhm ... Ehrlich gesagt, ja. Und ick hab och `ne Idee wie wir unser beider Problem beheben könnten.“ Ich lass meine Finger auf seinem Oberschenkel langsam nach oben wandern.

„Und ... wat schwebt dir da so vor?“

Er klingt nich abgeneigt. Heureka.

Ich steh auf und halt ihm meine Hand hin.

„Vielleicht sollten wa uns dezent Handtücher über hängen, damit nicht gleich die janze Damenwelt in Ohnmacht fällt, wenn se uns sieht“, schlägt Jan vor.

Ich führ ihn zu den Umkleiden im abgelegensten Eck des Prinzenbads und dräng mich hinter ihm in eine Kabine.

„Willste echt hier ....? Also, was willste denn ...?“

Ich lasse ihn nicht ausreden, dräng mich an ihn und küss ihn auf seinen Hals, wander über sein Schlüsselbein zu seiner Brust. Heiß und verschwitzt.

Sein leises zustimmendes Stöhnen feuert mich an. Ich leck über eine Brustwarze und beiß vorsichtig hinein. „Mhmmm.“ Sein Schweiß riecht nicht nur gut, sondern schmeckt einfach verboten.

Ich will ihn und zwar jetzt. Kein Umeinander herum Getänzel mehr. Ich streich mit meinen Fingern über seinen Bauch, über die Muskeln, die sich unter der braunen Haut abzeichnen. Warm von den Stunden in der Sonne. Meine Finger gleiten über seine Haut. So glatt, trotz des Schweißes.

„Du siehst heut echt zum Anbeißen un Ablecken aus.“

„Ähm, ... danke?"

Ein Streifen blonder Härchen weisen mir den direkten Weg von seinem Bauchnabel in diese verführerisch rote Badehose und das was sich darin noch verführerischer gerade sehr hart und willig abzeichnet.

Ich beug mich hinunter und leck tiefer. Seine Bauchmuskeln zittern unkontrolliert unter meiner Zunge. Sein Atem fegt schnell auf mich hinunter. Jeden Moment wird er „Stopp“ sagen. Ich folge dem Zucken tiefer, muss mich zusammenreißen nicht einfach meiner Begierde zu folgen. Ich seh zu ihm auf. „Kann ick dir einen blasen?“

„Woaha.“ Seine Augen sind riesig, als er auf mich hinunter sieht. Ob vor Schock oder Lust kann ich leider nicht entziffern.

„Ick würd echt gern.“ Wie kann ich ihn überreden? Ich kann meine Finger nicht von ihm lassen. Seine Haut ist glatt und jede kleine Berührung elektrisiert mich bis in die Fußspitzen. Mein persönliches, kleines Himmelreich ist so nah, fühlt sich zum ersten Mal erreichbar an. Ich muss schlucken, denn allein schon die Idee, was möglich wäre ...

„Ick find dit och nich direkt `ne schlechte Idee oder so ...“

„Aber ...?“

„Dit ... hat noch nie jemand bei mir ... Also, ...“

Jetzt bin vermutlich ich der mit großen Augen. Aber die Erkenntnis macht natürlich nichts besser und jetzt will ich es noch mehr.  

„Wir müssen nich ...“, stoß ich viel zu erregt hervor.

„Kannste mich einfach so ...“ Er greift nach meiner Hand und schiebt sie tiefer.

Ich gleite in seine Badehose. Ja.

Seine Reaktion ist unmittelbar. Ein tiefes, tiefes Stöhnen. Seine Hände tasten planlos nach etwas, an dem sie sich festhalten können, finden schließlich meine Haare. Gute Idee. Sehr gute Idee.

Er stöhnt verboten laut, scheint sich nicht mehr daran zu erinnern, wo wir sind. Ich halte ihm den Mund zu. Interessant, dass das ihn noch wilder macht. Er drängt sich mir entgegen, in meine Hand. Endlich scheint er die Kontrolle abzugeben, ist vollkommen verloren im Augenblick. Sein Stöhnen vibriert unter meinen Fingern durch mich.

Sein harter Schwanz fühlt sich so gut an in meiner Hand, als würde ein lang ersehntes Begehren in mir endlich Erfüllung finden. Ich bin auch geil, aber es ist einfach so verlockend zu zusehen, wie er sich mir hingibt.

Sein Stöhnen wird intensiver. Ich liebe seine Stimme, würd sie überall erkennen. Nur leider ist hier ein schlechter Ort dafür. Ich ersticke sein Stöhnen mit meinem Mund. Seine Hand in meinem Nacken. Er zieht mich näher an sich. Sein Mund ist wild und ungestüm. Er scheint zu mögen, was ich mache. Vielleicht hat er genauso lang darauf gewartet wie ich?

„Is okay?“

„Oh, f... Mehr als okay. Soll ick ... Kann ick dich auch anfassen?“

„Später.“ Ich will ihn mitbekommen. Jan auf Kontrollverlust scheint wirklich mein neues Gift zu sein.

Sein Stöhnen wird ncoh tiefer und schneller. Ich halte ihm wieder den Mund zu. Die Atemstöße gegen die Innenfläche meiner Hand werden stockender, dann hält er den Atem komplett an. Ich spüre, wie er kommt. Es rauscht so intensiv auch durch meine Synapsen, dass es mich fast mit hinüber zieht. 

Sein Kopf fällt zurück gegen die Wand der Kabine und er atmet heftig ein und aus. Langsam öffnet er die Augen. „Oh, fuck. ... Bela!“

Sein Mund ist auf meinem, seine Hand in meiner Short. Er findet nicht sofort den richtigen Rhythmus und ich leg meine Hand auf seine, zeig ihm, was ich mag. Ich würd es so gern hinauszögern, aber seine Finger ...

So lange hab ich darauf gewartet. Woher soll ich denn wissen, dass er für sowas ins Freibad muss?

Der Bademeister wirft uns einen misstrauischen Blick zu, als wir mit roten Wangen an ihm vorbei schleichen.  

Farin sieht sehnsüchtig hinüber zum Kiosk. „Ick will wat Süßes.“

„Hatteste doch schon.“

„Sehr kokett, mein Lieber.“ Er lächelt mich an und es ist so entspannt und warm, anders als sonst.

Wir stellen uns in die Schlange zwischen die ganzen tropfnassen Gören und dickbäuchigen Rentner mit Sonnenbrand.

„Und – wat darf`s sein?“, fragt die Frau hinter dem Kiosktresen mit dem typischen Berliner Charme.

„Zwei Zitroneneis.“

Ich schieb mir natürlich das Eis ganz in den Mund, zieh es dann ganz langsam und genüsslich wieder heraus, schieb es wieder hinein, sehe Farin dabei die ganze Zeit in die Augen und er kann nicht wegsehen. Gut so. Er soll ja schließlich wissen, was er verpasst hat.

„Ts, ts, ts.“

„Wat denn? Wie soll ick denn üben, wenn du mich nich ranlässt.“

„Mann, Bela!“

Ich schieb mir das Zitroneneis nochmal bis kurz vor Würgreiz in den Rachen. Ein Wunder, dass ich mich nicht daran verschluck, aber Jans Blick ist es so was von wert.


Als wir am Abend unsere Räder aufschließen, zieh ich mein Fazit des Tages. „Also, ick mag Freibad, aber nächstes Mal machen wir dit an `nem See.“

„Mit dit meinste ... alles? Okay.“ Er grinst mich an und küsst mich ganz schnell einmal auf den Mund.

 

 

 


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LYRICS

die ärzte - und es regnet

The Cramps - Queen of Pain

Frank Sinatra - Moon river

Nena - Nur geträumt

die ärzte - Zitroneneis



ADDITIONAL SONGS

die ärzte - Kamelralley
Lyrics




ADDITIONAL VIDEOS

Farin kuschelt mit Bela bei MTV Masters

Nena – Nur geträumt
Absolut kein Fan der aktuellen Nena, aber damit vielleicht verständlich wird, warum das mit „Ich will Nena heiraten“ wahrscheinlich nicht nur als Witz gemeint war. ;-)

die ärzte covern Nena - Nur geträumt

die ärzte - Zitroneneis - dada, 2022 Berlin-Clubtour



BERLIN SPECIAL

In Berlin und Brandenburg - Viktoriapark

Tip Berlin - Viktoriapark

Viktoriapark Wasserfall Video 1
Viktoriapark Wasserfall Video 2


Comic: Gleisdreieck – Berlin 1981 von Jörg Ulbert und Jörg Mailliet. Berlin Story Verlag,

Deutschlandfunkkultur - Interview

Bild

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Chapter 25: 1983 - Working Class

Chapter Text

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* Teenagers in Love *





Lieder und Bilder farbig unterlegt im Kapitel.
Weiterführende Links am Ende.



1983 - Working Class






1. Juni - Niebuhrstraße 38b, Charlottenburg  

Wir fallen zur Tür der WG rein. Ich muss mich kurz am Türrahmen festhalten, weil mir ein bisschen schwindelig ist.

„Allet klar, Bela?“

„Ähm, ja.“

„Du siehst ...“

„`n bisschen blass aus?“

„Nee. Eher dit Gegenteil. Ziemlich rot. Also – für deine Verhältnisse.“

„Wahrscheinlich zu viel Sonne heut. Dit is mein edler Marmorkörper nich gewohnt. Ick mein, dit war schon cool im Freibad - oder eher hot.“ Ich bedenk Farin mit einem langen Blick und nachdem er diesem kurz ausweicht, legt sich ein Schmunzeln auf seinen breiten Mund.

Mein Herzschlag beschleunigt sich, aber leider klopft der Puls nun auch stärker in meinem Schädel. „Hab `n bisschen Kopfweh.“

Mit einem Schritt steht er vor mir, legt seine Hand an meine Stirn. „Mhm. Vielleicht kalte Umschläge oder so. Nochmal krank sein muss ja grad echt nich sein, wa?“ Er geht ins Bad und macht ein Handtuch nass, wringt es aus und hält es mir entgegen.

Ich halt es mir an die Stirn. Mhm. Gut! „Auf keen Fall. Ick muss morgen auf`s Ramones-Konzert.“

„Oh. Ist das schon morgen? Ick ... hab gar keene Kohle für die Karte.“

Siedendheiß fällt mir ein, dass mir auch 20 Tacken fehlen, da ich gestern noch `n bisschen Stoff und tätsächlich sogar ein paar sogenannte Lebensmittel eingekauft hab. Noch eine Kopfwehwelle. Aber ich muss unbedingt, u-n-b-e-d-i-n-g-t auf dieses Konzert. „Meinste, wir könn morgen noch `n Job finden mit diesem Studi-Dings?“

„Jobbörse? Mhmmm, ja könnte klappen. Aber dann müssen wir da morgen um sechs Uhr auf der Matte stehen. Biste denn fit genuch für sowat?“

„Sechs?“ Mein Kopfweh pocht extrem begeistert auf. „Na, dann geh ick wohl gleich ma pennen, wa? Hoffentlich kann ick überhaupt schlafen. Dit bringt mein ganzen Biorhythmus durcheinander.“

Ich hör ein leicht sarkastisches Schnauben hinter meinem Rücken, dann legt sich eine Hand auf meine Schulter. Ich dreh mich um und hab auf einmal Jans lange Arme um mich geschlungen.

„Sorry.“ Er küsst mich auf meine heiße Stirn und lässt mich leider schon wieder los. „Schlaf gut.“

Mhm. Ungewohnt. Und schön. Vielleicht wäre sogar heut ausnahmsweise hier in der WG noch mehr gegangen mit ihm ... Aber leider fühl ich mich sehr unpässlich und mein pochender Schädel will grad nicht flirten und Grenzen ausloten. Scheiß Sonne.  

Und schlafen kann ich trotzdem nicht. Es ist gerade mal neun Uhr abends. Normalerweise mach ich mich um die Uhrzeit grad mal fertig für meine nächtlichen Erkundungen.

Ich wälz mich von einer Seite zur anderen, hol mir einen runter, bin dabei nicht besonders leise, kann er ruhig mitkriegen, denk dabei an die Kabine im Freibad, an Farins Finger, sein Stöhnen. Es ist nicht ganz so gut wie mit ihm und das Kopfweh wird kurz sogar noch stärker, aber allein die Erinnerung daran ... Pennen kann ich danach aber immer noch nicht. Dafür hat sich das Kopfweh etwas entspannt. Interessantes Hausmittel.

Schließlich lös ich das Schlafproblem mit zwei Benzos.

Gute Nacht.



2. Juni - Jobbörse TU, Charlottenburg

Es sind mit unseren Rädern nur 10 Minuten bis zur Uni.

Trotzdem übel.

Richtig übel um so eine Uhrzeit aufstehen zu müssen. Wird das schlimmer oder besser, wenn man das regelmässig machen muss?

Zum Glück scheint die Sekretärin in der Jobbörse selber noch halb zu pennen, als sie einen Blick auf meinen - mehr schlecht als recht gefälschten – Studi-Ausweis wirft. Dirk Felsenheimer studiert Mathe im 5. Semester. Nicht schlecht, oder?

„In der Kindl Brauerei hätt ick noch was für Sie beede.“ Was für eine Ironie. Für Farin noch mehr. „Da müssen Se sich jetz aber beeilen, um rüber nach Neukölln zu kommen. Schichtstart ist da um Punkt sieben.“

Wir radeln wie die Wilden durch den Berufsverkehr, der ungesünder ist als eine Nacht im Dschungel und mehr mieft als die Kellerlöcher, in denen wir proben.



Kindl Brauerei, Neukölln

Ein rotgesichtiger Typ mit Alkoholikerzinken im Gesicht weist uns am Fließband ein.

„Wenn sich da wat verklemmt, dann seid a jefracht, Jungs. Un wenn ihr `ne Flasche ohne Etikett seht – sofort rausnehmen. Und die packt er dann schön uf die Seite und nich in eure Rucksäcke. Haben die Herren Studenten allet verstanden?“

„Sehr wohl, Herr Brauereiaufseher.“ Farin hebt halb seinen Arm, scheint dann den Impuls zu unterdrücken ironisch zu salutieren. Der Typ blickt uns misstrauisch an, wedelt uns dann genervt auf unsere Positionen am Fließband. Wir grinsen uns an.

Leider ist der Spaß danach vorbei. Die Arbeit ist mehr als fies. Stundenlohn 4 Mark 23 Pfennig. Die Minuten schleppen sich zäh - endlos – e-w-i-g - während das Fließband munter an uns vorbei rattert.

Nach zwei Stunden schmeiß ich mir während `ner Pinkelpause `nen Trip. Danach ist es zumindest visuell viel interessanter anzusehen wie diese Hektoliter „Berlin Kindl“ Bier in braunen Flaschen an mir vorbei klirren. Leider verstärkt der Trip aber auch den infernalischen Lärm hier in der Produktonshalle. Das ist wie fünf Punkkonzerte gleichzeitig.

Außerdem hypnotisiert mich der ständige Fluß der Flaschen so, dass ich nicht immer sofort mitbekomme, wenn sich was verklemmt. Vermutlich macht Jan, der versetzt zu mir auf der anderen Seite des Fließbands steht, die Arbeit für uns beide.

Ein paar Mal wirft er mir einen prüfenden Blick zu. In einer der kurzen Pausen zieht er mich von den anderen Arbeiter*innen weg. „Hey. Allet okay mit dir?“

„Joah. ... Wieso?“

„Deine Augen sind so ... Ick weeß nich. Is dit noch der Sonnenstich von gestern?“

„Nee, nee. Allet jut. Also, nich, dass ick die Arbeit jetz speziell jut find, aber ... Bin bloß müde. War viel zu früh.“

Er nickt, wirft mir einen letzten – und wie ich finde, leicht skeptischen – Blick zu, aber vielleicht ist das auch nur die leichte Trip-Paranoia, die ich inzwischen viel zu gut kenne und deswegen nicht mehr so ernst nehme.



Tempodrom, Kreuzberg

Das Ramones-Konzert ist der absolute Hammer. Meine Heroes auf der Bühne. Ich will sie gleichzeitig anstaunen und total abgehen. Die Zirkuszeltatmosphäre direkt vor der Mauer tut ihr übriges.

Es ist so verdammt schade, dass Jan nicht dabei ist. Er fand die fast 30 Mark Eintritt dann doch zu teuer. Dabei wäre es so cool gewesen mit ihm hier voll durchzudrehen.

Oder war er sauer wegen meiner Unfähigkeit am Band? Gesagt hat er nichts. Hmmm ... Na, ich hab keinen Bock mir das Konzert mit schlechten Gedanken zu vermiesen.
Zum Glück ist mein Freund Eddie dabei. Außerdem treffen wir ständig Bekannte. Schließlich sind wir eine Gruppe von fast 20 Leuten, die tierisch vor der Bühne abgeht.

Ich poge meinen ganzen Frust über den nervigen Arbeitstag raus. Am Ende des Konzerts hänge ich nur noch in der Ecke. Was für eine fatale Mischung aus frühem Aufstehen, Arbeit und die zu vielen Sonnenstrahlen. Die waren gar nicht gut für einen kleinen Vampir wie mich.

Gitti sieht mich fast besorgt an, will mir noch ein Näschen Zauberpulver mit auf den Heimweg geben, aber ich winke ab. Langfristig sollte ich mal ein bisschen langsamer treten in dieser Richtung.

Kurzfristig wäre es wohl dennoch hilfreich gewesen. Ich schlepp mich mit allerletzter Kraft in die Niebuhrstraße. Mein Kreislauf macht immer wieder schlapp. Die Nacht und die Straßenlaternen mit ihr drehen sich um mich.

Meine Finger zittern, als ich die Wohnungstür aufsperre. Ich muss echt anfangen gesünder zu leben, mehr essen, mehr schlafen ...

Die Tür klappt auf, durch, wieder zu, dann ....



S-Bahnstation Frohnau

„Jaaan!“

Eine Stimme, die mir bekannt vorkommt, die ich aber nicht sofort zuordnen kann. Ich blicke mich auf dem Bahnsteig des S-Bahnhof Frohnau um.

„Na, wie geht es dir denn?“

Zwei Jahre haben wir uns nicht mehr gesehen – seitdem ich das Abitur in der Tasche habe. Es ist schon seltsam wie sehr Lehrer*innen Teil des Alltags sind in unserer Schulzeit und dann sind sie auf einmal weg.

Frau Mayröcker scheint ein wenig kleiner geworden zu sein. Oder bin ich gewachsen?

„Jut, Frau Mayröcker:“ Ich setze ein entsprechend fröhliches Lächeln auf. Fällt mir nicht schwer.

Ich hatte sie die letzten zwei Schuljahre im Deutsch-Leistungskurs und sie war mir die liebste Lehrerin während meiner ganzen Schullaufbahn. Obwohl sie kurz vor ihrer Pensionierung stand, hat sie am leidenschaftlichsten unterrichtet. Bei ihr war es immer fesselnd und faszinierend mit den Texten, die sie für uns herausgesucht hat und die wir dann in wilden Diskussionen und Interpretationen zerpflückt und analysiert haben. Und - sie hat uns ernst genommen.

„Na, das freut mich. Was machst du denn jetzt?“

„Ick ... Also, ick ... Ick mach vor allem Musik und spiel in einer Punk-Band.“

„Ach ja, das war ja immer ein großes Thema bei dir. Deine Mutter hat mir erzählt, dass du außerdem Archäologie studierst an der TU?“

„Ja. ... Also, dit hab ick ma `ne Zeit lang versucht, aber ... Dit war aber leider nüscht für mich.“

„Zu viel Herumgesitze, hm?“

Ich nicke dankbar, dass sie versteht. „Und wie geht es Ihnen jetzt seitdem Sie nicht mehr arbeiten müssen?“ Für mich hört sich das gerade nach dem absoluten Traum an.

„Ach ...“ Sie seufzt. „Weißt du, wenn man sein ganzes Leben entlang des Berufes ausgerichtet hat, dann ... Es ist gar nicht so einfach auf einmal ...“ Schlagartig wirkt sie viel älter, gebrechlicher, als ich sie je gesehen habe.

„Aber jetzt können Se doch machen, was immer Sie wollen.“

„Na, ich wollte unterrichten. Aber das ....“ Sie wischt ihre Bemerkung mit einem tapferen Lächeln zur Seite.

„Haben Sie denn gar keene anderen Träume, die Se verwirklichen woll`n?“ Ich hoffe, ich bin nicht zu grenzüberschreitend mit dieser Frage an die alte Dame.

Sie lächelt - zum Glück. Ihre Miene wird leichter. „Doch. ... Eigentlich wollte ich immer reisen, doch jetzt, wo ich es könnte ... Das hört sich für dich wahrscheinlich lächerlich an, du warst ja immer unterwegs, aber ... ich trau mich nicht so richtig.“ Ihr tapferes Lächeln wirkt nun wehmütig.

Am liebsten würde ich sie in den Arm nehmen.

„Also, wenn ich dir eins raten kann, Jan, dann lass es nie so weit kommen, dass du das, was dir wichtig ist immer hinten anstellst.“

„Danke für den Ratschlag.“ Der ist echt gut gemeint. Ich wünschte, er würde mir helfen, aber ich habe ja eher das umgekehrte Problem. „Ähm, was ... Was würden Sie mir denn raten, wenn ick nich weiß, was ick beruflich machen soll?“

Sie sieht mich an, überlegt – lange. „Eigentlich das Gleiche. Versuch das zu machen, was dir wirklich am Herzen liegt. Anscheinend ist das ja Musik, wobei du auch immer sehr interessante Texte im LK geschrieben hast.“

Ihr Lob und ihr Verständnis lässt warmes, leichtes Glück durch mich tanzen. Außerdem Musik und Texte schließen sich ja nicht aus, sondern ergänzen einander perfekt. Vielleicht mache ich ja doch alles richtig. Und trotzdem zweifle ich, fühle mich wie der letzte Verlierer, der den Schuß nicht gehört hat.



Senheimer Str. 44, Frohnau

Julia und ich liegen im Garten unter dem großen Kastanienbaum. Der typische Geruch dieser Blüten hat meine halbe Kindheit begleitet. Das waren die schönen Seiten am Leben hier in Frohnau. Leider ist er schon verblüht und langsam bilden sich grüne, stachlige Kugeln.

Am liebsten mag ich es hier, wenn ich weiß, dass Gerd - und gerade auch Muttern – nicht da sind, wir das Haus einfach für uns haben. Gerade hängen die beiden wohl in endlosen Lehrkonferenzen für die Zeugnisse und das neue Schuljahr fest. Um so besser ...

Wir liegen in der Hängematte, die zu zweit langsam etwas klein wird, da Julia so einen Sprung gemacht hat in den letzten Wochen. Es ist schlimm zu sehen, wie ihr Körper sich in die Pubertät zu stürzen scheint. Sogar ihr Gesicht hat sich verändert. Ich will es so gerne aufhalten, will das sie noch länger Kind sein kann, darf.

Sie dagegen scheint es sehr aufregend zu finden. Und es ist ja nicht nur der Körper. Ab und zu taucht seit Neuestem ein Thomas in ihren Erzählungen auf. Ich komm mir fast spießig vor, wie sehr ich will, dass alles beim Alten bleibt.

Sooo lang ist das bei mir auch noch nicht her, obwohl es weit weg scheint. Dieser neue Lebensabschnitt kann einfach auch so verdammt schmerzhaft sein mit den ganzen Unsicherheiten, den unerwiderten Lieben und den zu langen Armen und Beinen und Emotionen, denen es ähnlich zu gehen scheint plus einem Hirn, das über alles, wirklich alles, tausend Mal nachdenken will.

Bei mir war es außerdem körperlich schmerzhaft. Alle Knochen haben mir während meines Wachstumsschubs weh getan, so dass ich manchmal nachts nicht schlafen konnte und mich dann total gerädert in die Schule geschleppt habe.

„Kannst du mir „Die unendliche Geschichte“ vorlesen?“ Sie hat das Buch wohl in meinem Rucksack gesehen.

„Klar.“ Ohne sie hätte ich nie den Film gesehen oder das Buch gelesen. Fantasy ist eigentlich nicht so mein Fall. Aber die Geschichte ist unglaublich spannend geschrieben in ihrer Poesie und die durch wundersame Welten verklausulierten Philosophie.

Ich angle das Buch aus meinem Rucksack heraus und purzel bei dem Versuch fast aus der Hängematte.

„Antiquariat Inhaber: Karl Konrad Koreander.
„Diese Inschrift stand auf der Glastür eines kleinen Ladens, aber so sah sie natürlich nur aus, wenn man vom Inneren des dämmerigen Raumes durch die Scheibe auf die Straße hinausblickte.“

Ich lese eine Stunde am Stück und wir versinken beide in der Welt der unendlichen Geschichte.

„Wer niemals ganze Nachmittage lang mit glühenden Ohren und verstrubbeltem Haar über einem Buch saß und las und las und die Welt um sich her vergaß, nicht mehr merkte, daß er hungrig wurde oder fror,

wer niemals heimlich beim Schein einer Taschenlampe unter der Bettdecke gelesen hat, weil Vater oder Mutter oder sonst irgendeine besorgte Person einem das Licht ausknipste mit der gutgemeinten Begründung, man müsse jetzt schlafen, da man doch morgen so früh aus den Federn sollte,

wer niemals offen oder im geheimen bitterliche Tränen vergossen hat, weil eine wunderbare Geschichte zu Ende ging und man Abschied nehmen mußte von den Gestalten, mit denen man gemeinsam so viele Abenteuer erlebt hatte, die man liebte und bewunderte, um die man gebangt und für die man gehofft hatte, und ohne deren Gesellschaft einem das Leben leer und sinnlos schien,

Wer nichts von alledem aus eigener Erfahrung kennt, nun, der wird wahrscheinlich nicht begreifen können, was Bastian jetzt tat."

Ich schlucke. Die Zeilen berühren mich tief. Ich kenne die Magie von Büchern und den Trost des Lesens viel zu gut. Es ging so weit, dass ich mir in den ganzen einsamen Stunden meiner Kindheit das Lesen selbst beigebracht habe, einfach um Gesellschaft zu haben, in die Welt der Geschichten entfliehen zu können. Dort war immer etwas los.  

Eine kleine, schmale Hand auf meiner Großen. Ich schlucke nochmal und lese dann weiter. Nach zwei Kapiteln stolpere ich über einen Satz, der mir schwer über die Lippen kommt.

„Manchmal fragen wir uns, warum Fantasie stirbt? Weil Hoffnungen in Menschen sterben und sie manchmal sogar ihre Träume vergessen.“

Damit hat mich Michael Ende nun endgültig erwischt. Ich lege schnell das Buch zur Seite. „Bin gleich wieder da.“ Ich tue so, als würde ich auf`s Klo gehen mit Spülen und Händewaschen und allem drum dran, dabei will ich nur die roten Augen vertuschen, will der große, starke Bruder für Julchen bleiben. Dafür muss ich aber erstmal meine Fassung wieder gewinnen.

Ich weiß echt nicht, was mit mir los ist seit Neuestem. Normalerweise bin ich emotional echt nicht instabil.

Ich gehe in die Küche, in der mir jeder Handgriff noch so vertraut ist. Am Vormittag waren wir im Wald ein paar Straßen weiter spazieren und haben Waldmeister gepflückt und so versuche ich mich an einer Art Waldmeisterlimonade.

„Dit sieht ja cool aus“, kommt der begeisterte Kommentar, als ich die Kanne nach draußen trage.

„Ick hoff ma, dit is och so lecker wie et aussieht.“

Wir setzen uns auf eine Decke unter dem Baum. „Ähm, sach ma, Julia: Was willst `n du eigentlich später ma werden?“

Sie verschluckt sich fast an ihrer Limonade, sieht mich dann entgeistert an. „Ick dachte, du hasst diese Frage?“

„Tu ick och – irgendwie. Aber ... Ick – ick weeß einfach grad nich so richtig ...“ Wenn ich ganz ehrlich mit mir selbst bin, weiß ich gerade wirklich gar nichts. Nicht, was ich beruflich machen will, nicht wie ich Geld verdienen soll, nicht was das mit Bela und mir ist.

„Weißte eigentlich, dass sich Mama echt Sorgen um dich macht.“

„Oh.“ Das trifft mich wirklich unvorbereitet. Ich weiß, dass sie sauer ist, aber Sorgen? Helfen tut diese Erkenntnis allerdings auch nicht. Im Gegenteil. „Und ... was willste denn jetz ma werden?“

„Lehrerin.“

„Nee, ne? Echt jetz?“

Julia bekommt einen genervten Zug und auf einmal wirkt sie wirklich wie ein Teenager. „Warum denn nich?“

„Na, weil ... Da kommste ja dein janzes Leben nich mehr raus aus der Penne.“

Sie rollt mit den Augen. „Und weil Gerd Lehrer is, wa?“ Sie hat mich mal wieder durchschaut.

„Naja, schon irgendwie.“

„Na, und? Der Beruf hat doch nüscht damit zu tun, dass Gerd `n Arschloch is.“

Ich will ihr schon sagen, dass sie nicht solche Schimpfworte benutzen soll, aber dann schlucke ich den Tadel runter. Er ist ein Arschloch. Es gibt kein gefälligeres Wort für ihn. Und ich bin froh, dass sie ihn so messerscharf durchblickt, aber mir tut es auch leid. Schließlich ist er ihr Vater. Einen anderen gibt es nicht.

„Mama ist auch Lehrerin und die macht dit echt jut, sagen Thomas und Miriam.“

„Mhmm. Okay. ... Und hätteste och `ne Alternative?“

„Vielleicht Tierärztin.“

„Na, dit is doch ma wat.“

„Und du?“

Ich seufze, zucke die Schultern. „Wahrscheinlich halt die Musik ... denk ick.“ Ich höre die Haustür zu fallen. Schnell springe ich auf. „Oh. Ick glaub, ick sollte ma los. Aber ick komm nächste Woche wieder vorbei. Dann könn wir weiter lesen.“ Ich küsse sie auf den Kopf. „Und pssst. Nich sagen, dass ick hier war, ja?“

Sie nickt. Wir beide sind echt eine verschworene Geschwisterbande. „Mach`s jut, Schwesterchen.“

„Mach et besser.“

„Werd ick versuchen.“

Schnell ducke ich mich hinter die Hecke und schleiche mich auf dem Gartenweg unter dem Fensterbrett der Küche vorbei auf die Straße.



Turmstraße, Moabit

Es ist fast der längste Tag des Jahres. Die Sonne geht erst gegen 21:30 Uhr unter. Ich bin zu Ecky gefahren, da ich den Typ schon viel zu lange nicht mehr gesehen habe. Nicole hat mal wieder eine Nachtschicht.

Mauersegler schießen mit ihrem langgezogenen „WuiiiiiiiiiiI“ immer wieder am Balkon vorbei, auf dem wir in den letzten Strahlen der Abendsonne sitzen. Was für Flugkünstler. Sie wirken so leicht und frei ...

Eigentlich ist Berlin schon auch ganz geil im Sommer, aber wie ein Instinkt aktiviert sich um diese Jahreszeit mein konditioniertes Reise-Gen. Ecky und ich sind einfach immer in den Sommerferien weggefahren - seit wir neun sind und zum ersten Mal mit den Falken unterwegs waren.

„Tut mir echt leid, dass das wieder nichts wird mit einer Reise diesen Sommer.“ Ecky seufzt.

Ich unterdrücke einen ähnlichen Seufzer, der in mir aufsteigt, will nicht, dass er sich noch schlechter fühlt. „Tja, kann man nüscht machen. Aber wär schon schön gewesen mit dir unterwegs zu sein, mit der Fähre durch die griechische Inselwelt zu gurken. Türkei und Ägypten standen ja auch zur Debatte. Die wären sogar wat Neues gewesen.“

„Ich weiß. Tut mir echt leid.“

Anscheinend hab ich meine Enttäuschung nicht wirklich gut vertuscht, aber die Reisen mit Ecky sind bei mir in der Kategorie „heilig“ angesiedelt.

„Wenn ich der Professorin absage, dann kann ich die potentielle Unilaufbahn vergessen.“

„Aber ich dachte, du wolltest lieber mehr praktische Sachen in der Botanik machen.“

„Ja, schon, aber Feldforschung ist ja auch irgendwie praktisch. Ich würd mir einfach gerne diese Tür in die akademische Laufbahn offen halten.“

Ich halte die Luft an und nicke brav. Für mich ist die Uni ein Planet voller Ausserirdischer mit eigener Sprachen und Regeln, von denen ich kein Teil sein will.

Der Sommer kribbelt in mir, zieht mich weg aus dem ummauerten West-Berlin. Meine Hände wollen meinen Rucksack packen, meine Füße wollen zur Avus laufen und meine Daumen möchte dort ganz dringend Autos anhalten. Es ist auch fast egal, wohin die fahren würden. Hauptsache Richtung Süden.  

Felices Gesicht taucht vor meinem inneren Auge auf. Wir schreiben uns sporadisch, aber auf meinen letzten Brief, ob sie im August Zeit hat, ob sie Lust hat, dass ich sie in Neapel besuche, habe ich noch keine Antwort bekommen.

„Hast du denn niemand anderen, mit dem du los kannst?“

Ich schüttel den Kopf. Ecky ist einfach der beste Reisekompagnon, wir das perfekt eingespielte Team in Bezug auf Interessen, Tagesrhythmen, Entbehrungen, Nähe-Distanz. Wir ticken da sehr ähnlich, alles läuft einfach unausgesprochen.

„Was ist denn mit Bela?“

„Äh ... Was soll mit dem sein?“

„Alles okay bei euch?“

„Äh ... Ja. ... Schon.“

„Okay. ... Wirklich?“

Ich hole tief Luft, bekomme Angst vor dem, was mein Mund als nächstes sagen könnte. „Ick weeß nich. Es ist gerade so ... Es is irgendwie so `n bisschen kompliziert geworden, weil ...“ Ich breche ab, seufze leise. Seufze nochmal.

„Komm, spuck`s aus.“ Er sagt es ganz ruhig, aber es ist auch ein stiller Befehl.

„Also, es ist kompliziert, weil ... Ick ...“ Ich hole tief Luft und stoße es in einem schnellen, monotonen Satz raus. „Ickglaub, ickhabmichinBelaverknallt.“ Ich warte, dass die Sonne explodiert, die Welt vor dem Balkon in rauchenden Trümmern versinkt, warte auf ein geschocktes Einatmen von Ecky, aber es fliegt einfach nur ein weiterer Mauersegler am Balkon vorbei.

Ecky hat das telepathische Feingefühl mich nicht direkt anzusehen und ich bin ihm wirklich dankbar dafür. „Das hat ich mir schon so ein bisschen gedacht“, sagt er schließlich.

„Oh! ... Echt?“

„Naja, an Silvester ... Das war nicht so subtil, wie ihr da beide im dunklen Treppenhaus beieinander standet.“

„Oje.“

„Das ist doch nicht schlimm. Vor allem, da es ja anscheinend auf Gegenseitigkeit beruht.“ Er sieht mich kurz, aber prüfend an. „Das tut es doch, oder?“

„Wenn ich das wüßte.“

„Vielleicht wäre es gut, wenn du ihn fragst?“, schlägt Ecky ganz vorsichtig vor.

Alle Muskeln in meinem Körper spannen sich gleichzeitig an. „Das ... das geht nicht.“

„Warum denn nicht?“

„Wenn es für ihn etwas anderes ist, dann ... Du kennst ihn doch auch ein bisschen. Der ist immer für alles zu haben, was Abenteuer und Spaß verspricht. Und vielleicht ... bin ja gerade ich das.“

„Meinst du?“

„Kann durchaus sein. Und wenn dit so is, dann ... Ick will`s lieber gar nich wissen. Einmal Herz gebrochen reicht für ein Leben.“ Ich sehe so lange in die, hinter den Bäumen versinkende, Sonne bis es weh tut, nur noch grüne und rote Lichtflecke vor meinen Augen tanzen. „Dit is echt zu gefährlich. Wenn ich für ihn nur `ne weitere Affäre oder so bin, dann ...“

„Mensch, Jan. Liebe endet nicht immer im Desaster.“

„Sagst du mit deiner ... Wie lang bist du mit Nicole nun schon zusammen?“

„Dreieinhalb Jahre.“

„Also darfst du gar nich mitreden.“

„Hey! Ich bin hier nicht dein Feind, okay? Ich will das es dir gut geht. “

Ich reibe mir über das Gesicht. Die Lichtflecken werden weniger. „Entschuldige. Ich bin so `n bisschen dünnhäutig mit dem ganzen Thema - seit dem mit Bine. Und Bela ... ist mir noch viel wichtiger als die. Wir wohnen zusammen, wir sind Freunde, wir haben `ne Band zusammen. Was wenn er nich so stark fühlt wie icke? Dit wär so `n Ungleichgewicht. Alles - WG, Band, Freundschaft – dit würd dann alles einfach kippen und mit kaputt gehen.“

„Mhm.“

„Siehste. Da fällt dir och nüscht zu ein.“

„Ich versteh schon, was du mit kompliziert meinst.“

„Außerdem ... Mann, dit is `n Typ.“

„Ja, und?“

Ich roll mit den Augen, fühl mich nicht verstanden. „Dit würd Bela wahrscheinlich och sagen.“

„Und er hat recht.“

„Du weißt doch gar nich, wie sich dit anfühlt, wenn sich auf einmal so Vorstellungen über dich selbst so grundlegend verändern.“

„... Okay. Weiß ich tatsächlich nicht.“

„Vor Bela hab ich nie so an Männer gedacht ...“

„Es ist also nicht nur Bela, oder? Ich ...“ Er sieht mich vorsichtig von der Seite an. „Ich erinner mich noch an den Punk in Venedig.“

„Gianni?“

„Ja, genau.“

„Ick weiß es nich. Ick weiß es einfach nich. Und dit fühlt sich überhaupt nich jut an.“

„Aber was ist denn so schlimm daran, dass du Jungs magst?“

„Ich mag ja nich nur Jungs.“

„Bela auch, oder?“

Ich nicke. Dieses Gespräch fühlt sich an, als würde ich auf einer Bombe mit einem runterzählenden Zeitzünder sitzen. „Aber dit macht es och nich unkomplizierter. Rat mal wie toll dit is, dass ick mir überlegen muss, ob ick auf der Straße Belas Hand nehmen kann.“

„Oh.“

„Ja – oh!“ Es klingt grimmiger, als ich es meine. Aber ich hab mir einfach viele Gedanken gemacht in den letzten Tagen, Wochen – Monaten.



Niebuhrstr. 38 b, Charlottenburg

Es ist spät geworden bei Ecky und ich bin müde und erschöpft und will einfach nur in mein Bett. Ich drücke die Klinke unserer Wohnungstür nach unten, aber sie schwingt seltsamerweise nur ein paar Zentimeter auf. Etwas drückt von innen dagegen.

Ich quetsche mich seitwärts duch den schmalen Schlitz, um zu checken, was sie blockiert, erspähe einen Schopf schwarzer Haare auf dem Boden.  

Mein Herz setzt aus, rattert dann los wie eine Tätowiermaschine, die SOS tackert. Es gibt kein Wort für die Angst, die mich überfällt wie ein Herzinfarkt.

Ich kämpfe gegen meinen ersten Impuls die Tür mit Gewalt aufzudrücken. Stattdessen presse ich meinen dünnen Oberkörper durch den Spalt.

Belas Fuß stoppt die Tür. Er liegt mit dem Gesicht nach unten mitten im Flur.
Vorsichtig gehe ich in die Knie. Fuck, fuck, fuck. Ich trau mich fast nicht ihn anzufassen vor Angst, dass er leblos und kalt sein könnte. Schließlich bekomme ich die Schnalle seines Schuhs zu greifen und ziehe sein Bein mühsam Zentimeter für Zentimeter zur Seite.

Endlich kann ich ganz durch die Tür schlüpfen. Ich beuge mich über ihn, drehe ihn behutsam um, was gar nicht so leicht ist. Sein Körper fühlt sich leblos an, viel zu schwer für so eine schmale Gestalt. Sein Gesicht ist bleich mit einem ungesunden blauem Unterton.

Langsam strecke ich meine Hand aus. Meine Finger zittern, als ich an seinem Hals nach dem Puls taste. Seine Haut ist kühl, aber nicht kalt. Ich halte meinen Handrücken vor seine Nase, spüre einen Luftzug. Er atmet. Oh, mein Gott. Ich falle neben ihm auf die Knie, die mich auf einmal nicht mehr halten wollen. Muss ich trotzdem einen Krankenwagen holen?

Es dauert ein paar lange, lange Sekunden bis mein Zittern nachlässt. Ich ziehe mich an der Küchentür hoch und stolpere ins Bad, mache ein Handtuch nass und fahre ihm vorsichtig damit über das Gesicht.

„Iiiiiihhh!“ Bela versucht mit unkoordinierten Bewegungen den Lappen aus seinem Gesicht zu schieben.

Mir wird ganz schwach und ich falle schwer vor Erleichterung neben ihm auf den Boden.

„Pfuiiii! ...“ Sein Blick fokussiert sich langsam auf mich. „Jan? Wieso machst`n du sowas?“ Er klingt benommen – und echt angepisst.

Ich fang haltlos an zu lachen, dann laufen mir auf einmal Tränen über die Wangen. Ich ziehe ihn hoch, in meine Arme, drück ihm wahrscheinlich die Luft ab mit meiner Umarmung.

„Was ... war denn los um Himmels willen? Zu viel Drogen?“

„... Öhm ...“ Er sieht mich ratlos an. Langsam scheint dann doch die Erinnerung zurück zu kommen. „... Äh, nö. Zu wenig.“

„Was?“

„Ick hab nüscht gezogen und dit fand mein Kreislauf wohl nich so jut.“

Diese Nacht krieche zu ihm ins Bett. Ich muss einfach aus nächster Nähe fühlen können wie sein Herz klopft, spüren, dass er lebendig ist.



4. Juni - ICC, Westend

Geld. Immer und immer wieder dieses verdammte Kohleproblem.

Die Betriebskostenabrechnung ist viel höher, als erwartet und stimmt meines Erachtens auch nicht. Resigniert werfe ich den Wisch auf den Küchentisch. Ich hoffe wirklich, dass sich Belas Mutter um dieses Problem kümmern kann. Aber erstmal müssen wir die 250 Mark natürlich trotzdem zahlen. Und das Geld für den Monat ist schon wieder weg.

Auf Reisen kann ich diesen „Ständig-ist-das-Geld-knapp“-Alptraum eigentlich ganz gut ab. Vielleicht weil das Freiheitsgefühl des Unterwegs sein alles aufwiegt. Hier im Berliner Alltag beginne ich es ernsthaft zu hassen.

Ich höre die Wohnungstür, dann humpelt Bela in den Flur. Seine Klamotten sind nass und auf seiner Jacke ist etwas Dunkelro ... Ist das Blut? „Alter, was `n mit dir los?“

„Allet okay.“ Er grinst mich recht überzeugend an.

Ich gehe auf ihn zu und zeige auf seine Klamotten. „Dit wirkt aber nich so, mein Lieber.“ Anscheinend sehe ich ihn sehr prüfend an, denn er grinst um so breiter.

„Hollywood called.“

„Wat is los?“

„Der Mutant hat sich mit Captain Berlin geprügelt.“

„Wat?“

„Na, ick hab mit Buttgereit wat gedreht.“

„Aha. Und das nachdem de vorgestern einfach mal so zusammen gebrochen bist.“ Wahrscheinlich habe ich den gleichen tadelnden Ausdruck meinem Blick und meiner Stimme wie meine Mutter.

„Heut ging`s mir wieder astrein.“

„Klar. Und deswegen humpelste jetz auch.“

Er hebt seinen Arm und macht so eine Bodybuilder-Pose. „Au.“ Im nächsten Moment hält er sich die Schulter. „Jörg hat mich echt böse durch die Gegend geschleudert.“

Wir stehen im Flur und auf einmal ziehen Bilder von unserer kleinen Prügelei elektrisierend durch meinen Bauch. Erinnerungen, wie es ist mit Bela zu kämpfen. Irgendwie find ich es nicht gut, dass Jörg, der andere große Blonde in seinem Leben, das auch mit ihm gemacht hat.

„Soll ick ma nachsehen?“

„Ick kann och so für dich strippen.“ Ein anzügliches Grinsen breitet sich auf Belas Gesicht aus und fuck – es kriegt mich. „Musste nur Bescheid sagen.“

Ich fühle mich ertappt, weil ich das tatsächlich gar nicht so schlecht fände. Anscheinend zeigt sich das aber nicht auf meinem Gesicht.

„Guck nich so erschrocken. Ick mach nur Quatsch.“ Behutsam zieht er seine Lederjacke von der kaputten Schulter. „Ach, übrigens: Jörg möchte das de beim nächsten Dreh morgen dabei bist.“



5. Juni – Park am Gleisdreieck, Schöneberg

Jörg dreht für eine Vorführung im Risiko in eine paar Tagen einen seiner berühmten trashigen Super 8 Filme. Und, wie angesagt, dieses Mal soll auch ich mit. Der Herr Regisseur hat anscheinend eine Aufgabe für mich.

Ich mag Jörg, zumindest wenn er sich nicht gerade mit Bela vor der Kamera rangelt, denn trotz der abstrusen und manchmal auch krassen Themen in seinen Filmen, ist er eigentlich ein sehr sanfter Riese.

Wir stehen am Rande des alten Anhalter Bahnhofs. Dort erobert sich langsam die Natur die verlassenen Gleisanlagen zurück.

Es ist immer wieder interessant, wenn ich auf Leute treffe, die ähnlich groß sind wie ich. Eigentlich bin ich das von Hans gewohnt, aber Jörg mit seinem Kampfsportraining wirkt nochmal anders, hat definitiv breitere Schultern als Hans und ich.

Er klopft mir auf die Schulter. „Na, du verlorener Sohn. Du strahlst ziemlich. Wir konnten letztes Mal im Prinzenbad gar ich richtig quatschen, wa? War`s denn jut in London?“

Hinter Jörgs Rücken sehe ich, wie sich Belas Gesicht verdüstert. Die beiden sind wirklich gut befreundet und ich weiß nicht, wie viel Jörg weiß oder ahnt über Bela und mich und unser Hin und Her.

„Wat is denn nu mein Job hier?“, frag ich Jörg, um ihn und mich abzulenken.

„Also, wenn de dit nich machen willst, ne, is total okay. Du kannst auf jeden Fall nein sagen.“

„Äh, okay. Dit hört sich ja spannend an.“ Mein Kopf läuft ein bisschen Amok. Will er, dass ich Bela vor der Kamera küsse? Der hätte bestimmt nichts dagegen. Aber das sind ja eher Filme, die Bela mit Ades gedreht hat. „Also, wat soll ick denn nu machen?“

„Also, wir jagen heut Sachen in die Luft.“

„Yeah!“ Hinter mir macht Bela einen begeisterten Luftsprung. „Geil!“ Zündeln mit Sprengstoff bringt seine Augen definitiv zum Leuchten.

„Okay. Cool.“ Da habe ich auch Bock drauf. „Und wat is nu meine Aufgabe?“ Jörg macht es echt ein bisschen zu spannend.

„Du haust mit `nem Baseballschläger einen Fernseher kaputt und dann pinkelste in die zerbrochene Bildröhre.“ Eine überraschende, aber klare Regieanweisung. Ich bin fast ein bisschen beeindruckt von seiner Professionalität. Aber auch von der Idee, dass ich hier ...

„Oh.“ Bela sieht mich betroffen mit großen Augen an. „Ähm, dit wusst ick nich.“

„Ick hab da sofort an dich jedacht. Dit sieht eenfach jut aus, wenn dit so `n langer Kerl macht.“

Bela blickt vorsichtig zu Jörg. „Vielleicht machste dit besser selber.“

„Dit funktioniert nich. Ick mach ja die Kamera.“

Ich straffe mich. „Keen Problem. Ick mach dit.“ Mein vorlautes Mundwerk und der unausgesprochene Wettbewerb mit Bela werden nochmal mein Untergang sein.

Bela lugt ein wenig beeindruckt zu mir hinüber, was mich übermässig freut. „Dit gespielte Kotzen in Mani und dit Rumjeblute aus`m Mund vor`m ICC is okay gewesen, aber ick könnt nich pinkeln, wenn `ne Kamera uf mich jerichtet is.“

Ich will es jetzt wirklich hinbekommen. Und natürlich beim ersten Mal. Es dürfte auch etwas schwierig sein, wenn die Blase erstmal leer ist und ich weiß nicht, ob ich mitten im Pissen innehalten kann.

Es erfordert auf jeden Fall eine tierische Konzentration: zuerst den Fernseher zerdeppern. Der Baseballschläger liegt viel zu gut in meiner Hand. Ein erschreckend starkes Gefühl von Macht. Er geht glatt durch das Glas und es knallt ziemlich. Anscheinend war da Unterdruck drauf oder so. Jedenfalls erschrecke ich mich ganz schön.

„Und jetze druf pinkeln“, kommt Jörgs Befehl.

Okay. Reißverschluss auf, Schwanz raus und punktgenau zielen und treffen.

Es klappt. Bei der ersten Aufnahme. Ich bin stolz wie Bolle, obwohl das ja nicht direkt etwas ist, auf das man stolz sein könnte.

„Fantastisch, meen Freund!“ Jörg klopft mir auf den Rücken, als ich noch dabei bin alles wieder zu verstauen. „Dit war echt `n Meisterstück. Solltest echt ma über `ne Karriere als Schauspieler nachdenken.“

Reißverschluss hoch. „Meinste?“ Ich dreh mich um.

„Du hast echt super performt UND et sah jut aus.“ Er grinst breit, sehr breit, denn Jörg hat fast einen so großen Mund wie ich. Es ist seltsam zu wissen, dass ich auf andere ähnlich wirke wie er, fast ein bisschen wie in einen Spiegel zu sehen.

„Ick weeß ja nich, ob vor der Kamera pinkeln können `n speziellet Talent is.“

„Kriecht nich jeder hin. Ick weeß, wovon ick red.“ Er schlägt mir noch mal auf den Rücken. Jörg ist cool. Sein Lob fühlt sich echt wie ein kleiner Ritterschlag an.



Niebuhrstraße 38b, Charlottenburg

Als wir wieder in der Niebuhrstraße sind, bin ich immer noch seltsam hochgedreht von der Filmaktion. Mein T-Shirt riecht wie Silvester von den ganzen Böllern, die wir benutzt haben.

„Dit war heut echt cool mit Jörg.“ Es hat mir wirklich unerwartet viel Spaß gemacht und ich versteh jetzt sehr viel besser, was Bela, er und die anderen an dieser Super 8 Filmerei finden.

Bela strahlt seit dem Dreh ununterbrochen. Ein sehr angenehmer Anblick.

Er klopft mir auf den Rücken. „Dein Debüt, wa? Ick find och, dass de Talent hast. Siehst jut aus im Sucher der Kamera und bestimmt auch auf Leinwand. Hätteste denn Bock Schauspieler zu werden?“

Tatsächlich bedeutet es mir etwas, dass er mich gut fand in dieser albernen Mini-Szene. „Äh, danke. ...“

„Kiek ma!“ Er hält mir einen Zeitungsausschnitt vor die Nase. „Jung-Schauspieler (20-25 Jahre, männlich) gesucht – auch Amateure – für Film über eine Beatband in den 60er Jahren. Vorsprechen am 15. Juni, 16 Uhr in der Music Hall, Rheinstraße 45, Friedenau.“

„Ick find da sollteste hingehen.“

„Aber der Plan war ja nu eigentlich Popstar, oder?“

„Schon ... Aber – du bist echt nich schlecht, siehst gut aus.“ Sein Blick streift mein Gesicht, dann über meinen ganzen Körper, dann sieht er mich sehr intensiv an. „Und – die Kamera liebt dich. Glaub mir. Ick weeß wovon ick red.“

Verlegen streiche ich mir über den Nacken. „Ick weeß nich.“ Ich lege den Zeitungsausschnitt auf den Tisch. „Ma seh`n. Aber von wegen Filme drehen: Muttern hat mir ihre Super 8 geschenkt plus zwei leere Filme. Der Olle hat sich wohl wat besseret gekooft. Was mit Ton. Also, wenn de Bock hast ...“

„Cool.“

Ich hole die Kamera aus meinem Zimmer. Das letzte Mal, als ich die gesehen habe, hat meine Mutter das erste Konzert mit Soilent Grün in Spandau gefilmt.

Bela nimmt sie fast andächtig in die Hand. Er bekommt dieses hübsche Funkeln in den Augen. Ich liebe es und es macht mir Angst, denn bei dem Funkeln geht es immer um seine Lieblingsthemen: Sex, Drugs and Rock `n Roll.

Er hebt die Kamera wieder hoch und tut so als würde er mich von Kopf bis Fuß filmen, bleibt dann in meinem Schritt hängen.

„Hey!“ Ich überschlage meine Beine und knalle ihm dabei fast eine mit meinem Knie.

„Na, ick dachte, weil der heute ja nur einen so versteckten Auftritt hatte, da könnten wir ja auch `n bisschen Erwachsenenunterhaltung drehen. Der wär definitiv dafür geeignet.“

„Willste filmen, wie du mir einen bläst, oder wat?“ Oje. Damit hätte ich besser nicht angefangen. An seiner Mimik wird sofort klar, dass er die Idee echt richtig gut findet.

„Vergiss es, Felsenheimer.“

„Jetz sach nich, dass de keinen geblasen haben willst.“

Ich bin kurz davor mir in den Schritt fassen zu müssen und meine Jeans neu zu justieren, die gerade viel enger wird.

Wir drehen aber dann doch etwas ganz anderes. Bela stellt sein schauspielerisches Talent als Karl, das menschliche Insekt zur Verfügung. Und weil wir danach noch eine Minute übrig haben, drehen wir einen super aufwendigen Stop-Motion-Film mit dem unheimlich grauenhaften Schlüsselbund.



15. Juni – Music Hall, Friedenau  

Um 15:30 Uhr steige ich mit einem sehr unbehaglichen Gefühl auf mein Fahrrad und fahre runter nach Friedenau. Ich bin mir absolut unsicher, ob das eine gute Idee ist. Bela klang so überzeugt von meinen schauspielerischen Fähigkeiten, aber ... Ich hab das doch nicht gelernt und noch weniger Übung.

Andererseits – ich liebe Filme und es wäre bestimmt spannend mal hautnah mitzubekommen, wie so ein Filmset funktioniert. Und wenn es dafür noch Geld gibt um so besser.

Einen Musiker zu spielen sollte ich ja wohl hinbekommen.

Als ich vor der Music Hall ankomme, sieht es aus, als wäre dort heute ein Konzert. Ein Schlange von mindestens 40-50 Leuten zieht sich fast bis zur nächsten Querstraße.

Ein junger Typ fächelt sich mit einem Buch Luft zu. Er trägt eine Sonnenbrille und eine blasierte Miene, die mich irgendwie einschüchtert. Ein anderer hat eine Gitarre auf dem Rücken. Schlau. Da hätte ich auch mal dran denken können.

Einen anderen hab ich sogar schon mal in einem Kinofilm auf der Leinwand bewundern dürfen. Ich bin mir ziemlich sicher, auch wenn mir nicht mehr einfällt welcher Film das war.

Wie soll ich denn neben dem bestehen? Überhaupt sehen die alle so viel besser, interessanter und ... schauspielerisch begabter aus als ich.

Ist doch eh nur ein Luftschloss, sagt eine Stimme in mir, die sich fast wie eine höflichere Version von Gerd anhört. Ein zweites. Von wegen Popstars.

Ich seufze. Entmutigt steige ich wieder auf mein Fahrrad. Wie konnte ich denken, dass ich bei sowas echt eine Chance haben könnte.



Ingenieurbüro Vetter, Charlottenburg

Verdammt, ich brauche Geld und nicht immer nur in dem ich mich von einem Jobbörsen Job zum nächsten hangle. Das Büro meines Vaters ist nur zehn Minuten mit dem Rad von der Filmproduktion entfernt. Bei ihm im Büro war es echt ganz nett. Auch die Arbeit an sich. Tausendmal besser als Brauerei, vermoderte Keller ausräumen – und Zementwerk.

„Hallo Sandy! Ist Joachim da?“

„Na, dich hab ich ja schon lang nicht mehr gesehen.“ Sandy strahlt mich viel zu sehr an. „Wirst auch jeden Tag hübscher.“ Ihr Blick klebt auf meinen freien Oberarmen und ich weiß nicht, ob ich sie vor ihr verstecken will oder noch mehr präsentieren. So braungebrannt sehen die echt ganz okay aus.

Aber eigentlich will ich gerade echt nicht flirten. Ihre Aufmerksamkeit ist dennoch wohltuend. „Danke. Aber dit Kompliment kann ick nur zurück geben.“ Ich setze mich auf die Tischkante ihres Schreibtischs.

Jetzt strahlt sie noch mehr und irgendwie ist das schön. Menschen sehen insgesamt einfach schöner aus, wenn sie so leuchten. Das mag ich auch an Konzerten so. Also nicht auf den krassen Punkkonzerten, wo alle eine Ausstrahlung von „Gleich hau ich dir eine in die Fresse“ haben.

Wenn mehr Frauen im Publikum sind hilft das enorm für eine angenehmere Atmosphäre. Bei unseren Gigs sind für die Szene immer überdurchschnittlich viele da und das ist auch gut so. Die Stimmung ist so viel besser. Außerdem macht es mir mehr Spaß für weibliches Publikum zu spielen. Wenn die ein oder andere mich aus dem Publikum mit strahlenden Augen anlächelt, dann ... das tut einfach gut.

Die Tür neben mir geht auf und ich stehe schnell von Sandys Schreibtisch auf. Eine Frau in einem Nadelstreifenkostümchen und sehr hochhackigen Schuhen kommt aus Joachims Büro. Sie sieht ziemlich schick, aber auch Ehrfurcht einflössend aus. Hinter ihr erscheint Joachim selbst.

„Oh.“ Seine Reaktion sagt ziemlich deutlich, dass er erstaunt ist mich zu sehen. Oder er findet, ich könnte mich besser kleiden, wenn ich bei ihm auftauche. Ich verschränke schnell meine Arme über dem leicht angeschmuddelten T-Shirt mit den abgerissenen Armen. Ich hab es diese Woche noch nicht in den Waschsalon geschafft, weil einfach das Kleingeld für solchen Luxus fehlt.

Bela und ich müssen dringend mal wieder auf der Straße spielen. Wäre auch kein Problem, wenn er nicht immer so lange nachts unterwegs wäre ...

„Hallo ...“ Ich weiß nicht, wie ich Joachim vor der Businessfrau nennen soll. „Guten Tag!“ Ich nicke ihr kurz zu.

Er verabschiedet die Frau, dann wendet er sich mir zu. „Na, was kann ich für dich tun?“

Schlagartig komme ich mir vor wie ein einfacher Bittsteller und noch weniger wie sein Sohn. Das er fragt, wie es mir geht, ist wohl zu viel verlangt.

„Also, ick wollt nur fragen, ob du vielleicht `nen Job für mich hast. Ich mach och allet. Ick hab grad so `n kleinet Geldproblem.“

„Hast du meine Überweisung nicht erhalten?“

„Doch. Danke, aber ... Dit deckt halt nur die Miete.“

„Okay. Du brauchst also Arbeit.“

„Genau.“ Ich nicke dankbar, dass er das so schnell erfasst hat.

„Und – für wie lange stellst du dir das dieses Mal vor?“

„Vielleicht heute.“

„Und danach?“

„Ähm, am Donnerstag müssen wir nach Bremen für `nen Gig.“

Er atmet langsam und tief durch. „Es tut mir wirklich leid, Junge. Aber für eine Bürotätigkeit bist du einfach zu unzuverlässig mit deinem ständigen Wegfahren und den Konzerten.“

„Aber ich habe gar nicht geplant weg zu fahren diesen Sommer. ... Nur halt die Konzerte ...“

„Erstaunlich. Ich dachte im Sommer kann dich nichts und niemand mehr vom Reisen abhalten.“

„Eigentlich wollte ick auch gerne, aber Ecky kann nich.“

„Ich hab das auch nicht böse gemeint. Wer, wenn nicht ich, könnte verstehen, dass du gerne reist. Aber ...“ Er hält inne, sieht zu Sandy. „Komm, doch einfach kurz in mein Büro.“

Er hält mir die Tür auf, schließt sie hinter uns. „Ich weiß halt sehr gut, dass reisen auch Konsequenzen hat. Man ist dann nicht vor Ort, mit dem Kopf in einem ganz anderen Leben und Alltag. Also, ...“ Er räuspert sich, sieht mich nur von der Seite an. „Also, man ist dann halt nicht so ... für seine Familie da, zum Beispiel. Ich weiß ja, dass ich wegen meiner Auslandstätigkeiten ... Also, das war ja nicht direkt reisen, sondern Arbeit. Aber ... ich hab Uta und dich wahrscheinlich schon etwas vernachlässigt deswegen. ... Das wollt ich nur sagen.“

Ich sehe aus einer sehr niedrigen Perspektive ein Paar lange Beine vor mir. Darüber lächelt ein Mann auf mich hinunter, versucht mich hochzuheben und ich fang an zu weinen.

„Das ist doch nur dein Vater“, höre ich die erschrockene Stimme meiner Mutter. Ich weiß nicht, was ich damals dachte. Das er mich klauen will? Wohl kaum. Wenn er ein Kind gewollt hätte, dann hätte er ja nur dableiben müssen.

Ohne Vorwarnung schießt Wasser in meine Augen. Ja. Wahrscheinlich etwas vernachlässigt ...

Schnell wende ich mich ab. Es ist nicht direkt eine Entschuldigung, und dennoch tut es gut ihn das sagen zu hören, es anzuerkennen, zu zugeben. Und es reißt an Wunden und Narben, die ich nie richtig lokalisieren konnte, von denen ich nur geahnt habe, dass sie existieren sollten.

Die Erinnerung verschwimmt und ich sehe den älteren Joachim vor mir, der mich unsicher ansieht, mir dann ein Taschentuch reicht. Mann, ist das peinlich.

Bela wird manchmal so emotional, wenn er über den plötzlichen Kontaktabbruch seines Vaters vor ein paar Jahren redet. Ich war irgendwie immer eher froh, dass es nur meine Mutter gab – am Anfang.

Für mich war das einfach normal: gibt halt keinen Vater oder jemanden, den ich mit einem guten Gefühl als „Vater‘ bezeichnen würde. Und meist hat mir das auch nicht gefehlt. Warum das jetzt so rein haut? Keine Ahnung. Vielleicht weil es einfach schön gewesen wäre, jemand gehabt zu haben, auf den ich mich verlassen kann.

Aber gab es nun mal nicht wirklich. Ich hab das immer als „Ist halt so!“-Realität hingenommen. Doch nun überwältigt mich hier in Joachims Büro auf einmal eine gefährliche Sehnsucht.

Ungebeten schleicht sich nun mit Joachim Geständnis das Bild einer festen Familie in mich. Die Zuverlässigkeit, von der er vorher gesprochen hat, klare, feste Strukturen. Gleichzeitig kann ich bei der Vorstellung nicht atmen.

Aber es hätte ja auch bedeutet: kein Gerd. Mein Atem wird hoffnungsvoll, wieder freier. Bis ich bemerke, dass das ja alles nur unrealistische Hirngespinste sind, denen ich mich hingebe. Mein Lebenslauf ist ein ganz anderer.

Außerdem gäbe es dann auch Julia nicht. Dieser Gedanke schmerzt wirklich.

Eine Hand auf meiner Schulter. Ich zucke zusammen, obwohl sie da nur ganz leicht, fast unsicher liegt.

Joachim scheint erstaunlicher Weise mitzubekommen, dass irgendwas nicht stimmt, versucht auf eine unsichere Art zu helfen. Doch dieser Zug ist schon abgefahren gewesen, als ich noch ein Kleinkind war.

„Wenn ich was für dich tun kann, Junge, dann ...“

„`tschuldige. Mir geht`s gut. Ick weeß och nich, warum ...“ Ich schneuze mich leise.

„Okay. Ich hör mich mal um nach flexiblen Aushilfsjobs, okay? ... Willst du denn wirklich nicht weiterstudieren? Mach doch zumindest eine richtige Ausbildung, Jan. Bitte. Dann hast du wenigstens einen Abschluss in der Tasche.“

Sofort wird mein Brustkorb wieder enger. Oha. Er hat mit Uta gesprochen. Klar. Hätte ich mir ja denken können. Das gehört wohl auch zum Elternprofil. Blöd, dass er ausgerechnet jetzt damit anfängt.

„Ick ...“ Muss mich räuspern. „Ick versuch grad klar zu kriegen, was ick machen will.“

„Also, Jan, wenn du wirklich überlegst etwas zu starten, dann ... Ich hab Kontakte, aber für die Ernsthaftigkeit, das Durchhaltevermögen und die Zuverlässigkeit – dafür musst du schon selbst sorgen, verstanden?“

Ich nicke, putze mir nochmal die Nase. Was für ein Scheißgefühl: betteln gehen müssen, weil man unfähig ist auf eigenen Beinen zu stehen.

Es kann echt so nicht weitergehen.





*
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LYRICS

The Clash - Career Opportunities

Evil conduct - Working Class Heroes

The Clash - Koka Kola

The Ramones - It`s not my place in the 9 to 5 world

Ton, Steine, Scherben - Ich will nicht werden, was mein Alter ist

Glen Campbell - The straight life

Grauzone - Film 2: kein Text gefunden

The Cramps - Human Fly

The Who - My generation

John Lennon - Working Class Hero

Green Day for Dafur – Working Class Hero


Super 8

Tonspion - They`ve given me Schrott - Interview

Farin: „Da Bela und ich mit den Ärzten noch nicht ausgelastet waren, begannen wir ständig spannende Seitenprojekte wie die Graveyard Funnies (Super-8-Filme), Goethe (bescheuerte Experimentalmusik) oder eben ›Die Ulkigen Pulkigen‹.

Super 8 Filme von 1983
Mein absolutes Lieblingsinterview mit Bela und Farin


Leider, leider konnte ich kein vollständiges Video von "Die schönsten Zerstörungen" von Jörg Buttgereit finden.


Dokumentarfilm „Jetzt kommt die Flut: Liebe, Geld und Tod“ von Annette Humpe (Ideal) aus dem Jahr 1982.

Jörg Buttgereit & Max Müller über

Liebe 1

Liebe 2

Tod

Glück

Punk sein


Alle Macht der Super 8


Underdog Fanzine - Interview mit Yana Yo "Als Super 8 ein Lebensgefühl war"



BÜCHER & FILME

Michael Ende: Die Unendliche Geschichte - Leseprobe
Trailer, 1984

Die Heartbreakers, 1983 - Trailer



GEDICHTE

Friederike Mayröcker

Deutschlandfunk Kultur - Interview

Gedicht: was brauchst du

Gedicht: eines Lebensabschnittes Bestandaufnahme


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Chapter 26: 1983 - Should I ...?

Chapter Text

*





* Teenagers in Love *





Lieder und Bilder farbig unterlegt im Kapitel.
Weiterführende Links am Ende.


Trigger Warning: Übergriffigkeit - nicht explizit ausgeführt.
Matzge wird hier nicht im besten Licht präsentiert, was schwierig ist, denn es handelt sich ja um eine reale Figur. Vermutlich hätte ich seinen Namen ein wenig verändern sollen. Es gibt aber mindestens einen Hinweis, dass diese Fiktion vielleicht nicht ganz fern ab der Realität liegt (s. Links am Ende).



 


1983 – Should I ...?







1. Juli – Seegefelder Straße, Spandau

Als ich die Wohnungstür aufsperre, läuft im Wohnzimmer der Fernseher. Vorsichtig stecke ich den Kopf zur Tür hinein.

„Sind die Ollen zu Hause?“

„Juten Tach och, der Herr. Nee.“

„Gut. Na, Schwesterchen?“ Ich lasse mich zu ihr auf die Couch fallen. „Wie geht`s dir denn?“

„Fertig von der Arbeit.“ Sie sieht wirklich müde und blass aus. Gar nicht mal so ein großer Unterschied zu mir – ein typisches Zwillingsding - nur der Grund ist vermutlich ein anderer. „Frühschicht?“

„Mhmm.“

Mein Gefühl sagt mir, dass da ein wenig mehr ist als nur die scheiß Arbeit, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich fragen kann. Grad ist mir Diana ein wenig fremd. „Und wat guckste da Schickes?“

„Lästerste eh nur drüber.“

Fernseher sind irgendwie komisch. In der WG haben wir keinen und irgendwie hab ich fast ein wenig verlernt, wie man das macht, anderen so beim Leben zu zu sehen.

Mit dem Abstand seit meinem Auszug versteh ich sogar Jans Abneigung gegen die Glotze ein wenig besser. Man sitzt nebeneinander, unterhält sich sogar, aber die ganze Zeit schauen alle auf ein flimmerndes Bild und mindestens die Hälfte ihrer Aufmerksamkeit ist auf die künstliche Welt in dem kleinen Kasten konzentriert, nicht auf die reale Person neben ihnen.

Irgendwie würde ich mich grad gern der Illusion hingeben, dass wir beide wieder 8 oder 10 sind, es sind große Sommerferien und wir sitzen zusammen verbotenerweise vor dem magischen Fernseher, obwohl draußen schönstes Juliwetter ist, weil Mama und Erich arbeiten sind.

Damals war unser Fernseher noch schwarz-weiß und hat ziemlich gegrisselt. Dennoch war das ein Gefühl von weite Welt, auch wenn nur der Road Runner über den Bildschirm geflitzt ist oder der rosarote Panther. Aber damals waren Diana und ich eben noch eine echt verschworene Gemeinschaft.

Wir waren uns sogar noch länger sehr nah, aber als wir dann so 14, 15 waren, da ... Sie hatte ihren ersten Freund, ihren zweiten, ich meine neue Clique mit Jörg und Ades in der Dekorateursausbildung.

„Was ist das für `ne Band?“

„Die kennste nich? Ick dachte, du bist so der Musikfuzzi. Dit is „Yazoo“.“

„Aha. Sehen irgendwie ... nett aus, aber nich so ganz mein Geschmack.“

Zum ersten Mal reißt sie ihren Blick vom Fernseher los und wirft mir einen Seitenblick zu, sieht mich dann nochmal länger an. „Allet okay mit dir?“

„Ähm, ja. ... Warum?“

„Siehst `n bisschen sehr abgerockt aus, Herr Popstar. Schon insgesamt ein Wunder, dass de dich ma wieder hier blicken lässt.“ Irgendwie klingt sie verletzt und das tut mir auch weh.

„Tut mir leid, also, mir tut`s echt leid. Ick war einfach so tierisch beschäftigt die letzten ...“ Wir haben uns echt lang nicht mehr gesehen und ausgerechnet jetzt muss ich auch noch mit so `nem Thema ankommen. Dann zieht etwas anderes meine Aufmerksamkeit auf sich.

„Häh. Dit is ja Captain Sensible. Den spiel`n sie in der Formel 1?“

„Jetz tu halt nich so arrogant, als würden die nur Müll senden."

„Okay, okay. ... Also, ick würd niemals in der Formel 1 auftreten."

„Ick dachte, du und Jan, ihr wollt berühmt werden? Könnt etwas schwierig werden, wenn ihr euch dann diesen ganzen Sendungen verweigern wollt.“

„Hmmm." Seltsamer Gedanke, aber sie hat ja nich unrecht. „Das muss ick mir dann wohl wirklich noch ma durch`n Kopf gehen lassen. Und dann mit Jan besprechen, wenn se uns anfragen.“ Als ob das jemals passieren würde.

Außerdem ist grad Berühmtheit und Reichtum ganz, ganz weit weg und was anderes angesagt. Mist. Aber da muss ich jetzt wohl durch.

„Hey, Diana?“

„Mhm ...“ Entweder ist sie trotzig wegen meiner Abwesenheit oder sie interessiert sich wirklich gerade mehr für diese Yazoo, als für mich.

Früher konnte ich einfach an ihrer Miene, ihrer Körpersprache oder ihrem Tonfall genau ablesen, was mit ihr los war. Aber irgendwie scheine ich diese Fähigkeit verloren zu haben. Oder ich habe sie auf Jan übertragen. Obwohl in den kann ich nicht wirklich rein gucken. Ich muss mich echt mal wieder mehr um Diana kümmern, aber zuerst muss ich dieses vermaledeite Problem lösen.

„Sach ma, ähm, ... könnteste deinem jeliebten Zwillingsbruder `n Hunni leihen?“

Das ist der Moment, in dem sie die Glotze nich mehr hypnotisiert. Sie starrt mich auf eine Art an, dass ich auch gleich meine Mutter anschnorren hätte können. Oje.

„Menno, Bela. Du kommst och nur hier angekrochen, wenn de wat brauchst, oder?“

Sie hat nich ganz unrecht.

„Bitte, Schwesterherz.“

Ich weiß ja auch, dass es eine absolute Arschloch-Aktion von mir ist, aber ich muss heute meinen Anteil der Miete bezahlen. Bei Jan ist das Thema echt ausgereizt und ich will ihn nicht schon wieder enttäuschen.

„Bitte, Diana! Ick geb dir den Hunni och in `ner Woche zurück. Ick brauch den für die Miete. Hast auch was gut bei mir.“

In ihrem Blick passiert etwas. „Sicher, dass de die Kohle nich für wat anderes brauchst?“

„Hä? Wie meinst`n dit?“

„Na, deen Geschlauche hier erinnert mich, ehrlich jesacht, so `n bisschen an „Die Kinder vom Bahnhof Zoo“.“

Das und ihr durchdringender Blick schocken mich. „Wie kommst `n da drauf?“

„Also, ick hab dich ja gut zwei, drei Monate nich mehr gesehen. Kuckste ab und zu och ma in `n Spiegel?“

„Ständig. Muss ja meine Haare machen.“ Es soll ein Witz sein, aber sie kennt mich zu gut. Und ich sie auch, und so weiß ich, dass sie mich easy durchschaut.

„Wir spiel`n am Wochenende `n Gig in Bremen. Dann kriechste dein Geld zurück. Großes Großer-Bruder-Ehrenwort.“

Das ich fünf Minuten älter bin als sie, ist seit ... schon immer ein running gag zwischen uns. Aber grad lacht sie nicht darüber, schmunzelt nicht mal. Stattdessen seufzt sie, steht auf, geht in ihr Zimmer.

Hab ich gewonnen oder sie jetzt komplett verloren?

Schritte auf dem Flur. In ihrer Hand zwei schöne, braune 50 Mark-Scheine.

Sie bleibt vor mir stehen, zieht das Geld weg, als ich danach greifen will, legt mir eine Hand auf die Schulter. „Wenn de dit für Drogen ausgibst, dann is Ende mit „Schwesterherz“ und „Großer Bruder“. Haste dit verstanden?“

Meine Kehle wird eng. Zum einen wegen ihrem Vorurteil, zum anderen, weil ... Ich nicke.

„Okay.“ Sie drückt meine Schulter und legt mir das Geld in die Hand, lässt ihre Hand in meiner liegen. „Wir ham uns ma echt nah gestanden – du und ich. Dirk und Diana, nich Bela und Diana.“

Auf einmal wirkt sie wirklich traurig. „Manchmal vermiss ick dit ... Ick weeß ja, dass de immer viele Leute um dich brauchst, aber ... Weeßte, ick versuch echt nich eifersüchtig auf Jan zu sein, aber manchmal ist dit echt schwer, weil ... Ick dachte, immer wir wären nich nur Zwillinge, sondern wirklich Seelenverwandte. Und jetz ...“

Kurz hab ich den Verdacht, dass sie betrunken ist oder irgendwas eingeworfen hat, weil sie so leicht schleppend spricht und so offen ist. Der Gedanke erschreckt mich bis ins Mark. Sind wir beide so? Ist sie deswegen auf die Kinder vom Bahnhof Zoo gekommen? Ist das etwas Genetisches?

Aber bei ihr ist es wahrscheinlich wirklich nur die Übermüdung von der Arbeit. Arbeit ist doch echt einfach nur scheiße und jetz nehm ich ihr auch noch ihre hartverdienten Moneten weg.

Ich beiß an meinem Fingernagel herum. Ihre Sentimentalität schwappt über mich, zieht mich mit. Das Band ist nich verschwunden, nur transparenter geworden, so dass es kurz unsichtbar gewirkt hat. „Tut mir leid – echt. Du kannst mich och weiter Dirk nennen, wenn de dit lieber magst.“

Sie lächelt, aber es ist ein trauriges Lächeln. „Nee. Is schon jut. Du mochtest den Namen nie so besonders.“

Zum Abschied nehm ich sie in den Arm. Im ersten Moment versteift sie sich, dann umarmt sie mich zurück. Es tut gut. Ja, wir waren wirklich mal unzertrennlich. Und dass das nicht mehr so ist, liegt nicht an ihr. „Ich schau bald mal wieder vorbei, ja? Mit mehr Zeit und – dann will ick wissen, wie`s dir geht. Also, wie`s dir wirklich geht.“

Sie nickt an meiner Schulter. Es fällt mir wahnsinnig schwer, ausgerechnet jetzt zu gehen, aber ich hab in einer Stunde Bandprobe und werd eh schon wieder wie üblich zu spät da sein.




Niebuhrstraße 38b, Charlottenburg

Ich muss eigentlich sofort los zur Bandprobe, will nicht zu spät kommen.

Meine Mutter hat meinen ganzen Zeitplan durcheinander gebracht. Vor einer Stunde hat sie angerufen, ob sie was vom Metro für Bela und mich mitbringen soll. Da in unserem Kühlschrank nur noch ein Glas Senf stand, hab ich widerwillig ja gesagt.

Sie denkt vermutlich, wir essen zu wenig – und so ein bisschen stimmt das ja auch. Sie war sogar so lieb mich abzuholen, vielleicht wollte sie auch ein bisschen Mutter-Sohn-Zeit haben. Ihre Begründung war, dass „ich so selber entscheiden kann, was wir brauchen.“

Der Einkauf nur für Bela und mich war dann über 40 Mark. Sie hat nichts dazu gesagt, aber mir war es trotzdem peinlich.

Aber jetzt habe ich die Hände voller Tüten mit Essen. Ein gutes Gefühl und gleichzeitig fühlt es sich an, als würde ich von den Almosen andrer Leute leben. Was neben meinem Selbstmitleid noch überquillt, ist unser Briefkasten.

Ich stelle die Tüten ab und sperre ihn auf, gehe die Post durch. Rechnung Stadtwerke, Rechnung Gaswerk, Werbung, eine Postkarte für Bela - mein neugieriges ich will sie lesen, aber ich tu es nicht – Rechnung Telefon, ein Brief mit vielen bunten Marken drauf.

Mr. John and Claire Walker
29 Railton Rd
LONDON
SE24 0LN
UK

Sehr unerwartet, fast ein Schock den Absender zu lesen. Ich hatte vor zwei Wochen einen Brief geschrieben an die Beiden, um mich für ihre Gastfreundschaft zu bedanken.

Mein Hirn kann die Infos nicht sofort verarbeiten. Mein nächster Gedanke ist: Oh, gleicher Nachname. Sind die verheiratet? Irgendwie hatte ich das nicht gedacht. Ungewohnt. In Berlin ist so gut wie niemand verheiratet.

Der Umschlag fühlt sich seltsam elektrisch in meiner Hand an. Ich kann nicht warten bis ich oben in der Wohnung bin.

„Hey mate,

we wanted to say thanks for your letter. It was really nice of you to thank us for the hospitality, but Claire and I have to say, that we actually enjoyed your short lived company in our flat very much.

We were wondering, if you would be interested in coming back. I might even have a cool job offer for you, which has to do with music. It seemed to us, that you are very fond of music in general and hey, who does not want to live and work in London. There is a lot going on here, new movements seem to emerge out of the subcultural basements. It`s quite fascinating.

So, just let us know, if I should reserve this job for you, alright?

Looking forward to hearing from you. Here is our telephone number: +442072741190176 – if there is something to organise short term.

It would be our pleasure to host you again, at least for your first weeks here, so you can get settled in.

Hugs from Claire and me"

Ich lasse den Brief sinken. Das Schockgefühl hält an, manifestiert sich noch mehr. Damit hatte ich nicht gerechnet – not in a million life times.

Dass sie mich damals einfach so mitgenommen haben, den leicht schmuddeligen Streuner, dass hat irgendwie eine Spur von Zuneigung und Verbundenheit in mir hinterlassen, obwohl das Kennenlernen so kurz war.

Außerdem bin ich neugierig auf die Veränderungen in London, über die John gesprochen hat. Klang ja fast so, als würden da gerade neue Musikrichtung entstehen. Die Geburtsstunde des Punk habe ich ja schon verpasst. Eine elektrisierende Lust auf mehr Abenteuer steigt in mir auf, gerade weil beim letzten Mal London seine Versprechungen nicht wirklich eingelöst hat.

Fast wirkt es wie ein Wink des Schicksals. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Vom Schicksal halte ich auf jeden Fall nicht viel. Entscheidungen treffe ich am liebsten selbst. Tja, und genau das werde ich wohl nun tun müssen.



Yorckstraße 48, Kreuzberg

Nach unserer Probe möchte Matzge mit uns Dreien noch etwas besprechen. Da das Risiko nah ist und auf unserem Heimweg liegt, machen wir uns auf den Weg dorthin. Bela und ich fahren mit den Rädern. Hans nimmt Matzge in seinem Bus mit.

Als wir im Risiko ankommen, sind wir die Ersten. Bela holt sich sofort bei Blixa ein Bier, dass er unter fast obszön zu nennendem Gestöhne in einem Zug halb leert. „Oh, war dit jut. Es is viel zu warm draußen.“

Er hat recht, aber ich will gerade meine sauerverdienten Kröten nicht für was zu trinken ausgeben.

„Und was möchtest du?“ Blixa sieht mich intensiv und gleichzeitig desinteressiert an. Das muss man auch erstmal hinbekommen. Aber bei ihm ist das nicht persönlich zu nehmen.

„Nichts. Danke.“ Ich grinse ihn an. Bei ihm empfinde ich sowas wie eine sportliche Herausforderung, ihn zum Lächeln zu bringen. Aber auch diese Runde des Spiels, von dem er ja nicht mal was weiß, geht an ihn. Bei Maria, die eine ähnlich coole Ausstrahlung hat, steht es immerhin unentschieden.

Er stellt mir ein Glas Wasser hin. „Es ist wirklich zu warm draußen. Besser du trinkst was, ne.“

„Danke.“ Diese fast väterliche Seite habe ich bei ihm noch nicht so oft erlebt.

Schließlich tauchen auch endlich die andern beiden auf. Bela und Matzge verziehen sich sofort ins Hinterzimmer. Ich will ihnen gerade folgen, obwohl ich schon ahne, was ihre erste Tat des noch jungen Abends sein wird, denn Matzge hat sich von Blixa mit seinem Bier ein kleines Tütchen geben lassen.

Ich mag diese Verwandlung bei Bela nicht besonders. Es ist wie ein schlechter Zaubertrick. In einem Moment ist er Bela, mein Mitbewohner, mein Bandkollege, mein Humor-Seelenverwandter, im nächsten ist er Bela, der Nachtmahr. Seine Augen leuchten dann immer noch mehr, aber nicht auf die schöne Art, sondern eher manisch, unruhig und – künstlich.

Manchmal würde ich ihm gerne sagen, dass er doch genug Licht in sich trägt auch ohne weißes Pulver. Aber er liebt sie ja, die Nacht und das Dunkle. Ich hasse seinen Tanz am Abgrund, auch wenn er sagen würde, dass es Höhenflüge sind, die er sucht.

Hans zieht mich zur Seite. „Also, so toll das Studio ist, aber sorry - mit Matzge fahr ich nicht mehr allein rum.“ Er wirkt ziemlich durch den Wind für seine ansonsten recht stoischen Verhältnisse.

„O-okay. Ähm ... was war denn los?“

„Der hat die ganze Zeit voll die seltsamen Sachen gesagt. Wie schön und außergewöhnlich mein Gesicht sei. Und dann hat er ... es angefasst, also meine Wange. Und meine Ohren. Ich wär beinahe in den Gegenverkehr gefahren vor Schreck.“

„Oh. ... Aber .. das hat er vermutlich als Kompliment gemeint. ... Oder?“

„Hmmm. Meinste? Fühlt sich irgendwie seltsam an. ... Also, mir ist echt so ein bisschen die Lust auf dem Abend vergangen.“

„Aber er wollte ja noch was mit uns besprechen.“

„Mhm. ... Na, wenn es geschäftlich ist, bleib ich wohl besser mal da.“

Wir gehen hinüber ins Hinterzimmer. Hier ist weniger los und die gute, aber infernalisch laute, Musik die Blixa durch das Risiko feuert, ist etwas gedämpfter. Ich finde die Musik echt nicht schlecht, aber gerade macht sie mich eher nervös. Bela trommelt im Rhythmus auf den Tisch mit. Ich glaube, er merkt es nicht mal. Seine Kiefer mahlt ununterbrochen und seine Pupillen sind viel zu klein.

Hans setzt sich auf den Platz, der am weitesten von Matzge entfernt ist. Auf dem Tisch entdecke ich Reste von winzigen, weißen Kristallen.

„Okay, also ... wat wollteste besprechen, Matzge?“ Nicht nur Hans will hier so schnell wie möglich wieder raus.

Im Endeffekt geht es darum, dass Jörg und er nun gerne Nägel mit Köpfen für eine Plattenaufnahme mit uns machen wollen.

Da bin ich sofort dabei, auch wenn es schwierig ist, in den Redefluss von Bela und Matzge einzusteigen. Die beiden quasseln aufgeregt wie zwei Nähmaschinen miteinander über Lieder und Cover und Aufnahmedaten.

„Was soll denn das Ganze kosten?“, fragt schließlich Hans vom Tischende.

„Na ...“ Matzge sieht auf einmal sehr ernst in unsere kleine Runde. „Ihr müsstet schon so 1.000, 2.000 Mark beisteuern für die Pressung, wenn wir die EP auf Vinyl rausbringen wollen.“

Das stoppt den Rede- und Euphoriefluss sehr effektiv.

„Puh!“, bringt es Bela auf den Punkt.



3. Juli - Strecke Berlin – Bremen

Wir verladen die letzten Teile von Belas Drums in Hans VW-Bus.

„Was is das denn?“ Matzge deutet auf die Eishockeyschläger, die Hans seit ein paar Wochen in seinem Bus herumkutschiert.

„Die hab ich von meinem Verwandtenbesuch in Finnland mitgebracht. Mein Onkel meinte, dass ich die hier bestimmt gut gewinnbringend verkaufen könnte.“

„Aha.“ Matzge sieht ihn verständnislos an. „Und warum sind sie dann immer noch hier?“

Hans reckt sich noch ein Stück, so dass er Matzge nun um fast zwei Köpfe überragt. „Ich warte auf das passende Angebot.“

„Bis dahin kannst du die ja aber auch woanders bunkern, oder? Die sind einfach voll im Weg.“

Hans sieht hilfesuchend zu mir. So sehr ich Matzges Unterstützung für uns als Band schätze, manchmal hat er schon eine extrem direkte Art. Natürlich findet Bela genau das super. Die Beiden ziehen aber auch ständig gemeinsam um die Häuser. Für mich ist Matzge manchmal einfach zu harsch.

Ich trete an Hans Seite. „Komm, die kriegen wir schon verstaut.“ Ein paar Minuten später haben wir einen Platz für die Eishockeydinger gefunden und auch die Anlage passend verstaut.

Hans rollt hinter Matzges Rücken mit den Augen. „Oh, Mann, und ich darf jetzt fünf Stunden mit dem vorne sitzen.“

„Tut mir echt leid, Keule.“

„Kannst du nicht einfach nach vorne kommen und Bela sich mit dem auf der Pritsche vergnügen?“

Oh, wow. Das Bild, dass Hans damit in meinen Kopf gezaubert hat, ist dort absolut unwillkommen. Ab und zu kämpf ich eh schon mit so wirrem Stechen in der Brust, wenn Bela mal wieder mit einer seiner „Matzge und icke war`n so druff und dann ...“-Geschichten um die Ecke biegt.

Andererseits kann ich Hans auch echt verstehen.

Es ist ja nicht nur Matzge. Er ist auch oft so ein bisschen außen vor, wenn Bela und ich mal wieder voll abheben mit unseren Spinnereien oder unserer Witzelsucht. Das ist während des stundenlangen Herumgetuckers mit dem Bus ziemlich regelmäßig der Fall. Und Hans dann oft das dritte Rad am Wagen. Keine gute Dynamik.

Plus – er muss durch Belas und meine Führerscheinlosigkeit immer Stunden hinter dem Steuer abreißen – und er stellt den Bus und auch noch den Verstärker.

Ich muss dem Fakt ins Auge sehen: ohne ihn würde es die Ärzte gerade einfach nicht geben oder zumindest nicht in dem Umfang, den wir momentan gestemmt bekommen. Fazit: Hans hat einiges bei uns, bei mir gut.

„Ähm ... Also, ähm, ja, klar. Okay.“

„Hey, danke.“ Hans fällt mir um den Hals. War wohl die richtige Entscheidung, wenn er so dermaßen erleichtert ist.

Und schon sind wir wieder auf der Transitstrecke unterwegs Richtung Helmstedt.

Nach drei Stunden fahren wir endlich auf der sehr viel ruckelfreieren westdeutschen Autobahn. Und es gibt wieder vernünftigen Radioempfang. Es kommt ein NDW-Hit. Hans lacht und gibt Gas. Auch wenn ich denn hasse, es ist fantastisch, wieder unterwegs zu sein.

Das Lied von Markus ist trotzdem einfach grausam. Dieses Jahr ist auch noch ein gleichnamiger Film mit ausgerechnet Nena in der Hauptrolle heraus gekommen. Obwohl wir beide skeptisch waren, haben Bela und ich ihn angesehen. Der hat fast unsere Schwärmerei für sie zerstört. Eifersüchtig auf Markus war ich dennoch. Das war bestimmt total genial mit Nena zu drehen. Die Energie dieser Frau. Ich kann echt nicht verstehen, warum sie sich für so einen belanglosen Schund hergegeben hat.

Die Tour durch das sommerliche Westdeutschland macht wirklich Spaß, auch wenn ich noch lieber hinten bei Bela wäre.

Ich drehe mich zu ihm um, aber er und Matzge pennen, schön mit Abstand voneinander. Ich sehe Belas wuscheligen schwarzen Haarschopf und wünsche mich zu ihm auf die Pritsche.

Erst nach Hannover hab ich mich mit meinem belalosen Schicksal abgefunden.

„Hans?“

„Ja?

„Sach ma, weißte eigentlich, was de ma werden willst?“

Und er weiß es sogar erstaunlich genau und detailliert. Nach zehn Minuten komm ich mir vor, als wäre ich der Personalchef in einem Bewerbungsgespräch.

„ ... und wenn ich dann das BWL-Studium abgeschlossen habe, dann werd ich vermutlich erstmal so ein bisschen Auslandserfahrung sammeln in einem Vertrieb oder so.“

„O-okay.“ Hört sich irgendwie echt gut an: Auslandserfahrung. Ausland. Ausland. Ausland. Es klingt so gut in meinen Ohren. Der Ruf der Sirenen. London.

„Natürlich hilft mein Studium auch der Band. Wenn wir echt erfolgreich werden wollen, dann brauchen wir auch eine Businessstrategie.“

Unsicher sehe ich zu ihm hinüber.

„Meenste?“

„Na klar. Wollt ihr nun erfolgreich sein und von der Musik leben können oder nicht?“

„Eigentlich schon. Aber klappt bisher ja nich so besonders jut.“

„Eben. Uns fehlt ein Konzept. Wir brauchen so was wie ein Alleinstellungsmerkmal, das die Leute auf uns aufmerksam werden.“

„So `n bisschen was Besonderes sind wir ja schon. Punker, die eher so Popmelodien machen mit bizarren Texten.“

„Okay, ja schon. Aber du brauchst ja auch Kund*innen, die das hören wollen und vor allem kaufen, also zum Beispiel ein Konzertticket.“

„Du meenst dit Publikum?“

„Ja, klar. Oder halt die Leute, die potentiell Platten von euch kaufen.“

„Uns.“

„Was?“

„Von uns kaufen.“

„Ja, klar. Also, vor allem geht es darum, dass das Geschäft läuft.“

Cool, wäre es schon, aber ich bin auch Realist. Wir sind nicht die Sex Pistols oder The Clash.

Ich bin echt kurz davor mich so slapstickmässig am Kopf zu kratzen. Aber er hat nicht unrecht. Sollte ich mal mit Bela bequatschen, immerhin haben wir uns geschworen reich und berühmt zu werden. Ob er das wirklich ernst gemeint hat? Manchmal wissen wir wohl selber nicht, was wir als Witz meinen und was nicht.

Ich sehe über meine Schulter wieder nach hinten. Bela pennt immer noch selig hinten auf der Pritsche. Matzge auch – immer noch in annehmbaren Abstand zu ihm. Die beiden waren gestern wohl wieder bis in die frühen Morgenstunden unterwegs. Richtig schlimm wird es, wenn auch noch Nopper mit dabei ist. Und gestern war das wohl mal wieder der Fall.

Für reich und berühmt muss man schon ein bisschen mehr investieren als nur in Alk.

Ich blicke wieder hinüber zu Hans. „Wat denkste denn wären unsere nächsten Schritte?“

„Na, das mit dem Sampler war schon mal nicht schlecht. Richtig gut, wäre halt jetzt eine eigene Platte nachzuschießen, wenn man noch in aller Munde ist.“

„Mhm. Bräuchten wa da nich mehr Lieder für?“

„Kannst ja welche schreiben. Du bist doch der Mastermind in Bezug darauf.“

„Und Bela.“

„Ja, klar, der schon auch. Texten könnt ihr beide super. Aber die meisten guten Songs stammen ja doch eher aus deiner Feder. Du hast einfach ein Händchen für Melodien.“

Es schmeichelt mir, aber ... „Hast du nicht Lust, mal was beizusteuern? Kamelralley war doch ganz nett.“

„Ähm, ja. ... Danke. ... Ähm, ja, klar, kann ich schon machen.“

„Cool.“

Den Rest der Strecke nach Bremen fahren wir schweigend weiter. Ich sehe auf den Flyer für das Konzert.


Ja, klar geht das professioneller, aber verraten wir damit nicht unsere Wurzeln?

Und neue Songs müssen her. Hmmm ... Meine Gedanken schweifen umher und landen im Freibad.

Ich summe eine Melodie im Kopf, dann beginnen sich Worte darüber zu formen.


Paule heißt er, ist Bademeister im Schwimmbad an der Ecke
Paule heißt er, ist Bademeister


Die Melodie ist wirklich gut, sehr upbeat, hat was Sommerliches. Aber wie weiter mit dem Text?



Kulturzentrum Schlachthof, Bremen

Fabsi von den Mimmis nimmt uns in Empfang. Er hat auch alles für uns organisiert hier. „Hey, Jungs. Voll gut, dass ihr hier seid. Ich hab leider gar nich so viel Zeit für euch. Ich muss noch etwas vorbereiten.“

Es klingt ziemlich geheimnisvoll.

„Hier könnt ihr dann heute Nacht pennen.“ Er zeigt auf den Raum hinter der Bühne. „Kennt ihr ja von den letzten Malen schon.“

Bela tastet nach dem Lichtschalter. Neonröhren beleuchten mehrere vollgeschmierte Stockbetten, auf denen echt übel aussehende Matratzen liegen. Und der Geruch. Wow.

So sehr ich Bremen mag – in diesem Schlafsaal würde ich am liebsten die ganze Nacht die Luft anhalten. Oder mir eine Gasmaske aufsetzen. Ich bin ja echt einiges gewohnt aus Berlin, aber die Zustände in diesem Schlafsaal hab ich nicht mal auf Reisen in armen Länder gehabt. Wenn ich die „Betten“ nur ansehe, kribbelt meine Haut schon.

Sogar Bela neben mir stöhnt entsetzt auf. Hans ist dagegen erstaunlich ruhig. Keine Ahnung, warum das ausgerechnet ihn, unser gutbürgerliches Reichenkind, so kalt lässt. Ach so ja, der kann ja in seinem VW-Bus pennen, der Glückliche.

„Oje. Dit is echt anders gruselig und nich im Guten.“ Bela zieht eine Grimasse. „Ick hat vergessen, wie krass dit hier is.“

„Oder verdrängt“, füge ich hinzu.

„Oder zu besoffen ...“

„Bingo ... Wenn ick mich richtig erinner. Ick geb`s nich gern zu, aber vermutlich wäre besoffen echt eine gute Option heute.“

Sofort geht ein interessiertes Strahlen über Belas Gesicht.

„Nee. Vergiss et. Dit war `n Witz.“

Bela mustert mich. „Ick muss ehrlich sagen, dass es mich ja schon so `n bisschen interessiert zu sehen, wie du auf Alk abgehst.“

Ich strecke Bela die Zunge raus, was er mit „Hmmm, vielversprechend!“ kommentiert, hau ihm dann mit Schmackes auf den Hintern. In seinen Lederhosen klatscht es besonders gut.

„Dit wär och okay“, grinst er.

Ich verdrehe die Augen, aber Bela grinst einfach weiter.

Ich seh zu Hans, der aber von unseremGeflachse oder viel mehr Geflirte gar nichts mitbekommen scheint. Besser so. Aber dass der nicht checkt, dass ... Mir kommt es so offensichtlich vor, dass was zwischen mir und Bela ... Es macht mich immer wieder unsicher, aber andererseits hat sich auch nicht wirklich was geändert. Wir waren schon bei Soilent Grün so.

„Also, wenn de dich betrinken willste heute, nee ...“

„Pfui aus, Bela.“

„Hey, ick bin doch keen Hund.“

„Egal. Also, ick ... will dit einfach nich.“ Der Hauptgrund, warum ich kein Alkohol trinke, ist, dass ich Leute gesehen habe, die damit überhaupt nicht umgehen konnten – früher als ich noch jünger war. Und es ist nicht direkt besser geworden.

Auch Bela ist da keine Ausnahme, aber ich vertraue ihm – meistens.


*



Ein paar Stunden später kommen auch die anderen Bands an. Es ist ein großes Gejohle, als die Kerle von der „Deutschen Trinkerjugend“ eintrudeln.

„Dieses Mal entkommst du uns nicht, Farin.“ Jenne, der Sänger, hebt entschlossen die Hand.

„Och, wird euch dit nich langweilig?“

„NÖÖÖÖÖ“, kommt es sehr vollmundig zurück.

„Da müsst ihr euch aber schon wat Besseret einfallen lassen als Batida de Coco, Jungs.“ Wahrscheinlich sollte ich nicht auch noch ihren Ehrgeiz anstacheln.

Jenne tuschelt mit seinen Bandkollegen. Schon zu spät. „Kein Problem. Machen wir.“

Fabsi kommt zu uns herüber und legt Bela und mir einen Arm um die Schultern. Hans ist irgendwie seit einer Stunde verschwunden. Vielleicht lernt er für die Uni. Er hat wohl irgendeine Prüfung nächste Woche. Zum Glück hab ich den Lernkram hinter mir.

„Wollt ihr `n Geheimnis erfahren?“ Fabsi sieht sich vorsichtig um.

„Aber immer!“ Bela nickt enthusiastisch.

„Aber pssst, nee? Das bleibt unter uns.“

„Mann, Fabsi. Nu machste aber echt `n Geheimnis draus.“

„Okay. Also, nächste Woche kommt das erste Album der Hosen raus.“

„Wie ... Album?“ Bela kriegt ganz große Augen.

„Na, die bringen auf ihrem eigenen Label Totenkopf nächste Woche `ne LP raus.“

Der Boden des Kulturzentrums scheint nicht ganz stabil zu sein. Auch die Wände nicht. Die Zeit dehnt sich merkwürdig, als wäre ich in einen Unfall verwickelt.

„Jetz ernsthaft?“, höre ich irgendwann Bela fragen.

Fabsi nickt.

„Krass.“ Belas Mund bleibt offen stehen. Ich bring kein Wort heraus.

„Ja, nee?“ Fabsi wirkt echt begeistert. Irgendwie ja auch verständlich. Schließlich ist er ja ZK-Weggenosse von Campi und Kuddel. „Wollt ihr ein paar Songs hören?“

„Geht das denn?“ Bela sieht so geschockt aus von den Neuigkeiten, wie ich mich fühle.

„Ihr müsst halt wirklich absolutes Stillschweigen darüber versprechen.“

Brav halten Bela und ich eine Hand hoch. „Pfadfinder-Ehrenwort!“

Fabsi lacht und geht mit uns in einen kleinen Nebenraum. Er holt eine Platte hervor. Ehrfürchtig betrachte ich das Cover. Sie haben es echt geschafft. Und das ganze Konzept sieht echt verdammt gut aus. Okay - ich bin offiziell neidisch und - was noch schlimmer ist: ein wenig fühl ich mich wie die Armee der Verlierer.

*



Das Konzert ist super. Wir spielen allerdings nicht in der großen Halle des Schlachthofs, sondern unten im Magazinkeller. Auch ein bisschen eklig, wenn man sich vorstellt, dass sie hier die Tiere zerteilt und gelagert haben. Puh.

Natürlich spielen „Die Mimmis“ in ihrem Set das Lied „Arztgeschichten“, wobei sie uns die ganze Zeit angrinsen.

Danach sind wir dran. Da wir nun bereits zum dritten Mal im Schlachthof sind, können ein paar Leute im Publikum sogar Lieder mitsingen. Heute bin ich vielleicht auch durch die Fahrt irgendwie voll auf Hans gepolt. Am Ende singe ich Kamelrallye mit ihm, weil es leider doch immer etwas dünn und unleidenschaftlich klingt, wenn er das alleine tut.

Insgesamt macht es total Spaß, endlich mal wieder die Lieder außerhalb des Proberaums zu spielen, Bela wie einen kleinen Teufel am Schlagzeug abgehen zu sehen. Mit Publikum und Auftrittsadrenalin ist er noch mal doppelt so gut.

Leider bekommt meine Euphorie nach dem Konzert ordentlich Schlagseite. Bela wird, kaum ist er von der Bühne runter und Richtung Tresen gewankt, von einer mir unbekannten Punkette in Beschlag genommen, mit der er sich lange - wirklich lange - unterhält. Währenddessen steht er viel zu nah an der Tussi dran, seine Hand lehnt an der Wand, knapp neben ihrem Kopf und ... überhaupt.

Mann, vielleicht wären Drogen manchmal wirklich gar nicht schlecht. Aber – Nein. Ohne Danke.

Ein sehr viel verlockender Gedanke zieht durch mein beleidigtes Gemüt. Dann suche ich mir halt auch jemand. Wenn man am Abend auf der Bühne stand, ist das gar nicht so schwierig, wie ich an den verschiedensten Avancen in den letzten Jahren schon gemerkt habe.

Aber erstmal muss ich der Dehydrierung entgegenarbeiten. Bühnenarbeit ist gar nicht so mühelos, wie sie vielleicht aussieht.

Der Typ hinter der Theke hat einen perfekt gestylten schwarzen Iro und stellt mir wortlos eine Flasche Bier hin, obwohl ich noch gar nichts gesagt habe.

In der Ecke kann ich Jenne kichern sehen. Oje. „Äh, könnt ick vielleicht `ne Apfelsaftschorle haben?“

Der Typ dreht mir den Rücken zu, mischt irgendwas und hält mir dann ein großes Glas hin. Vorsichtig rieche ich daran. „Vielleicht eine ohne Hochprozentiges?“ Keine Ahnung was da drin ist, denn es riecht extrem nach Apfel, aber eben noch extremer nach Alk.

Die Trinkerjugendjungs machen ein ganz trauriges Gesicht, weil ihr toller Plan nicht aufgegangen ist. Fast tun sie mir leid.

Als Nächstes zapft der „Barkeeper“ ein Glas frisches Leitungswasser und stellt es mir hin. Anscheinend ist auch er in seiner Ehre gekränkt. Mir egal. Hauptsache kein Alk.

„Hey, Farin.“ Ein sehr junger Mann im Rockabilly-Style, spricht mich von der Seite an. „Ähm, also ... Hallo, ich bin Jacques.“

„Hi!“ Ich schüttle ihm die Hand und lehne mich rücklings gegen die Theke.

„Also, ähm, tut mir leid, dass ich dich hier so anquatsche, aber ...“ Er wirkt leicht aufgeregt, vielleicht ist er aber auch einfach nur unsicher. Irgendwie süß. Als wäre ich ein richtiger Star. Ich muss grinsen und er erwidert es, scheint sich ein wenig zu entspannen. „Also, ich wollte fragen, ob du vielleicht ein paar Tipps hast zum Thema Band.“

Ich weiß echt nicht, warum er ausgerechnet mich zum Spezialisten für Bands erkoren hat, aber er wirkt nett. Und ich mag seinen Cowboyhemd und die Tolle, steht ihm wirklich gut.

Mein Hirn muss erstmal umschalten von Auftritt und abwesendem Bela und Alkoholstreichen und ich mich auf diesen sehr lieben, schüchternen Typen einstellen. „Okay. ... Was willste denn wissen?“

„Also, ich würde gerne mit ein paar anderen eine Band gründen. Wir haben sogar schon einen Namen „The Waltons“.“ Er sieht sehr stolz aus.

„Cool. Hört sich gut an. Aber wie kann ich euch da helfen?“

„Na, du und Bela, ihr habt doch ein bisschen Erfahrung.“

„Ja, so `n bisschen. Aber wir ham uns halt alles selbst zusammen geschrammelt und eher so nach Instinkt, nee.“

„Das ist okay, wobei ich jetzt nicht direkt gegen kommerziellen Erfolg bin.“

„Wir auch nich, aber bis man den mal hat. Da is schon och `ne Menge Glück dabei. Was wollt ihr denn so spielen?“

„Cowpunk.“

Ich muss lachen, wirklich lauthals lachen. „Das klingt ja schon mal interessant.“

Nach einer Viertelstunde landen wir schließlich bei Elvis, Buddy Holly und den Beatles. Ich hab mich echt schon lange nicht mehr spontan so gut unterhalten, denn auf einmal ist es ein Uhr nachts und Bela taucht an meiner Seite auf.

„Na, ihr Beeden? Hallo, ich bin Bela“, stellt er sich Jacques vor.

„Ich weiß, wer du bist.“ Das nervöse Leuchten ist nun wieder in seinen Augen zurück und in seiner Körpersprache.

„Oh. Okay.“ Bela sieht mich überrascht an. Jacques wirkt wirklich wie ein aufgeregter Fan, was niedlich und seltsam ist.

„Ich find echt cool, was ihr macht. Also, ähm, dass eure Musik mit den Ärzten so außerhalb der Punk-Kategorie ist. Also, sowas will ich mit meiner Band auch machen.“

„Cool.“

„Cowpunk“, sag ich, weil ich weiß, dass das Bela genau so amüsieren wird wie mich und natürlich lacht er genauso herzhaft, klopft Jacques auf die Schulter, der nun richtig strahlt.

„Genial. Ey, ick würd echt gern noch was mit euch trinken, aber ick bin tierisch müde.“ Er sieht mich an. „Willste mit nach hinten kommen?“

Ich nicke leicht hypnotisiert von Belas Präsenz, obwohl ich eigentlich gerne noch mit Jacques weiter gequatscht hätte.

„Hey, war schön mit dir zu reden, Jacques. Allet Jute für deine Band. Vielleicht sehen wir uns ja mal wieder.“

„Ja, das wäre echt toll.“

Wir schleichen uns in den Schlafsaal, trauen uns nicht, das Licht anzumachen. Matzge und einige der, nun komatösen, Trinkerjungs pennen schon.

Es riecht fast schlimmer als draußen im Saal. Von wegen nicht trinken, hier reicht atmen. Die Anderen scheint das Ambiente nicht zu stören, so tief wie die pennen. Keine Ahnung, wie die das hinbekommen. Wahrscheinlich deswegen der viele Alkohol - als natürliches Desinfektionsmittel.

Ich gehe im anliegenden Klo Zähne putzen, um zumindest den Anschein von Hygiene aufrecht zu erhalten.

Auf dem Klo hangelt sich neben mir eine sehr dünne, durchsichtige Spinne von der Größe meiner Handfläche an ihrem seidenen Faden nach oben. Meiner reißt demnächst, wenn das hier so weiter geht. Vielleicht sollte ich einfach zu Hans nach draußen in den Bus klettern, aber aus den Augenwinkeln hab ich mitbekommen, dass er eine Frau aus dem Publikum abgeschleppt hat – zumindest sah es so aus. Das sollte Ulla wohl besser nicht wissen.

Bela taucht im Klo auf. „Kann ick deine Zahnbürste haben? Meine is draußen im Bus.“

„Wenn dich dit nich ekelt?“

„Wieso sollte es?“, kommt es ungerührt zurück und ich drücke sie ihm in die Hand.

In den Etagenbetten in der einen Ecke schnarchen die Trinkerjungs, auf der anderen Seite Matzge. Ich hab keine Ahnung, wie ich hier Schlaf finden soll.

Bela und ich legen uns in die untere Etage der Betten in der Mitte. Praktischerweise stehen hier zwei Stockbetten so zusammen, dass wir wirklich nebeneinander liegen.

Nah. Auf einmal ist er wieder so nah. Ich höre und spüre an den Vibrationen des Bettes, wie er sich hin und her wälzt.

Ich drehe mich zu ihm hinüber. „Kannste och nich pennen?“

„Zu wenig Alk“, kommt die gewisperte Antwort aus der Dunkelheit. „Voll doof.“

„Gab doch genuch.“

„Ja, aber ick wollt nich ... Wegen dir.“

„Wegen mir ...? Echt?“

„Ja, weil ... Is ja nich so schön, wenn du dit nich so magst und ich dann so krass nach Alk stinke.“

„Ähm, dit is ja echt lieb von dir, aber ... In Berlin verzichteste doch och nich darauf.“

„Na, aber da kannste ja immerhin abhauen in dein eigenes Bett. Tuste ja sowieso immer. Also, is es da egal.“

Ha. Interessante Sichtweise.

„Und jetz ausgerechnet in dieser Gruselkammer biste nüchtern geblieben?“

„Mhm. War vielleicht nich die schlauste Idee. Es is echt gruselig hier, oder?“

„Dit findeste doch ansonsten immer so super“, flüster ich zurück.

„Pfff. Sehr witzig. Ick find`s eher eklig. ... Außerdem - ick bin total rattig.“

Ich muss ein Lachen unterdrücken. „Vor Ekel, oder wat?“

„Soll ick lügen?“

„Dann hol dir halt auf`m Klo einen runter.“

„Sehr romantisch, Herr Urlaub!“

„Was willste denn sonst machen?“

Bela richtet sich neben mir auf. „Na, ick dachte so an `n bisschen rumknutschen und fummeln mit dir.“

Die letzten Male mit ihm waren ... verdammt gut. Aber so ganz hab ich mich noch nicht daran gewöhnt, dass wir – nun auch sowas machen.

Es kribbelt in mir, aber ich kann nicht sagen, ob es Lust oder die Angst ist, dass uns jemand erwischt, zum Beispiel Matzge.

Seine Haare streifen über meine Stirn, als er sich über mich beugt und das Kitzeln zieht durch meinen Bauch zwischen meine Beine, aber ... Das ist jetzt nicht sein Ernst, oder?

„Hier?“

„Warum nich?“

„Weil ... Muss ick dit echt erklären?“, flüster ich zurück. Anscheinend. Eigentlich weiß ich ja, dass Bela wenig Hemmungen kennt, wenn er betrunken ist, oder auf Drogen. Bei Geilheit scheint es das Gleiche zu sein. Hätte ich mir auch denken können.

„Also, mit all den Leuten hier. Die kenn uns ja och. Und außerdem ... ausgerechnet Matzge.“

„Findeste dit denn echt sooo schlimm mit Matzge?“

„Was meinste genau?“

„Na, das der halt so ... Vorlieben hat.“

„Sorry, aber ich check echt grad nich, von was du sprichst.“

„Hans meinte, dass du und er Schiß vor ihm haben.“

Oh. Ich hätte nicht gedacht, dass Hans sich Bela anvertraut mit sowas. Aber irgendwie ist das auch gut. Die beiden haben sonst nicht so den Draht zueinander und manchmal macht mir das Sorgen.

Wenn Bandmitglieder nicht miteinander klar kommen, kann das schnell das Aus sein für so eine Gruppe, die ja wirklich viel Zeit miteinander verbringt. Für mich fast wie eine Ersatzfamilie ist.

„Naja, er hat uns beide schon mal ganz schön angebaggert. Vielleicht hat er dit jemeint!“

„Oh! Wusst ick nich. Na, der mag halt Typen – ausschließlich Typen. Is doch nich so schlimm. Bist doch so `n kleener Spießer, wa?“ Selbst im Flüsterton kann ich die Provokation heraushören.

„Hey!“, entfährt es mir viel zu laut. Bela ist viel zu gut darin, mir seine beringten Finger in die Wunden zu legen.

„Pssst.“ Ich sehe sein Grinsen im Dämmerlicht.

Ich drücke ihn zurück auf seine Matratze, beuge mich langsam über ihn. „Dit würd dir gefallen, hm?“ Der Gedanke kribbelt nicht nur in meinen Gedanken, sondern auch über meine Haut, auf meinen Lippen.

Belas Atem streift über meine Wange. Er riecht heute nicht so sehr nach Alkohol und Rauch, sondern vor allem verschwitzt vom Konzert. Ich rutsche in meinem Schlafsack noch ein Stück näher an ihn heran.

Eine Hand in meinem Nacken und schon hat er mich zu sich hinüber gezogen. „Ick mag den Kick vielleicht erwischt zu werden“, raunt er in mein Ohr und ein fieser Schauer zieht durch meinen Bauch direkt in meinen Schwanz.

„Oh, fuck. ... Ey, du bist echt mein Untergang. Aber nich hier.“ Ich ziehe ihn durch die Hintertür hinaus in die laue Juninacht. Draußen ist es im Gegensatz zu drinnen ziemlich ruhig, nur in der Ferne hören wir das Rauschen der Autobahn. Hinter dem Schlachthof ist ein kleines Wäldchen. Dort reicht das Licht der Straßenlaternen nicht hinein.

Wir verschwinden in der Dunkelheit, sehen uns einen Moment im Dämmerlicht an. Bela streckt langsam seine Hand aus, fährt über meine Wange, über meinen Hals, meine Brust, meinen Bauch. Er hebt mein T-Shirt an und zieht es hoch, drängt mich an den Stamm eines großen Baumes, lässt mich fühlen wie sehr er das – mich? – will.

Seine Finger an den Knöpfen meiner Jeans. Mein Atem wird allein dadurch schon schneller. Er hält mir den Mund zu, nicht weil uns hier jemand hören könnte, sondern weil er wohl noch vor mir begriffen hat, wie sehr mich das anmacht. Ich schmecke das Metall seiner Ringe, fühle sie gleichzeitig an seiner anderen Hand, wie sie über meinen Schwanz streichen. Diese zusätzliche Stimulation ist so verdammt gut.

Er will vor mir in die Knie gehen, aber ich ziehe ihn wieder hoch, lenke ihn ab, küsse ihn.


Als wir uns zurück in diesen fürchterlichen Schlafsaal schleichen, bin ich zumindest wirklich müde. Bela öffnet seinen Schlafsack, dann meinen, legt ihn wie ein Laken auf die Matratze, breitet seinen über uns.

Bela kuschelt sich unter dem Schlafsack an mich. „Weeßte, dass ick dit echt schön find, einfach ma mit dir einschlafen zu können?“

Seine Worte ziehen so warm durch mich. Ich drehe mich zu ihm hinüber, fahre mit meinem Arm unter seinem Nacken durch und ziehe ihn an mich. Auf einmal sind wir doch wieder am Rumknutschen und es macht mich, obwohl ich so müde bin und ich immer noch Schiss hab, dass irgendjemand aufwacht, wieder geil, aber vor allem ist es schön – erschreckend schön.


*



Auf der Rückfahrt würde ich so gerne Müdigkeit vortäuschen, um mit Bela hinten liegen zu können, aber ich will den armen Sahnie nicht zu fünf Stunden mit Matzge verdonnern.

Immerhin könnte ich das ja alles auch zuhause haben. Schön doof, dass ich das dort nicht mehr auslebe, aber ... Irgendwas daran macht mir Angst.

Nach zwei Stunden ist Bela wieder wach. Ich höre ihn hinter meinem Sitz rumoren, spüre dann Hände in meinem Nacken, auf meinen Schultern. Bela massiert mit viel Druck und Gefühl und ich muss schnell ein Stöhnen unterdrücken, weil es sich so verdammt gut anfühlt.

„Mensch, sind Sie verspannt, Herr Senheimer.“ Er beugt sich über den Sitz noch ein Stück näher zu mir, flüstert mir ins Ohr. „Weißte noch, damals nachts auf der Rückfahrt von Braunschweig.“

Ich bin heilfroh, dass der dröhnende Motor des Busses seine Worte vermutlich verschluckt hat. Vorsichtig rutsche ich in meinem Sitz ein Stück nach unten und stütze meine Knie gegen die Ablage, um meine „Erinnerung“ zu verbergen.

Seine Hände sind jetzt mehr ein liebevolles Streicheln, dass von außen vielleicht gedankenlos wirkt, aber ich kann spüren wie viel Gefühl er in jede seiner Berührungen hinein legt und es zieht so warm durch mich.

Vielleicht sollte ich die Gelegenheiten in der WG wirklich mehr auskosten. Bela hat mich ja oft genug eingeladen.




*
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LYRICS

The Clash - Should I stay or should I go?

UK Subs - Primary Strength

Markus - Ich will Spaß

S.Y.P.H. - Unreif für die Zukunft

Die Mimmis - Seemann

Deutsche Trinkerjugend - Das schäumende Bier

Die Toten Hosen - Die Armee der Verlierer

Die Mimmis - Mein privater Rockstar

Iggy Pop – Beside you



ADDITIONAL SONGS & VIDEOS

DTH - Die Armee der Verlierer mit Interview

die ärzte covern / teasern beim Soundcheck: Die Toten Hosen – Armee der Verlierer

die ärzte bei Die Toten Hosen - die Armee der Verlierer

Formel 1, 1988 - die ärzte - Interview & Radio brennt

Formel 1, 1985 - die ärzte - zu spät


INFOS

Tip Berlin - Eine Berliner Legende: Das Risiko von Hagen Liebing

Reflektor podcast mit Bela B - Matzge ab 33:33

Wikipedia Film "Ich will Spaß"

ZK Homepage

Wikipedia - Die Mimmis


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Chapter 27: 1983 - Trip

Chapter Text

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* Teenagers in Love *





Lieder und Bilder farbig unterlegt im Kapitel.
Weiterführende Links am Ende.

Ihr Lieben,
nun wird es leider doch unschön.
Einige haben das ja schon geahnt. I`m sorry. Really.
Die Biographie ist schuld, auch wenn das hier alles zu 80 % fiktiv ist.

Trigger:
Verhalten unter Alkohol- und Drogeneinfluss




 

 

 

 

 

1983 – Trip






4. Juli – Niebuhrstraße 38b, Charlottenburg

Ich komm aus der Dusche. Wow, hat das gut getan nach der langen Fahrt zurück nach Westberlin.

Wir sind grad noch so in Sahnies Schüssel vor Sonnenuntergang über den Grenzübergang geholpert Richtung altvertrauter Silhouette des Funkturms – wieder zu Hause. So sehr ich das unterwegs sein auf Tour mag, die Euphorie eines Auftritts, eine exzessive Nacht in einer anderen Stadt, zurück nach Berlin zu kommen, ist mindestens genau so schön.

Vorsichtig versuch ich mit einer Bürste meine verfilzten Haare zu entwirren. Mann, langsam werden sie so lang wie ich sie gerne hätte. Cool. Ich schmeiß meine ekligen Klamotten in den Sack für den Waschsalon und bind mir ein Handtuch um.

Eine Dampfschwade verlässt mit mir das Badezimmer. Ich klopf an Jans Tür. „Hey, die Dusche ist jetzt frei.“

Ich will schon rüber in mein Zimmer, als seine Tür aufgeht.

„Ähm, Bela?“ Jan scheint nicht mal erstaunt, dass ich so wenig anhab, sein Blick bleibt auf meinem nackten Oberkörper hängen, seine Augen gleiten über meine Haut und sein aufmerksamer Blick ist fast wie ein körperliches Streicheln. Jans Blick auf mir ist so ernst, aber vor allem offen.

Irgendwas liegt auf einmal in der Luft.

„Ick ... Ick wollt ...“ Er kommt einen Schritt auf mich zu. Vorsichtig streckt er seine Hand nach mir aus, streicht nun wirklich mit seinen Fingern über meine Schulter. Ganz leicht nur. Von seinen Fingerspitzen breitet sich eine warme Welle unter meiner Haut aus.

„Ick...“ Er zieht sein T-Shirt über den Kopf.

Ich hebe erstaunt eine Augenbraue. „Wat wird’n dit, Monsieur Urlaub?“

Er antwortet nicht, öffnet den Knopf seiner kurzen Hose, die er seit gestern trägt. Trotz seiner Fassaden kann ich ihn normalerweise lesen, als hätt ich einen instinktiven Schlüssel, als würd ich die geheimen Türen in seinen hochgezogenen Wänden kennen.

Aber grad ist da gar keine Fassade, durch die ich mich fühlen muss. Ungewohnt. Trotzdem versteh ich grade nich, was mit ihm los ist. Und immer noch dieser ernste Blick auf mir, aber so offen wie ich ihn selten sehe, obwohl da auch ein Kampf gegen die Schüchternheit ist, den ich in ihm verfolgen kann.

Ein Moment des Zögerns, dann streift er auch seine Unterhose ab. Es ist kein Striptease und es hat auch nicht diese Wirkung auf mich. Seine Hände wandern vor seinen Körper, aber da sehe ich gar nicht hin, denn meine Augen bleiben gefangen in seinem Blick hängen. Es ist das Verletzlichste, was er in den vergangenen drei Jahren getan hat.

Er räuspert sich. „Ick geh jetzt och duschen und dann... dann würde ich gerne zu dir kommen und...“ Er beisst sich auf die Lippen. Es ist vermutlich ein Zeichen von Unsicherheit, aber genau diese kleine Geste macht mich nun an.

Er lächelt mich nochmal vorsichtig an, auf eine Art, die ich von ihm nicht kenne. Kein großes Grinsen, kein unterschwelliger Witz, kein ironisches Augenbrauen heben, einfach nur ein kleines, schüchternes Lächeln.

Es schnürt mir ein wenig die Luft ab, denn das ist sehr, sehr nah dran an etwas, dass verdammt nochmal das Beste werden kann, was wir füreinander sein können – oder uns in die Vollkatastrophe schliddern lässt.

Die letzten Monate hab ich ihn echt bei jeder Gelegenheit mit körperlichen Sachen provoziert, einfach weil das so viel unverfänglicher war, hab mir dankbar genommen, auf was er eingegangen ist. Aber ihn so zu sehen ...

Gedankenversunken geh ich in mein Zimmer und fall auf mein Bett. Es macht mir auch Angst, dass auf einmal ein vergrabener Wunsch wahr werden könnte.

Ich bin ein wahrlich schlechter Kandidat, um die Wunden, die Bine hinterlassen hat, zu schließen. Ganz zu schweigen die Wunden zu heilen, von denen ich nur erahnen kann, dass sie existieren, von denen ich nicht mal weiß, woher sie kommen.

Ich würde es gerne, aber das ist verdammt viel Verantwortung für so einen umtriebigen Punk wie mich, mit meinen ständigen Parties und Liebschaften. Deswegen war ich ja bisher auch so vorsichtig mit uns beiden.

Außerdem, wenn ich ihn so sehe, wenn er sich so zeigt, dann begehrt auch in mir die Seite auf, die weniger mit Sex und mehr – vielleicht viel zu viel - mit dem kleinen, verletzlichen Herz zu tun hat. Ob das gut gehen kann ...

Die Dusche verstummt und auf einmal bin ich nervös, weiß nicht, ob es gut ist, wenn er zu mir kommt. Ich warte fast ein wenig atemlos, hab meine Tür nur angelehnt. Ich verkriech mich unter meiner Bettdecke.

„Bela?“ Vorsichtig schwingt die Tür auf.

„Ja?“

„Hey.“ Leicht zögerlich kommt er herein. Er steckt nun wieder in einer Unterhose. Dennoch wirkt seine ganze Ausstrahlung immer noch ungewohnt nackt. Unschlüssig steht er vor mir. „Ick ... Kann ich zu dir ins Bett kommen?“

Ich setz mich hin und lehn mich gegen das Kopfende meines Bettes. „Ich bitte darum.“ Mit einer leicht theatralischen Geste heb ich die Bettdecke für ihn hoch.

Er klettert auf mich zu. Seine Knie berühren meine Seite. Er setzt sich zurück auf seine Fersen und beugt sich zu mir hinunter.

Ich kenne ihn jetzt drei Jahre und dennoch ... Da ist noch so viel mehr Tiefe in ihm. Wir haben einander noch lange nicht ausgelotet.

„Ick ...“ Er hebt vorsichtig seine Hand, fährt mir durch die Haare. „Weich.“ Ein warmes Lächeln auf seinen Lippen zieht seinen Mund in die Breite, zaubert die langen Grübchen hervor. „Schön.“

Seine großen Finger streichen Kreise, massieren ganz leicht über meine Kopfhaut und meine Augen fallen zu vor lauter Wohlgefühl. Wäre ich eine Katze, würde ich nun wirklich das Schnurren anfangen.

Jan setzt sich neben mich und legt die Bettdecke über uns.

„Nich aufhören.“ Ich stupse mit meinem Kopf gegen seine Schulter.

Er lacht, dann spüre ich seine große Hand in meinem Nacken, an meinem Kopf. Meine Augen fallen zu. Ich lehne meinen Kopf an seine Schulter. Seine Haut ist noch ein wenig feucht und riecht nach Nivea-Seife.

„Du siehst och mit so glatten Haaren jut aus.“

„Danke.“

„Wollt ick nur ma jesacht ham. ... Könnt och `n neuer Style sein für dich.“

„Nee. Dit wär wie unjeschminkt raus geh`n.“ Die Vorstellung entsetzt mich ernsthaft, aber es ist einfach gerade so behaglich neben ihm. „Dit is, wenn überhaupt, nur für dich.“

Er küsst mich auf den Kopf. „Mann, bin ick froh, dass dieser Gestank von Bremen runter is. Ick weeß echt nich, ob ick mich überhaupt noch als Punk qualifiziere: keen Dreck, keen Alk ...“

„Du bist halt Punk im Herzen - und in deinem viel zu großen und viel zu nachdenklichen Schädel.“

Augenblicklich zieht Jan sich zurück, seine Hände sind weg. Aber es ist nicht nur körperlich, sondern vor allem auch emotional – eine minimale Veränderung in der Spannung in ihm.

Ich öffne meine Augen. Für einen Moment steht etwas zwischen uns. Ich hätte gern einen Namen für diese Wand, die immer wieder so plötzlich auftaucht. Kennt er ihren Namen?

Dann entspannt sich sein Körper mit einem leisen Seufzer wieder. „Ick würd dit echt gern `n bisschen ändern.“

„Willste anfangen zu saufen, oder wat?“

Schon wieder flackert die Wand auf. „Nee. Dit wird nie passieren.“ Seine Stimme, seine ganze Haltung wird für einen langen Moment härter. „Nee, also, ick mein, dit mit dem zu viel Nachdenken und so. Tut mir echt nich jut und löst och nüscht.“

„Mhm. ... Auf wat kauste denn rum, dit sich nich löst?“ Ich halt vorsichtig die Luft an. Hat es mit mir zu tun?

„Olle Kamellen, die noch nie jut geschmeckt ham. Könnt ick och ma ausspucken, wa? Anstatt zu denken, dass die irgendwann, wenn ma se nur jut genuch kaut, doch noch süß werden.“

„Mhm. Vielleicht.“ Von was redet er?

Auf einmal sind seine Hände zurück. Groß und warm in meinem Nacken. Er streicht über meinen Hals und diese Stelle ist wirklich empfindlich. Seine Finger streichen gedankenverloren über den feinen Knochen meines Schlüsselbeins, dann küsst er mich leicht auf die Schulter, lässt seine Lippen dort liegen.

Seine Hände fahren über meine Brust, erforschen Zentimeter für Zentimeter meine Haut. Mein Atem wird schneller, ich kann es nicht verhindern, aber er ignoriert es, fährt mit seinen Fingern weiter leicht über meinen Bauch, über meine Rippen.

Er dreht seinen Kopf an meiner Schulter, folgt mit seinem Blick wie hypnotisiert den Berührungen, gleitet wieder zurück über meine Brust, meinen Hals. Er fasst behutsam mein Kinn und dreht mein Gesicht langsam ganz zu sich.

Er streicht meine glatten Haare zurück, aber sie scheinen sich noch einen Rest Wildheit behalten zu haben nach dem Bürsten, denn sie lassen sich nicht von ihm bändigen. Er streicht die Strähne hinter mein Ohr, berührt es ganz leicht, sieht mir dabei die ganze Zeit in die Augen. Diese undefinierbare Farbe in seinen – zwischen allem.

Auf seiner Stirn zeichnet sich eine kleine, steile Falte ab. Langsam beugt er sich zu mir, sein Blick versinkt noch tiefer in meinen und etwas zwischen uns springt hin und her, fragt und antwortet, bis es nur noch eine Antwort ist. Und dann küsst er mich, nur leicht und sanft, aber es macht Dinge mit mir, die – ich weiß nicht, ob das gut ist für uns und dennoch will ich sie, viel zu sehr.

Er nimmt mein Gesicht zwischen seine großen Hände und küsst mich noch einmal – lange. Seine Lippen liegen sacht und dennoch eindringlich auf meinen. Nur ganz langsam vertieft er den Kuss und ich gebe mich seiner Art hn , den Weg,  den er uns entlang führt.

Langsam rutscht er nach unten, zieht mich mit. Er beugt sich über mich, küsst meinen Hals und – er muss doch merken, wie sehr mich das anmacht. Merkt er wohl auch, vor allem als ich mich an ihn dränge. „Langsam, okay? Ich will dich dieses Mal wirklich fühlen.“

„Okay.“ Ich versuche mich auf seine behutsamen Berührungen zu konzentrieren. Sie machen mir Angst. Ich hab mich all die Monate, Jahre, nicht wirklich getraut, mich in ihn zu verknallen – wahrscheinlich ist verlieben, das treffendere Wort – und hab es trotzdem mit jedem Schritt von ihm auf mich zu, mehr getan. Und das hier jetzt ... Wenn es einfach nur Sex wäre, aber ...

Es so zart und doch schrillt in mir ein Alarm, als würde ich versuchen, auf Glatteis zu laufen. Besser ich leite das in andere Bahnen.

Ich leg meine Hand auf seine Brust, spür sein Herz darunter klopfen, werde schon wieder viel zu emotional. Er legt seine darüber, aber nun beginnt er sich auch mehr an mich zu drängen. So hab ich ihn noch nie gefühlt. Seine Haut so heiß an meiner - von Kopf bis Fuß.

Sein Kuss wird tiefer. Ich will ihn ganz, aber das ist wahrscheinlich alles zu viel und zu früh. Also, lasse ich ihn entscheiden. Es ist mehr ein Erkunden, ein Erforschen, als wäre Jan auf Expedition auf meinem Körper.

Mit ein paar Berührungen lenke ich seine suchenden Finger, zeige ihm, was ich mag und er lernt schnell. Es ist nicht wild und exzessiv, wie ich sonst Sex mag, sondern liebevoll und es berührt Stellen in meinem Herzen, in die ich noch nie jemand hinein gelassen habe.

„Beiß mich mal in den Hals“, forder ich ihn schließlich heraus, um unserem Spiel miteinander ein bisschen mehr Schärfe zu geben, die viel zu tiefen Emotionen, die mich fast überwältigen, zu zähmen.

Er grinst. „Wie der Herr Graf wünschen.“ Oh, fuck. Das ist sehr viel mehr Feuer. Sein Mund ist so verdammt groß, dass er mir damit ernsthaft den Hals aufreißen, die Kehle rausreißen könnte. Der Gedanke ist so verdammt heiß.

Er ist wohl auch erstaunt, wie sehr mich das anheizt, denn ich höre ein belustigtes Schnauben, als ich mich gegen ihn aufbäume, das dann in ein tiefes Stöhnen übergeht.

 

*


Danach rollt er sich neben mir zusammen, kuschelt sich an mich. Ich habe ihn bisher selten so anschmiegsam erlebt, so zutraulich. Sein ganzer Körper, der sonst oft die Energie eines zappeligen, kleinen Kraftwerks ausstrahlt, ist weich, sein Gesicht vollkommen entspannt.

„Jan?“

„Mhm?“

„Dit ... dit war echt schön, aber ...“ Mein Körper ist erschöpft, aber vor allem meine – Seele? Das war irgendwie kein Sex, sondern ...

Er nickt einfach und ich weiß, er versteht und das rührt mich am Allermeisten.

„Ick hab och Schiss.“

Ich fahre über seine verschwitzte Stirn und er lächelt mit geschlossenen Augen, legt seinen Arm um mich und zieht mich an sich. Langsam lässt der Aufruhr in mir nach.



5. Juli - Hasenheide, Kreuzberg

Wir haben schon wieder ein Konzert. Diesmal in Berlin, also keine langen Fahrten, keine Übernachtung. Der Abend ist warm und hinter den Bäumen der Hasenheide versinkt langsam die Sonne.

Wir haben die letzten Tage die Opel-Gang-Platte der Hosen rauf und runter gehört. Sie ist echt geil. Respekt. Dennoch oder gerade deswegen sticht es jedes Mal wieder sie zu hören.

Inzwischen können wir sie schon mitsingen oder vielmehr mitgrölen. Vor allem Farin ist echt angefixt von der ganzen LP-Sache. Dass sie es geschafft haben, spornt uns auch an.

Ich mache die Ansage für Teddybär, zwinker Farin bei „Knopfaugen“ zu, während ich das Lied sing. Wir haben während des ganzen Liedes immer wieder längeren Blickkontakt. Langsam entwickelt sich das echt zu meinem neuen Ärzte-Lieblingssong.

Unsere Chemie stimmt auf der Bühne. Kurz hatte ich Bedenken, ob sich irgendwas geändert haben könnte.

Farin ist voll in seinem Element, zieht mich mit seinem Quatsch sogar noch mit. Anneliese Schmidt muss er zweimal anstimmen, weil ihm immer noch ein Spruch für das Intro einfällt.

Während des Liedes wechselt Jan ans Schlagzeug und ich spiele zur großen Freude des Publikums auf seiner Gitarre eins meiner berühmt-berüchtigten Solos.

Der Perspektivwechsel vom Schlagzeug nach vorne ist jedes Mal ein kleiner Schock. Bei Soilent Grün haben wir das ja ständig gemacht, aber jetzt kommt das sehr viel seltener vor und ich fühle mich auch nicht mehr ganz so sicher vorne an der Gitarre.

Nach dem Auftritt ist mir irgendwie ein wenig seltsam, aber ich schieb es auf die immer noch recht präsente Sommerhitze.

Doch als uns Sahnie endlich nachts in der Niebuhrstraße auslädt, geht`s mir echt seltsam. Jan sieht mich prüfend an, als ich mich die Treppe hoch schleppe.

„Allet okay bei dir?"

„Ja, ja. Bin nur müde oder so."

Er schließt die Wohnungstür auf. „Dann lass ick dich wohl ma besser einfach in Ruhe pennen, wa?"

„Mhm. ... Schade, aber ..."

„Ick lauf ja nich weg." Dieses neue, warme Lächeln taucht in seinen Mundwinkeln, in seinen Augen auf und ich stelle mich auf die Zehenspitzen, um es auf seinen Lippen zu schmecken. „Schlaf gut, Jan."

„Mhm. Du och. Ick hoff, morgen geht`s dir wieder besser."

 

6. Juli – Niebuhrstraße

Es klopft an meiner angelehnten Zimmertür.

„Jan?“ Belas Stimme klingt vorsichtig – so vorsichtig, wie ich sie noch nie gehört habe.

Ich sitze gerade an meinem improvisierten Schreibtisch und versuche einem Songtext mehr Leben einzuhauchen. „Ja?“

Langsam schiebt er die Tür auf, bleibt dann aber unschlüssig im Rahmen stehen. „Ähm, Jan.“

„Ja?“

„Ick ... Also, ... Ähm ...“

„Wat is denn los? Du machst mir grad so `n bisschen Angst.“

Er sieht zu Boden. „Mir ist dit echt unangenehm, aber ...“

Ich gehe zu ihm hinüber, sehe ihm in die Augen, zumindest versuche ich es, denn er weicht meinem Blick sehr erfolgreich aus.

„Willste `ne Tasse Tee?“

Jetzt kriege ich echt Schiss. „O-okay.“

Er hantiert ewig mit dem heißen Wasser, stellt dann schließlich eine dampfende Tasse vor mir ab. Sich selbst macht er noch einen Kaffee, dann setzt er sich endlich zu mir an den Küchentisch.

„Also, ick hab `n Problem mit ...“

„Ja?“

Seine Miene wird immer zerknirschter. Was ist denn los? Er holt tief Luft. „Ick hab gestern Gitti getroffen und sie meinte, dass sie ... `nen Tripper hat.“

„Tripper? Is dit nich so ... also, so ... `ne Geschlechtskrankheit?“

Bela nickt, fast dankbar. „Ja, genau. Und da sie und ick ... Also, ick hab dit wohl auch.“

„Oh. .... Wie ... wie merkt man das?“

Sein Gesicht verzieht sich unglücklich. „Dit is nich so besonders schön. Also, dit sin Bakterien und deswegen kommt da so ... eiterartiges Zeug aus ... naja, aus`m Schwanz.“

Mir wird spontan ein bisschen schlecht. „Puh. Und .... du hast dit?“

Er starrt in seinen Kaffee. „Hm. Seit gestern. ... Ick hab mich schon gewundert.“

„Und was macht man da gegen?“

„Ick war heute morgen bei `nem Arzt und der hat mir `n Antibiotikum verschrieben.“

„Okay. ... Also, is dit nich so schlimm. ... Oder?“

„Nee. Man darf es nur nich unbehandelt lassen, meinte der. Und das ick alle informieren soll, mit denen ick Sex hatte in den letzten Tagen. Also, jetze is halt die Frage, ob ... Also, wir hatten ja auch was miteinander in den letzten Tagen ...“

„Oh.“ In meinem Kopf purzeln die Infos durcheinander. „Aber dit war doch keen ... Sex, also, halt nich so mit ...“

Ein ganz leichtes Schmunzeln zieht Belas Mundwinkel hoch. „Na, ick fand`s schon sexy.“ Er grinst mich an und obwohl das ganz schön üble Nachrichten sind, muss ich ebenfalls grinsen.

„Na, also, ick hab dem Doc erzählt, was wir gemacht haben.“

„Echt?“

„Na, hey, ick will dich nich in Gefahr bringen. Also, der meinte, dass man dit leider och über Hände übertragen kann.“

„Dann muss ick mich jetze och untersuchen lassen?“ Meine Stimme kiekst, fast so wie im Stimmbruch, aber es ist gerade wohl einfach nur pure Panik.

„Wär wahrscheinlich besser. Die machen so `n Abstrich.“

Mein ganzer Körper, besonders aber der Unterleib zuckt in böser Antizipation zusammen. „Aus`m Schwanz?“

Bela nickt. „Is nich schön, aber och nich super schlimm. Ick kann dir die Adresse von dem Arzt geben.“

„Aber dann wissen die doch, dass ick der bin, von dem du erzählt hast.“

„Quatsch. Musste doch nich sagen. Halt nur, dass du vielleicht `n Tripper hast und ob die dit abchecken können.“

„Klar. Und dann sehen die jungen, schicken Arzthelferinnen, dass an einem Tag zwei Typen da waren, die sich eine Adresse teilen und beide so `ne Untersuchung wollen. Die sind doch nich doof.“

„Hey, Jan.“ Belas Hand zuckt in Richtung meiner, aber dann zieht er sie doch wieder zurück. „Findeste dit echt so schlimm?“

„Ick ... weeß nich. ... Irgendwie schon `n bisschen.“

„Und wenn ick `ne Frau wär... Dann auch?“

Ich merke, dass ich mich irgendwie in eine Ecke manövriert habe, aber ich will nicht lügen. „Es wär `n bisschen anders. Die Blicke – och wenn die nur jefühlt sind – wären anders von den Leuten.“

Bela sieht enttäuscht aus – und ich kann es sogar verstehen.

„Also, für mich is dit bei anderen echt kenn Ding, aber ...“

„Zwischen dir und mir schon?“ Seine Stimme ist viel zu leise und leer.

„ick will nich, dass die Leute mich anders ansehen, behandeln. Das sie zu uns beiden anders sind.“

„Dit versteh ick ja och, also, so `n bisschen. Aber wat glaubste denn, was Leute wie Rene und Ades oder auch Matzge so durch haben?“

Er hat recht. Er hat so verdammt recht, aber ... „Ick ... versteh dit schon, aber ick - ick bin dafür grad nich bereit.“ Ich nehme einen Schluck von meinem Tee, der natürlich noch viel zu heiß ist.

„Haste denn überhaupt mal irgendwem wat erzählt über ... uns?“

Ich bin fast froh, dass ich nicken kann. „Tante Eva.“

Bela lacht überrascht auf. „Da wär ick jetz nich drauf gekommen.“

„Und Ecky. Der hatte sich dit aber schon irgendwie gedacht gehabt.“

„Gut. ... Was haste denen denn erzählt?“

„Das ... das ...“ Ich will es ihm so gerne sagen.

Nun wandert seine Hand doch über den Tisch und stupst meine an. Er lächelt mich an, so ganz lieb, ohne Grinsen, ohne Ironie.

Ich schlucke, fasse nach seiner Hand, umhülle sie mit meinen großen Fingern. Inzwischen so vertraut. „Das ick so `n bisschen Schiss hab wegen der Reaktion von andern. ... Aber dit weißte ja nu schon.“

„Und was noch?“ Er scheint instinktiv zu ahnen, dass da noch mehr ist.

„Und ...“ Meine Kehle wird eng. „Das ... ick Liebeskummer hab.“

Ohne meine Hand loszulassen, steht er auf und stellt sich hinter mich, umarmt mich ganz, ganz fest. „Wegen mir?“

Ich beiße auf meine Lippen, versuche den Schmerz umzulenken, zurück zu beißen, nicke schließlich.

„Oh, Jan.“ Belas Umarmung wird noch fester, gleichzeitig weicher. „Dit ... dit tut mir echt leid.“

„Konnste ja nich wissen“, presse ich durch meine viel zu enge Kehle raus.

„Mhmm. Warum sachste denn nüscht?“

„Was würd dit denn ändern?“

„Was sollte sich denn ändern?“ Er geht neben mir in die Knie, sieht zu mir auf.

Unsere Hände sind immer noch miteinander verschränkt und ich würde mich ihm so gerne anvertrauen, aber dann ... Dann kann ich auch gleich den Vorschlaghammer rausholen.

Er runzelt die Stirn. „Is es wegen dem Alkohol?“

„Nee. Du weißt, was ick davon halt, aber ... nich wirklich.“

„Wegen den Drogen?“

„Naja, is och nich so toll, aber ...“

„Wegen ... den anderen Leuten?“

Ich kann nur nicken.

„Okay. Ick glaub, ick versteh schon, was de nich sagen willst.“

„Mhm.“

Ich spüre, wie seine Hand in meiner unruhig wird. Wahrscheinlich knibbelt er an seinen Nägeln rum. „Du weißt, dass es andere gibt, nee?“

Ich nicke, lasse seine Hand los. Er macht einen halbherzigen Versuch meine Finger wieder einzufangen, lässt es dann, setzt sich zurück auf seinen Stuhl, dreht seine Kaffeetasse unruhig hin und her.

Ich hole Luft. „... Wie vielen ... Also, wie vielen Leuten musst `n du Bescheid sagen?“

Nun beißt er sich auf die Lippen. „Sicher, dass de dit wissen willst?“

„Nein. ... Doch.“ Ich halte den Atem an.

Er sieht mich kurz von der Seite an, blickt dann in seine Tasse. „... Fünf.“

„Fünf? ... In den letzten Tagen? ... Aber wer ...?“

„Gitti, Pony, du, Manu ...“

„Ist Manu diese seltsame Chefin, die hier mal angerufen hat?“

„... Ja.“

„Aha. Und wer noch?“

„Und noch `ne Frau, mit der ich nach`m The Damned-Konzert im SO mitgegangen bin, aber da hab ick keene Telefonnummer und ick war so dicht, dass ick die Adresse nich mehr weiß.“

„Und dit war jetzt nur die letzte Woche?“

Er nickt etwas bedröppelt. „Mhm. ... Is dit schlimm?“

Ich schüttel den Kopf, nicke. Vielleicht hätte ich nicht fragen sollen, aber geahnt, gewusst, habe ich es ja trotzdem. Zumindest über seine Ehrlichkeit bin ich froh.

„Ick weiß ja, dass de deine Freiheit brauchst.“ Ich spiele mit der Tasse vor mir. „Ick ja och - nur halt anders.“

„Jan?“ Bela klingt nun so ernst, dass ich ihn ansehen muss. Dieses Mal bleiben unsere Blicke aneinander hängen.

„Ick hoff, du weißt, dass ick – trotz dem ganzen Scheiß, den ick dit ganze Zeit bau - dass ick dich ganz schön lieb hab.“ Er steht wieder auf, bleibt unschlüssig vor mir stehen, dann beugt er sich zu mir hinunter, küsst mich auf die Schläfe, atmet tief ein und schmiegt dann sein Gesicht an meine Wange. „Tut mir echt leid, dass ick dit nich mitbekommen hab, dass ... dir dit nich so jut ging mit ... uns, mit meinen ...“

„Ick wollt eigentlich och eigentlich echt nich drüber reden, weil ... Ick will nich, dass de für mich wat anders machst.“ Mein Herz ist leichter - und schwerer. Beides und es ist echt verwirrend.


I’m a man of flesh and bone
Rapture Rushing through my veins
Passion Flaming In my heart
Heavenly surrender once again (Yeah)

Shackled like an animal
Chained to my desires
Just another sacrifice
To love’s eternal fight




10. Juli – Niebuhrstr. 38b, Charlottenburg

Mein lieber Mitbewohner ist heute in massiver Feierlaune. Wahrscheinlich überkompsensiert er, weil er die letzten vier Nächte nicht unterwegs war wegen krank fühlen und Antibiotika nehmen müssen.

Die scheinen jetzt aber endlich anzuschlagen und Bela belabert mich den ganzen Nachmittag, dass ich ganz, ganz unbedingt heute Nacht dabei sein muss, an seiner Seite, damit es legendär wird, bis ich halb lachend, halb genervt aufgebe und in meine Jacke schlüpfe.

Immerhin habe ich ja angekündigt, dass ich mich weniger dem Grübeln hingeben will und das ist nach dieser einen intensiven Nacht und den darauffolgenden Geständnissen am nächsten Morgen nicht direkt besser geworden.

Da ist Berlin und sein Nachtleben mit seinen tausenden von Ablenkungen schon wirklich hilfreich. Es gab ja auch viele Abende, an denen ich mit Bela nachts echt Spaß hatte. Manchmal ziehen mich die Betrunkenen mit ihrem Schwachsinn mit und ich kann die zauberhaftere Seite des Alkohols sogar ein wenig verstehen. Aber ich brauch das halt auch nicht.

Bela hat mich mal als naturstoned bezeichnet und das ich genauso schräg sein kann wie Leute auf LSD, nur halt nüchtern. Da mag was dran sein - vor allem in der Kombination mit ihm, wobei mir ein alberner nüchterner Bela fast immer lieber ist als sein Substanzen-stoned Alter Ego. Da sollte heute ja auch gar nicht stattfinden, da er immer noch Antibiotika nehmen muss.

Mich hat es zum Glück doch nicht erwischt mit dem ekligen Tripper, sagt die Bakterienkultur des Doc. Pony und diese Manu wohl auch nicht. Nur Gitti und Bela. Von dem unbekannten One-Nightstand ist wegen Belas alkoholbedingten Gehirnausfalls weiterhin nicht bekannt.



Risiko – Yorckstr. 48, Kreuzberg


Es ist ein großes Hallo, als wir im Risiko - schon wieder – auf die Deutsche Trinkerjugend treffen. Haben die mich, ihr neues Lieblingsopfer, mit einem Peilsender versehen? Von meiner Seite ist das Hallo deswegen auch ein wenig leiser, denn gefühlt muss ich nun wieder alle Getränke kontrollieren, die mir gereicht werden.

Alle anderen haben sich über die Jahre an meine „seltsame“ und für sie nicht rational nachvollziehbare Abstinenz gewöhnt. Aber die Trinkerjungs nehmen das jetzt sportlich. So ein bisschen kann ich das sogar verstehen.

Wer noch da ist, ist Matzge. Und so sehr Bela mich auch beschworen hat, heute dabei zu sein, Matzge scheint ihn noch mehr anzuziehen. Na, prima!

Ich bin kurz davor wieder nach Hause zu gehen, als ich in der hinteresten Ecke des Risikos ein weiteres bekanntes Gesicht erspähe. Er wirkt nicht so, als würde er sich wirklich wohl fühlen. Zeit den Trinkerjungs und dem Bela-Matzge-Nervduo zu entkommen.

„Hey, Jacques!“

Seine leicht eingeschüchterte Miene lichtet sich, als er mich erspäht. „Farin!“

„Hey, cool dich hier zu treffen. Bist du nicht eigentlich aus Hamburg?“

„Ja, schon. Aber wir waren für das Stray-Cats-Konzert gestern hier.“

„Cool. Wir haben leider keine Karten mehr bekommen."

„Danach hatte ich voll den Stress mit ein paar Skins an der Friedrichstraße."

„Was für `ne Scheiße, ey. Tut mir echt leid. Es sind nicht alle so." Ich denke an John in London. Aber Jacques wirkt echt geschockt, als er drüber spricht. „Die Naziskins sind allerdings eine echte Pest. Ich hoffe, die verschwinden bald wieder und geben den echten, nicht-rechten Skins ihre Subkultur zurück."

„Mhm. Kann man nur hoffen, ne?"

„Wie läuft`s mit den Waltons?“

„Also, viel Neues gibt`s jetzt nicht direkt zu berichten. Ist ja gerade mal zwei Wochen her, dass wir uns das letzte Mal gesehen haben.“

Eine Frau, die ich vom Sehen kenne, kommt mit zwei Flaschen Bier zu uns rüber. „Das ist Tomma. Eine Freundin von mir.“

„Farin. Oder Jan, wenn du das lieber magst."

„Ich nehm mal das außergewöhnlichere Farin.“ Sie schüttelt mir die Hand. „Ohne mich hätt` er sich hier nich reingetraut“, grinst sie. „Berlin ist ja doch immer ein wenig speziell. Aber das mit den Skins gestern war echt heftig.“

Berlin kann schon echt krass sein. Muss schon komisch sein in Westdeutschland aufzuwachsen und dann auf einmal in dieser seltsamen Mauer-Underground-Stadt Berlin zu sein. Für mich gab es ja nie so ein richtiges erstes Mal mit Berlin.

„Na, manchmal kann einen die Szene schon janz schön einschüchtern - och die Punks. Ick hab mich anfangs och nich nach Kreuzberg reingetraut, sondern nur nach Spandau. Immerhin hab ick dort dann einen echt guten Freund getroffen, mit dem ick jetz in schon der zweiten Band spiele.“

„Schicksal vielleicht“, lacht Tomma.

Ich grinse, aber erkläre ihr nicht, dass ich an sowas nicht glaube. Mein Blick fällt auf Bela hinter Tomma. Matzge drückt ihm gerade etwas in die Hand, das der sich in den Mund steckt. Sah aus wie ein kleines Papier. Seltsam. Auch in Matzges Mund verschwindet ein kleines Papier. Sind das Trips?

Ihn so zu sehen, mit Abstand, wirft Fragen auf. Hätten Bela und ich uns auch gefunden, wenn wir uns nicht im eher beschaulichen Spandau über den Weg gelaufen wären? Hätten wir uns auch in den Tiefen des SO36, in den begrenzten Weiten von Kreuzberg, als so eine Art Seelenverwandte erkannt? Wäre der Funke auch dort in der großen Masse übergesprungen zwischen uns?

Tomma reißt mich aus meinem philosophischen, aber eher destruktiven Kopfkino. „Wenn du vom relativ platten Land kommst, ist Berlin schon echt sehr cool und einschüchternd.“

„Naja, wenn ich mich nun hier so umsehe ... So schlimm ist es nun auch nicht“, wirft Jacques ein, aber Tomma lacht nur. „Übrigens, Farin, wir haben in zwei Monaten unser erstes Konzert in Hamburg.“

„Super. Is wahrscheinlich echt aufregend, wa?“

„Ja, total.“ Jacques Augen glänzen. Sieht wirklich gut aus der Junge.

Nur aus den Augenwinkeln bekomme ich mit, wie Matzge mit Bela flüstert und dann beide zu uns hinüber sehen. Ein leicht merkwürdiges Gefühl breitet sich in meinem Magen aus. Auf einmal stößt sich Bela von der Wand ab und kommt zu uns herüber.

„Na? Hallo, Jacques. Dit is ja `n schnelles Wiedersehen.“ Bela klopft ihm auf den Rücken.

„Oh, hey!“ Er wirkt geschmeichelt, dass Bela ihn grüßt.

„Und du bist?“ Bela setzt sein freundlichstes Lächeln auf, bei dem sogar Frau Pachulke schmelzen würde, und sieht Jacques Freundin an.

„Tomma.“ Sie runzelt die Stirn. „Du kommst mir irgendwie bekannt vor. Bist du nicht Drummer bei Soilent Grün?“

„Na, inzwischen nich mehr. Ick spiel nu mit dem Karpeiken hier in `ner anderen Band.“ Er legt mir eine Hand auf den Rücken und lässt sie dort sehr wenig diskret in Richtung meines Hintern wandern. „Der war och bei Soilent Grün dabei, aber dann wollten wa uns weiterentwicklen und nu spielen wir seit letztem Jahr in einer von uns gegründeten Band: die Ärzte. Sollteste dir merken. Wir werden noch voll durchstarten.“

Gut, dass Bela so bescheiden ist. Aber vielleicht braucht man diesen Willen und die Rampensau-Mentalität auch für einen echten Durchbruch. Keine Ahnung.

Tomma lacht auf jeden Fall. „Ach ja, stimmt. Jacques hat schon sehr von euch geschwärmt.“ Jacques sieht sie vorwurfsvoll an, aber sie ignoriert das gekonnt. „Und ist die Musik so ähnlich?“

„Welche Songs kennst du denn von Soilent Grün?“

„Na, Erwin. Und ich erinner mich noch an so `n Lied über Ostpunks.“

Bela lacht und haut mir auf die Schulter. „FDJ-Punks. Dit is von unserem Quotensachsen hier. Die Ärzte is schon so ungefähr die Richtung. Aber poppiger, weil Farin, da einfach gut drin ist.“ Er lässt seine Hand auf meinen Hintern wandern und kneift mich, so dass ich erschrocken aufjaule. Die andren beiden sehe mich nur erstaunt an.

„Dafür sind die Texte abstruser“, fährt Bela ungerührt fort.

„Und bizarrer und phänomenaler.“, ergänze ich.

„Aber auch finsterer und gruseliger.“ Bela krümmt seine Finger und macht sein Nosferatu-Gesicht.

„Nicht zu vergessen wunderlicher und kurioser, zudem ...“

„Ulkiger und kauziger und ...“

„... skuriller und exzentrischer und schrulliger.“

„Dafür wahrscheinlich etwas befremdlicher und ...“

„...einfach irrer und phantasmagorischer und ...“

„Dit haste dir jetze aber ausgedacht, dit Wort.“ Bela sieht mich fast vorwurfsvoll an.

„Nein, dit jibt`s wirklich.“

Bela schüttelt nur den Kopf und ich bin ein wenig traurig, dass die Verbindung schon wieder vorbei zu sein scheint. Gerade hat der Abend begonnen mir wieder Spaß zu machen.

„Sach ma, ...“ Belas Blick wird so ein bisschen verschlagen, landet zuerst auf Jacques, dann auf Tomma. „Sach ma, seid ihr eigentlich zusammen?“

Mein Magen meldet sich wieder.

„Wir?“ Tomma sieht Jacques an. „Nööö. Wir sind Sandkastenfreund*innen. Aber ... da ist nichts.“ Die Beiden grinsen sich an und man kann die freundschaftliche Vertrautheit sehen.

„Awww.“ Belas Gesicht wird ganz weich. „Dit find ick jetz echt süß.“

Ich bin neidisch. Was würde ich für sowas Unkompliziertes und dennoch Schönes zwischen Bela und mir geben? Viel. Oder?

„Ick hol uns ma wat zu trinken.“ Schon ist Bela wieder verschwunden.

„Und ich geh mal rüber zu Andrea.“ Tomma deutet auf eine Frau, die ihr durch den Raum zu winkt.

Jacques und ich vertiefen uns wieder in ein Gespräch über Johnny Cash, dann ist Bela zurück. Er hat eine Flasche dabei, auf der „Four Roses“ steht und die er auf der Rückfahrt von Bremen aus dem Intershop mitgenommen hat. Vermutlich enthält sie Whisky, ich kenne mich da nicht so aus. Außerdem bringt er mit Trinkgläsern, eine Limo, die wahrscheinlich für mich ist - und Matzge.

Der sagt Hallo und stellt sich dann direkt neben Jacques und beginnt von seinem Studio zu erzählen. „Und demnächst mach ich mit den Beiden hier eine Platte.“

„Super.“ Jacques rutscht ein Stück zur Seite, aber da ist nur die Wand. Matzge steht wirklich sehr nah neben ihm und sieht ihn die ganze Zeit so intensiv an, dass es sogar mir unangenehm ist.

„So, dann stoßen wa mal auf die Platte an, nee?“ Bela schenkt großzügig vom Whisky ein, für mich Limo und teilt die Gläser aus.

„Uns geht`s prima!“ Bela hebt sein Glas.

Ich freu mich echt, dass das klappt, dass wir die Chance bekommen, aber ... Ich ziehe Bela zur Seite. „Sach ma: Nummer eins - du bist immer noch auf Antibiotika. Also, eigentlich nix mit Alkohol. Und Nummer zwei: wat is`n eigentlich hier los?“

„Wat meinste denn?“

„Irgendwie wirkt dit so `n bisschen wie `n abgekartetes Spiel, dass du und Matzge da mit Jacques spielen.“

„Wie jetz?“ Fehlt nur noch, dass Bela mit seinen Wimpern klimpert.

„Tu doch nich so. Da is doch irgendwat im Busch.“

„Mann, jetz mach doch nich so `n Aufriss. Matzge findet halt Jacques ganz süß, fand er in Bremen schon, aber da hattest du den ja voll in Beschlag genommen. Na, und da hat er halt gefragt, ob ich ihn ma vorstellen könnte. Is doch nüscht dabei.“

„Okay.“ Mein Magen findet das immer noch nicht so ganz.

Ich weiß wirklich nicht, woher diese Idee kommt, aber auf einmal geht so ein typisches Spiel los, dass ich als komplett Außenstehender nur als machomäßigen Schwanzlängen-Vergleich einordnen kann.

Matzge und Bela beginnen einen Whisky-Trink oder vielmehr Schütt-Wettbewerb.

„Machst du auch mit, Jacques?“

„Ähm, nee. Danke.“

„Ach, komm. Jetzt bitte nicht noch so ein Langweiler.“ Matzge nickt mit dem Kopf in meine Richtung und diese abfällige Bewegung fährt mir echt rein.

„Hey, langsam reiten, Matzge.“ Mich nervt diese ganze Situation langsam wirklich.

Matzge streckt mir die Zunge raus. „Is ja schon gut. Also, Jacques, sieh es einfach als eine Art Taufe an.“

„Yeah. Genau.“ Das ist natürlich voll Belas Ding.

„Schließlich bist du hier im Risiko. Der Laden heißt nicht umsonst so“, labert Matzge weiter auf den armen Jacques ein. „Da kannst du doch nicht einfach nur in der Ecke sitzen und an einer Flasche Bier nuckeln.“ Er taxiert Jacques herausfordernd.

„O-okay.“

„Na, also.“ Matzge haut Jacques auf den Rücken, dass es nur so knallt.

Bela schüttet die drei Gläser wieder mit Whisky voll.

„Sicher, das de dit willst?“, frage ich Jacques.

Einen Augenblick wirkt er unsicher, dann strafft er sich und greift nach einem Glas.

Für mich ist das der Moment, mich auf`s Klo zu verabschieden. Auf dem Weg grummel ich wütend vor mich hin. Ich hätte einfach doch nicht mitkommen sollen.

Auf dem Rückweg von den Toiletten treffe ich Hussi, den ich ewig nicht mehr gesehen habe.

„Na, Keule?“ Er umarmt mich und ich freue mich tatsächlich ihn zu sehen. „Und wie sieht`s aus mit eurer neuen Band? Die meisten scheinen euch ganz gut zu finden. Nur so ein paar Punk-Asket*innen sind wohl etwas angepisst, weil sie euch zu soft finden.“

„Na, dit war abzusehen, wa? Dit war ja och der Grund, warum wir `ne neue Band wollten. Ansonsten hätten wir ja einfach zusammen weiter machen können.“

„Stimmt auch wieder. Was machst`n so die ganze Zeit? Die Szene-Gerüchteküche sagt, du und Bela, ihr wohnt jetzt zusammen?“

Mir wird einen Moment sehr heiß, weil ich Angst bekomme, was die „Szene-Gerüchteküche“ sonst noch so alles weiß und tratscht über Bela und mich.

„Ja. Is ganz cool. Aber dit Thema Geld nervt. Ick bin die janze Zeit am Malochen und krieg trotzdem nüscht hin.“

„Arbeit nervt, mhm. Ich studier deswegen jetzt. Ist weniger stressig.“

Sollte ich einem Studium vielleicht doch nochmal eine Chance geben? Dann wäre zumindest die Elternfront abgefrühstückt. Aber nee. Ich hab mir geschworen, dass ich nur das mache, auf das ich wirklich Lust habe - und tja, dann muss ich wohl auch mit den Konsequenzen leben.

Ich unterhalte mich noch eine halbe Stunde mit Hussi über alte Zeiten, als auf einmal Tomma auf mich zu eilt.

„Hey, Farin. Irgendwas stimmt mit Jacques nicht.“ Sie zieht mich hinüber in die Ecke. Ich sehe nur einen sehr, sehr betrunkenen Bela, der sich schwankend an Matzge festhält, bis mir auffällt, dass jemand auf dem Boden liegt.

Tomma kniet sich neben Jacques und ich folge ihr nach unten. „Seine Augen sind total verdreht.“ Ihre Stimme ist Panik pur. „Und ich krieg ihn nicht wach.“ Sie schlägt Jacques ins Gesicht, aber dessen Kopf pendelt nur widerstandslos hin und her. Ich kann nur das Weiße in seinen Augen sehen. Es wirkt verdammt beängstigend.

Ich stemme mich hoch. „Bela?“

„Mhmmmm?“ Bela schwankt vor mir hin und her, schafft es nicht, mich mit seinem Blick zu fixieren. In seinen Augen scheinen sich Spiralen zu drehen und – er ist so sehr nicht er selbst, dass es mich nachhaltig erschreckt. Aber dafür ist jetzt keine Zeit.

„Wie viel hat Jacques getrunken?“

„Waaas?“

„Wie viel Jacques getrunken hat?“

„Jacques ...?“

„Mann! Der Typ, der bewusstlos vor deinen Füßen liegt.“ Genervt deute ich auf den viel zu blassen Jacques auf dem Boden.

„Oh.“

„Hat er noch was andres genommen?“

„Waaaas?“

„Drogen.“

„Haste welche?“

Es hat keinen Sinn und ich hab auch keinen Bock, mich weiter mit ihm zu unterhalten, falls man das hirnlose Gelalle überhaupt so nennen kann.

Ich wende mich an Tomma, die immer noch versucht, Jacques wach zu kriegen.

„Wir sollten echt `n Krankenwagen rufen.“ Mir macht es echt Angst Jacques so zu sehen.

„Meinste? Aber dann kriegt das Risiko voll Stress deswegen!“ Tomma wirkt zwar ähnlich panisch wie ich, aber auch zögerlich.

„Häh? Weswegen?“

„Na, Jacques ist doch noch nicht 18.“

„Ernsthaft?“

„Ja. Seine Eltern haben nur zugestimmt, dass er zu mir nach Berlin darf, weil sie wussten, dass ich auf ihn aufpasse.“ Tomma ist den Tränen nah. „Da hatten sie wohl zu viel Vertrauen in mich.“

„Scheiße. Okay, dann müssen wir ihn irgendwie anders ins Krankenhaus bringen. Die sollen ein Taxi rufen an der Theke.“

Schon ist Tomma los.

„Hey, Bela!“

„Faaarin!“ Er fällt mir um den Hals. „Schööönnnn, dass de oooch hier bis.“

„Ick fahr jetzt mit Jacques ins Krankenhaus:“

„Waaaas?“

„Ins Krank-en-haus!“

„Häh? Wieso `n Krank`n haus?“

„Mann, fick dich doch. Echt, Bela!“

„Was `n los?“ Er wirkt fast ein wenig bestürzt, aber checkt einfach gar nichts und ich ... Ich will nur noch hier weg und das sich jemand professionell um Jacques kümmert.

Tomma und ich schleifen mit Hussis Hilfe Jacques hinaus auf den Gehsteig vor das Risiko.

„Der sieht echt nicht gut aus.“ Hussein fühlt nach Jacques Puls.

Nach fünf Minuten kommt endlich ein Taxi. Wir tragen Jacques hinüber. Der Blick des Fahrers sagt alles, als wir den immer noch bewusstlosen Jacques auf die Rückbank falten.

Wir haben ungefähr die Hälfte der Strecke geschafft, als sich Jacques auf einmal regt. Sein Körper bäumt sich einmal, zweimal kurz auf, ein röchelndes Geräusch, dann ein Würgen. Tomma bekommt das meiste ab, aber auch meinen Pulli zieren nun einige Kotzflecken. Der saure Geruch nagt an meinem Magen.

Der Taxifahrer vorne fängt an, böse zu schimpfen. Ich kann ihn sogar verstehen, aber was sollen wir denn machen. Wahrscheinlich war es gut, dass er sich übergeben hat.

Mit vollem Karacho heizt der Fahrer auf einmal in eine Tankstelle an der Straße. „So, ihr Beiden. Das macht ihr sauber oder ihr könnt gleich mal mit `nem Zwanni zusätzlich rechnen.“

„Scheiße.“ Tomma springt hinaus ins brutale Neonlicht der Tanke. Jacques Kopf plumpst auf die Rückbank mitten in die Kotzlache hinein. Mir wird nun echt schlecht und ich steige ebenfalls aus. Wir ziehen aus einem Spender so rauhe Papierhandtücher und beginnen, so gut es geht, die Rückbank sauber zu machen. Tomma wischt über ihren Pulli, aber lässt dann mit einem Seufzer resigniert die Arme sinken und kümmert sich vor allem um die Rückbank.

Ich versuche, mit dem Taxifahrer zu verhandeln. „Hey, tut uns echt leid, aber unser Freund muss wirklich dringend ins Krankenhaus.“

„Dann holt euch einen verdammten Rettungswagen. Und ich kriege noch 20 Mark von euch.“

Tomma drückt ihm einen Zehner in die Hand. „Da fehlt noch was.“ Er sieht sie böse an, aber sie zuckt nur mit den Schultern. „Ich hab nicht mehr.“

Der Fahrer kommt auf mich zu. „Du rückst jetzt mal besser den Rest raus, sonst ruf ich die Polizei.“

Ich durchwühle meine Hosentaschen, finde ein Fünf-Markstück und zwei Zwei-Markstücke. „Mehr hab ick nich. Ehrlich.“ Mir ist zum Heulen zu Mute. Der Fahrer schnaubt und fährt dann davon. Ein Problem gelöst, drei Weitere warten auf uns.

Ich knie mich vor Tomma, die neben Jacques auf dem Boden sitzt wie eine zusammengesunkene Witwe.

Wir verlieren wertvolle Zeit. „Ich ruf jetzt `nen Krankenwagen.“

Tomma wiegt unsicher ihren Kopf hin und her, schließlich nickt sie. „Okay.“

Zum Glück gibt es außen an der Tanke ein öffentliches Telefon. Ich hab noch gerade mal 30 Pfennig. Hoffentlich reichen die für den Notruf. Ich atme tief durch, wähle die 112. Die Pfennige fallen durch und das Freizeichen tutet trotzdem. Gut.

„Rettungsleitstelle Charlottenburg!“

„Wir brauchen `nen Krankenwagen.“

„Bitte nennen Sie mir ihren Namen.“

„Oh, okay. Ich heiße Jan Vetter mit V und Doppel-T.“

„Bitte schildern Sie, was passiert ist und welche Verletzungen vorliegen?“ Die sachliche Stimme der Frau tut echt gut in diesem schrecklichen Chaos.

„Ein Freund von mir hat sehr viel getrunken und er scheint bewusstlos zu sein, zumindest bekommen wir ihn nicht mehr wach.“

„Okay. Ich wiederhole: Es handelt sich um eine bewusstlose Person. Der Grund ist Alkoholkonsum.“

„Ja. Der ist noch nicht mal 18.“ Wahrscheinlich hätte ich das nicht sagen sollen, aber die Panik fegt wie ein immer näher kommender Tornado durch mich. „Können Sie bitte schnell kommen?“

„Wir bemühen uns. Bitte sagen Sie mir Ihren Standort.“

Scheiße. Hektisch sehe ich mich um, versuche, ein Straßenschild zu lesen. „Wir sind an der Tankstelle in der Gneisenaustraße, in der Nähe vom Mehringdamm.“

„In Ordnung. Wir schicken die Kollegen vorbei. Sie müssen mit ungefähr 10 Minuten rechnen. Es ist wegen Wochenende viel los.“

„Okay. Danke.“

Wir drehen Jacques am Rand der Tanke in die stabile Seitenlage. Keine Ahnung, ob das was hilft. Gefühlt vergeht eine Stunde, bis ich endlich die lauter werdende Sirene höre, dann das Blaulicht des Rettungswagens sehe. Ich laufe auf die Straße und winke.

Zwei Männer in roter Unform springen heraus. „Wo ist der Verletzte?“ Sie fühlen den Puls, leuchten Jacques mit einer kleinen Taschenlampe in die Augen. „Wie viel hat er getrunken?“

„Wir wissen es nicht.“

Einer der Sanitäter sieht mich lang und direkt an. „Jetz sag halt bitte die Wahrheit, Junge.“

„Ehrlich. Wir waren nicht dabei. Sie haben Whisky getrunken - in so einer Art Wettsaufen oder wie man das nennt.“

Er glaubt mir natürlich immer noch nicht, aber ich werde ihm jetzt definitiv nicht lang und breit meine Anti-Alkohol-Haltung erklären.

„Wird er wieder?“

„Das kann ich gerade nicht sagen. Hoffen wir mal, dass er nicht ins Koma fällt. Wir nehmen ihn jetzt mit. Für euch beide haben wir aber keinen Platz im Wagen.“

„Wohin?“

„Ins Urban. Notaufnahme.“

„Wir kommen auch dahin.“

„Wenn ihr meint. Keine Ahnung, ob die euch überhaupt `ne Auskunft geben, wenn ihr keine Verwandten seid.“

Tomma sieht mich verzweifelt an und ich sage: „Egal.“

Wir laufen zu Fuß los, alles andere wäre auch nicht wirklich schneller. Zum Glück kenn ich den Weg, da ich ab und zu unten am Urbanhafen Gitarre spiele.

Denn ganzen Weg sprechen wir kein Wort. Im Osten wird es schon langsam wieder hell.

Ich bin wütend, verdammt, verfickt wütend - auf Bela, dieses unverantwortliche Arschloch. Das bedeutet es wohl, wenn Leute sagen sie sehen rot. Und auf mich selbst auch, weil ich ihn mit Bela und Matzge allein gelassen habe.



Urban-Krankenhaus, Neukölln

Ich hab mich noch nie so gefreut dieses absolut hässliche Krankenhaus im Brutalismus-Stil mit seinen neonstrahlenden Gängen zu sehen. Menschen in weißen Kitteln laufen herum und ich fühle mich so umsorgt und als könnte jetzt nichts mehr passieren, was natürlich totaler Quatsch ist.

Wir setzen uns zu den anderen besorgten und müde aussehenden Wartenden in die Notaufnahme.

Nach einer Stunde hören wir eine weißgekleidete Krankenschwester fragen: „Sind hier Freund*innen von dem jungen Mann, der an der Tankstelle eingesammelt worden ist?“

Tomma und ich springen auf. „Ich bin seine Schwester.“ Entweder hat sie sich die Lüge lange überlegt oder sie ist einfach verzweifelt genug, dass sie ihr so glatt über die Lippen kommt. Auf jeden Fall hilft sie.

„Na, dann kommen Sie mal mit. Er ist aufgewacht. Aber bitte nur eine Person.“

Ich signalisiere Tomma, dass sie mitgehen soll. Vermutlich ist sie jetzt okay mit den Ärzt*innen und immerhin ist Jacques wieder bei Bewußtsein.

Gerade kippt in mir alles - von Rot auf Schwarz - und dann zieht es mir buchstäblich die Beine weg. Ich falle gegen die Wand im Flur, taumle an ihr entlang zur Besuchertoilette. Leer. Gut. Ich brauch echt kein Publikum für den Zusammenbruch, der sich in mir zusammenbraut.

Ich schwanke in eine Kabine, drücke mit letzter Kraft die Tür zu und falle neben dem Klo schwer zu Boden. Alles riecht fies nach Desinfektionsmitteln. Meine Kehle ist total eng und ich kriege kaum Luft.

Auf dem Boden neben Toilette sitzend heule ich minutenlang Rotz und Wasser, bin die ganze Zeit nur am Schneuzen und Augen wischen. Ich zwinge, zwinge, zwinge mich aufzuhören, aber es läuft und läuft wie eine Naturgewalt.

Etwas in mir ist aus dem Gleichgewicht – schon seit ein paar Monaten, schwankt hin und her zwischen Euphorie und trauriger Verzweiflung und ich weiß nicht mal genau warum. War das ein Nervenzusammenbruch?  

Langsam, ganz langsam, flaut das akute Flennen ab, nur ein zittriges Einatmen schüttelt immer wieder meinen Körper durch. Unendliche Erschöpfung breitet sich in mir aus, aber ich kann ja schlecht hier auf dem Klo pennen.

Ich schleppe mich aus dem Krankenhaus. Irgendwie brauche ich gerade selbst Hilfe.

 

 

 

 

 

*



Zweimal umsteigen mit der U-Bahn und die fahren nachts nur alle halbe Stunde. Die Frühschichtarbeiter*innen pennen oder starren meinen vollgekotzten Pullover an. Der Rest ist Partyvolk, das selbst größenteils so scheiße ausieht wie ich, aber wahrscheinlich aus anderen Gründen. Inzwischen rieche ich zumindest die Kotze selbst nicht mehr so stark. Man kann sich wohl an alles gewöhnen, wenn man will.

Schließlich stehe ich vor Eckys Haus in der Turmstrasse. Es ist gerade mal halb fünf. Ich traue mich nicht zu klingeln, will zumindest bis fünf Uhr warten. Falls Nicole Frühschicht hat, müsste sie spätestens dann los.

„Oh mein Gott, Jan!“

Ich schrecke hoch, bin wohl vor der Haustür einfach auf dem Gehsteig eingeschlafen. Nicole kniet neben mir, fühlt meinen Puls. Das Ganze ist wie ein Flashback, nun mit mir als Hauptdarsteller.

„Was ... Bist du okay?“ Sie mustert mich fast ein wenig misstrauisch. „Bist du ... bist du betrunken?“ Sie deutet auf meinen Pulli.

„Nee.“ Ich muss fast lachen, weil alles so bizarr ist. „Is nich von mir. Kann ick zu Ecky?“

„Klar, ich bring dich rauf.“

Sie sperrt die Wohnungstür auf.

Ecky steht in einer Pyjamahose im Flur mit einer Zahnbürste in der Hand. „Was ist denn ...?“ Sein erstaunter Blick wandelt sich, enthält nun eine gute Portion Entsetzen. „Jan? Hey. Warum ...?“ Er mustert mich, den Pullover.

Und dieses Mal kann ich es nicht mehr erklären, denn als ich ihn sehe, löse ich mich schon wieder in Tränen auf. Verdammte Scheiße. Durch den Schleier sehe ich, wie er auf mich zukommt, mich hilflos ansieht und dann in die Wohnung führt. Er scheint mich in die Arme nehmen zu wollen, aber der vollgekotzte Pulli ist dann doch etwas abstoßend.

Ich wische mir mit dem Ärmel des Ekel-Pullovers über die Augen.

„Vorsicht!“ Ecky zieht ihn mir behutsam über den Kopf. „Magst du duschen?“

Ich nicke.

„Ich such dir neue Klamotten raus, ja?“

Ich nicke, weiß, warum ich zu Ecky wollte.

Der fragt nicht weiter nach, ist einfach im Aktionsmodus, drückt mir frische Klamotten und ein Handtuch in die Hand und schiebt mich in Richtung Badezimmer. „Haste Hunger?“

„Vielleicht.“ Ich weiß grad gar nichts mehr.

Die Dusche tut so verdammt gut – bis mich auf einmal eine tiefe Angst um Bela überfällt. Was wenn die Antibiotika und der Alk ... Und ich war die ganze Zeit nur besorgt um Jacques.

Ich dusche so schnell ich kann fertig, schlüpfe in die frischen Klamotten, die vertraut und nach Trost riechen.

Ecky hat tatsächlich Rührei und Toast gemacht, aber ich bring nichts runter. „Was ... was war denn los?“, fragt er vorsichtig.

„Lange Geschichte. Viel zu lange Geschichte.“ Ich rufe in der Niebuhrstraße an. Nichts. Natürlich. Wahrscheinlich liegt er dort schon längst im Koma. Ich suche aus dem Telefonbuch die Nummer des Risikos heraus, aber da geht natürlich auch keiner ran.

Parallel türmen sich in meinem Kopf immer noch die Sorgen um Jacques. Obwohl ich ja nichts gemacht habe, fühle ich mich total verantwortlich für die ganze Situation. Ich wüsste gerne nochmal detaillierter, ob es ihm wirklich wieder gut geht.

Aber das in Erfahrung zu bringen, könnte schwierig werden. Ich weiß ja nicht mal wie er mit Nachnamen heißt oder Tomma, außerdem hab kein Hamburger Telefonbuch und selbst wenn, er ist ja noch nicht wieder dort.  Ob sie noch im Krankenhaus sind?

Aber jetzt erstmal ... „Ick muss Bela suchen.“

„Was ...? Warum denn?" Ich seufze. „Das ist die lange Geschichte, oder? ... Soll ich mitkommen?“

„Aber du musst doch an die Uni.“

„Ja, schon, aber ... Hey, Jan, du siehst aus wie ... Ich komm jetzt einfach mit.“ Er drückt mir ein Sandwich in die eine Hand und einen Tee in die andere. „Aber jetzt isst du erstmal was und trinkst das hier brav aus.“

Ich sinke im Flur neben dem Telefon auf den Boden, schaffe aber nur den Tee. Essen geht nicht.



Risiko – Yorckstraße 48, Kreuzberg

Inzwischen ist die Sonne wieder aufgegangen und beleuchtet die Szenerie vor dem Risiko. Jemand liegt schlafend vor dem Laden zwischen zwei Kotzlachen. Ein Teil von mir möchte kein Punk mehr sein, wenn ich das Elend hier sehe. Aber was hab ich denn erwartet? Das hier ist Berlin. Der Underground von Berlin.

Hoffentlich ist Bela überhaupt noch hier im Untergrund. Ich will den einfach nur nach Hause bringen. Aber der ganze ... „Unfall“ ist inzwischen über 5 Stunden her. Wahrscheinlich ist der schon längst weiter gewankt auf seiner Suche nach - keine Ahnung nach was.

„Hey!“ Maria steht hinter dem Tresen. „Ist Bela noch hier?“

Sie nickt. „Ja, i glaub scho.“ Sie deutet auf das Hinterzimmer. Ich mag ihren Wiener Akzent, aber heute kann ich dem nicht die nötige Beachtung schenken, denn ich bin so erleichtert, dass ich schon wieder heulen könnte.

Ecky folgt mir durch die letzten Übriggebliebenen der Nacht, durch die Rauchschwaden, durch die Ausdünstungen nach hinten. Kein Bela. Zumindest nicht auf den ersten Blick. Schließlich finde ich ihn zusammengerollt unter einem Tisch, an dem ein paar Leute sitzen und sich lautstark unterhalten.

Ich bitte einen der Typen zur Seite zu rutschen und knie mich neben Bela auf den klebrigen Boden. Noch einmal rollt wie ein schlechter Film ein übler Flashback mit Jacques durch mich. Bela schläft doch wirklich oder ist er ...? Ist er gestorben, während ich versucht habe, den anderen zu retten?

Ecky kniet sich neben mich. „Sollen wir ihn wecken?“

Ich nicke. „Kannst du dit machen? Ick trau mich nich, weil ...“

Ecky drückt meine Schulter, anscheinend versteht er, warum. Vorsichtig streckt er die Hand nach Bela aus, rüttelt an dessen Schulter. Keine Reaktion. Er steht auf, kommt mit einem Glas Wasser wieder, fasst hinein und verreibt ein wenig Wasser auf Belas Gesicht, dessen Stirn sich genervt verzieht.

Oh, mein Gott. Ich glaub noch nicht mal an den, aber ... Danke.

„Bela?“ Ecky rüttelt nochmal an seiner Schulter, aber Bela dreht sich einfach nur murrend auf die andere Seite.

„Hey, Bela!“ Ecky gibt nicht auf und schließlich setzt sich Bela auf und haut sich den Kopf am Tisch an.

„Auuuuuu!" Er sieht sich genervt um, aber seine Augen sind nicht in der Lage etwas zu fokussieren. Ich glaub nicht, dass er weiß, wo er ist, wer wir sind.

„Trink das hier.“ Ecky hält ihm das Glas an die Lippen und tatsächlich nimmt er ein paar Schlucke. Seine Augen werden etwas klarer, dann verschluckt er sich und hustet wild.

„Komm.“

„Wohin?“ Seine Stimme ist nur ein Krächzen.

„Nach Hause.“

„Mhm. Nach Hause. Okay.“

Ecky und ich hieven ihn unter dem Tisch heraus, helfen ihm hoch, er stolpert, fängt sich wieder, aber ich traue dem Frieden nicht, hake ihn an einer Seite unter, Ecky an der anderen.

Maria betrachtet unsere kleine Karawane vom Tresen aus, nickt mir zu. „Du bist scho a echt Guter, Farin.“

Ich bin mir da nicht so sicher. Mein Grinsen will anspringen wie ein Automatismus, um ihr zu zeigen, dass alles okay ist, aber es funktioniert nicht. Scheint kaputt zu sein.

Der Weg zur U-Bahn ist zum Glück nicht lang. In der U-Bahn klemmen Ecky und ich Bela zwischen uns auf den Sitz ein. Er nickt immer wieder weg, sein Kopf pendelt zwischen Ecky und mir hin und her. Dann schleifen wir ihn die Niebuhrstraße entlang.

Ich habe keine Ahnung, wie er das sonst macht, dass er es nach Hause schafft.

Ecky und ich verfrachten ihn in sein Bett. Ich ziehe ihm die Lederhose aus, sein Hemd. So sieht er viel zarter, fast verletzlich aus und obwohl ich mich so dermaßen geärgert und geängstigt habe, wallt doch ein warmes Gefühl für diesen Idioten in mir auf.

Ich streiche ihm die wilde Mähne aus dem Gesicht. „Schlaf gut.“

„Jan?“

„Hmmm?“

„Ich dacht, ick hätt dich nur geträumt.“

„Nee, ick bin hier. Ruf, wenn de was brauchst, okay?“

„Mhmm. Danke.“ Dann ist er wieder weggedämmert.

Ecky steht im Flur.

„Danke, Alter.“

„Ist doch klar.“

„Ick find dit gar nich so klar.“ Ich lehne mich vorsichtig gegen seine Schulter und er nimmt mich in die Arme. Das war genau das, was ich jetzt gebraucht habe. Mein Körper macht die Reaktionen, bevor man das Heulen anfängt, Kehle eng, ein Brennen in den Augen, aber es kommt nichts mehr. Ich bin leer geweint.

„So, mein Lieber.“ Ecky öffnet meine Zimmertür und schiebt mich behutsam in Richtung meines Bettes. „Du gehst jetzt bitte auch mal schlafen.“

„Mhm.“ Ich lasse mich schwer auf meiner Matratze nieder, ziehe Eckys geliehene Sachen aus.

Obwohl ich vermutet hatte, dass ich keine Ruhe finden werde, schlafe ich schon, bevor Ecky unsere Wohnungstür geschlossen hat.



 

 

 

 

 


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LYRICS

Depeche Mode - Somebody

Depeche Mode - Surrender

The Waltons - Try Some More

The Waltons - Frontier Pharmacist

Depeche Mode - Slowblow

The Waltons feat. Bela B - Stand by your man



INFOS

Jacques Palminger – The Waltons Cowpunk über Rockabillies und Psychobillies

Wikipedia - The Waltons

Interview Viva über 1993 - die ärzte über DM



Das Whisky-Krankenhaus-Incident-Mash-up

Sehr, sehr lose angelehnt an die Ereignisse,  geschildert in "Das Buch Ä", S. 89.


Reflektor podcast mit Bela B ab 34:35



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Chapter 28: 1983 - Karten

Chapter Text

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* Teenagers in Love *





Lieder und Bilder farbig unterlegt im Kapitel.
Weiterführende Links am Ende.



 

1983 – Karten




 


When routine bites hard and ambitions are low
And resentment rides high, but emotions won’t grow
And we’re changing our ways, taking different roads

 




13. Juli – Niebuhrstraße 38b, Charlottenburg

Ich bin immer noch vollkommen fertig, als ich am frühen Nachmittag erwache. Mein erster Gedanke ist das Urban. Ich bin viel zu müde, aber ich muss da jetzt hin. Schuhe an und los.

 

*


Es dauert, bis die Frau am Empfang nur mit dem Vornamen die Station von Jacques findet.

„Den jungen Mann haben wir vor einer Stunde entlassen“, sagt dort die Krankenschwester.

„Oh. Wie ging es ihm denn?“

„Sind Sie mit ihm verwandt?“

Ich schüttel den Kopf, fühle mich gerade nicht in der Lage zu lügen.

„Dann darf ich Ihnen das leider nicht sagen.“

„Aber ... es wird nichts zurückbleiben, oder?“

„Ich darf Ihnen wirklich nicht mehr dazu sagen.“ Gleichzeitig schüttelt sie den Kopf und lächelt mich aufmunternd an, was ich so auffasse, dass Jacques okay sein wird.

„Danke. Wissen Sie vielleicht, wo die beiden hin sind?“

Die Schwester sieht sich kurz auf dem Gang um und sagt dann leise: „Die junge Frau wollte ihren Bruder zurück nach Hamburg begleiten.“ Ich muss wirklich bemitleidenswert aussehen, dass sie eine Ausnahme für mich macht.

Zum Glück! Ich nicke ihr erleichtert zu. „Vielen Dank, dass Sie ...“ Ich weiß nicht weiter.

Sie tätschelt meine Hand. „Schon gut. Es ist wirklich gut zu sehen, dass sich jemand kümmert.“

 

*


Ich fahre zurück in unsere WG, bin immer noch körperlich und emotional erschöpft von der Horrornacht, aber kann nicht mehr schlafen, tiger nur nervös von der Küche in mein Zimmer und zurück.

Einmal öffne ich vorsichtig Belas Tür. In seinem Zimmer riecht es fast wie im Risiko - nach Alk und Rauch. Am liebsten würde ich das Fenster aufreißen. Ich lausche, höre ein leises Schnarchen, atme auf, schließe leise seine Tür wieder.

Dann heißt es wieder warten, warten darauf, dass Bela endlich erwacht. Ich greife mir blind ein Buch aus meinem Bücherregal und setze mich damit in die Küche.

Ich starre auf den Titel des Buches. „The Strange Case of Dr Jekyll and Mr Hyde“. Da hat mein Unterbewusstsein ja einen sehr passenden Griff gemacht. Manchmal kommt mir Bela auch vor wie zwei verschiedene Menschen, wenn er seine Wundermittel nachts verputzt.

Aber, wenn ich ehrlich bin, es stimmt nicht: Bela ist immer Bela – nachts und unter Drogen nur intensiver. Ich wünschte, er würde sie nicht brauchen, aber ... Er ist hier in Berlin ja nicht der Einzige. Der Einzige bin eher ich mit meiner Abstinenz.

Bela würde das Buch bestimmt gefallen. Ein Gothic Tale. Vielleicht könnte ich ihm etwas daraus vorlesen - irgendwann mal in den nächsten Tagen, wenn ich nicht mehr so verdammt sauer auf ihn bin.

Ich lese mehrfach die ersten Worte. Sie ergeben keinen Sinn, weil meine Gedanken durch mein Hirn toben wie in einem Konzert-Moshpit. Die Zeilen verschwimmen vor meinen Augen. Mir ist ein wenig schwindelig. Dann fällt mir ein, dass ich seit gestern Abend nichts mehr gegessen habe. Ich habe keinen Hunger, aber mein Körper braucht Nährstoffe.

Ich koche Nudeln und pansche aus einem Tütchen mit getrocknetem Parmesan, Milch, Salz und Pfeffer eine Sauce zusammen, die diesen Namen nicht verdient hat, würge sie mit „Pasta“ hinunter.

Meine Gedanken schweifen nach Italien, nach Neapel zu Felice. Ein verlockender Gedanke einfach zu ihr zu fahren, raus aus Berlin. Aber sie meldet sich einfach nicht.

Dann bleibt wohl nur London ...



Postamt Charlottenburg

Mist. Ich durchwühle nochmal meinen Rucksack. Ich bin mir so sicher, dass ich ihn eingesteckt habe. Ich brauche den Brief für die Adresse. Wenn ich den jetzt verloren habe, dann ...

Das könnte eventuell die Entscheidung sein. Ich weiß echt nicht, ob ich froh wäre, wenn sie mir so abgenommen wird. Eigentlich entscheide ich lieber selber und das habe ich jetzt getan. Allerdings - bin ich überhaupt vernunftmäßig gerade in der Lage dazu?

In mir ist alles so durcheinander. Es zieht mich in fünf verschiedene Richtungen gleichzeitig und keine erscheint mir wirklich sinnvoll.

Aber ich brauche wirklich, wirklich eine Pause von all der Scheiße hier in Berlin.

Das gestern ... Es ist nicht der Hauptgrund, aber es war der letzte Tropfen. Die Bilder verlassen mich nicht, sind irgendwie eingebrannt. Es war einfach zu viel die letzten Tage.

Okay. Ich atme tief durch. Also, doch weg ...

Aber dafür brauche ich die Adresse. Ein Telefonat nach England ist einfach zu teuer. Ich sehe auf die große Uhr in der Schalterhalle. Genau 40 Minuten, bis das Postamt zu macht.

Ich will das heute erledigen. Nägel mit Köpfen. Schluss mit dem Hin und Her und den Zweifeln.



Niebuhrstr. 38b

Mein Kopf. Ooooooooooh ...

Als wär `n Lastwagen drüber gefahr`n. Ich schlepp mich ins Bad. Mir tut absolut jeder Muskel, jede Faser meines Körpers weh, doch am meisten der Schädel.

Der Blick in den Spiegel ist echt Horror. Zuerst kann ich meine Augen gar nich richtig scharf stellen, aber dann ... Mann, seh ich scheiße aus.

Was ist denn passiert gestern? Ich kann mich nur noch ans Losgehen mit Jan erinnern, dass wir im Risiko Matzge getroffen haben. Wie in einer schlecht belichteten Diashow klicken noch ein paar Bilder in meinem Kopf. Keine Ahnung. Ich muss wohl ganz schön gebechert haben gestern.

Auf der Ablage des Waschbeckens seh ich die Antibiotika. Scheiße. Das gibt`s ja auch noch. Hat mich der Alk deswegen so ausgehebelt? Ich lass den Zahnputzbecher volllaufen, schmeiß eine Aspirin rein und trinke mit dem Gebräu eine von den blöden Antibiotika-Dingern runter. Hoffentlich hilft das Zeug.

Dann wank ich auf der Suche nach Jan in den Flur, vielleicht weiß der, was gestern Nacht los war. Seine Zimmertür steht offen, aber er ist nich da. Ich sollte vermutlich was essen, schwank rüber in die Küche. Eine undefinierbare Masse mit Nudeln in einem Topf. Ich kotz beinahe hinein, als mir der Geruch in die Nase steigt.

Das Dröhnen in meinem Schädel wird nich besser. Wie lang brauchen denn so Scheiß-Aspirin?

Auf dem Küchentisch liegt ein Bogen Papier. Hoffentlich nich noch `ne Rechnung. Reicht langsam mal mit den Forderungen. Könn´ wir eh nich begleichen. Einige verwandeln sich dann nach und nach in Mahnungen. Was für `ne Papierverschwendung.

Kein offizieller Briefkopf. Schon mal gut. Erleichtert atme ich auf. Mein Blick fällt auf den Briefumschlag daneben. „Jan Vetter“, links oben der Absender. John. Claire. London.

Das Unwort.

Meine Augen streifen über Sätze auf dem Briefbogen.

Job – London – welcome – our flat.

Mein Bauch scheint vor meinem Hirn zu verstehen, was hier gerade passiert, denn mir wird schlecht. Ich lauf so schnell ich kann rüber ins Bad, kotz ins Waschbecken, weil ich den Klodeckel nich so schnell hochkrieg. Widerlich! Ich spül alles weg, öffne das Fenster und schleif mich zurück in die Küche.

Das Papier ist noch da. Vorsichtig als wäre er eine entschärfte Handgranate, nehm ich den Brief in die Hand, les ihn nochmal von vorne, kämpf gegen die verschwimmenden Buchstaben. Ohnmächtiges Gebrüll boxt sich meine Kehle hoch, bleibt dann stecken.

Hat Jan den Brief extra dort liegen lassen, damit ich ihn finde? Was für ein beschissener, mieser, kleiner, großer Feigling.

Vor ein paar Jahren hab ich mal unter einem Balkon in den Mietskasernen in der Seegefelder Straße ein klägliches Maunzen gehört. In der hintersten Ecke hatte sich eine kleine Katze versteckt. Ein Ohr war halb abgerissen und über ihre Schnauze zog sich eine blutige Wunde.

Ganz vorsichtig hab ich nach ihr gefasst, wollte ihr helfen. Leider hat sie das nicht verstanden und ziemlich heftig in meine Hand gebissen. Am Ringfinger kann man immer noch die kleine Narbe sehen.

Ich hab ihr das nich mal übel genommen, sie konnt ja nich wissen, dass ich ihr in ihrer Bedrängnis nur helfen wollte.

Meine Mutter hat dann den Tierschutzverein gerufen, weil ich so verzweifelt war. Und das bin ich jetzt wieder – komplett verzweifelt. Und verletzt - aber es gibt keinen Bela-Schutzverein.

Jetzt kommt der Schrei doch.

Fick dich, Farin Urlaub, fick dich.

Ich trete gegen den Mülleimer, was sich barfuß als Scheißidee herausstellt. Ein Teebeutel fällt heraus.

 

*


Ich hetze die Treppe hoch. Das Postamt macht in zwanzig Minuten zu und dann ist Wochenende.

Ich stürze zur Tür rein, in die Küche, verharre schlagartig.

Bela sitzt zusammen gesunken auf einem Stuhl. Dann passiert alles in Zeitlupe. Er sieht ganz langsam zu mir auf. Auf seinem Gesicht verlaufener Kajal. Er hält mir ein Stück Papier hin – Johns Brief.

Sein Blick sagt unmissverständlich, dass er ihn gelesen hat. Fuck. Wie konnte ich den auf dem Küchentisch vergessen?

Ich stehe im Türrahmen und die unsagbaren Schmerzen auf Belas Gesicht brechen über mich herein, schlagen durch bis in meinen Brustkorb. Ein Ziehen, ein Stechen. Verrat und Hilflosigkeit und unbändige Wut. Ich kann sie alle in seinem Blick sehen, dann in mir fühlen, als hätten seine Augen sie in mich gebeamt.

Es .... es tut mir mehr als leid. Ich hätte den Brief nicht da liegen lassen sollen. Es war keine Absicht. Andererseits – irgendwann hätte ich es ihm ja sagen müssen.

Er legt den Brief zurück auf den Tisch. „Wann?“ Seine Stimme ist vollkommen tonlos. Er fragt nicht mal ob. Sein Blick fällt auf die Tischplatte, als könnte er es nicht ertragen, mich anzusehen, bleibt dann auf dem Brief liegen.

„Ick ... weiß es noch nich genau.“ Ich setze mich vorsichtig zu ihm an den Tisch. Er sieht nicht auf.

„Warum?“

Weil ich hier nicht weiter weiß, weil alle Druck auf mich ausüben, etwas wollen, dass ich nicht will und das was ich will, kann ich nicht haben, weil alles wie eine Sackgasse wirkt, weil es mich verdammt noch mal zu Tode ängstigt, wenn du so eine Scheiße baust, weil ich nicht mehr in der WG warten will, bis du mal wieder vorbei kommst, weil ich mich in dieser Scheiß-Mauerstadt eingesperrt fühle, weil ich eine Auszeit von all dem brauche und von dir, weil ich dich viel zu sehr mag, als dass ich zusehen kann, wie du ...

Ich kann nichts davon sagen.

„Warum?“ Dieses Mal sieht er mich an.

„Ick hab die Entscheidung gestern Nacht getroffen.“

„Warum?“

Ich stehe auf, atme tief durch, versuche, mich zu beruhigen. „Sach ma, Alter, weißte überhaupt, was gestern Nacht los war?“

Er zuckt zusammen. Hat wohl nicht geklappt mit dem beruhigen. Seit ein paar Stunden bin ich einfach so verdammt aufgewühlt.

„Ähm, nich so richtig.“ Er sieht auf, mich sehr unsicher an. „Ick hab so `n kleenen Filmriss.“

Ich setze mich wieder. „Erinnerste dich an Jacques?“

Er erwidert meinen Blick vorsichtig. „Der war gestern Abend auch im Risiko, oder?“

„Ja. Bis zu dem Zeitpunkt, als Tomma und ick ihn ins Krankenhaus gebracht ham, weil ...“ Ich kann nicht weiterreden.

„Krankenhaus?“

„Ja, die Sanitäter des Rettungswagens haben was von Koma erzählt.“

„Rettungs... Oh, nein.“ Er wirkt jetzt sehr viel wacher, entsetzt sieht er mich an. „Liegt er im Koma?“

Ich beiße mir auf die Lippen, überlege tatsächlich für eine Sekunde, ob ich ihn mal live daran teilhaben lassen soll, an meinen Ängsten von gestern ... Sind wir schon soweit gekommen?

Schließlich setze ich mich und erzähle ihm eine Kurzversion vom Ende der Nacht. Meinen Zusammenbruch im Krankenhaus lasse ich weg. „Kurz hab ick gedacht, du bist tot, als ick dich da unter`m Tisch gesehen hab. Und dann haben Ecky und ich dich hierher geschleppt.“

Er hört ganz still zu, wird noch blasser, als er eh schon ist und rutscht in seinem Stuhl immer weiter nach unten. „Wie viel ham wir denn getrunken?“, fragt er, als ich fertig erzählt habe.

„Keene Ahnung. Es wirkte, als wolltest du die vergangenen nüchternen Nächte nachholen. Ick hab mit Hussi nur `ne halbe Stunde gequatscht.“ Manche Lücken werden wohl weder er noch ich schließen können. „Haste eigentlich deine Antibiotika genommen?“

„Ja, hab ick, aber ... Ick hab die wieder ausgekotzt, nachdem ich ...“ Er deutet auf den Brief, der wie Mahnmal zwischen uns liegt und unter meine Wut kriecht nun Beklommenheit. Ich weiß einfach verdammt nochmal nicht, was ich sagen soll.

Schließlich seufzt Bela tief. „Äh, ... Soll ick ma ins Urban schauen, ob se noch da sind und mich entschuldigen?“ Er versucht aufzustehen, fällt aber wieder in den Stuhl zurück.

Ich strecke meine Hand nach ihm aus, ziehe sie wieder zu mir. „Wenn se noch da wären, dann wär dit wohl `ne jute Idee. Aber die sind schon weg. Tomma bringt wohl gerade Jacques zurück nach Hamburg.“

Bela nickt, sieht mich dann zum ersten Mal am heutigen Tag wirklich an. „Hey, Jan. Es ... es tut mir ... Es tut mir echt leid.“ Ich merke, dass er es ernst meint, aber wegen seines Filmrisses weiß er ja nicht mal wirklich, wofür er sich genau entschuldigt.

„O...“ Ich schaffe es nicht, „okay“ zu sagen, weil es nicht stimmen würde. Mir hängen die Bilder von Jacques mit verdrehten Augen und von Bela unter dem Tisch, die ganze Zeit im Kopf nach. Ich würde sie gerne ausradieren, aus meinem Kopf schneiden. „Ick brauch `ne Pause. Ich brauch einfach eine Pause von ...“ Dieser ganzen Scheiße. „Von allem.“

„Deswegen London?“

Ich nicke langsam.

„Und ich?“

„Du brauchst mich doch eh nich.“ Ich hoffe, es klingt nicht vorwurfsvoll. Eigentlich meine ich es als ein Argument, warum es okay ist, dass ich gehe. „Du hast doch genuch andere Leute: zum um die Häuser ziehen, Freund*innen wie Jörg und Max und Liebschaften wie Gitti und Pony und diese Manu und diesen Réne und was weiß ick, wenn noch.“ Ich klinge so nach verschmähter Liebe und ich will das nicht, aber die Worte fließen trotzdem aus mir. „Ob ick jetz da bin oder nich, was spielt `n das für `ne Rolle?“

Er sieht baff aus, dann verletzt. „Als ob die dich ... Mann, verstehste dit denn nich, Jan?“ Kurz verzieht sich sein Gesicht zu einer mir sehr bekannten wütenden Miene. Fast tut es gut, diese zu sehen. Dann zu einer Verzweifelten und schließlich wirkt er nur noch traurig.

Ich will nicht, dass es mich auch traurig macht. Es war so viel einfacher, von ihm genervt zu sein. Aber jetzt gerade ...

„Und ... die Ärzte?“, fragt er leise.

„Wär schon schön, wenn wir ... Aber da geht es doch irgendwie och nich weiter.“

„Aber Matzge will doch mit uns `ne Platte aufnehmen.“

„Ick brauch auch von Matzge `ne Pause.“

„Oh. ... Okay.“ Sein Kopf sinkt wieder nach unten. Er scheint keine Argumente mehr zu haben, warum ich bleiben sollte. Ich hab auch nicht wirklich welche, außer dass ich – trotz allem - diesen Typen immer noch ganz schön lieb hab.

 


Yet there’s still this appeal that we’ve kept through our lives
But love, love will tear us apart again
Love, love will tear us apart again


Behutsam strecke ich meine Hand nochmal aus, greife nach seiner, drücke sie.

Er sieht auf unsere verschränkten Hände, dann mich an. „Biste ... biste nich mehr sauer auf mich?“

„Doch. Ziemlich. Aber ick bin vor allem froh, dass de hier sitzt und dass dir ...“ Ich beiße mir auf die Lippen. Die Tränen haben ihr Reservoir anscheinend erfolgreich wieder aufgefüllt, aber ich will ihn das nicht sehen lassen, deswegen stehe ich auf, ziehe ihn vom Stuhl hoch in meine Arme.

Er riecht immer noch nach Rauch und Alk, aber irgendwie ist das halt auch ein Teil von ihm. Ich vergrabe meine Nase an seinem warmen Hals, in dem lebendigen Schlagen seines Puls, und atme ein. Dann schiebe ich ihn wieder ein Stück von mir. „So, ick würd vorschlagen, du verwandelst dich jetzt mal fix unter der Dusche von Mr. Hyde in Dr. Jekyll und dann kommste zu mir rüber und ich les dir aus dem dazu passenden Buch vor.“

„Was?“ Er sieht mich verwirrt an.

„Ich les dir was vor.“

„Echt?“

„Ja, echt, du Mr. Hyde.“

„Danke, Jan. Danke, dass de für Jacques da warst. Und für mich.“ Sein Lächeln ist irgendwie gerührt und es zerrt an meiner Wut, die immer noch brodelt, aber nicht mehr so stark.

„Wär super, wenn das nicht mein neuer Job wird.“

„Kann es ja nich, wenn de in London bist, oder?“

Touché! Ich schiebe ihn hinüber ins Bad. „Bis gleich.“

Ich lege mich auf mein Bett, verschränke die Hände hinter meinem Kopf und spiele unser Gespräch in Gedanken nochmal durch. Hätte wahrscheinlich viel schlimmer sein können, aber ... Scheiße! Warum tun wir einander so weh? Das ist die Liebe, flüstert es in mir.

Bela taucht in meiner Zimmertür auf, in frischen Klamotten und auch mit einem frischeren Gesamtaussehen.

„Besser?“

Er nickt, sieht zu mir, aber traut sich anscheinend nicht, sich einfach zu mir zu setzen. Ich will nicht, dass sich auf einmal alles zwischen uns so distanziert und falsch anfühlt, will es besonders nicht, weil ich ja bald weg sein werde.

Ich rutsche zur Seite, mache Platz für ihn. Ich greife nach dem Buch, zeige ihm das Cover. „Wird dir gefallen.“

Ein schmales Lächeln und Nicken. Ich schaffe es, mechanisch drei Seiten zu lesen, aber sogar beim Vorlesen huschen meine Gedanken davon nach gestern und nach London.

Bela sitzt nicht an mich gekuschelt, weil – obwohl ich es wirklich gerne hätte – es geht für uns beide wohl gerade nicht.

„Kein Wunder, dass ick diesen Scheißbrief ausgerechnet heut find“, unterbricht er mein monotones Vorlesen.

„Wie meinste`n ditte?“

„Freitag, der 13., Alter.“

„Nich dein Ernst.“ Ich sehe die ganze Klolektüre über Verschwörungstheorien vor meinem inneren Auge. Er hat in letzter Zeit einiges angeschleift in der Richtung und ich bekomme ein wenig Angst. Gerade ist er mir wirklich fremd. Da sind so viele Seiten, die ich nicht kenne, von denen ich noch nicht mal weiß, ob sie neu sind. Mit Bela ist es definitiv nie langweilig – und das liebe ich auch so an ihm. Nur ist es leider gekippt in überwältigend.

„Willste dir dit nich doch noch mal überlegen?“

Ich lache freudlos auf. „Du hast keine Ahnung, wie viele schlaflose Nächte ich deswegen hatte.“

Er dreht sich zu mir und einen Moment wird sein Blick sehr kühl. „Erwart jetz bitte keen Mitleid von mir. Dit heißt doch nur, das de schon viel länger drüber nachdenkst.“ Sein Blick wird niedergeschlagen.

Etwas wie Scham flackert in mir auf.

„Wann genau wollste dit mir eigentlich sagen, Jan?“

Ich schweige.

„Dacht ick mir schon.“ Diese stille Verzweiflung in seiner Stimme ist schlimm, die kenne ich nicht an ihm.

Leise klappe ich das Buch zu. „Die Miete zahl ick von dem Geld, das ick in London verdien, okay?“

Er seufzt resigniert. „Als ob dit det größte Problem is. Aber schön, dass de dir dit allet so jut überlegt hast. Nächstes Mal weihste mich vielleicht `n bisschen früher ein.“ Schwerfällig stößt er sich hoch, kniet sich vor mich auf die Matratze. „Ick geh dann ma besser. Reisende soll man nich aufhalten, sagt das Sprichwort, oder?“ Es hört sich nicht mal wütend an.

Er verschwindet durch meine halb offene Zimmertür in den Flur. Ich bin mir sicher, gleich schnappt er sich seine Lederjacke vom Haken und zieht los, aber er geht nur in sein Zimmer, schließt ganz leise die Tür hinter sich. Ich erwarte, dass gleich laute, sehr laute Musik durch die Wände knallt, aber nichts.

Stattdessen höre ich einmal ein unterdrücktes Schluchzen. Es schmerzt auf meiner Haut, brennt darunter, in meinem Magen, meinem Herz ... Soll ich rüber gehen und sagen, dass ich bleibe? Aber was wäre damit besser?

Scheiße. Ich lehne mich gegen die Wand. Weiß, dass er auf der anderen Seite der Mauer ist. Ich will meine Hand ausstrecken ...

Irgendwie bin ich schuld.

Und irgendwie ist er schuld.

Und irgendwie ist auch die scheiß Leistungsgesellschaft diffus mit schuld und Berlin mit seinen Verlockungen und London.

Gerade macht einfach nichts wirklich Sinn.

 

*


Am nächsten Tag verschwindet er dann doch ohne ein Wort. Durch die angelehnte Zimmertür verfolge ich die Geräuschkulisse, wie er sich ganz langsam, viel zu langsam die Schuhe anzieht. Normalerweise wirft er sich voller Energie in seine Klamotten und dann knallt die Haustür zu und Bela ist los ins nächste Abenteuer.

Heute geht alles still und langsam. Wartet er, dass ich zu ihm komme? Ich bin kurz davor in den Flur zu gehen, da klickt fast lautlos die Wohnungstür hinter ihm zu.



West-Berlin  

Ich stromer durch die Straßen, seh nur Asphalt, Kaugummis und Hundekacke, weil ich die ganze Zeit den Blick gesenkt halte. Die Sonne brennt mir unangenehm in den Nacken, aber für mich ist grauer November.

Ich steig in die S-Bahn, seh durch das Fenster hinüber zu unserer vorüberziehenden WG, die bald nicht mehr unsere ist und auch keine WG mehr, sondern nur noch meine Wohnung.

Am Bahnhof Zoo verirr ich mich zu den Junkies und Strichern, such den Typen, der mir damals diese grünen knock-out-Tabletten gegeben hat. Ich hab die ganze Nacht nich geschlafen.

Normalerweise nehme ich keine Drogen zum Betäuben meiner Gefühle, sondern um sie anzufeuern, aber grad ... Es ist das erste Mal, dass ich gar nichts spüren will. Ich hab mich noch nie so leer und aufgewühlt gleichzeitig gefühlt, voller Selbstmitleid und hilfloser Wut auf Jan.

Hätt ich mir auch denken können, dass das mit dem Verlieben `ne dumme Idee ist. Vor allem in ihn. Fuck!

Die anderen Gestalten hier auf der kleinen Straße hinter dem Bahnhof Zoo sehen alle so aus, wie ich mich innen fühle – wie Zombies.

Ein Junge spricht mich an, gerade mal 15, schätz ich, seine Augen wirken Jahrzehnte älter, als hätt er genug gesehen für fünf Leben.

„Hey. Bist du neu hier?“ Er sagt es ganz lieb, als wollte er sich um ich kümmern. Und genau das bräucht ich jetzt. Oder sucht er nur einen Kunden?

Er hat noch voll das Kindergesicht. Dann sehe ich seine Arme. Oje. „Ähm, ick such nur nach so grünen Pillen.“

„Oh. ... Von denen würd ich lieber die Finger lassen.“ Seine Stimme klingt ganz sanft und als wäre er weit weg, nicht wirklich hier.

Wenn der das sagt, dann lass ich wohl echt besser die Finger von den Dingern. „Okay. Ähm, danke.“ Ich drück ihm zwei Mark in die Hand, er greift nach meinen Fingern, streicht vielversprechend über sie. „Für’n Zehner hol ich dir einen runter.“ Immer noch diese abwesende, sanfte Stimme. Auf was ist der? „Und für `n Zwanni ...“

„Nee. Nee, lass mal. Das war nur für den Tipp, mehr will ick nich.“

„Oh. ... Okay. Dann ... Danke, du Engel!“

Ich zweifel sehr daran, ob das das passende Wort für mich ist.

Ich mach kehrt, steig in eine U-Bahn – Füße, Schuhe und dreckiger Boden – steig wieder aus, steh auf einmal in Kreuzberg am Kottbusser Tor. Jetzt weiß ich endlich, wohin ich will, vielleicht wussten es meine Beine schon vor mir.


Kreuzberg  

Zum Glück ist sie zu Hause. Ohne ein Wort zu sagen, fall ich in Gittis Arme. Sie ist kleiner als ich, fühlt sich sehr weich an im Vergleich zum großen, dünnen Jan. So anders. Es tut gut. Und macht mich noch trauriger.

„Hey, Mann!“ Sie versteht sofort, dass was nicht stimmt, zieht mich fest an sich. „Was’n los, Bela?“

„Ick hab mich betrunken, aber ick war ja noch uff diesen doofen Tripper-Antibiotika.“

„Ja,und? Is doch keen Weltuntergang. Aber nach dem siehste, ehrlich jesacht, aus.“

Endlich darf die Geschichte in vertrauensvolle Hände. Wie ein Wasserfall bricht sie aus mir raus. „Ein Bekannter hat mitgetrunken und der war dann bewusstlos und ick hab dit mit meiner vollen Rübe nich geschnallt. Jan hat ihn dann zusammen mit jemand ins Krankenhaus gebracht.“

„Oh, scheiße.“

„Allerdings. Jan is stinksauer auf mich.“ So ganz stimmt das ja gar nicht mehr, seitdem ich ihn bei seinen Abhauplänen ertappt hab.

„Und jetze haut er ab.“ Die Worte sind ein Heulen.

„Wie abhau`n? Wieder nach Italien oder wat?“

„Nee, nach London.“

„Ernsthaft? Was für `n Arschloch!“ Es tut irgendwie gut, dass Gitti so auf meiner Seite ist, aber ... „Mann, ey. Tut mir echt leid. Jan ist echt so ein Egoist. Du brauchst zuverlässige Leute an deiner Seite. Vielleicht haste `n paar mehr Liebschaften als er, aber immerhin biste da, wenn man dich braucht.“

„Nich immer.“

„Du weißt, was ick mein. Du bist im Herzen treu, wenn de jemanden magst. Also, ick mag Jan schon, aber ... Lass dir von dem nich Reinquatschen. Oder ... willste jetz aufhören mit allem?“

„Wie allem?“ Mein Hirn ist heute echt besonders langsam. Weil oder obwohl ich nüchtern bin?

„Na, also mit Parties und Alk und Sex und Drogen?“ Sie wirkt tatsächlich ein wenig verstört.

„Ähm ... Nö. Ick gloob nich. Dafür lieb ick dit Rockstarleben echt zu sehr.“

„Rockstar, hm? Fehlt da nich noch `n bisschen dit Star drin?“

Ich straff mich, so gut ich kann in meinem desolaten Zustand. „Kommt schon noch. Wirste schon sehen. Jan und ick wir haben da schon wat gepla...“ Dann fällt mir wieder ein, dass der ja nicht da sein wird.

„Hey, Bela, es tut mir echt leid, wenn ick dit so sach, aber ... Ihr Beiden, nee, ihr seid echt wie Feuer und Wasser. Keen Wunder, dass dit nich jut jeht.“

„Aber dit lieb ick doch och so an dem! An uns.“

„Lieben, hm?“ Ihr Blick wird für einen Moment traurig, dann streichelt sie mir über die Schulter. „Ihr passt zwar echt keen Stück zusammen, wie zwei Puzzleteile, die dit komplett falsche Passstück sind, aber trotzdem ...“ Sie seufzt. „Irgendwas is da bei euch. Wenn ihr zusammen seid, dann ...“

„Wenn wir zusammen sind.“ Ich betone das „wenn“ so, dass das Problem deutlich wird.

„Vielleicht is et ja och jut, wenn ihr ma `ne Pause habt voneinander.“

„Ey, Gitti. Ick pack dit nich, da allein in der Niebuhrstraße abzuhängen, wenn Jan ...“

„Komm. Da findet sich bestimmt `ne Lösung für. Lass ma rumtelefonieren, ob jemand vielleicht was sucht.“

Und – Bingo! Eddie, ein guter Bekannter von mir, hat sich gerade von seiner Freundin getrennt und muss aus der gemeinsamen Bude raus. Wie passend.

Gitti öffnet ihre Zigarettenschachtel, hält sie mir hin, aber mir ist immer noch schlecht von allem. Ich winke ab.

Sie runzelt die Stirn. „Nich ma rauchen? Oje.“

Ich spiele nervös mit einer anderen Schachtel auf ihrem Küchentisch bis ich erkenne, dass das die gleichen Antibiotika sind, die auch ich nehmen muss.

Sie bläst den Rauch in einem langen Strom aus. „Wie geht’s `n dir eigentlich mit dem Scheiß-Tripper?“

„Anscheinend schon wieder‘ n bisschen zu jut.“ Auf einmal kommt Scham in mir hoch. Ein ekelhaftes Gefühl. Normalerweise schäm ich mich nicht für Dinge, die ich tue. „Wie sieht’s bei dir aus?“

„Ick hab echt `n bisschen Schiss. Meine Frauenärztin meinte, wenn man dit nich richtig behandelt, dann kann man vielleicht später keene Kinder kriegen.“ Ich hab sie noch nie so ernst gesehen.

„Scheiße. Ey, dit tut mir echt so leid. Wahrscheinlich war et die Tussi vom The Damned-Konzert.“

„Habt ihr denn keene Gummis genommen?“

„Ick weiß es nich.“

„Ach, Mann, Bela. Du weißt, ick lieb dich, aber dit is echt Müll.“

„Ja ... Es tut mir och echt leid.“ Vorsichtig streck ich meine Hand aus.

Sie seufzt. „Is ja nich so, dass mir dit noch nie passiert wär, aber ... Keene Kinder wär echt `n hoher Preis.“

„Ick wusst gar nich, dass de Kinder willst.“

„Na, mit Sicherheit nich mit dir, Herr Rockstar. Zwee so Hallodris wie wir, ick weeß nich. Na, hat ja och allet noch Zeit. Bevor die Ärztin dit so klar gesacht hat, wusst ick dit och nich.“ Sie drückt ihre Zigarette aus.

Ich bleib zwei Tage bei ihr und lass meine Seele pflegen, dann schmeißt sie mich raus, weil eine andere Affäre aus Hamburg zu Besuch kommt.

„Ey, tut mir echt leid, Bela, aber dit war schon seit zwei Wochen geplant.“

„Klar. Kein Problem. Dann viel Spaß mit Tomasz.“

„Na, wohl eher nich. Erstmal checken lassen, ob ick wieder sauber bin. Sollteste och machen.“ Ich nicke.

Als ich wieder draußen in Kreuzberg stehe, versuch ich Richtung Westen zu fahren, nach Charlottenburg, aber muss den Versuch am Nollendorfplatz wieder abbrechen.



Schöneberg  

Ich rufe Manu von `ner Telefonzelle an.

„Manuela Grimm?“

Allein ihre sehr klare Stimme zu hören, tut schon gut.

„Hallo! Hier ist Bela!“

„Hallo! Alles okay? Du hörst dich nicht gut an.“

„Kann ick zu dir kommen?

„Ich bekomme noch ... Besuch, aber wenn du in zwei Stunden vorbei kommst, dann hab ich Zeit für dich.“

Zuerst will ich in eine Kneipe am Nollendorfplatz gehen, aber dann entscheide ich mich für ein Café, trinke dort einen Kamillentee und les den Tagesspiegel von vorne bis hinten, ohne wirklich etwas zu verstehen.

Um fünf Uhr Nachmittag darf ich dann endlich bei Manu klingeln.

Sie ist wie immer in ihren schwarzglänzenden Morgenmantel gehüllt. „Hallo, Bela! Oh, mein Lieber. Du siehst wirklich nicht gut aus, wenn ich das anmerken darf.“ Ihre Stimme ist ganz anders als sonst, warm, mitfühlend.

Ich bedauer es fast. Dieses Mal scheint es nicht auf eine Session hinaus zu laufen, obwohl ich das gut hätte brauchen können. Endlich für einen Moment alles vergessen, mich verlieren in dem Spiel und seinen klaren Regeln, etwas Schmerzhaftes auf meiner Haut fühlen anstatt nur innen, eine Strafe ... Ich sehne mich danach.

„Kann ich etwas für dich tun?“

„Ick war wirklich, wirklich böse gestern. Kannst du mich bitte dafür bestrafen?“

„Oh. ... Ich kann verstehen, dass sich das wie eine gute Lösung anfühlt, aber nein, Bela. Es tut mir echt leid, aber so etwas mache ich nicht. Nicht in deinem momentanen Zustand.“

„Mhm. ... Schade.“ Ich bin schon fast wieder dabei mich zur Tür zu drehen. Unsere Verbindung beruht vor allem auf dieser einen ... speziellen Sache.

„Hey.“ Sie berührt mich ganz leicht an der Schulter, trotzdem blitzt es durch mich. Mehr. Mehr. Mehr. Vergessen.

„Vielleicht kann ich dir dennoch helfen.“

Irritiert sehe ich sie an. „Komm mit.“ Sie öffnet die Tür zu einem Raum, in dem ich bisher noch nicht war. Er unterscheidet sich nicht stark von ihrem Schlafzimmer. Alles ist stilvoll, so stilvoll, dass ich mir oft wie so `n kleener Strassenpunker vorkomme.

Dunkel gestrichene Wände, dunkle Vorhänge, die das Licht aussperren. Doch statt einem Bett prangt hier in der Mitte ein großer runder Tisch, der in seiner Wuchtigkeit und mit den Schnitzereien wie ein altes Erbstück wirkt.

„Setz dich doch.“ Sie weist auf einen der Stühle mit hohen Lehnen. Ich komm mir vor wie an einem Filmset. „Äh, braucht man für eine Séance nicht ein paar mehr Leute.“

Manu lacht. Es klingt ungewohnt und schön. „Also, ich kann einiges, aber mit Toten kommunizieren, das habe ich bisher noch nicht versucht. Aber ich kann dir helfen, mit dir selbst zu kommunizieren. Kennst du Tarotkarten?“

„Sind die nich zum Wahrsagen oder so?“

„Manche behaupten, dass sie damit die Zukunft vorher sagen könnten, aber daran glaube ich nicht. Ich glaube, dass Menschen in der Beschäftigung mit der Karte ihre eigene Antwort finden und dann Entscheidungen besser treffen können.“

„Also, keene Anrufung höherer Mächte?“

„Hört sich so an, als wäre dir das lieber gewesen.“ Sie mustert mich mit einer Mischung aus Amüsement und Interesse.

„Irgendwie schon. Ick mag den Gedanken, dass et mehr gibt als nur unseren langweiligen Alltag.“

„Mhm. Das kann ich sehr gut verstehen. Aber obwohl es hier bei mir etwas okkult aussieht, das ist nicht mein Gebiet. Da bin ich doch eher sehr pragmatisch und irdisch orientiert.“

„Schade.“ Ich finde es wirklich schade. Ich will, dass irgendetwas Großes passiert, dass den Schmerz von mir nimmt.

„Also, Bela, es wirkt so, als würde dich ein Problem sehr gefangen halten.“

Ich weiß nicht, ob das die passende Beschreibung ist dafür, was in meinem Inneren tobt. Ob ich ihr überhaupt sagen will, was los ist, sie einweihen. Sie ist nicht Gitti.

Als hätte sie meine Gedanken gelesen, sagt sie ruhig: „Du musst mir nicht mal sagen, um was es geht, wenn du das nicht möchtest. Soll ich dir die Karten legen?“

„Und was, wenn die Karten voll dit Unglück vorhersagen?“

„Wie ich schon sagte, die Karten haben nichts mit der Zukunft zu tun. Sie zeigen nur Optionen auf, über die du nachdenken kannst.“

„Ick weiß nicht, ob ick dit versteh.“

„Lass es uns einfach mal probieren. Visualisiere die Frage, die du hast!“

„Soll ich sie dir sagen?“ Ich sehe Manu unsicher an. Ich wünschte, sie würde mehr Hokuspokus um das Ganze machen. Ihre ernste Art macht mich ganz unbehaglich.

„Nur wenn du das möchtest.“

„Ick hab `nen sehr, sehr guten Freund und ...“ Ich schlucke. „Ick versteh denn einfach nich. Und – er mich wohl auch nich.“

„Wenn ich fragen darf, ist dieser Freund ein ... Freund oder ein Freund?“

Ich spüre Jans große Hand auf meiner, schlucke wieder, aber dieses Mal hilft es nicht.

„Oh, Bela!“ Manu reicht mir ein Taschentuch, steht auf und nimmt mich in die Arme. Es ist schön, wirklich schön. Sie riecht gut, aber es ist nicht das, was ich gerade bräuchte.

Sie erklärt mir ganz genau, wie das mit dem Tarot funktioniert. Ich bin vollkommen fasziniert davon.

Am Ende gibt sie mir ein Deck Tarotkarten mit und ein Buch, dass ihre Bedeutung erklärt. „Vielleicht helfen sie dir Klarheit zu finden, aber, Bela, ... nimm die Karten nicht zu ernst, okay?“



Niebuhrstraße 38 b  

Ich packe meine Sachen ein - wieder aus, weil ich auf einmal doch nicht mehr weg will, stapel sie in einer Ecke meines Zimmers, betrachte sie. Ich habe keine Verpflichtung. Es ist kein Ticket gebucht, ich könnte John und Claire jeder Zeit kurz anrufen und sagen, dass ich doch nicht komme.

Die Gedanken und Optionen kreisen wie riesige Planeten in meinem Kopf, deren Schwerkraft mich mal in die eine Richtung zieht, dann in die entgegengesetzte.

Eigentlich liebe ich es wegzufahren, aber dieses Mal ist alles anders. Allein schon, dass ich so lange an einem Ort bin. Es ist ja gar nicht wirklich verreisen, es ist eher ein richtiges Weggehen.

 

*


Am zweiten Tag, nach einer weiteren fast schlaflosen Nacht, packe ich alles wieder in meinen Rucksack. Es fühlt sich nicht gut an, aber richtig.

Ich hab viel mehr Sachen dabei als letztes Mal - für drei Monate. Es wirkt sogar auf mich fürchterlich ernst. Um fünf Uhr morgens habe ich mich entschieden. Danach konnte ich endlich, endlich schlafen.

Jetzt heißt es wieder warten. Dieses Mal will ich nicht wieder gehen, ohne ihn noch mal gesehen zu haben.

 

*


Am dritten Tag höre ich, wie die Wohnungstür aufgesperrt wird. Ich springe in von meiner Matratze hoch, eile zu meiner Zimmertür, dann aber verharrt meine Hand auf der Türklinke. Ich traue mich nicht sie hinunter zu drücken.

Ich will nicht, dass es wieder so leise eskaliert zwischen uns. Ich schließe die Augen, atme einmal tief durch, öffne meine Augen, öffne die Tür.

„Hi Bela!“ Ich mustere ihn. Er wirkt komplett ruhig, aber in seiner Ernsthaftigkeit auch als wäre er um ein, zwei Jahre gealtert in den letzten Tagen. Wo war er? Er sieht nicht müde oder durchgefeiert aus. Ich tippe auf Gitti.

Es ist seltsam Bela so lethargisch, fast depressiv zu sehen, als wäre er gar nicht richtig da. Es fehlt die Energie, die ihn sonst wie ein Strahlenkranz umgibt.

„Hallo!“ Er klingt müde und traurig und es rüttelt so stark an meinen Plänen.

„Also, ick ... Ick hab`s akzeptiert, Jan, dass de ....“ Er macht eine hilflose Handbewegung zur Wohnungstür. „Und um die Miete musste dich och nich sorgen. Eddie sucht grad wat. Er würde hier einziehen.“

„O-okay.“ Damit hatte ich nicht gerechnet und er sieht es wohl.

„Du willst doch noch immer nach London? Oder nicht mehr?“ Ein kleiner Hoffnungsschimmer leuchtet in seinen Augen auf und zerrt an mir.

„Ick bin ... war mir echt unsicher.“

„Du hast dich also noch nicht entschieden?“

„Doch. ... Ja." Ich bin schon wieder so verdammt durcheinander und gerade kann ich es nicht mal vor ihm verbergen. Ich schüttel den Kopf, weiß nicht weiter. „Ick weiß nich ma, ob ich mich entschieden hab oder nich.“

„Also ... ick hab grad `n bisschen wat gelernt über Entscheidungen treffen.“

„Okay.“

Er zieht etwas aus seiner Tasche, das aussieht wie ein Kartendeck. „Vielleicht können die dir helfen.“

„Häh? Was ... was ist das?“

„Karten.“

„Karten?“

„Ja. Komm.“

Bela geht in die Küche, räumt den Tisch leer, wischt ihn sogar ab. Dann mischt er die Karten und zieht sie mit einem eleganten Schwung in einen aufgefächerten Halbkreis vor sich. „Stell dir im Kopf die Frage, ob du nach London gehen willst oder nicht. Und dann nimm einfach, die Karte, die dich am meisten anspricht.“

„Was is `n dit für`n Quatsch?“

„Dit is gar keen Quatsch. Dit nennt sich Tarot.“

„Is das nich so `n Jahrmarkt-Hokuspokus?“ Es macht mich tierisch nervös. Und noch mehr, dass Bela so ruhig ist. Normalerweise hampelt er immer rum, seine Beine sind nie still oder er knibbelt an seinen Fingern rum. Aber gerade sieht er mich über den Tisch einfach nur vollkommen ruhig an.

Noch beunruhigender ist, dass tatsächlich eine Karte meinen Blick auf sich gezogen hat, meine Finger ohne meinen Willen über den Tisch in ihre Richtung wandern.

„Dit würde Manu aber nich gern hören.“

Ich ziehe meine Finger zurück, als hätte ich mich verbrannt. „Manu? Na, dit is ja viel besser. Ist die so `ne Jahrmarkt-Wahrsagerin, oder wat?“

„Quatsch. Die hat mir dit beigebracht. Manu is ... also, ... Komm. Zieh eine. ... Oder haste Schiss?“

Sofort springt mein Impuls an die Herausforderung, die Provokation anzunehmen. Ich muss meine Finger nun fast schon mit Gewalt zurückhalten. „Ick mach dit doch nich von `ner Karte abhängig.“

„Manu sagt, dass die Karten nur eine Entscheidung erleichtern und nich die Zukunft vorher sagen. Ick bin mir da ja nich so sicher, aber ... Bitte, Jan. Dit biste mir schuldig.“

Ich hebe eine Augenbraue. „Bin ick dit?“ Er hebt wie in einer Spiegelbewegung ebenfalls eine Augenbraue. Kann er auch ziemlich gut. Oh, Mann. Na, gut.

„Ick kann och zuerst eine ziehen.“

Was wenn er jetzt die gleiche Karte zieht, die ich - die meine Finger wollten? Ich steck schon viel zu tief in diesem Spiel drin, das nun auch für mich keines mehr ist.

„Also, ick mach dit och zum ersten Mal. Als Erstes stell ick mir die Frage, die mich beschäftigt.“ Bela lässt seine Hand über den Karten schweben. Es wirkt auf mich unnötig theatralisch und ich verdrehe innerlich die Augen.

Er gleitet wieder ein Stück zurück. Schließlich bleibt seine Hand über einer Karte stehen. Nicht meine. Gut.

Vorsichtig zieht er sie aus dem Halbkreis. Er blättert sie so auf, dass ich nicht erkennen kann, was er erwischt hat, aber ich kenne die Karten ja eh nicht.

Er zieht scharf die Luft ein, als er sie ansieht, blickt lange darauf, dann dreht er sie zu mir.

Ich mag Kunst, wollte ja sogar selbst an der Uni Kunst studieren. Diese Karte hat eine sehr starke Energie. Ich lese „Der Eremit“. „Dit is jetz nich dein Ernst, oder?“ Die Karte tritt irgendwas in meinem Inneren los, eine gefährliche Sehnsucht, schleudert mich durch die Gegend wie bei einem Unfall. „Was ... was war`n deine Frage?“

„Wie das mit dir weiter geht!“ Wir sehen uns an. Ich sehe einen ähnlichen Schrecken in seinen Augen, wie ich ihn fühle – und das, obwohl ich nicht an diesen Esoterikkram glaube.

„Ist ein Eremit nich jemand, der in `ner Höhle lebt? Allein?“ Bela ist richtig bleich geworden, noch bleicher als sonst. Seine Hand mit der Karte sinkt auf den Tisch. „Du gehst ...“

„Hey, Bela. Das bedeutet verdammt nochmal gar nichts.“

„Also, gehst du nich?“ Es klingt nicht wirklich hoffnungsvoll, als hätte er mit dem Ziehen der Karte mit seinem Schicksal schon abgeschlossen.

Ich drücke mich feige um die Antwort. „Das sind nur Karten, okay? Die entscheiden nicht, was passieren wird.“

„Beleidige das Tarot nich“, flüstert er. „Ick glaub, die Karten können dit spüren.“

„Bela ...“ Ich sehe ihn eindringlich an. Manchmal mache ich mir echt Sorgen um ihn – nicht nur wegen Drogen und Alkohol.

„Ja, ja. Is ja jut.“ Im nächsten Moment tut es mir leid. Bela wirkt ernsthaft verzweifelt. Er steht auf und kommt mit einem Buch wieder. „Ick kann die leider nich einfach so interpretieren.“ Er blättert hektisch in dem Buch, liest mit gerunzelter Stirn. „Da steht, dass das an meiner Seite ...“

„An der Seite des Eremiten“, werfe ich schnell ein. Er identifiziert sich für meinen Geschmack viel zu viel damit.

„Ja, ja, aber dieser dreiköpfige Hund ist Zerberus. Dit klingt doch total gruselig. Und die schreiben, dass ick mich von allen Zerstreuungen zurückziehen soll und von meinen Geliebten.“ Er schnaubt bitter. „Als ob ick dit entschieden hätte ...“ Er sieht mich mit einem traurigen Funkeln in den Augen an und ich kann seinem Blick nicht standhalten.

Er wendet sich wieder diesem Buch zu. „Aber egal, wohin ich gehe, ich werde meine Probleme trotzdem mitnehmen. Ick glaub, dit is eher an dich gerichtet.“

Mich nerven diese Scheißkarten mit ihren tollen Weisheiten. Als ob ich daran nicht in all den schlaflosen Stunden gedacht hätte.

„Deswegen soll ich eine Reise ins Innere antreten.“ Bela blickt nachdenklich auf die Karte mit dem Eremiten, liest dann weiter. „Wohl dem, der in dieser Phase seines Weges eine Führerin oder Führer findet, der oder dem er sich anvertrauen kann. Doch auch hier bedarf es äußerster Wachsamkeit, denn allzu viele Führer*innen bieten sich mit verlockenden Versprechungen an, ohne selbst den Weg zu kennen.“ Er lässt seinen Finger als Lesezeichen im Buch und sieht mich an.

„Bela, du weißt doch selbst, wat de willst. Niemand braucht `n Führer. Dit wissen wir hier doch wohl jut jenuch.“ Sein Blick ändert sich nicht, macht mir ein wenig Angst.

Er steckt die Karte in seine Hosentasche. Ich mag nicht, dass er sie so nah bei sich trägt – wie einen vergifteten Talisman.

„Du ...“ Seine Stimme ist fast tonlos. „Zieh du!“

„Nein. ... Dit is ... keene jute Idee.“

„Weil du dich doch schon entschieden hast?“

„Mann ... Ja. ... Nein!“ Eigentlich hab ich mich entschieden, aber ...

„Dann zieh. Vielleicht hilft es dir ja, `ne Antwort zu finden.“

Ich sehe die Karte an, die von Anfang an meine Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat. Ich fühle mich so verdammt manipuliert, will extra eine andere nehmen, komme mir dann aber wie ein Feigling vor. Ich atme vorsichtig ein und strecke meine Finger nach der Ersten aus.

„Weißte, was de fragen willst?“, unterbricht Bela meine kleine Reise zu dieser Karte.

„Ähm ...“

„Och, komm, Jan. Jetz gib dir ma `n bisschen Mühe. Is dir dit nich wichtig?“

Was glaubt er denn? Das ich einfach leichtfertig alles wegwerfe? Ich bin kurz davor einen echten Streit mit ihm vom Zaun zu brechen, aber davon hatten wir gerade genug. „Natürlich is mir dit wichtig. Aber dit hier mit dem ...“ Mir liegt das Wort „Hokuspokus“ auf den Lippen, dann schlucke ich es hinunter.

„Ja, ich habe meine Frage“, sage ich überdeutlich. Sie ist ja auch sehr einfach: Was - verdammt nochmal – soll ich tun? Nicht, dass ich das wirklich eine Karte entscheiden lassen würde, aber ...

Ich ziehe sie heraus, drehe sie um. Ein Mensch in goldener Rüstung. Ohne dass ich es will, versinke ich in der Betrachtung der Karte. Vor allem die Rüstung zieht immer wieder meinen Blick auf sich.

„Was ... was hast du denn für eine Karte?“

„Hmm?... Oh. ... Ick ...“ Ich zeige sie Bela.

„Der Wagen ...“ Er wird blass. „Damit ... is dann wohl allet geklärt, wa?“ Sein Stuhl scharrt über das Linoleum zurück.

„Bela ...“ Ich fange ihn gerade noch an seinem Ärmel ab, bevor er aus der Küche stürmen kann. „Warte. Bitte.“ Ich spüre, wie sehr er wegwill, kenne das Gefühl – nur zu gut. Ich will ihn nicht zwingen hierzubleiben. „Kannste mir bitte `ne Minute geben, dass ick erklären kann, was ...“ Der Zug an meiner Hand wird weniger, lässt dann ganz nach.

Behutsam ziehe ich ihn zu mir hinüber, ziehe ihn auf meinen Schoß. Widerwillig setzt er sich, bleibt ganz starr und aufgerichtet - wie eine Statue aus Stein. Es ist, als würde er gar nichts wiegen und gleichzeitig die Last der Welt auf seinen Schultern tragen.

„Hey.“ Ich lege ihm vorsichtig eine Hand auf den Rücken, der unter meiner großen Hand viel zu dünn und zart wirkt. Er zuckt zusammen. Ich fahre langsam über seinen Rücken, spüre jeden Wirbel unter meinen Fingerspitzen, seine drahtigen Muskeln. Er seufzt. Dann verliert sein Körper auf einmal diese starre Spannung.

„Bela!“ Ich warte, bis er mich wirklich ansieht. „Ick hab überlegt, dass ick dit mit London gerne für so drei Monate ausprobieren würde und dann nochmal `ne Entscheidung treffe.“

Seine Haltung auf meinem Schoß wird für einen Moment wieder ganz starr, dann wieder weicher. „Also, haste dich entschieden?“

Ich lege meine Wange an seine Schulter - will ihn spüren, vielleicht mich auch verstecken –  und nicke.

„Drei Monate?“

Ich nicke wieder.

„O...“ Er atmet tief ein, noch ein Mal. „Okay.“

„Okay?“ Ich traue mich immer noch nicht, ihn anzusehen.

„Mhm.“ Er schlingt seine Arme um mich, drückt sich ganz fest an mich und schon wieder zweifle ich an meiner Entscheidung. Warum sollte ich das hier verlassen wollen? Ich versinke für ein paar ruhige Minuten in seiner Umarmung, fühle seine Haut warm an meiner. Keine Worte, nur atmen.

Schließlich küsst mich Bela auf die Schläfe. „Soll`n wir kieken, wat dieser tolle Wagen dir noch sagen hat?“

Ich halte ihn auf meinem Schoß fest, weil ich Angst habe, dass er aufsteht. „Vielleicht.“ Eigentlich bin ich noch nicht wirklich wieder bereit, der Realität ins Gesicht zu sehen.

Bela streckt sich über den Tisch nach dem Buch, blättert an die richtige Stelle, liest.

Währenddessen wandert mein Blick wieder zu der Karte vor mir. Das Schlimme ist: Ich kann mich wirklich sehen, dort unter der Rüstung, die gleichzeitig Schutz und Gefängnis zu sein scheint. „Haste was über diesen Panzer gefunden?“

„Panzer?“

„Die Rüstung von dem Menschen.“

„Ach so.“ Bela holt tief Luft. „Also, bei der Karte geht es wohl um Neuanfang und Introspektion, was auch immer das ist.“

„So was wie `ne Bestandsaufnahme, gloob ick.“

„Und es geht wohl um eine Art Transformation und das in dem momentanen Stadium der Schutz notwendig ist für die Klarheit. Dit sollen wohl die Kristalle an der Rüstung symbolisieren.“

Mir macht das alles viel zu viel Sinn, ich versuche es von mir zu weisen, aber die Erklärungen stoßen auf Resonanz in mir.

„Also, da steht: Der Führer des Wagens untersucht sorgfältig alle möglichen Konsequenzen, bevor er den Neuanfang wagt und sich in Bewegung setzt. Entschließt er sich aber für den Start, so gibt es kein Zurück. Nichts wird die Fahrt aufhalten können.“

Mein Kopf sinkt nach unten. Diese Scheißkarte scheint mich gut zu kennen.

„Aber der Neuanfang muss wohl nicht zwangsläufig eine Reise sein, es kann auch einen neuen Lebensabschnitt wie eine Beziehung oder einen Beruf einläuten. Nichts sollte jetzt überstürzt entschieden werden; alles bedarf der genauen Prüfung und Vorbereitung. Doch nachdem alle möglichen Konsequenzen gründlich bedacht wurden.“

Ob ich es will oder nicht: Die Karte bringt tatsächlich einiges von meinen rastlosen Überlegungen der letzten Tage und Nächte auf einen Punkt.

Bela fährt über eine Stelle im Text. „Der Neuanfang lässt die langweilige Routine des eingefahrenen Alltagslebens hinter sich. Die geistigen Eingebungen und Ideen vervielfältigen sich und erweitern das eigene Tätigkeitsfeld. Dit sin wohl die blauen Kreise im Hintergrund.“

Er liest leise weiter, schnaubt dann. „Und ...“ Er hebt einen Zeigefinger. „Das man keen Chaos hinterlassen soll, wenn man aufbricht und - noch viel wichtiger – das de dein höchstet Ziel nich vergessen sollst.“ Er fängt vorsichtig meinen Blick ein.

Ich halte ihn fest, streiche durch seine Haare, über seinen Nacken. Sein Blick wird weich. „Jan ...“ Er vergräbt sein Gesicht an meiner Schulter. Seine Arme liegen schwer um mich.

Auf einmal dringt die ganze Verzweiflung dieser verfahrenen Situation in mich. Ich suche seinen Mund, küsse ihn, küsse Bela, als wäre es wirklich unser letztes Mal, wild und ungestüm und verzweifelt.

„Hey, hey, hey!“ Belas Mund ist rot und sein Atem geht schnell, als er sich von mir löst. „Was `n nu los? Zuerst zeigste mir tagelang die kalte Schulter und jetze frisste mich fast auf?“

„Wat kalte Schulter? Du warst gar nich hier, mein Lieber.“ Die Wut in mir kocht wieder hoch, auch weil ich mir gerade seltsam bloß gestellt vorkomme mit dieser Rüstungskarte.

„Okay, okay. Hast recht. Aber ... versteh dit nich falsch. Ick werd mich mit Sicherheit nich über deine Attacke beschweren, aber ... Warum?“

„Ey ... Ick ... Dit ...“ Ich fahre mir über das Gesicht. „Hey, tut mir leid. Ick kann dit nich erklären, weil ick et selber nich versteh, aber ... ick kann so nich gehen.“

„Na, super, dann geh doch einfach nich.“ Eine steile Falte taucht auf Belas Stirn auf, er beißt sich auf die Lippen. Alles an ihm wirkt hilflos, gefangen, sein Blick auf mir schmerzt.

„Aber ick kann och grad nich bleiben. Dit war echt zu viel die letzten Tage. Es tut mir leid, aber ick muss dit probieren.“ Ich flüstere es ihn seine Haare.

„Das dit och scheiße is, weißte schon, nee!“

Ich nicke, was soll ich auch sonst sagen. „Ick hab och grad Schiss ... irgendwie.“

„Weil ...?“

„Weil ... manchmal hab ick echt Angst um dich.“

„Ach, Jan! Unkraut vertrocknet nich oder wie der Spruch geht.“

Ich muss schmunzeln, küsse ihn auf die Wange, lasse mein Gesicht an seinem ruhen. „Ick hab dit echt ernst gemeint, damals in der Küche. Trotz allem: ick will nich, dass de dich für mich änderst.“

„Mhm.“ Er küsst mich auf die Wange, steht dann auf. „Danke, Jan.“


Es fühlt sich an, als würde er mich verlassen und ich will ihn zurück ziehen. Er scheint es zu merken. „Sorry. Ich brauch ma `ne Pause. Ick muss dit erstma alles verdauen. Okay?“

Ich nicke.

Er geht in sein Zimmer, schließt die Tür und ich sitze allein in der Küche. Wird sich das für ihn auch so scheiße anfühlen, wenn ich weg bin? Nee. Vermutlich schlimmer.

Ich gehe in mein Zimmer, lege The Clash auf, die „London Calling“-LP auf, merke erst beim dritten Lied, wie das wahrscheinlich wirken muss, dabei war das gar nicht meine Absicht.

Ich wechsle zu Joy Division, lass mich auf mein Bett fallen, verstecke mich unter meiner Decke.


You cry out in your sleep, all my failings exposed
There’s a taste in my mouth as desperation takes hold
Just that something so good, just can’t function no more


Irgendwas klopft. An meiner Tür. Ich muss wohl weggedämmert sein. Draußen ist es dunkel. „Ähm, ja?“

Langsam geht die Tür auf, ich bin immer noch versteckt unter meiner Decke. Die Matratze sinkt ein. „Hey! Ick ... Kann ick heut bei dir schlafen?“

Ich hebe die Decke hoch für ihn und er kriecht zu mir darunter. Bela kuschelt sich ganz vorsichtig an mich, als wäre ich zerbrechlich. Oder er.


 


*
*




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LYRICS

Lotte Kestner - Enjoy the Silence

Johnny Cash - Redemption Day

Motörhead - God was never on your side

Cash - One

Joy Division - Love will tear us apart


Tarot

Gerd Ziegler - Tarot  - Spiegel der Seele : Handbuch zum Crowley-Tarot



Und - ein kleiner Treat nach dem ganzen Drama

Fanvideo by ItisMadness - Bela/Farin, part 1 (80s)

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Chapter 29: 1983 - Bat

Chapter Text

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* Teenagers in Love *




Sommer, Sonne, Sonnenschein - und Sabbatical - endlich!

Und auch endlich wieder ein neues Kapitel. Oh, Mann. Dieses hat mich echt mehrere Wochen in Atem gehalten, weil – Bela.

Er und seine Interessen - und somit die folgenden Kapitel - sind für mich wie ein Puzzle mit 1.000 Teilen (Die Kapitel davor hatten gefühlt eher so 50-100.) Wie Jan im Podcast so schön sagt: Bela ist einer der vielschichtigsten Menschen, die er kennt. Und da ich Bela (leider) nicht kenne, ist er für mich ein totales Enigma, das ich echt nicht richtig geknackt bekomme in Bezug auf seine Horror- und Okkultesvorlieben.

Das ist also mein Versuch, mich Bela endlich mal etwas intensiver zu nähern. Ich hoffe, ich bin ihm einigermaßen gerecht geworden. Und es wird noch mehr dazu kommen in den nächsten Kapiteln. Also, falls ihr Erleuchtungen in Bezug auf die 1.000 Facetten des Herrn Felsenheimer habt – ich freue mich sehr, wenn ihr mir dazu was schreiben wollt, denn ich muss sagen: Er bleibt mir weiterhin ein Rätsel, wenn auch ein sehr Spannendes.

Liebe Grüße an Euch von The Windmills



Chronologische Ungenauigkeit, besonders in Bezug auf die Düsseldorfer Szene.

Inhaltswarnung: Schlägerei



Lieder und Bilder farbig unterlegt im Kapitel.
Weiterführende Links am Ende.





1983 – Bat






13. Juli – Niebuhrstraße 38b, Charlottenburg

Ich erwache immer wieder in dieser Nacht. Zweifel und Reisefieber und Sehnsucht treiben mich um – nach hier. Und dort. Meinen Wecker habe ich auf sieben gestellt, aber ich finde keine Ruhe.

Bela anscheinend auch nicht. Er wälzt sich hin und her, weckt mich bei jedem Umdrehen auf meiner schmalen Matratze. Ich lege meinen Arm um ihn, ziehe ihn vorsichtig an mich und die Decke fester um uns beide.

Nicht nur meine Matratze ist schmal. Wer kümmert sich darum, dass er genügend isst, wenn ich weg bin? Er selbst, ist wohl die Antwort. Einer der vielen Gründe, warum ich weg muss. Wenn wir – ich so weiter mache, dann bin ich irgendwann nicht mehr sein Freund, sondern mehr wie so ein beschissener, kontrollierender Elternteil. Dazu passt auch perfekt mein Gedanke, dass er so friedlich aussieht, wenn er schläft.

Nichts mehr spürbar von der nervösen Energie, die auch ich in mir trage, die uns auf seltsame Weise verbindet – seine und meine verrückten Ideen vom Punk-, Rock-, Popstar-Dasein. Mir ist schon klar, dass das Viele wollen und bei fast allen wird es sich als Luftschloss und Hirngespinst erweisen. Das ich jetzt abhaue, beerdigt unsere Ambitionen damit wohl auch, schickt uns auf den Friedhof der unerfüllten Träume.

Auf unserem Grabstein:


Die Ärzte
„Sie waren Punks und wollten Popstars werden.“
Bela B, Farin Urlaub & Sahnie
1982-1983



Bela bewegt sich. Sein Rücken schmiegt sich so warm an meinem Bauch und nach ein paar Minuten hat sich mein Atemrhythmus an seinen angepasst.

Irgendwann bin ich in dieser traurig-schönen Nacht wohl doch eingeschlafen, den Kopf voll London und Sorgen um Bela, uns beide, denn plötzlich scheppert der Wecker mit seinem metallischen Säbelrasseln los, als wollte er eine Kriegserklärung verkünden.

Ich kriege ihn nicht sofort aus und wenn ich nicht schon Kopfweh hätte, dann spätestens jetzt. Bela murrt einmal kurz wegen des Lärms, pennt dann weiter. Sein Körper neben mir ist so schlafwarm und verlockend. Vorsichtig kuschel ich mich an ihn, küsse ihn auf die Wange.

Er gibt ein böses Grummeln von sich, das mir ein wehmütiges Schmunzeln entlockt, gefolgt von einem schlagartig so brutalen Abschiedsschmerz, dass ich ihn einfach fest an mich ziehe. Das böse Gebrummel wird intensiver.

„Hey, Bela!“, murmel ich beruhigend. „Hey. Ich ... ick muss jetze los.“

„Waaas ...?“ Er sieht mich orientierungslos an. Viel zu früh für den Herrn Vampir.

„Ick ...“ Ich küsse ihn einfach. Mit ungeputzten Zähnen ist das morgens wirklich nicht so lecker – Bine hatte da nicht ganz unrecht. Bela scheint es trotzdem gut zu finden, auch wenn er nicht wirklich wach und ansprechbar ist.

Ich lege alles in den Kuss, für das ich keine Worte finde und da sein Gebrummel liebevoller wird, scheint er es wohl verstanden zu haben.

 

*



Und dann ist er weg.

Den Tag verbringe ich mit noch mehr schlafen und Comics lesen in meinem Bett. Ablenken, abtauchen, nur nicht darüber nachdenken, wie leer die Räume sind, wie sehr Jans Abwesenheit durch die kleine WG hallt.

Zwei Uhr nachts, aber mit Schlafen ist natürlich nichts. Kurz hab ich überlegt, ob ich mich einfach in Jans Zimmer einquartier und Eddie in meins ziehen lass. Aber das würd es nur noch schlimmer machen. Ich umhüllt von Jans Geruch, obwohl er ist gar nich da ist, als wäre er ein Phantom.

Irgendwann im Morgengrauen dämmer ich weg. Im Halbschlaf taucht wie in einem schlechten Film eine Kneipe vor meinem inneren Auge auf. Die Hauptdarsteller: Köln, mein Vater, der Wirt, seine Freunde und ein 14-jähriger Bela, dem gerade sein erstes Bier hingestellt wird. Kühl, prickelnd und bitter. So, richtig geschmeckt hat es mir damals nicht, aber das es von meinem Vater kam, das hat mir etwas bedeutet, wie er mir auf die Schulter geklopft hat und meinte: Na, langsam wirste ja erwachsen. Genau so hab ich mich gefühlt, wenn er mich in seine Stammkneipe in Köln mitgenommen hat.

In der Ecke gab es eine klapprige Jukebox, die wohl der Versuch war dem Laden etwas mehr 50er Jahre-Flair zu verleihen. Auch das Publikum war wie aus der Zeit gefallen. Viele Rocker. Ich mochte die. Harte Schnauze, nicht immer ein weicher Kern, aber eben auch nicht so böse, wie sie sich gerne gegeben haben.

Noch mehr als dieses Gefühl von erwachsen sein, hat mich die Jukebox angezogen. Auf dieser hab ich Elvis, Johnny Cash, Lou Reed und die Ramones rauf und runter gespielt und die Erwachsenen in der Kneipe haben mich einfach machen lassen, mir immer wieder Kleingeld zugesteckt.

Schließlich werden die Erinnerungen zu schmerzhaft, hinterlassen eine tiefe Traurigkeit in mir, die nichts mit Melancholie und Nostalgie zu tun hat, sondern einfach nur mit roher, tiefer, brutaler Verletzung. Ich hab schon lange nicht mehr an meinen Vater im fernen Köln gedacht, hab ihn genauso aus meinem Leben geschnitten wie er mich, der Arsch. Vielleicht hat der Abschiedsschmerz über Jan dem Scheiß wieder nach oben befördert. Super, jetzt tut es doppelt weh.

Wach. Nach den unerwarteten Bildern bin ich nun wirklich wach, voll auf Adrenalin, wenn auch einer eher traurigen Abart von dem, was ich sonst anstrebe.

Kurz überleg ich, ob ich vielleicht einfach aufstehen und ins Risiko ... Aber nein. Ich will grad nicht zurückkehren zu den anderen Wachen, denen auf Speed und Koks und Alk. Ich will meinen Kopf nicht zudröhnen, ich will die Gefühle nicht wegmachen. Keine Ahnung, warum sich das so verdammt mutig anfühlt. Jan lebt immer so. Aber vielleicht hat er eine andere Möglichkeit gefunden, seine Gefühle einzuschließen. Das Songschreiben? Lesen? Reisen?

Ich schalt das Licht an, vertreibe die Dämmerung und greife nach dem neuesten Batman, den ich mir eigentlich für eine besondere Gelegenheit aufheben wollte. Scheint so, als wär die gekommen.

Die Geschichte des von seiner Vergangenheit gebrochenen Helden lenkt mich ab. Und tröstet mich. Der Gedanke, dass aus dem Kaputten etwas Gutes entstehen kann, hilft mir. Auch wenn Bruce verdammt einsam aussieht in seinem Kampf gegen das Böse.

 

*



Um 3 Uhr nachmittags klingelt Eddie. Zusammen schleppen wir seine Habseligkeiten die Treppe hoch. Auf dem ersten Absatz geht auf einmal eine der beiden Wohnungstür auf. Frau Pachulke starrt uns aus zusammengekniffenen Augen an.

„Zieht ihr endlich aus, ihr asoziales Pack?“

Die Frau ist nicht nur gehässig, sondern auch einfach unlogisch. Ich ignorier sie und stapf behängt mit einem Rucksack und zwei Koffern an ihr vorbei und weiter die Treppe hoch.

„Nette Nachbarschaft“, kommentiert Eddie keuchend und stellt seinen Plattenspieler in Jans Zimmer ab.

„Die olle Schachtel könnt och ma ...“ Ich sag`s dann doch nicht, schäm mich fast für meine Gedanken. Vielleicht hat sie ja voll das dramatische Schicksal, ist in der vollen Blüte ihres Lebens von ihrer großen Liebe verlassen worden - und dann total verbittert. `N echt übles Schicksal.

In den ersten Tagen nach Jans Aufbruch höre ich ihn immer wieder in seinem Zimmer, denke, dass wenn die Tür aufgeht, ein blonder Riese mit wilden platinblonden Haaren heraus tritt, aber dann kommt Eddie, der eher mein Ebenbild ist.

Ich vermiss Jans morgendliche Dauerschleife von „Blue Monday“. Dabei lieb ich Eddies Rock. Es ist schön, mal was ganz anderes durch die Gehörgänge gejagt zu bekommen. Wie eine Reinigung, wie ein Exorzismus.

Aber alles ist so anders in der WG mit ihm. Ich vermiss sogar Jans und meinen gegeneinander verschobenen Wach-Schlaf-Rhythmus. War irgendwie auch `n Gefühl von Sicherheit zu wissen, dass Jan in der WG ist und schläft, während ich nachts Berlin unsicher gemacht hab.

Jetzt ist da niemand, denn Eddie und ich sind zusammen unterwegs, schauen uns üble Trashhorror-Movies im Bahnhofskino an. Heute haben wir uns für „Asphalt-Kannibalen“ entschieden und machen danach einfach mit „Hitcher, der Highwaykiller“ weiter. Sie sind fast schon ein bisschen zu gut für Trash und wir amüsieren und lachen gar nicht so viel wie gedacht.

Dafür funktioniert der Horrorpart sehr viel besser als erwartet, lenkt mich von meinem eigenen Alltagshorror ab. In den vier Stunden hab ich nur zweimal an Jan gedacht, nämlich dass er definitiv nicht mitgegangen wäre in die Filme – oder es dann bereut hätte. Das klappt mit Eddie sehr viel besser, wir haben da den gleichen abartigen Filmkunstgeschmack.

Überhaupt macht es Spaß mit Eddie unterwegs zu sein. Es ist angenehm unkompliziert. Wir kennen uns inzwischen auch lang genug, teilen viele Interessen und trotzdem stört es mich ständig, dass ... Er bewegt sich anders als Jan, spricht anders, lacht anders ... Verdammt! So geht das echt nicht weiter. Es ist unfair Eddie gegenüber – und auch mir selbst. Irgendwie als hätt Jan gewonnen – auch wenn ich nicht weiß, was. Ich will was ändern, will mich ändern.



18. Juli – Savignyplatz, Charlottenburg - Schwarzes Café

Das schwarze Café nah des Savignyplatzes wird mein neues, abendliches Wohnzimmer. Hier ist die Versuchung von chemischen Mittelchen sehr viel geringer als nachts im Risiko, Dschungel, Sound oder Ex `n Pop.

Ich setz mich allein an einen Tisch. Monika kommt zu mir rüber. Sie ist echt nett zu uns, weil sie die Ärzte mag, hat uns von Anfang an unterstützt. Neben dem „Schwarzen Café“ betreibt sie auch noch das „Loft“ und hat uns dort schon den ein oder anderen Auftritt besorgt.

„Hey, Bela!“ Sie umarmt mich, gibt mir einen Kuss auf die Wange. „Schön dich mal wieder zu sehen. Ist Farin auch hier?“

„Nee.“

„Oh, was ist das denn für eine Gewitterwolken-Miene?“

„Mrm.“ Ich krieg keinen vernünftigen Satz raus, weil der Cocktail aus Wut und Traurigkeit auf einmal wieder so hoch sprudelt. Was für ein Arsch einfach so abzuhauen ...

Sie setzt sich zu mir an den Tisch und greift nach meiner Hand. „Oh, nein. Bitte sag nicht, ihr habt euch getrennt.“ Forschend sieht sie mir ins Gesicht, das anscheinend  Bände spricht.

Ich räusper mich, schluck, antworten kann ich grad nich.

„Oje.“ Sie drückt meine Hand. „Ich weiß ja, dass die Szene kurzlebig ist und sich ständig neue Optionen auftun in `ner anderen Band zu spielen, aber bei euch hatte ich echt gedacht, das klappt. Ich fand eure neue Band echt geil. Ihr seid .... wart einfach was Besonderes. Ich wollte euch schon vorschlagen, ob ihr es nicht mal beim Senatsrockwettbewerb probieren wollt:“

Ich versuch, ihrem Redefluss zu folgen, was gar nich so einfach ist. Ich mag Monikas euphorische, anpackende Art. Immer am Projekte planen und aufstrebende Bands unterstützen. Sie ist so `n bisschen wie `ne Punkmutter für mich.

„Ihr ... Du weißt, wie sehr ich euch schätze. Ihr wart einfach witzig, grad wenn Farin und du euch mitten im Song die Bälle zu gespielt habt.“

Vermutlich sollte ich sie unterbrechen, das Missverständnis aufklären, aber - ist es überhaupt eins? Ich will sie grad unterbrechen, da sagt sie: „Ihr hättet echt gute Chancen gehabt, die 10.000 € zu gewinnen.“

„10.000 €?“ Ich verschluck mich an meinem Pfefferminztee und muss übel husten. Sie klopft mir auf den Rücken. „Ähm, okay.“ Mir laufen immer noch die Tränen vom Verschlucken runter. „Also, falls Jan zurückkommt, dann ...“, krächz ich. „Dann komm ick definitiv auf dit Anjebot zurück.“

Ich flieh, um mich abzulenken von verpassten Chancen und der verdammten Wut, die mich mal wieder in einer Welle überkommt, wenn ich an London denk.

Ich will nach Kreuzberg, nach Schöneberg, Leute sehen, verdrängen, vergessen, übermalen mit anderen Körpern und anderen Küssen, aber alles – jede verfickte Ecke Berlins - erinnert mich an Jan. An Farin.

Es ist, als würden die Milliarden mikroskopischen Moleküle, aus denen Berlin zusammengesetzt ist, mir die ganze Zeit „Jan“ zuraunen.

Bei meinen Eltern in Spandau werde ich so hart auf unser Kennenlernen gestoßen, darauf wie naiv und euphorisch wir damals waren, dass ich einen Mülleimer über die Fahrbahn der Seegefelder Straße trete. Ein Autofahrer droht mir wütend mit der Faust – ich zeig ihm den Mittelfinger.

Kreuzberg brüllt mich an, dass hier unsere ersten gemeinsamen Auftritte waren, die Nächte mit ihm im SO, das Silvester im Eck in Kreuzberg.

Das Freibad riecht nach ... In der Umkleidekabine, ganz weit hinten, wo niemand ist, kann ich fast so stark spüren wie in der Niebuhrstraße, sogar noch stärker, weil ... Ich hol mir leise einen runter und heul danach `n bisschen.

Der Wannsee ist auch nicht besser, erinnert mich an die Schlitterpartie im Winter über das Eis und – noch schlimmer – an die Nacht im Zelt, die kläffenden Grenzköter, das Gewitter, an das erste Mal, dass ich ihn geküsst hab. Wie verdammt unschuldig er damals noch war.

Am schlimmsten aber ist das Risiko, das ich gerade komplett meide, nicht nur weil es mich an meinen großen Fehler erinnert, nach dem Jan abgehauen ist.

Ich bin Eddie echt dankbar, dass er mich in ganz andere Ecken von Berlin entführt – Rockabilly- und Rocker-Kneipen, in denen ich zwar angestarrt werde in meinem Waver-Outfit, mich aber sofort zu Hause fühle.

Nur die Erinnerung, die hören auch hier nicht auf, kreisen um die Leerstelle in mir, wo mal mein Vater war.

 

*



Ich fang an, nachts wirklich um die Häuser zu ziehen – ohne Ziel, ohne irgendwo einzukehren, ohne mich in die betrunkene Ekstase und ihre menschliche Masse fallen zu lassen. Die Scheiß-Drogen waren ja im Endeffekt der Auslöser für ...

In einer meiner rastlosen Nachtwanderungen durch Berlin steh ich auf einmal unten am Wasserfall des Kreuzbergs.

Wieder – oder immer noch – jagen die Fledermäuse über dem kleinen Teich Insekten. Ich will auch meine schwarzen Schwingen ausbreiten, mit ihnen durch die Nacht fliegen, ins nächste Abenteuer. Aber ich hab nur Beine, die mich sehr viel weniger elegant den Berg am Wasserfall entlang hinauf tragen.

Vermutlich wegen der ganzen Fledermäuse fällt mir Batman ein. Superhelden sind ja meist so clean und „gut“ wie Superman. Grad das mag ich nicht an dem. Ich find eher die gebrochenen Helden anziehend – so wie eben Batman.

Der Comic lässt mich nicht los. Diese Art von Batman ist so anders, als alles, was ich davor von meinem Helden gelesen hab. Wie sehr Bruce Wayne im ersten Kapitel dagegen ankämpft wieder in sein Cape zu schlüpfen, wieder Batman zu werden. Aber sein Alter Ego, der Sog lässt ihn nicht zur Ruhe kommen. Oder das Trauma.

Die Bilder vom Mord an seinen Eltern sind so eindrucksvoll gezeichnet.

Es berührt mich unerwartet stark und tief. Und es passt. Es passt so verdammt gut und ich identifiziere mich so merkwürdig stark damit. In einer Art Höhle hause ich in der WG ja eh schon. Nur das mit dem Allein sein ... Das ist so gar nicht meins. Es macht mir eine Heidenangst. Etwas Dunkles, Altes wirft seinen Schatten auf mich, überrollt mich. Es raunt in meinen Ohren von Zurückgelassen werden ...  

Mein erster Impuls ist in die Neonlichträume des Risikos mit seinem weißen Schnee zu fliehen. Aber eigentlich will ich ja versuchen, ein bisschen weniger zu trinken. Und einzuwerfen. Und zu sniffen.

Schnell folg ich dem kleinen Pfad höher und höher, hinauf zum Denkmal.  In der Ferne seh ich die erleuchteten Ziffern einer Kirchenuhr. 3:47 Uhr. Heute Nacht bin ich ganz allein hier oben. Keine Liebespaare. Wahrscheinlich schlafen die alle schon. Oder haben Sex.

Der Fernsehturm im Osten ist immer noch da, aber nun wirkt er wie ein Mahnmal, denn natürlich erinnert auch er mich an Jan und die Nacht mit ihm hier oben auf dem Kreuzberg.

Ohne ihn fühl ich mich auf dem Plateau des Denkmals seltsam ungeschützt, dabei war die Nacht immer meine Freundin. Es sind wohl die Erinnerungen, die mich wie ein Fluch heimsuchen.

Ich flieh den kleinen Weg hinunter, quetsch mich durch das Dickicht. Ich folge dem Klang des brausenden Wassers, breche durch das Gebüsch und stürze fast die Felswand hinunter, die schlagartig abbricht. Von Superheld mit Laserblick oder dem Ultraschalldings der Fledermäuse und anderen Gadgets ist bei mir echt nicht viel zu merken. Mein Herz hämmert und poltert in meiner Brust. Das fallende Wasser übt eine fürchterliche Faszination auf mich aus, versucht mich mit sich zu ziehen und ich muss bewusst einen Schritt zurück treten.

Es ist nicht genau die Stelle, an der ich mit Jan war. Ohne ihn wirkt es hier viel dunkler und gruseliger. Vielleicht bin ich eher der Gotham City Night und nicht so der Nature Typ. Die Nacht ist auch nicht an sich gruselig, aber ich hab keinen Bock auf all das Kriechzeug und die Insekten. Mir fallen wieder die Hallus mit den Tieren in meinen Haaren ein und sofort kribbelt es überall. Als Fledermaus würd ich wahrscheinlich einfach verhungern.

Was mich an dieser Nacht wohl am meisten gruselt, ist das allein sein. Aber – ich bin fast 20. Ich muss doch auch mal lernen, nur mit mir zurechtzukommen.

Trotzdem – es ist besser, ich verlass diesen Ort wieder, der ohne Jan seinen Zauber verloren hat, an dem die Erinnerung an silbernes Mondlicht mich mit einem spitzen, kleinen Dolch in die Brust sticht.

Weiter wander ich durch das nächtliche Berlin. Es ist seltsam, so unvernebelt durch Kreuzberg zu gehen. Ich seh die Gestalten, die grölend entlang der Hauswände stolpern. Eine andere Spezies – gerade nicht ich. Es tut sogar ein wenig weh, sie – mich so von außen wahrzunehmen. Fremd und vertraut.

In der Ferne erblicke ich den großen spitzen Kirchturm am Südstern. Alles sehr spitz an dem großen, grauen Ding. Ich drück den Griff der riesigen Holztür herunter. Verschlossen. Natürlich. Irgendwie hätte es etwas Tröstliches gehabt sich in diese leere Halle und den Schutz der dicken Mauern zu begeben.

Auf der anderen Seite der Straße ziehen sich die Friedhöfe. Gleich drei gibt es hier. Ich kletter über die Backsteinmauer des Dreifaltigkeits-Kirchhof. Gebüsch und kleine Bäume ragen in der Dämmerung vor mir auf Silhouetten von großen Tieren und Gestalten.

Langsam wird der Himmel im Osten heller und ich erkenne auch Details, seh einzelne Figuren. Über einem Grab wacht ein steinerner Mann – mit Flügeln. Ein männlicher Engel. Irgendwie hatte ich vergessen, dass es die ja auch gibt. Ich setze mich zu seinen Füßen. Es hat etwas Tröstliches, als könnte ich seine Flügel um mich fühlen, wie einen Schutz, ein Superhelden-Cape.

Ein Sonnenstrahl weckt mich. Ein paar Gräber weiter gießt eine weißhaarige Frau die Blumen auf einem frischen Grab. Tränen laufen ihr über die Wangen. Am liebsten würd ich zu ihr rüber gehen, so sehr fühl ich mit ihr. Aber wahrscheinlich würd sie sich nur erschrecken vor meiner zerknitterten, schwarzen Gestalt.

Vorsichtig rappel ich mich auf, lauf den ganzen Weg zurück nach Charlottenburg. In der Niebuhrstraße lese ich „The Dark Knight returns“ weiter, schwank in meiner Identifikation zwischen Rächer und Beschützer und dem Gefühl, selbst beschützt werden zu müssen.

 

*



Ich muss raus aus Berlin. Irgendwie sorgt das fast für eine seltsame Verbundenheit mit Jan, dem Fernweh-Abenteurer. Aber ich muss nicht gleich ein kleines Meer zwischen uns bringen.

Nach vier Tagen hat das Schicksal Erbarmen mit mir. Die Suurbiers haben einen Auftritt im Ratinger Hof in Düsseldorf und haben Hans und mich als Teil der alten Band gefragt, ob wir als Roadies mitfahren möchten.



24. Juli – Ratinger Hof, Düsseldorf

„Wo habt ihr denn den anderen großen Blonden gelassen?“, begrüßt uns Campino.

„Der ist in London.“ Ich bin froh, dass Hans antwortet.

„Oh, wow.“ Campino, der Halb-Engländer, sieht ganz beeindruckt aus. „Good for him.“

„Mhm, super jut for him“, murre ich.

Campino hebt eine Augenbraue und die vertraute Mimik in einem anderen Gesicht schmerzt übel. „Alles okay bei euch?“

„Ja, ja. Jan kommt in drei Monaten wieder“, antwortet Hans.

Erstaunt seh ich zu ihm, zieh ihn ein Stück zur Seite. „Hat er dir das so versprochen?“ Wut flammt in mir auf. Verfickter Lügner. Hans hat echt die Wahrheit verdient. Soll ich mich jetzt auch noch glücklich und privilegiert schätzen, dass er mit mir ehrlicher war? Allerdings - so aufmerksam wie Hans oft ist, könnte es auch gut sein, dass er etwas missverstanden hat.

„Äh, ja.“ Hans macht große Augen. „Also, äh, zumindest hab ich das so verstanden.“

Oh, Mann. Ich brauch schnell, ganz schnell, Ablenkung, bevor der Abend den Abgrund hinunter stürzt. Außerdem kann ich es heute krachen lassen. Das Konzert mit den Suurbiers ist erst morgen. Und ich hab mir einen Absturz nach der langen Abstinenz echt verdient, find ich.

Der Hof ist wirklich ein skurriles Sammelsurium aus Subkulturen. Künstler, Hippies, Yuppies dazwischen ein paar echte und ein paar Freiabendpunker plus Teds. Gibt`s in Berlin auch, aber nicht so dicht gedrängt wie hier in diesem kühlen Neonröhren-Raum.

In der Menge entdeck ich ein vertrautes und sehr hübsches Gesicht. Sie hat ihre Haare schwarz gefärbt. Steht ihr verdammt gut. In den letzten Wochen seit der Bootstour hatten Andrea und ich einen sehr regen Briefwechsel.

Unsere Augen treffen sich und ein Lächeln breitet sich auf ihrem Gesicht aus, dass ich als durchaus auffordernd lese. Automatisch sehe ich mich nach Campino um, dann quetsche ich mich durch die Menge zu ihr. Kaum bei ihr angekommen, zieht sie mich hinter sich her hinaus zum Ausgang. Wir treten vor die Tür des Hofs in die Menge auf der Ratinger Straße, erinnert stark an die O-Straße in Kreuzberg.

„Na, du? Das ist ja eine Überraschung.“ Sie umarmt mich kurz. Fühlt sich gut und verboten oder verboten gut an. Ein kleines Spiel mit dem Feuer. Genau das, was ich jetzt brauch.

„Ich bin spontan bei den Suurbiers mitgefahren.“

„Schön. Haste Lust, ein bisschen spazieren zu gehen?“

„Klar.“ Eine Bierflasche fliegt in meine Richtung, verfehlt mich knapp und zersplittert an der Hauswand. Yeah, Randale. Aber irgendwie auch egal, denn noch mehr interessiert mich gerade, was Andrea unter „Spazieren gehen“ versteht.

Nach einer Stunde stellt sich heraus, dass das kein Codewort war für „Inkognito Rumknutschen“, damit Campino es nicht mitbekommt. Schade. Aber auch okay. Sie ist echt nicht nur attraktiv, sondern eine wirklich interessante Frau.

„... und dann haben Minus Delta t eine „Putzaktion“ veranstaltet. Zuerst haben sie eimerweise Wasser auf den Boden gegossen und geschrubbt, aber dann ham Gips darüber und mit Schweinefüßen und Gedärmen um sich geworfen. Aber am ekligsten waren die Fliegen. Die hatten die extra für den Abend gezüchtet.“ Andrea sieht gleichzeitig vollkommen entsetzt, aber auch fasziniert aus bei der Erinnerung und ich wünschte, ich wäre bei dieser epischen Performance dabei gewesen. Das klingt nach echtem Punk. „In der Mitte des „Konzerts“ waren alle schon gegangen, denn es gab nich ma wat zu trinken, weil Robbie auf der Theke sein Schlagzeug aufgebaut hatte. Na, danach war erstma echte Putzaktion angesagt. Das hat noch Tage danach gestunken.“

Wir gehen zurück in Richtung Hof und laufen direkt in Campino rein, der schon wieder seine eh schon sehr hochgezogenen Augenbrauen lupft und zuerst mich und dann Andrea durchdringend ansieht.

Bevor er anfangen kann uns investigativen Fragen zu unterziehen, wird die eh schon angespannte Stimmung auf der Ratinger Straße von lautem Gebrüll durchdrungen.

Ich verstehe so etwas wie „Lacanda“. Hektik macht sich um uns breit. Campino sichert mit einem Blick unsere unmittelbare Umgebung ab, zieht Andrea mich mit. Campis Miene macht klar, dass es ein Problem gibt - ein echtes Problem.

„Wat `n auf einmal los?“

Andrea wirkt genauso hektisch wie Campino, aber der ist immer hektisch. „Die Larcardas sind mal wieder da.“

„Wer?“

„Dat is so `ne echt fiese Rockertruppe, die versuchen immer wieder bei Carmen Geld einzutreiben“, erklärt mir Andrea, während sie mich in  den Eingang des Hofs zieht.

Die Menschenmenge im Hof wird um uns herum immer kompakter, wahrscheinlich weil die Leute versuchen, den Scheiß-Rockertypen auszuweichen. Am anderen Ende seh ich, wie ein Rocker mit einem abgebrochenen Mercedesstern einem der Punks die ganze Backe aufreißt. Das Blut spritzt in alle Richtungen. Fuck. Nich gut. Gar nich gut. Ein Baseballschläger wirbelt durch die Luft. Ich kann nicht erkennen, von welcher Partei der kommt.

Auf einmal knallt es, so laut das es mir fast Trommelfell zerfetzt und noch ein paar Sekunden durch den Raum dröhnt.

„Scheiße“, hör ich Campino dumpf durch das Klingeln in meinen Ohren. „Die ham `ne Gaspistole dabei.“ Er sagt es, als wäre das was Normales. Holla, die Waldfee. Auf einmal kommt mir Berlin recht beschaulich vor.

In der Nähe der Toiletten wird das Gebrüll lauter. „Die ham sich Andi geschnappt“, schreit jemand zu uns hinüber und schon ist Campi weg.

„Gibt`s hier denn keen Hinterausgang?“ Ich seh Andrea leicht nervös an. Prinzipiell hab ich nichts gegen Prügeleien, aber gerade bin ich noch viel zu nüchtern und hab dadurch echt Respekt vor dem drohenden Gemetzel.

Ich durchforste die Menge nach bekannten Gesichtern, such Hans und Micha. Scheiße, Micha ist mittendrin. Und sieht auch noch glücklich aus, während einer der Rocker etwas, das stark nach `ner Motorradkette aussieht, in seine Richtung schwingt.

Anderseits – das könnt ich sein, wenn ich schon genügend getankt hätte. Seltsam, dass mit so einem Abstand von außen zu sehen. Besser ich zieh ihn da raus. Ich quetsch mich durch eine Gruppe von Teds, die sich kampfbereit machen wie eine Herde Bullen, mit dem Rücken zueinander im Kreis stehen, um den Raum und potentielle Angreifer zu sehen.

Etwas sticht in meinen Augen. Ich wisch. Es wird noch schlimmer. Fuck. Tränengas. So hat ich mir meinen Ausflug nach Westdeutschland nich vorgestellt. Diese Lokandas sind echte Pisser.

Eine Hand auf meiner Schulter. Andrea hat sich ihr T-Shirt über die Nase gezogen. Ihre Augen tränen ebenfalls. „Ey, es is besser, wir hauen ab.“

„Okay. Aber wie denn?“ Vor dem Ausgang sehe ich nur breite Rücken in abgeschnittenen Kutten. Sie zieht mich in einen kleinen Nebenraum, der wohl sowas wie ein Getränkelager ist, öffnet ein kleines Fenster, das voller Spinnweben hängt.

Was für eine Scheiße, die andren so hängen zu lassen. Ich weiß nicht mal, wo Hans abgeblieben ist. Aber helfen kann ich hier auch nicht mehr wirklich mit der Fresse voll Gas. Die Abhaugeschichte gibt definitiv keine gute Anekdote – von wegen Batman. Ich seufze, atme noch mehr Tränengas ein.

Andrea und ich quetschen uns durch das schmale Fenster nach draußen. Wenn ich ein wenig besser essen würde, hätte ich es nicht durch geschafft. In dem kleinen Hinterhof atme ich erstmal tief durch, wisch mir die Spinnweben aus Gesicht und Haaren. Die frische Luft ist wie ein Feuerlöscher. Freiheit, süße Freiheit.

Andrea zieht mich über den dunklen Hinterhof in Richtung des Lärms auf der Ratinger Straße.

Blaulicht flackert zu uns in den Hinterhof hinein. Draußen stehen mehrere Wannen der Bereitschaftspolizei. Zum ersten Mal in meinem Leben bin ich froh, die Bullen zu sehen – meinen Onkel natürlich ausgenommen. Der war ja der Grund, warum ich bei dem Verein überhaupt `ne Ausbildung angefangen hab. Für mich war der damals ein echtes Vorbild – und halt wohl so `n bisschen auch Vaterersatz.

Andrea öffnet das Tor und gleitet durch die sich bildende Polizeikette. Als ich ihr folgen will, rennt ein Bulle direkt auf mich zu. „Ausweis!“, brüllt er mich an. Scheiße. Zum Glück hab ich den überhaupt dabei, sonst wär wahrscheinlich gleich Wache angesagt.

Andrea hat wohl nich mitbekommen, dass ich nich mehr hinter ihr bin. Wahrscheinlich zu sehr auf Campi fixiert. Tja.

Der Bulle gibt mir meinen Ausweis zurück. „Berlin, ha? Da kannst du auch gleich wieder hin zurückfahren. Heute ist hier Schicht im Schacht.“

„Was?“

„Na, Platzverweis, Bürschchen.“

„Aber ick hab doch jar nüscht ...“

„Dein „jar nüscht“ kannst du gleich mal wieder einpacken. Wat die Polizei anordnet, dat is Gesetz. Also, los ...“ Er greift in Richtung seines Gürtels, an dem ein schwarz glänzender Schlagstock hängt, sieht dann hinüber zu seinen Kollegen. „Wat stehste noch rum, Junge! Hopp, hopp!“

Arschloch! Mir liegt die Frage auf den Lippen, was er denn tun will, wenn ich nich gehorche, aber durch meine Ausbildung weiß ich das ja schon: Gewahrsam. Und so wie der drauf ist, macht er das sogar. Ich bin echt froh, dass ich diesen Scheißjob schon nach zwei Wochen wieder aufgegeben hab.

Vielleicht sollte ich es einfach nochmal auf der anderen Seite der Polizeikette probieren, aber ... Manchmal ist es echt blöd, wenn man so auffällig aussieht wie ich.

Ein rothaariger Typ taucht neben mir auf. Seine wilden Haare sind wirklich rot oder vielmehr rotblond, nicht gefärbt. „Hey, brauchste Hilfe?“

„Vielleicht. Ick hab grad von dem Scheißbullen da `nen Platzverweis bekommen und jetz kann ick nich mehr zu den Leuten, wo ick heut pennen soll, in `n Hof.“

„Oh. Also, wenn das für dich okay ist, dann kannste einfach mit zu mir in die WG kommen und dort übernachten. Ich bin übrigens Beckmann.“

„Ey, cool. Danke. Ick bin Bela aus Berlin.“

„Dachte ich mir schon, also Berlin. Dat is schwer zu überhören.“ Er grinst mich an. Sympathisch. „Komm. Wir gehen auf den Schreck, jetzt erstmal woanders noch einen heben.“

Wirklich sehr sympathisch. Und trinkfest, wie ich feststelle. Die Abstinenz der letzten Tage macht sich bemerkbar und ich kann kaum mithalten. Aufeinandergestützt schwanken wir im Morgengrauen seiner WG entgegen, wo ich im Gemeinschaftsraum auf dem Sofa in ein mehrstündiges Koma falle.

Am nächsten Abend treff ich Micha, mit einem blauen Auge, und Hans im Hof wieder. Der hat gar nichts abbekommen, weil er sich schon beim ersten Anzeichen von Stress verkrümelt hatte. Kleveres Bürschchen, der Hans. Aber ich war ja auch nich viel besser. `n bisschen schäm ich mich, auch vor Campino, dass ich den Hof gestern nich mehr mitverteidigt hab.

Nach dem seltsamen Ausflug in den Westen bin ich froh, wieder auf bekanntem Berliner Terrain zu stehen. Hier passiert auch viel Scheiß, aber ich kann das hier auch einfach besser abschätzen. Zumindest meistens.


Risiko, Kreuzberg

Ich nehm mein altes Nachtleben wieder auf. Ich mag das Fliegen - immer etwas zu nah an der Sonne oder dem Mond – einfach zu sehr. Ohne es fühl ich mich nicht lebendig. Vielleicht bin ich ja mal von einer Fledermaus gebissen worden. Der Gedanke fasziniert mich mehr als er sollte.

Im Risiko treffen Hans und ich auf einen alten Freund. Zuerst bin ich mir nicht sicher, ob zwischen uns alles okay ist, aber dann umarmt mich Hussi.

„Na, biste mit deinen neuen Bandkollegen unterwegs?“ Er deutet auf Hans, der seit ein paar Tagen neben Eddie mein neuer Weggehkumpel geworden ist. „Ist Jan auch da? Ich vermiss seine dauergrinsende Fresse echt manchmal.“

Ich schüttel nur den Kopf, denk: Ich auch. Fuck. Ich will nicht schon wieder die Geschichte von Farin im fernen London erzählen.

„Sach ma, an dem einen Abend - ist da noch alles gut gegangen?“

Oje. Ich hatte echt vergessen, wie weite Kreise das Whisky-Desaster gezogen hat. „Ja. Ähm, du hast da och geholfen, wa?“

„Ja. Ich hab den Typen mit nach draußen geschleppt. Puh, der sah echt aus wie kurz vor`m Sterben.“

Der Gedanke jagt wieder diesen Stromstoß durch mich aus Scham und Besserung geloben, aber auch die Lust nach einem Bier. Oder was Härterem.

Der Abend fühlt sich erschreckend weit weg an – vor allem erschreckend, auch wenn ich mich an nichts wirklich erinnern kann. „Ja, er is wohl wieder okay.“ So ganz genau weiß ich das ja nich mal.

Schlechtes Gewissen nagt an mir, vor allem da mein Versuch, mal etwas weniger zu trinken, schon wieder Schnee von gestern ist. Dabei wollte ich für mich selber echt `n Zeichen damit setzen, nich einfach wieder zum Normalbetrieb übergehen. Aber meine nächtlichen Einsamkeitsspaziergänge und meine Abstinenz haben mich schließlich auch nich direkt zu `nem besseren Mensch gemacht. Und Jan kriegt es ja sowieso nich mit.

„Wie sieht’s denn mit eurer neuen Band aus?“, unterbricht Hussi mein nerviges Grübelkarussel. „Hab viel Gutes gehört. Bis jetzt hab ich leider alle Auftritte verpasst. Wann spielt ihr denn mal wieder?“

„Na, dit kann `n bisschen dauern.“ Also nun doch die London-Geschichte. Ich versuch in dieser Version, so zu tun, als wäre das kein Problem. Danach zieh ich zum ersten Mal seit zehn Tagen ein bisschen Speed. Krass, wie das knallt. Danach ist Jan erstmal wirklich kein Problem mehr.

Vollkommen aufgedreht beschließen Hussi, Sahnie, ich und noch ein anderer Typ, den ich nur vom Sehen kenne eine neue Band zu gründen. Fick dich, Farin Urlaub. Unser grandioser Name: Hussi und die Fickboys.

Nach dieser erfolgreichen Tat folge ich Hussi in den Dschungel und tanze dort die Nacht durch.

Dort entdecke ich ein paar sehr faszinierende Gestalten, die ganz in Schwarz gewandet und weiß geschminkten Gesichtern wie Außerirdische auf der Tanzfläche wandeln. Sie sehen aus wie Versionen von Robert Smith, dem Sänger von The Cure. Und tatsächlich ertönt ein Lied von denen.

Die Gruppe zieht mich magisch an, auch wenn ihr hin und her wiegender Tanzstil ein wenig zu ruhig für meine zappeligen Speedbeine ist. Aber das Lied verzaubert den Dschungel, noch mehr der Trockeneisnebel, der in Schwaden durch den Raum zieht. Auf einmal wirkt es wirklich wie ein Forest, wir dunklen Gestalten darin wie einsam stehende Bäume, die sich im Wind wiegen.



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LYRICS

Ortrotasce - Solitude

Malaria! - Your turn to Run

Male - Die Toten Hosen ihre Party

Male - Sirenen

The Cure - A Forest



Bela & Batman

youtube - Bela B. - Durch die Welt der Comics mit dem Die-Ärzte-Schlagzeuger

youtube - Bela B. & Die Flunder zum BATMAN Skandal des Jahres

Comic als pdf - Frank Miller - The Dark Knight Returns



Bela über Trash & Horror

Nerdwort zu Scharnow von Bela B.

Oder Bahnhofsgrind à la Asphalt-Kannibalen. Hitcher, der Highwaykiller schaute ich mir mit meinem Kumpel Eddie nur deswegen an, weil der Titel so bescheuert war (dass der Film sich tatsächlich als richtige Perle herausstellte, enttäuschte uns fast).

Mit dem Aufkommen von VHS explodierte diese Welt gerade- zu, und aus ihr entstieg ein unerschöpfliches Universum an Film-(nun ja)»Kunst«! Ich hatte in den Frühwerken von Jörg Buttgereit und den Sinn-Filmen von Ades Zabel mitgewirkt. Jugendlicher Super-8-Irrsinn, der im Zuge der andauernden Punkrevolution überall da gezeigt wurde, wo mal gerade kein Konzert stattfand.



LOCATIONS


Loft, Berlin


Ratinger Hof, Düsseldorf
Photos von ar/gee gleim
Spiegel Artikel – Legendäres Drecksloch, 2010



BANDS

Minus Delta t



PERSONEN

Monika Döring
Zu Beginn der 80er Jahre gehörte Monika Döring mit dem Loft zu den rürigsten Förderern musikalischer Experimente aller Art.


Michael Beckmann

DEPP JONES:  Bela B., Axel „Atze“ Ludwig (bis 1990), Rodrigo González, Michael Beckmann (bis 1992)
Depp Jones ging aus der Band S.U.M.P. hervor, die die vier Beteiligten ´89 zusammen mit dem Ärzte-Produzenten Uwe Hoffmann gegründet hatten. Der Bandname entstammt dem Lucky-Luke-Comic Nr. 25, in dem Averell Dalton den Decknamen Depp Jones trägt. Die Bandgründung von S.U.M.P./Depp Jones fand während eines Konzertes, bei dem auch die Rainbirds gespielt hatten, mit González, Beckmann und Bela B. statt.

Interview
Wir teilten uns 1982 den Probenraum mit einer Düsseldorfer Newcomer- Band namens „Die Toten Hosen“. Ich lernte eines nachts vorm Ratinger Hof Bela B. und Sahni von der frisch gegründeten Band „Die Ärzte“ kennen. Wir tauschten Adressen – und als es in Düsseldorf für mich voranging, genügte ein kurzer Anruf und ich war „Untermieter“ bei Farin Urlaub und Bela B. Hier schloss ich mich den „Suurbiers“ an, und endlich ging es los mit dem ernsthaften Musikmachen.



BUCH

Teipel, Jürgen: Verschwende deine Jugend (Auszug)
Über den Hof, Lacarda, Minus Delta t: S. 125 ff. - Sehr lesenswert!





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Chapter 30: 1983 - Batcave

Chapter Text

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* Teenagers in Love *





Lieder und Bilder farbig unterlegt im Kapitel.
Weiterführende Links am Ende.


FYI

Es gibt jetzt einen instagram Account für die Geschichte mit den wunderbaren artworks von relative.rockbar, wolfdragon_tv und belaaraart.

instagram account: thewindmills_ff

Und wahrscheinlich auch bald eine spotify-playlist, die relative.rockbar fantastischer Weise zusammengestellt.

Ich bin immer noch "blown away" von euren Zeichenkünsten und es ist einfach so eine unglaublich tolle Bereicherung der Geschichte.

Wie heißt es im FU-Gästebuch immer so schön: L & V an euch.




1983 - Batcave





26. Juli - 29 Railton Rd, Brixton

Obwohl ich nur eine Nacht bei ihnen übernachtet habe, erkenne ich die Straße und das Haus sofort wieder. Die Haustür des braunen Klinkerbaus ist offen und ich steige hoch in den zweiten Stock. Mein dicker Rucksack ist fast zu breit für die schmale geschnittene Treppe. Zögerlich klingel ich an der Wohnungstür von „John & Claire Walker“ und warte.

Vor ein paar Tagen hatte ich sie kurz aus Berlin angerufen, damit sie wissen, dass ich heute Abend komme. Hoffentlich haben sie das nicht vergessen. Zur Not habe ich noch ihre Telefonnummer, aber das hilft ja auch nicht viel, wenn sie nicht Zuhause sind.

Ich höre Schritte, dann öffnet mir John die Tür. Ich hatte echt vergessen, wie riesig der Typ ist. „Hey! You made it! So good to see you, Jän!“ Verdammt, der ist immer noch ein paar Zentimeter größer als ich. Beeindruckend.

„Hi John! Ehm, thanks for inviting me back. And also for the job opportunity. That is really fantastic.“

„Sure. Come in, come in. You are probably quite hungry, I guess.“ Er haut mir mit ordentlich wumms auf die Schulter und nimmt mir dann meinen sauschweren Rucksack ab, als wäre es eine Handtasche.

Der Geruch der Wohnung ist gemütlich, aber weckt dennoch gemischte Erinnerungen an meinen letzten Aufenthalt in London vor gut zwei Monaten. Hoffentlich läuft es dieses Mal besser, wobei – gerade die Beiden waren damals wirklich ein Geschenk des Himmels, sind es schon wieder. Außerdem riecht es nach Essen. Mein Magen knurrt laut und John lacht.

„It smells awesome.“

„I am cooking. You need to try some real Jamacain food, man.“

Er führt mich zur Miniküche, in die wir allerdings nicht beide gleichzeitig passen, so dass ich auf dem Flur stehen bleibe.

„I try to recreate some orginial jerk fish. Not so easy without a fire.“

„Jerk?“

„Not the british jerk.“ Er lacht so herzlich, dass ich mir nicht mehr ganz so dumm vorkomme. „When my people have been enslaved to and in Jamaica, they were cooking over little wood fires dug in the ground. Aaaah!“ Er verdreht genussvoll die Augen. „Sooo tasty. But hard to do in a flat.“ Er lacht wieder, dann sieht er mich erschrocken an. „Do you eat fish? And meat? Or are you more into the Rastafari-Ital kitchen with only vegetarian food?“

„Ah ...“ Ich bin etwas überfordert. „I do eat a little meat, like very little. But I do like fish. A lot!“

„Good, good, good!“

Hinter John taucht Claire auf. Ihr rotes Haar wird von hinten durch die untergehende Sonne angeleuchtet und scheint fast zu brennen. Über ihr Gesicht geht ein Strahlen. Sie sieht überirdisch schön aus und kurz bin ich ein wenig eingeschüchtert, aber sie schließt mich einfach ebenfalls in die Arme. „Jän! So good to see you again. Glad you made it.“ Sie mustert mich. „But, you really need to eat more.“ Ich sehe wohl wirklich etwas dünn aus.

„I will. It smells sooo good.“

„Right? John is such a brilliant chef.“ Sie streicht ihm liebevoll über den Rücken.

John grinst. „It is mostly the seasoning: ginger, garlic, cloves, cinnamon, scotch bonnet pepper and pimento.“

Nach dem wirklich „delicious dinner“ sitzen wir im Wohnzimmer auf der Couch, die von nun an wieder mein Nachtlager sein wird.

„So, Jän, how have you been in the last months?“

Weird, ist mein erster Impuls. Erstmal Zeit gewinnen. „Ehm, could you, ehm, maybe call me Max. Like – I thought, I`m gonna change my name, cos most people here can`t pronounce „Jan“ very well.“

„Jän“, sagt John, anscheinend überzeugt den Namen zu meistern, dann wirft er einen kurzen Blick zu Claire und nickt. „Sure thing, Max.“

„It`s one of my middle names“, erkläre ich. Sie nicken wieder.

„Well, okay, then Max. You want some Chocolate Tea? We always drink it after dinner.“

„Sure.“ Es tut gut, dass Mäx zu hören. Ein Neuanfang. „I will do the dishes and the clean-up of the kitchen later.“ Hier möchte ich mich echt von meiner besten Seite präsentieren und mich nützlich machen. So ein Gruselkabinett von Küche wie in der Niebuhrstraße zu hinterlassen, wäre mir mehr als peinlich vor meinen Gastgeber*innen.

„Sounds good.“ Claire lächelt mich an. Alles ist leicht und unkompliziert und mir fällt ein kleiner Stein vom Herzen, dass dies anscheinend doch eine gute Entscheidung war.



Canary Wharf, London

Klong-klong-klong. Kling. Klick. Deng.

Inmitten heruntergekommener Docks und Lagerhallen liegt die Notendruckerei, in der John für uns beide einen Job gefunden hat.

Seit nunmehr zwei Wochen sitze ich hier in der nervigsten Symphonie auf Erden. Während ich an einem großen Holzrahmen kleine Metallnoten auf metallene Notenzeilen setze, stampfen im riesigen Raum nebenan die Druckmaschinen. Music engraving heißt das auf Englisch, obwohl ich ja gar nichts graviere, sondern die Noten setze. Wobei so runtergerockt wie meine Fingerspitzen inzwischen sind vom Metall, könnte ich es auch gleich mit Hammer und Meisel machen. Gitarre spielen geht fast nicht mehr. Echt übel.

Das Schlimmste ist, dass ich trotz der Schulzeit auf einem musischen Gymnasium, nicht wirklich gut im Notenlesen bin. Und diese stupide Fließbandarbeit bringt es mir auch nicht bei. Dreimal kamen schon Blätter aus dem Probedruck mit Beanstandungen zurück. Und beim dritten Mal sah Harry echt genervt aus. „You are aware, Max, that I can not check every bloody sheet you produce.“ Von wegen britische Höflichkeit. Aber er hat ja leider auch nicht ganz unrecht, schließlich waren das nur die Fehler, die er gefunden hat. Ich komme mir extrem unzulänglich vor, so als hätte ich das Ausbeutergehalt hier verdient.

Dann muss ich doch grinsen. Durch meine Fehler könnte ich aus Versehen ein paar Teile der Partituren neu komponiert haben. Ich würde gerne hören, wie meine  Notendreher einer Ouvertüre neues Leben einhauchen. Happy accidents, sagen die Engländer*innen. Schade, dass ich sehr viel weniger happy als meine Fehler bin.

Seit zwei Wochen bin ich jetzt in London und es ist durch John und Claire und meinem kleinen Couch-Zuhause bei ihnen sehr viel gemütlicher, als letztes Mal bei den Squatter-Glue-Punks auf dem Dach oder auf dem verregneten Friedhof. Eine echte home base.

John sitzt nur ein paar Meter weiter in seine Arbeit vertieft an der Setzkasten-Maschine. Kommunikation ist weder erwünscht noch möglich. Eine kurze Ablenkung reicht und schon ist man in der Notenzeile verrutscht, die man gerade setzen soll.

Also kommuniziere ich fast den ganzen Tag nur mit den kleinen metallischen Noten. Nebenan rattern und stampfen die großen Druckmaschinen. Ein paar Mal habe ich versucht diese mit meinem Walkman zu übertönen, aber das kleine Ding hat keine Chance gegen den Neubauten-artigen Lärm. Was für eine grauenhaft repetitive Arbeit und ich darf mich währenddessen nicht mal davonträumen - nach Neapel oder in die Niebuhrstrasse. Warum bin ich nochmal nach London? Ach ja, Arbeit und eine Pause von ...

John ist es wohl auch ein wenig peinlich. Die Mittagspausen mit ihm sind eine Mischung aus Entschuldigungen seinerseits und Lästern über „Harry, the shitty boss and the boring work“.

Die Highlights des Arbeitstages sind die Pausen. In einer Mittagspause erzählt John mir von seinem Dad, der zwar nicht mit der berühmten „Windrush“, aber einem ähnlichen Schiff hier vor 60 Jahren angekommen ist und dann am alten „West Indian“ Kai im Hafen Schiffe entladen hat und sich von diesem niedrigen Gehalt langsam die Wohnung zusammengespart hat, in der John jetzt immer noch wohnt.

„Unfortunately, he died three years ago.“ Der riesige John sinkt neben mir in sich zusammen und ich würde ihn so gerne aufmuntern. Stattdessen nehme ich den zwei Meter Mann vorsichtig in die Arme und er lässt es zu, sieht mich mit einem tapferen Lächeln an.

Nach der Mittagspause schleichen die Minuten auf der großen Uhr über meinem Kopf wieder. Drei Uhr. Vier Uhr in Berlin. Was Bela wohl gerade macht? Aufstehen vermutlich, da er die Nächte immer noch zu seinen Tagen macht, wie sonst auch. Oder nicht? Ich verscheuche die Gedanken Richtung Berlin. Macht doch keinen Sinn wegzugehen, nur um dann aus der Ferne die ganze Zeit ...

Wieder in der Zeile verrutscht. Nicht nachdenken. Vielleicht auch ganz gut so. Ich konzentrier mich wieder auf Bachs Orchestersuite Nr. 3 D-Dur, Satz 2. Shitty Harry gibt mir nachdem ich Rimsky-Korsakows Hummelflug in der ersten Woche voll an die Wand gefahren habe, nur noch deutsche Komponisten. Als ob das, das Problem gewesen wäre. Das waren einfach viel zu viele Noten in diesem verrückten Stück.

Bei Wagner war ich genauso am Kotzen. Arschloch und absolute Scheißmusik, dabei bin ich eigentlich relativ tolerant. Mir geht es immer um gute Melodien, fast egal in welcher Musikrichtung. Gerade setze ich „Also sprach Zarathustra“ von Strauss. Das kenne ich noch aus dem Kubrick Film „2001 – Odyssee im Weltall“; denn ich mit Bela im Filmkunst-Kino gesehen habe. Die ganzen drei Tage rutschen meine Gedanken immer wieder zu dem Kinoabend mit ihm. Der ist auch schon wieder ein gutes halbes Jahr her, war, bevor alles so ein bisschen schöner – und komplizierter – wurde.

Danach sind dem armen Harry die Deutschen ausgegangen und ich durfte den „Danse macabre“ von Camille Saint-Saëns setzen. Das hätte Bela gefallen. Warum ist der eigentlich in meinen Gedanken noch präsenter als in Berlin? Vielleicht weil ...

Zuerst kann ich das merkwürdige Gefühl nicht identifizieren, dass mit jedem Tag hier in der großen lauten Halle mehr in mich kriecht, finde keinen Namen für das elektrische Feld, dass immer wieder über meine Haut knistert, nur um mich danach seltsam hohl zurückzulassen, aber von irgendwoher kenne ich es. Am dritten Tag zieht mit dem unangenehmen Kribbeln ein großes, leeres Wohnzimmer vor meinem inneren Auge vorbei. Mamas alte WG in Moabit. Ein merkwürdiges Gefühl, fast ein wenig nostalgisch. Ich war echt noch verdammt klein für die viele Zeit, die ich dort ganz allein verbracht habe, auch wenn das meiste echt okay war dort. Manchmal - oft – hat es sich auch in Frohnau so angefühlt, wobei da eher das Problem war, dass ich eben nicht allein war. Fucking Gerd.

Ich greife in den Kasten für die Viertelnoten und knalle eine zwischen die untersten beiden Notenlinien – ein f – vermutlich. Seufz. In diesen öden acht Stunden Akkordarbeit zweifle ich an allem.

Als mir John den Job beschrieben hat, hab ich davon geträumt, dass ich mit einem Musikjob ein solides Gehalt erzielen kann. Doch der Traum ist sehr zackig und undramatisch am ersten Tag geplatzt. Die Seifenblase war wahrscheinlich von Anfang an so mickrig wie die durchschnittlich 1,85 £, die ich pro Stunde bekomme. Aber wenn man so verzweifelt ist wie ich, klammert man sich anscheinend an alle Strohhalme, die einem das Leben so reicht. Keine gute Idee.

Ich blicke hinüber zu John, der mit gekrümmten Rücken vor sich hinarbeitet. Wirklich böse kann ich ihm nicht sein. Er findet den Job ja genauso beschissen wie ich. Wir bekommen nicht mal ein Festgeld, sondern werden nach gesetzten Zeilen bezahlt - und mit meinen vielen Fehlern wird mir ständig was abgezogen. Immerhin werden wir täglich ausgezahlt, was wohl bedeutet, dass wir hier vermutlich halb illegal angestellt sind. Von den knapp 15 £ am Tag, mache ich immer wieder einen größeren Einkauf für unsere „WG“. Anderes Geld wollten sie nicht annehmen. Ansonsten kann ich mir eigentlich nur noch die Subway und ein-, zweimal die Woche ein Konzert, Kino oder Musik leisten.

Ich hatte vergessen, wie übel teuer London im Vergleich zu Berlin ist. Ein Zimmer wäre von dem Hungerlohn absolut nicht drin gewesen. Ohne Claire und Johns Sofa und Gastfreundschaft würde das ganze Konstrukt nicht funktionieren. Zum Glück sind die beiden so welcoming, einzeln, aber auch in ihrer stillen und angenehmen Pärchendynamik. Deswegen bin ich auch nicht wirklich wütend, weil sich der „dream job“ als unterbezahlte Schinderei herausgestellt hat.

Ich bin neugierig, wie sich die Noten anhören, die ich hier den ganzen Tag setze. Am Abend fahre ich nach Feierabend in die Klassikabteilung von Harrods. Der Angestellte, der mir die Platte von „Danse Macabre“ mit weißen Handschuhen auf den Plattenteller legt, zieht die Augenbraue höher, als ich das kann. Sehr beeindruckend. So gut finde ich das Stück trotz des Titels leider dann doch nicht.

Ich lasse mir auch noch eine Aufnahme meiner aktuellen Setzarbeit von Bach bringen. Harry war sehr happy, dass er wieder Deutsche für mich hatte. Da ich, der Punk, die erste Platte nicht geklaut oder zerstört habe, wandern die Augenbrauen des Plattenbutlers wieder ein paar Zentimeter zurück in Richtung Normalstellung. Immerhin.

Das Stück von Bach kenne ich. Es zieht mich tief hinein in die Musik. Harrods, London verschwinden um mich herum. Fuck, ist das traurig. Nach der Hälfte muss ich abbrechen. Zuerst wirft mir der Angestellte einen dezenten „Wußt ich`s doch!“-Blick zu, aber anscheinend kann man mir meine Gefühle viel zu gut ansehen, denn seine überhebliche Miene wird auf einmal eher mitfühlend.

Ich verlasse Harrods und fahre zurück zu Claire und John, nach Hause. Wenn ich daran denke, dass erst Dienstag ist und ich noch drei Tage vor mir habe, dann wäre der Gefangenenchor aus Nabucco passend. An den erinnere ich mich, weil ich die italienischen Zeilen während einer Musikstunde auf Deutsch übersetzt habe. Herr Meyers ist fast von seinem Klavierschemel gefallen. „Versteckte Talente, der Jan. Soso.“


Va, pensiero, sull’ali dorate;
va, ti posa sui clivi, sui colli

Flieg, Gedanke, auf goldenen Schwingen;
Flieg, setz dich auf Hänge, auf Hügel


Wenn das nur ginge während des monotonen Setzens, dann wäre dieses nur noch halb so schlimm. Nach der Arbeit sind John und ich meistens total fertig. Die Arme und vor allem die Finger fühlen sich an, als hätte ich sie mit Sandpapier bis auf den Knochen abgeschliffen. Immer wieder schneiden mich scharfkantigen Teilen an den gegossenen Noten in die Fingerkuppen und Blut landet zwischen den Notenzeilen. Eigentlich dürften die Kanten da gar nicht sein, aber immerhin sind die Noten nicht mehr aus Blei wie früher.

Neben dem langweiligen Knochenjob, bemühe ich mich so viel wie möglich zu unserem nun gemeinsamen Haushalt beizutragen, putze, kaufe ein und räume jeden Morgen die Couch auf und meine Sachen beiseite, dass das Wohnzimmer auch als solches genutzt werden kann. So ganz war mir der Unterschied zwischen Reisen und im Ausland arbeiten nicht klar. Abends bin ich viel zu fertig, um noch etwas Interessantes zu unternehmen. Andererseits würde ich es nur mit Strassenmusik nicht schaffen, hier zu überleben – außer ich schlafe wieder auf Friedhöfen.

Gestern habe ich mir ein kleines Szenefanzine mitgenommen. Als ich es durchblättere, entdecke ich, dass heute „The Damned“ in einem Ort spielen, der einfach mal „The Batcave“ heißt. Genial. Ich muss dahin. Bela würde es mir niemals verzeihen, wenn ich das auslasse. Oder er verzeiht mir nicht, wenn ich ihm später davon erzähle. Wahrscheinlich wird er mir eh nicht verzeihen, fällt mir auf. Shit. Aber ich muss da heute Abend hin. Endlich mal wieder etwas Besonderes machen.

Wieder zu sehr mit dem Kopf woanders gewesen. Ich muss zwei ganze Zeilen nochmal rausnehmen und von vorne beginnen. Mist. Wieder mindestens 1 £ weg. Noch zwei Stunden bis Feierabend und dann ins Konzert. Für John und Claire ist es bestimmt auch mal wieder ganz nett, einen Abend nur für sich zu haben, auch wenn sie mir nie das Gefühl geben, dass ich störe.

Außerdem – Konzerte, überhaupt Musik, sind eine sehr gute trübe-Gedanken-Bremse. Und ich will mehr von den coolen Londoner Clubs sehen, einfach abtauchen in Londons Subkultur. Wozu bin ich schließlich hier?


The Batcave – Dean Street, ‎Soho‎

Wow. Schon in der Schlange am Einlass merke ich, dass hier ein ganz anderes Klientel am Start ist. Viele Leute sind komplett in Schwarz gewandet und tragen kompliziert wirkende weiße Schminke. Es sieht ungewöhnlich aus und echt schick. Wahrscheinlich hätte ich das erwarten können, wenn heute „The Damned“ spielen.

Aber so viele Waver habe ich in Berlin noch nie auf einem Haufen gesehen. Bela würde deren gefühlte Vampiranleihe bestimmt gefallen. Wär echt schön, wenn der Kleine hier wäre und ich das mit ihm teilen könnte. Ich kann förmlich sehen, wie er mit großen Augen staunt, aber gleichzeitig versucht, cool zu bleiben – und dann anfängt mit einer hübschen Gothfrau zu flirten ...

Ich komme mir leicht underdressed vor, weil alle so krass aufgestylt sind, fast wie ein Landei. Lassen die mich in meinen Klamotten überhaupt rein? Ich hab ein weißes Hemd an und darüber einen kurz geschnittenen Blazer mit goldenen Knöpfen, der aussieht wie von so einem Spielmannszug. Dazu eine Kappe, die eher militärisch wirkt – außer den Metalspikes, die ich dran gemacht habe. Das Einzige, was ich mit den Anderen gemeinsam habe, sind die spitzen Schnallenschuhe. Aber die meisten Besucher*innen gehen schon eher in Richtung Punk. Dennoch irgendwie cool, nicht immer nur dieselben langweiligen Lederjacken, Nieten, Iro-Sachen zu sehen.

„Nice jacket.“ Die weißgeschminkte Frau, die mir mein Ticket verkauft, lächelt mich an.

„Thanks.“ Ich atme auf und grinse zurück.

Drinnen zeigt sich die wilde Mischung an Stilen noch mehr, wobei dieser Gothlook überwiegt. Meine Vorurteile werden auf den Prüfstand gestellt: Ich dachte, dass Goths immer eher still oder unnahbar herumstehen und bedeutsame Gespräche führen. Aber es wird viel gelacht und zur Begrüßung geküsst und umarmt – es wirkt wie eine große, liebevolle Familie.

Naja, hätte ich mir ja von Bela eventuell auch denken können, dass Goth sein nicht jedes Klischee erfüllen muss. Ich habe einen echt guten Abend bis ich einen Typen erspähe, der von der Statur und den Haaren verdammt nach Bela aussieht ...

Dunkle, warme Sehnsucht steigt in mir hoch. Mann, wenn Bela ... Ich habe selten so was wie Heimweh, aber gerade merke ich, dass in Berlin doch irgendwie „meine“ Leute sind, mir die Codes vertrauter sind, auch wenn ich nicht auf alle Bock habe. Noch 2 ½ Monate bis ich wieder dort bin. Gerade kann ich mir nicht vorstellen, dass London mein neues Zuhause wird, aber ich sollte die Tür wohl noch nicht komplett zuschlagen. Who knows? Irgendwie ist es ja auch cool, mal was anderes zu sehen, aus dem alten Szenetrott auszubrechen.

Wieder zieht der Pseudo-Bela meinen Blick an – und er sieht mich ebenfalls an. Keine Ahnung, was der Typ denkt. Ich kann mich nicht losreißen, bin so ein bisschen hypnotisiert. Der Wunsch Belas Stimme zu hören, schießt heiß durch mich. Ich werde ihn anrufen. Vielleicht hat er ja Lust vorbeizukommen. Aber noch ein Gast in Johns und Claires kleiner Bude? Doch es wäre so geil mit Bela London zu erkunden, so gut es halt geht mit meinem Vollzeitjob.

„The Damned“ entern die Bühne. Der ohrenbetäubende Jubel reißt mich aus meinen Gedanken und ich versuche bewusst vom Gedankenkarussel abzuspringen. Dave Vanian, der Sänger, sieht aus, als wäre Graf Dracula on stage. Aber noch krasser ist Captain Sensible. Er trägt seine signature rote Baskenmütze und dazu etwas, das aussieht, als hätte er einen hellblauen und einen rosa Teddybären geschlachtet und gehäutet.  

Die Band ist einfach so crazy, dass ich schon nach dem ersten Lied maximal bessere Laune habe. Als sie ihren Song „Anti-Pope“ anstimmen, muss ich echt lachen. Der Text ist originell und ich bin definitiv auch kein Glaubens- oder Kirchenfan, obwohl mir Friedhöfe ja schon oft kostenloses Übernachten ermöglicht haben.

Insgesamt ist die Stimmung echt angenehm euphorisch, aber eben nicht so drüber - mit Bierdosen rumwerfen und rumspucken. Vielleicht liegt es an den edleren und entspannten Goth-Leuten. Wieder taucht Bela vor meinem inneren Auge auf, vielleicht weil er im Kontrast zu den Leuten hier sehr viel weniger entspannt ist, generell, aber auch wegen seines Speed-Konsums. Ein tiefer Seufzer sitzt in meiner Brust fest, aber will nicht raus.

In den letzten Monaten hat Bela sich auch äußerlich verändert, ist viel dünner geworden. Ich auch, aber nicht ganz so krass. Wahrscheinlich weil uns seit vielen Monaten unsere Muttis nicht mehr durchfüttern. Aber am meisten haben sich Belas Haare verändert. Die sind so viel länger geworden. Wenn man sich jeden Tag sieht, bekommt man sowas gar nicht richtig mit. Aber sein Doppelgänger hier hat Belas alte Frisur und erst an der bemerke ich den Unterschied. Die Distanz bringt seltsame Erkenntnisse zum Vorschein.

Tatsächlich kenn ich Bela ja nur mit schwarz gefärbten Haaren. Am Anfang dachte ich sogar, die wären echt, aber eigentlich ist er genauso straßenköterblond wie ich, der Herr Graf. Er war fast ein bisschen angepisst, als ich am Anfang unserer WG-Zeit zum ersten Mal seinen hellen Haaransatz entdeckt habe. Danach hat er seine letzten Groschen zusammengeklaubt, war kurz weg und hat sich dann für eine Stunde im Bad eingeschlossen. Inzwischen hab ich einige Farben durch, seit meinem ersten schwarz-gelb Psycholook nach der Klassenreise hier in London. Aber seit 1-2 Jahren bin ich nun bei diesem Wasserstoffperoxidblond hängen geblieben.

Ich entdecke wieder den Bela-look-alike in der Menge. Sein Anblick schickt mir wieder einen Schock durchs System. Er steht an eine Wand gelehnt und sieht ebenfalls zu mir, mustert mich genauso intensiv wie ich ihn. Erinnere ich ihn auch an jemanden? Oh. Er stößt sich von der Wand ab und kommt in meine Richtung. Mir wird so ein bisschen schwummerig. Ich weiß nicht, ob ich will, dass er ... Dieses ganze Blickkontakt-Ding war doch nur eine Einbildung von mir, weil ich Bela ...

Er bleibt vor mir stehen. „Nice cap.“ Er deutet auf meine Polizei-Punk-Mütze.

Von Nahem sieht der Typ nicht mehr wirklich aus wie Bela. Falsche Augenfarbe, viel zu dunkel und keine Katzenaugen, allerdings sind auch seine kajalumrandet und voller Glitzern und Energie. Aber seine Wangenknochen sitzen anders. Und er ist nicht so krass abgemagert. Erst der Kontrast zeigt mir, wie krass Bela wirklich abgenommen hat. Ich sehe ihn wie eine zaundürre Katze nachts durch Berlin streunen. Nur die Haare, die sind fast perfekt. So sah Bela vor einem Jahr aus.

Der Typ starrt mich an. Er sieht nicht schlecht aus – eben nur anders. „Ah, ... you don`t speak English?“

„What? Ehm, No. Yes. I mean, I speak English. Ehm, thanks for the compliment.“

Er tritt einen Schritt zurück. Anscheinend habe ich irgendetwas falsch gemacht. „Sorry“, sage ich schnell. „It`s just ... You remind me so much of my friend. He looks very much like you.“

„Oh ... Your ... boyfriend?“

„Ehm .. well, not ... not really, I guess?“

Der Typ lacht. „I`m afraid, I can`t help you figuring out, where you two stand. ... Or maybe I can?“ Er beugt sich näher zu mir und mein Atem stockt, dafür fängt mein Herz an zu rasen. Ich will ihn wegschubsen und an mich ziehen.

„Where did you buy it?“

„What?“, frage ich ziemlich durcheinander.

„The cap.“ Er tippt an den Schirm meiner Mütze, lacht, als wäre ich wirklich ganz entzückend begriffsstutzig.

„In Berlin.“

„Oh. Wow. Is this a real Nazi Cap?“

„No. It`s Russian.“

„So, you are from East-Berlin?“

Ziemlich genau dieses Gespräch habe ich es schon mehrmals geführt, seitdem ich hier in London bin. Es ist prototypisch immer das Gleiche. Dennoch wirkt es gerade sehr viel aufgeladener. Der Typ streckt mir seine Hand hin.

„I`m Nigel.“

„Fa... Ja... Max.“

Nigel sieht einen Moment verwirrt aus, dann lächelt er. „So Max it is. I like you, Max.“

O-okay. Seine offensive Art erinnert mich ebenfalls sehr an Bela.

Ich horche auf. The Damned spielen „Love Song“. Das Lied habe ich oft genug durch die dünnen Wände in der Niebuhrstraße gehört. Manchmal war das timing sehr interessant und ich war mir echt nicht sicher, ob das nur ein Song ist, auf den Bela Bock hat oder eine versteckte Botschaft an mich. Jedenfalls kann ich ihn komplett mitsingen.


I’ll be the ticket if you’re my collector
I’ve got the fare if you’re my inspector
I’ll be the luggage, you’ll be the porter
I’ll be the parcel if you’ll be my sorter

Just for you here’s a love song
Just for you here’s a love song
And it makes me glad to say
It’s been a lovely day and it’s okay


Nigel habe ich im tanzenden Gewühl verloren. Ich sehe mich länger nach ihm um, kann ihn aber nicht mehr entdecken.

Nach dem Konzert legt eine Frau, die Bela nicht nur vom Stil her ähnlich sieht, bis auf das schneeweiß geschminkte Gesicht, Musik auf.


Ich kenne das Lied nicht.
Klingt sehr nach Robert Smith.  

Gefällt mir. Irgendwie sphärisch.
Und traurig. Damn.
Passt ja.

 

Normalerweise tanze ich ziemlich wild, aber dieses Lied. Es fühlt sich eher nach dem wiegenden Tanzstil der Waver an. Ungewohnt für mich, aber auch schön. Keine Ahnung, warum ich nach diesem eher ruhigen Lied so erschöpft bin - körperlich, aber vor allem emotional. Irgendwie will ich aus dem Club treten und auf der Oranienstraße stehen. Ich wühle mich zum Ausgang durch. Jemand fasst mich am Arm.

„There you are!“ Nigel. Ich atme fast ein bisschen auf, ihn zu sehen. „You´re leaving?“

„Unfortunately. I have to work tomorrow.“

„How awful.“ Er sieht mich mitleidig an.

„Well ...“ Ich zucke mit den Schultern.

„We could meet again. How about that? If you are interested, I can show you some other adventurous underground places.“ Er sieht mir lange in die Augen.

Es verwirrt mich, facht meine Neugier an. Und es tut gut, ist irgendwie schön noch jemanden in London zu haben. Und die Ähnlichkeit mit Bela ist verwirrend und tut gut und schmerzt. „Ehm, ... Yeah. Sure.“

„I`ll bring you to your subway and we can figure out the details in a more quiet space, okay?“

Mir ist nicht wirklich klar, was er will, aber ich nicke. Die frische Luft tut gut. Ich atme tief durch.

„Where do you need to go?“

Ich zeige in Richtung Tottenham Court Road Station und wir machen uns auf den Weg. Als wir durch den Soho Square Garden gehen, rückt er noch ein Stück näher an mich heran, geht sehr nah an meiner Seite, sehr nah, aber es ist angenehm. Über uns rauschen die Bäume, übertönen den Straßenverkehr. „Have you ever heard of the Blitzkids?“

„The wh...?“

„So, no. I will show you around this weekend.“

„S-sure.“

„Good.“ Er lächelt, sieht gar nicht aus wie Bela, aber trotzdem gut.

Als der rote Doppeldecker um die Ecke biegt, blickt er mich erwartungsvoll an und es erinnert mich ganz wunderschön schrecklich an eine andere Bushaltestelle. Schnell halte ich ihm meine Hand hin. Es scheint nicht ganz das zu sein, was er wollte, aber er schüttelt sie, hält sie lange fest. „See you at the Blitz on Saturday, okay? Does 10 pm sound good to you?“

Ich nicke, bin erstaunt, als er mich französisch auf beide Wangen küsst und dann in der Dunkelheit verschwindet wie ein Geist.



*
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LYRICS

Paolo Conte - Max

Lee Dorsey / Devo - Working in a coal mine

Bach – Suite (Ouvertüre) für Orchester Nr. 3 D-Dur BWV 1068

The Damned - Love Song

The Cure - A Forest



Additional SONGS

The Damned – Anti-Pope
Lyrics

die ärzte 31.08.2013 - Losheim Ansage The Damned



British Jamaicans

Entschädigung Jamaika wegen Sklaverei

Little Jamaica in London - Brixton

Canary Wharf Photos

Jamaican Food


CLUBS

The Batcave
Batcave opened in Soho in 1982, it became a Goth haven
Johnny Melton (known then as Johnny Slut and keyboardist of in-house band Specimen) described the clientele as “freaks, weirdos [and] sexual deviants.”

The batcave documentary

The Goth Movement in the 1980s - The Batcave


(SUB-)CULTURES

BBC 2 - The Culture Show „Girls Will Be Girls“ - Women in Punk


POSITIVE PUNK / DARK WAVE / GOTHS / GRUFTIS

Interviews mit Goth Ikonen

How Goth became Goth

Evolution of goth 1978 - 1989

Goth looks

South of Watford - Positive Punk Documentary 1983


BONUS (Thanks to itismadness!)

sally’sTV vs Farin Urlaub (REUPLOAD)
Tolles Interview trotz der Soundqualität.

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Chapter 31: 1983 - Blitz

Chapter Text

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* Teenagers in Love *





Lieder und Bilder farbig unterlegt im Kapitel.
Weiterführende Links am Ende.
Und dieses Mal sind es echt viele ...


Asynchrone Timeline für biographische und historische Details!




 

1983 - Blitz





1. August – Notenfabrik, London

Ich sitze draußen im Treppenhaus. Eigentlich hätte ich was mit John und den anderen essen gehen sollen, aber ich bin heute so abgenervt von allem, dass ich mich meinen Kollegen lieber nicht zumuten wollte.  Wörter wandern durch meinen Kopf. Es wäre so genial, wenn ich meine Gitarre hier hätte, aber dann muss halt einer der vielen Fehldrucke für meine Gedanken herhalten. Ich ziehe einen Bleistift aus meiner Tasche.

 

Punk is dead!


Erstaunt sehe ich auf den Satz. Eigentlich fühl ich mich als Punk gerade eher dead. Die Arbeit hier raubt mir meine Seele. Der Satz starrt mich an. Ich suche nach einem Radiergummi, habe natürlich keinen. Die Worte tun weh wie ein Pfeil ins Herz, aber irgendwas stimmt an ihnen, aber ich weiß nicht, was genau. Ich würde gerne mit Bela darüber reden. Ein Telefonat ist way zu teuer und er weiß ja gar nicht, was ich hier mache und ... Das eigentliche Problem ist aber, dass ... Vermutlich ist Bela tierisch sauer auf mich. Sauer ist definitiv zu milde. Das Wort müsste wahrscheinlich erst noch erfunden werden.

In meinem Kopf taucht ein harter Rhythmus auf, der wie auf blankes Metall geschlagen klingt. Ein Refrain, der mehr Schreien als Gesang ist.

 

Vor den Feuern der Hölle hast du keine Angst
Du wirst alles bekommen, wenn du alles verlangst


Durchhalten. Weitermachen. Kämpfen. Die Bruchstücke für einen Song verlassen mich auch nicht, als ich widerwillig an die Arbeit zurückkehre. Als ich die Notensetzmaschine sehe, will ich das Ding zusammenschlagen, aber - was soll ich machen? John hält ja auch durch. In diesem wütenden Rhythmus lege ich die nächste Zeile Noten auf, doch die Wut wird damit eher angeheizt als das sie sich beruhigt.

Ich male mir aus, wie ich alles hinschmeiße. Einfach zu Dermott gehe und sage: „Hey, I´m done. I would like to have my salary for the last two days, cos I´m not coming back tomorrow.“ Wie John die Szene verfolgt, mich leicht entsetzt, aber auch ein wenig bewundernd ansieht, mir dann auf die Schulter schlägt. Allerdings ist Fantasie-Johns nächster Satz: „You know, what you wanna do next?“

Tja, wenn ich da eine gute Antwort drauf hätte ... Wahrscheinlich wohl wieder das altbewährte Rezept „Strassenmusik“.

Zwei Tage später röhrt mein Name durch die Halle. „MAX!“ Dermott kommt auf mich zugestapft. Sein Alkoholiker-Gesicht ist noch röter als sonst und er deutet vorwurfsvoll auf einen Druck in seiner Hand. „Boy, as I said, that was the last time. Your mind seems to be everywhere but here. Pack up, your going home, son.“

„Wh-what?“

John ist aufgestanden und macht Anstalten zu uns hinüber zu kommen. Dermott mustert ihn kurz und bellt dann: „Don`t worry. You can stay.“

„But ...“, fängt John an, aber ich gebe ihm ein Zeichen, dass es okay ist und schließlich nickt er.

Als ich mit den wenigen Habseligkeiten aus dem Spind draußen auf der Straße stehe, fange ich haltlos an zu lachen. Zum ersten Mal fühle ich mich nach fast einem Monat in London wirklich frei, wenn auch unfreiwillig. Dann fällt mir wieder ein, wie übelst scheiß teuer alles hier ist. Damn.


2. August - Abbey Road

Am nächsten Morgen verlasse ich zusammen mit John das Haus, aber anstatt mit ihm ins Werftviertel zu fahren, zurück in die Scheißfabrikmaloche, werde ich heute mein Glück mit etwas versuchen, dass ich liebe.

„Well, good luck, Max!“ John klopft mir auf die Schulter. „I`m somehow glad, you don`t have to do this shitty job anymore! See you in the evening.“

Mit meinem Gitarrenkoffer fahre ich Richtung Abbey Road. Ohne reguläres Einkommen brauche ich wirklich dringend Geld. Dass Bela mein Zimmer so ungefragt „vermietet“ hat, hilft meiner nun prekären Lage hier tatsächlich sehr.

Direkt vor dem legendären Studio klappe ich meinen Gitarrenkoffer auf, blicke auf meine geliebte alte Wandergitarre und nehme sie etwas zögerlich heraus. Beim letzten Mal hat es ganz okay funktioniert und als ich mal mit Ecky hier an der Abbey Road war sogar hervorragend, da viele Beatles-Fans hier vorbei touren.

Ich blicke auf das Studio hinter mir. Von außen sieht es recht unspektakulär aus, trotzdem läuft mir eine Gänsehaut den Rücken runter. Mann, hätte ich die gerne mal live gesehen, obwohl - mit den vielen schreienden Fans wäre das wahrscheinlich kein besonderer Musikgenuss geworden.

Bei uns schreien oder vielmehr grölen zwar auch einige Fans mit, aber das jemand wegen uns auf einem Konzert in Ohnmacht fällt ... Ich muss über das Bild in meinem Kopf lachen. Na, wohl eher nicht.

Erstmal muss ich die Gitarre stimmen, so lange habe ich nicht mehr auf ihr gespielt, weil meine Finger und ich selbst auch zu kaputt waren von der Scheißarbeit. Das Stimmen gleitet über in das Intro zu „Sommer, Sonne, Sonnenschein“. Obwohl ich damit hier wohl eher nicht punkten kann, spiele ich es als Akustikversion zu Ende, singe nur im Kopf den Text. Immerhin bleibt jemand stehen und wippt ein paar Takte mit, nickt mir zu und schmeißt einen £ 1-Schein in meinen Koffer. Sir Isaac Newton starrt mich an. Yeah. Das ist echtes Empowerment.

Danach ist mir nach „We can work it out“, dass ich zu „I can work it out“ uminterpretiere. Es ist einfach genial, diese Lieder nicht vor dem Europacenter zu spielen, sondern hier in London an diesem historischen Ort. Aber verdammt. Ich vermisse Belas Stimme neben meiner, die zweite Gitarre. Tja, selber Schuld. Als Team, als Duo macht das sehr viel mehr Spaß, und dass obwohl Bela die ganze Zeit herumjault, wie schlimm er die Musik findet. Die Texte kann er dafür aber überraschend gut. Ich lande wieder beim Originaltext und bei der Bridge, die John und Paul zusammen singen:

 


Life is very short and there’s no time
For fussing and fighting, my friend!


Ich erinnere mich an die Biographien, die ich über die Beatles gelesen habe. Gerade nach Johns Tod hat der Buchmarkt nochmal geboomt. Gerade mal drei Jahre her, als er erschossen worden ist. Der Schock sitzt bei mir immer noch tief. Wahrscheinlich habe ich heimlich doch immer noch auf eine Reunion gehofft, die es mir ermöglicht hätte „The Beatles“ einmal live zu sehen. Aber wahrscheinlich sind sie auch genau an diesem Erfolg zerbrochen. Macht das Erfolg immer mit einem? Dabei war der Anfang so ... Ein Lächeln steigt in mir hoch. Wenn ich an Bela und mich denke, dann kann ich mir sogar ein wenig vorstellen, wie das wohl gewesen sein muss, als sich John und Paul damals als Teenager getroffen haben. John war fast zwei Jahre älter als Paul. Auch das kommt mir bekannt vor, obwohl Bela nur ein knappes Jahr älter ist als ich.

Das Lächeln versiegt. Am Ende wurde es wohl nie wieder so zwischen ihnen wie am glorreichen, euphorischen Anfang. Ob dieses Schicksal Bela und mir auch droht? Obwohl ich gegangen bin, kann ich mir eigentlich nicht vorstellen, mit Bela keine Musik mehr zu machen. Aber manchmal merke ich schon, dass auch wir so einen kleinen Wettbewerb haben, wer die besseren Texte oder Melodien schreibt, auch wenn wir das nie direkt ausgesprochen haben. Trotzdem kann ich mir nicht vorstellen, dass Bela und ich uns jemals so zerstreiten, dass wir eine erfolgreiche Band auflösen würden.

Ich seufze mitten in den Refrain von „We can work it out“. Eigentlich sehne ich mich nur nach Harmonie, auch wenn das von außen wohl nicht immer so aussieht – gerade mit meiner London-Aktion. Aber Streit und Geschrei hatte ich in meiner Jugend mehr als genug.

Als ich „Can`t buy me love“ spiele, bleibt eine Frau Anfang dreißig stehen. Sie trägt einen teuren Mantel und hält provozierend eine 5-£-Note über meinen Gitarrenkoffer. Sie zwinkert mir zu. „Are you sure about that, young man?“

Ich spiele weiter, lasse aber den Text weg, zucke mit den Schultern und grinse sie an an. “It is not as you could just rattle your jewellery.” Sie zieht eine Augenbraue hoch, was bei ihr immer noch sehr sophisticated aussieht. Anscheinend hat sie die Anspielung auf das berühmte Zitat von Lennon verstanden. Schließlich lacht sie. „Touché!“ Sie sieht mich noch einen Moment an. „You are not British, are you, young man?“

„No. I am from Berlin. West-Berlin.“

„Visiting London to charm woman?“

„Maybe.“ Ich lasse das ganze Arsenal meines Grinsens auf sie los.

Es scheint seine Wirkung nicht zu verfehlen. Ein leichter Hauch von Rot legt sich auf ihre perfekt geschminkten Wangen. Sie mustert mich unverhohlen von oben bis unten und ich werde mir leider in dem Moment sehr bewusst, dass ich, der junge Straßenmusikant, definitiv nicht ihre Liga bin.

„You don`t look like a big admirer of the Fab Four? Besides busting some Beatles, you look more like ...?“ Sie legt den Kopf schräg überlegt.

„A punk?“, helfe ich ihr weiter.

„Well, that wasn`t my first thought, but ... sure. Well, enjoy your afternoon, young man.“ Sie zwinkert mir nochmal zu. Ich sehe ihrer aufrechten Silhouette nach, bis sie um die nächste Ecke verschwunden ist. Ich bin mir nicht sicher, was mir da eventuell gerade entgangen ist. Vielleicht sollte ich echt mal ein wenig lockerer werden.

Es beginnt leicht zu nieseln, dann stärker zu regnen. Ich stelle mich in der Bushaltestelle unter, bis es wieder aufgehört hat und daddel weiter auf der Gitarre herum.

 


Der Regen fällt jetzt stärker und gerade – wenn ich könnte – würde ich mich nach Berlin beamen, genauer in die Niebuhrstraße und noch genauer in Belas Bett.



3. August - Brixton

Ich rufe wie vereinbart am Sonntag nachmittag in Frohnau an. Von einer Telefonzelle, weil ich Johns und Claires Telefonrechnung nicht weiter belasten will. Kleingeld habe ich nach meinem Straßengig mehr als genug. Es klingelt lange, ungewohnt lange, dann fallen auf einmal die Münzen durch.

„Jannnn?“ Ich habe Julchens Stimme noch nie so panisch gehört.

„Hey, Süße! Was `n los?“

„Jannn!“ Mehr bekommt sie nicht raus, dann fängt sie bitterlich an zu weinen.

„Julchen, was ist denn los?“ Hilflos stehe ich in der roten Telefonzelle und kann sie nicht in den Arm nehmen.

„Sie .... Sie ... Sie haben sich so ge-ge-gestritten.“ Julia ist normalerweise echt hart im Nehmen, aber gerade kann sie kaum reden.

„Wer? Wer hat sich gestritten, Julchen?“

„Mama und Gerd. Sie ...“

Auf einmal ist sie weg.

„Jan?“ Im Gegensatz zu Julchen hört sich meine Mutter fast schon übertrieben ruhig an, aber da ist auch diese kalte Strenge in ihrer Stimme, wenn sie ihre Emotionen wegsperrt. Das hilft definitiv nicht, dass ich beruhigt bin.

„Was zur Hölle ist bei euch los?“

„Könntest du bitte nicht fluchen, Jan!“ Meine Mutter klingt, als wäre sie zwanzig Jahre gealtert.

„Aber ...“ Scheiß Hilflosigkeit. „Mann, ick hab Julchen noch nie so weinen gehört.“

Sie seufzt schwer. „Gerd und ich haben gerade ein paar Probleme.“

„Was denn für Probleme?“

„Nicht am Telefon.“

„Es geht aber grad nur am Telefon.“

Ein weiterer Seufzer. „Ich weiß nicht, ob ich dir das erzählen würde, selbst wenn du hier wärst. Das ... Das geht euch Kinder nichts an.“

Wow. Sie sagt es so kühl, dass ich mich gerade nicht wie ihr Kind fühle. So vor den Kopf gestoßen hat sie mich nicht mal, wenn sie zugeschaut hat, wie Gerd mich vermöbelt.

„Sag mal, spinnst du? Julchen heult wie `n Schlosshund und du ...“

„Das ist meine Sache beziehungsweise unsere. Und selbstverständlich kümmere ich mich um Julia. Wenn du dich so um sie sorgt, dann ...“ Sie spricht es nicht aus. Ich weiß auch so, dass es um London geht. Dabei hat sie mich bei unserem letzten Telefonat sogar noch in meiner Entscheidung unterstützt.

„Willst du dich scheiden lassen?“ Es gibt wenig, was ich mir mehr wünsche in Bezug auf unsere „Familie“.

Keine Antwort, nur das Rauschen in der Leitung zwischen den beiden Inseln England und West-Berlin.

Auf einmal hab ich Sehnsucht nach ihr. „Mama?“

„Mhm?“

„Also, ... ick hoff du triffst `ne gute Entscheidung.“

Sie seufzt. „Das hoffe ich auch, mein Großer. Ich bin auch ein bisschen durch den Wind, weil ... Omi geht es nicht so gut.“

„Was?“ Um mich wird es dunkel, als hätte jemand das Licht ausgeknipst. Meine Oma bedeutet mir total viel, aber ich habe mich in den letzten Monaten, zwei Jahren, wegen dem ganzen „Yeah! Bela! Band! Freundin! Reisen! Ausziehen! WG! Und Bela - Bela - Bela. Und - noch mehr Reisen!“ viel zu wenig um sie gekümmert. Bela hat schon recht – irgendwie bin ich echt ein egoistisches Arschloch.

„Sie ist im Krankenhaus. Irgendwas mit ihrem Blutdruck stimmt nicht. Mach dir keine Sorgen. Deine Omi gibt nicht so schnell auf.“

Das tröstet mich überhaupt nicht. Wasser brennt in meinen Augen.

„Wie geht es dir denn?“

„Ähm, ja ...“ Ich muss meine Gedanken mit Gewalt von Omi im Krankenhaus wegreißen. „Also, alles super.“

„Sicher?“

„Ja, ja, alles gut.“

„Mhm...“ Sie glaubt mir nicht, kennt mich zu gut, aber weiß auch, dass sie nicht mehr aus mir herausbekommen wird. So wie ich aus ihr. „Okay. Aber heißt das, dass du .... nicht zurückkommen wirst?“

„Dit weiß ich noch nich.“

„Und woran machst du das fest?“

„Zum Beispiel an dem, was mit Gerd passiert.“

„Der hat ja nun wirklich nichts mit ...“ Sie schweigt. Scheiße, aber ich konnte es mir nicht verkneifen. Eine Tür klappt im Hintergrund. „Ich muss Schluss machen. Du meldest dich spätestens in zwei Wochen wieder, verstanden?“

„Ja, mach ick. Grüß Julchen von mir.“

„Natürlich. Pass auf dich auf, Jan!“

Das Tuten im Hörer lässt eine Welle aus Schmerz und Vermissen und Genervtheit durch mich rasen und ich knalle ihn zurück auf die Gabel, dass es nur so scheppert.

Irgendwas geht gerade ganz fürchterlich schief. Und mit den Neuigkeiten aus Berlin wird es nicht gerade besser. Shit. Ich sollte zurück. Oder? Eigentlich will ich mein Experiment nicht jetzt abbrechen, wenn gerade vieles so nervig ist. Das fühlt sich doch nur an, als hätte ich eine Schlacht verloren. Eine - zwei Chancen will ich London noch geben.




8. August – Sandwich Haven, Chelsea

Sie hat einfach nicht gereicht, die Straßenmusik. Eine böse Erkenntnis, mit der ich ich mich noch genervter zu meinem neuen Job schleppe. Wieder neue Leute: Kolleg*innen und jetzt auch noch Kund*innen.

Wirklich besser ist diese Sandwich-Schmiererei nicht, aber immerhin kann ich am Abend ein paar der Reste mitnehmen und spare so Geld. Wobei - in zwei Wochen können die John, Claire und ich wohl auch nicht mehr sehen beziehungsweise schmecken.

Small talk, immer und immer wieder erklären:

„I am Jan."

„Yes, from Germany." Der Akzent scheint leider immer noch sehr stark zu sein, obwohl ich mich so bemühe. Ich würde mich so gerne mal wieder mit jemandem unterhalten, den ich kenne, die oder der mich kennt. Immerhin habe ich John und Claire. Ohne die, wäre ich eventuell schon wieder zurück in Berlin.

„No, not Munich. Berlin. No not the East. They can not leave. ... No, I`ve never been there." Es ist mir hier echt fast peinlich. In Berlin selbst verschwende ich seltsamerweise selten einen Gedanken an das, was nur ein paar Kilometer ostwärts von mir liegt.

„Yeah, you`re right. West-Berlin is very special ...!“

Allein schon „Börlin“ zu sagen, schafft viel zu viel Abstand. Berlin ist gerade vor allem Julchen, die ich schmerzlich vermisse, die mich vermutlich dringend braucht. Mist. Echt. Ich sollte dort sein, bei ihr und den ganzen vertrauten Gesichter der Szene. Irgendwie vermiss ich sogar Gitti, die Göre. Und ... Sehnsucht greift unangenehm nach meinem Herz, wie eine Kralle. Ist das Heimweh? Hat ich noch nie und ich hab auch jetzt keinen Bock, dass es mir meine Reise, mein Experiment versaut. Wie gesagt: egoistisches Arschloch – mit einer krassen Sehnsucht zurück zu dem, was ich noch vor ein paar Wochen hatte.



4. August – Dschungel, Schöneberg

Aus den Trockeneis-Schwaden im Dschungel schält sich die Silhouette eines großen Mannes. Im Gegenlicht des Stroboskops blitzen blonde Haare auf. Jan. Ganz klar. Mit zwei Schritten bin ich bei ihm, schließe ihn in die Arme.

„Äh! Hallo, Bela!“ Der Strobo geht aus und ein Scheinwerfer erleuchtet Hans Gesicht. Ich spring ein Stück zurück und stoß gegen Hans Begleitung, eine hübsche junge Frau in einem roten Minirock.

Sie lächelt mich an. „Hey, ich kenn dich doch.“

Ich muster sie, so gut es mir im Disko-Halbdunkel möglich ist. Tatsächlich kommt sie mir auch bekannt vor. Sogar sehr. Vor zwei Monaten hab ich Farin mal von ihr vorgeschwärmt, der schicken Kassierin, die so gar nicht in den Supermarkt um die Ecke von der Niebuhrstraße passt. Fand er auch, als er sie dann mal gesehen hat. Er fand sie sogar so schick, dass ich fast ein wenig bereut hab, ihn auf sie hingewiesen zu haben.

„Biste nich oft mit so `nem großen, blonden Typen unterwegs? Also, jetzt nich Hans hier, aber so `n bisschen sehn se sich ähnlich. Vielleicht sein Bruder?“

„Äh, meinste Farin?“

„Kenne Ahnung wie der Große heißt, aber ihr seid halt oft im Edeka in der Wilmersdorfer.“

Also, eigentlich sind wir da nur, wenn wir mal wieder ein bisschen Geld haben, das heißt selten, meistens müssen wir im Penny einkaufen. Allerdings war ich auch ohne Kohle schon ab und zu zum Einklauen dort. Nich so gut, dass sie mich so leicht erkennt. Und besser Farin erfährt davon auch nichts. Der hat sich einfach immer nur gefreut, wenn ich mal was mitgebracht habe, dass nicht Fischstäbchen oder Pulverkartoffelbrei war. Aber das ist ja gerade nicht das Problem.

Ich räusper mich und schrei ihr über die laute Musik ins Ohr: „Ach, eigentlich bin ick da nich so oft, aber stimmt, du bist mir aufgefallen - und nich nur, weil de mir 2 Mark zu wenig rausgegeben hast.“

Sie lächelt, nein, sie grinst mich an. Ziemlich unverschämt und ein wenig flirtig, wenn ich das nicht falsch les. „Und du beförderst ab und zu `ne Flasche Jackie und so `n paar andere schicke Sachen unter deiner Jacke raus, ne?“

Ach, du Scheiße. Okay, ich bin ihr wirklich aufgefallen. Der Abend nimmt echt mit jeder Minute eine neue unerwartete Wendung. Eigentlich mag ich das, aber ...  

„Ick würd sagn, dann sind wa quitt, wa?“

„Seh ick och so.“ Puh. Frechheit siegt. Alles gut.

Sie hält mir ihre Hand hin. „Ick bin die Gab...“

Gerade erklingen die ersten Takte des neuen Hits „Send me an Angel“ und ich versteh ihren Namen nich. Als ich nachfragen will, legt ihr Hans den Arm um die Schultern und zieht sie in einer ungeschickten, aber eindeutigen Geste an sich. Sie entzieht sich ihm mit einer eleganten Drehung. Sie und ich wechseln einen verlegenen Blick, aber Hans checkt mal wieder gar nichts, sieht nur irritiert zwischen ihr und mir hin und her.

Manchmal weiß ich echt nich, ob er wirklich so wenig versteht von Gefühlen oder ob er die Warnhinweise bewusst ignoriert. Dabei bin ich grad irgendwie ständig mit ihm unterwegs - auch wegen den Suurbiers, aber wirklich besser kennengelernt, hab ich ihn dadurch auch nicht. Von meiner Seite ist es eine Mischung aus ärzte-Nostalgie. Ich will uns einfach echt noch nich abschreiben, vielleicht klammer ich mich deswegen so `n bisschen an unseren Bassisten. Plus: Ich will mir beweisen, dass ich auch ohne Farin klarkomme. Pfff, wer braucht den schon? Trotzdem kapier ich nich wirklich, wie Hans funktioniert. Trotz der Ähnlichkeit ist der so dermaßen anders drauf, dass ich manchmal echt nich check, wie wir gemeinsam in einer Band landen konnten.  

Anscheinend hält er das Treffen mit dem heißen Feger im roten Minirock für ein Date. Er wirft ihr die ganze Zeit intensive Blicke zu, während sie neben mir im Diskonebel tanzt – etwas zu intensive Blicke, wenn ich ihre hilfesuchenden Blicke in meine Richtung richtig interpretier.

Im Laufe des Abends werden diese immer interessierter und interessanter und schließlich flüstert sie mir ins Ohr, ob wir uns nicht ohne Hans weiter vergnügen wollen und zieht mich nach draußen. Blöderweise folgt uns aber der treudoofe Hans, weil er es wohl immer noch für ein, sein Date hält.

So landen wir zu dritt in der Weinhandlung Leydicke und lassen uns mit deren Spezialität volllaufen: Obstweine. Kirsch schmeckt besonders gut und die Lippen der hübschen Kassiererin sind nun so rot wie ihr Minirock. Ich lege ihr unter dem Tisch die Hand aufs Bein, sehe sie an. Sie lächelt, grinst, schiebt meine Hand höher, während sie weiter Hans spannenden Erzählungen aus seinem BWL-Studium lauscht.

Als hätten wir es abgesprochen, entschuldigt sie sich für "Nase pudern" und ich "gehe Kippen ziehen". Sie geht tatsächlich Richtung Toiletten. Ich sehe sie an. "Na, uff wat warteste denn noch, Hübscher?" Alles klar. Kaum ist die Kabinentür zu, fällt sie über mich her. Sie schmeckt nach Kirsche und ich darf dankbare zehn Minuten alles vergessen, was gerade schief läuft in meinem Leben.

Wieder bleibt unklar, ob Hans was gecheckt hat, aber so ein wenig seltsam mustert er mich dann doch, aber hey, sie wollte mich, nicht ihn. Und sie war wohl auch sehr zufrieden mit ihrer Wahl und so hoffe ich mal, dass klauen im Edeka nun noch besser funktioniert.



13. August – King`s Road, London  

Nach Feierabend schlender ich die King`s Road hinunter. In einem Schaufenster sehe ich das perfekte Hemd: schwarz mit riesigen weißen Totenköpfen drauf. Eigentlich wirkt es fast ein wenig wie Kartoffeldruck und eigentlich könnte ich sowas auch selbst hinbekommen und eigentlich habe ich kein Geld, aber es ist, als würde es mit mir sprechen: „Nimm mich mit. Für Bela.“ Was der wohl gerade macht?

Als ich das Hemd von der Stange nehme, habe ich Herzklopfen, so als müsste ich es ihm gleich überreichen. Darunter hängt das gleiche Hemd nochmal in Weiß mit schwarzen Totenköpfen.

„Is that for you?“ Ich hab die Verkäuferin nicht kommen hören. Anscheinend war sie im Hinterzimmer. Sie trägt einen ziemlich heißen Lackminirock in Alarmrot und dazu passende Springerstiefel.

„Ehm, it`s for a friend.“

„You`re sure, it`s her size?“

„Well, not really. But he ...“ Ich stelle mir vor, wie Bela neben ihr steht – sie haben eine recht ähnliche Silhouette: groß und schlank. „But he has a bit the same ...“ Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll und deute an ihr auf und ab, hoffe, dass ich nicht gleich eine geknallt kriege.

„Ah“, sagt sie nur. „So, ...“ Sie greift hinter mich. „Then this will be a better and tighter fit.“

Thighter hört sich gut an. „Great. Thanks.“

„You are very welcome.“ Sie lächelt mich wirklich nett an. „You would look good in the white One, you know.“

Mhm. Vermutlich ist das nur ein verdammt effektiver Verkäuferinnen-Trick, aber ... Ja, mir gefällt das Hemd wirklich – egal in welcher Farbe und auch wenn ich nicht vorhabe mit Bela im Partnerlook auf der Bühne zu stehen, so ist der Gedanke trotzdem ...

„You can try it on.“ Sie mustert meinen Oberkörper, was leicht unangenehm ist, aber mich auch ein wenig atemlos macht, während sie die passende Größe heraussucht. Ich sehe mich nach einer Kabine um, aber sowas hat der kleine Laden nicht.

Die Verkäuferin grinst wissend und dreht sich um. „I`m not gonna peek. Promise.“

Halbnackt in London in einem Geschäft zu stehen, war nicht direkt auf meiner Liste, der Dinge, die ich hier tun wollte. Schnell ziehe ich das Hemd über. Es passt perfekt, aber ich bin mir dennoch unsicher. So viel Geld.

„Can I look now?“

„Ehm, ... okay.“

„Yeah. I was right. This suits you way better, than ...“ Sie deutet auf meinen leicht schmuddeligen dunkelblauen Sweater, den ich als Arbeitskleidung trage, an dem ein paar Tomatenspritzer und Fettflecken sind, von den verdammten Sandwiches und in den ich gerade lieber nicht mehr schlüpfen will. Das hier fühlt sich an wie ich, nicht wie Akkordarbeiter Nummer 357.  

„Do you want them both?“

„I am afraid, I can only take the one for my friend.“ Das Hemd für Bela ist wie eine Art weiße oder vielmehr schwarze Friedensflagge für mein Abhauen.

„Because? ... Is the price the issue?“

Ich nicke leicht beschämt.

„Well ... Would it help, if I give you a 10 £ discount, if you take both?“

Ich rechne schnell im Kopf nach. Ja. Nein. „Yes. Thanks.“

„Great.“ Sie packt beide Hemden in eine Tüte mit einem verrosteten Union Jack, die sehr cool aussieht. Es kostet mich drei Sandwich-Tageslöhne plus 5 £ und ist so ziemlich das Teuerste, was ich je gekauft habe.



Brixton  

Als ich eine Stunde später vor dem Supermarkt stehe, fällt mir auf, dass ich für Claire´s Einkaufsliste ... Fuck. Eigentlich bin ich sonst nicht so unvorsichtig mit Geld.  Ich kann unmöglich ohne die Einkäufe nachhause kommen.

Eine Ecke weiter ist ein größerer und teurerer Supermarkt, in den ich sonst nie gehe. Mit klopfendem Herzen öffne ich die Tür, packe die teuren Sachen in die Union Jack-Plastiktüte und lege die Billigen auf das Band. Verdammt. Ich weiß, dass Bela das immer mal wieder macht, aber für mich ist das Neuland – anscheinend bin ich doch nur ein spießiger Beamt*Innensohn. Gleichmäßig atmen. Mein Herz rast und ich wische mir Schweiß von der Stirn.

„Good evening.“ Die Kassiererin tippt den Preis ein. „That`s 2,23 £, dear!“

Hoffentlich habe ich die noch. Warum habe ich das vorher nicht gecheckt? Meine Hände zittern, mein Gesicht brennt. Super unauffällig. Was für eine Scheißaktion. Ich bin kurz vor beten. Ich mach das nie, nie wieder, wenn das hier gut geht. Bitte, bitte, bitte. Eine Hand auf meiner Schulter. Mein Rücken wird zu Eis, als ich mich langsam umdrehe.

„Cool bag“. Ein junger Typ deutet auf die Plastiktüte und grinst mich an. „The shirt, too.“

„Yeah“, presse ich raus. „Thanks.“ Ich wende mich zurück zur Kassiererin, nehme die paar Pence Wechselgeld entgegen, wirke dem Impuls die Augen zu zukneifen entgegen, weil gleich wird mir jemand auf die Schliche ... Auf weichen Knien wanke ich Richtung Ausgang.

1. 2. 3. – Draußen. Ich wünschte, ich könnte mich wenigstens über den gelungenen Coup freuen. Bela wäre wahrscheinlich sowas wie stolz auf mich, aber ich will das – wenn möglich – nie wieder machen.



15. August - Brixton  

Ich weiß nicht mal, warum John und Claire so einen Narren an mir gefressen haben und es wäre wohl auch komisch, wenn ich sie fragen würde. Der Radar, den ich mir auf Reisen antrainiert habe, durch Erfahrung, auf mein Bauchgefühl hören, bleibt ruhig. Sie sind wohl einfach liebenswürdige Leute, die einem Halbfremden für Wochen ihre Couch überlassen. Obwohl – so fremd sind wir uns gar nicht mehr.

John legt mir einen Arm um die Schulter. Können gar nicht mal viele Leute einfach so machen – außer Hans vielleicht. Es ist - außer der Arbeit – echt gut hier in London, dennoch ... irgendwie hab ich Sehnsucht. Nach Musik machen und Proberaum und Blödsinn quatschen und der Niebuhrstrasse und ...  

„Hey, Max, do you wanna meet some of our friends tonight? My cousin is having a Jamaican Barbecue over at his house.“

„Yeah, that sounds great. But is that okay, if I just tag along?“

„Oh, absolutely.“

„And, I am not such a big meat eater, so I don`t know, if a barbecue ...“

„No worries. I know. We will do some nice jerk eggplant. I already told them, that we are having a guest from famous West-Berlin.“

„O-okay.“

Am Abend treffen wir uns in einem kleinen Hinterhofgarten. Der Grill ist schon angeschmissen und inzwischen riechen die jamaikanischen Gewürze für mich nach zuhause. Das Barbecue schmeißt ein Cousin von John, der mich sehr freundlich willkommen heißt. Anscheinend sind Freunde von John automatisch Familie für ihn. Er heißt Maxwell. Als ich ihm vorgestellt werde, lacht er laut. „We really fit, Max. Let`s see, if we have more in common. What do you like to do?“

„Well, ... I really like travelling.“

„Great. Me as well, but it is not so easy, if you can`t afford it. Since I am having my kids ...“ Er sieht stolz zu seinen beiden Kindern, die mit ein paar anderen einen Ball hin und hertreten. Ich schätze das Mädchen auf so fünf, den Jungen auf sieben, acht. Er wirkt glücklich, aber klar: reisen ist so wohl nur noch schlecht möglich. Außerdem weiß ich nicht, wie es ist, wenn man als schwarzer Mensch versucht in Europa solche Dinge zu machen wie Ecky und ich, also auf Friedhöfen schlafen, bei McDonalds die Essensreste abstauben, Straßenmusik machen ... Ach, Mann. Ich hab Sehnsucht nach Ecky. Und überhaupt nach ... Ich seufze.

„Have you been to any countries outside of Europe?“

„Only to Tunisia.“

Der Typ vor mir wiegt den Kopf hin und her, nickt dann.

„And to Middle or South America?“

„Not yet. You?“

Er nickt wieder. „I mean, I`m born in the UK, but I`ve been working abroad some yachts all over the world.“ Irgendwie habe ich das Gefühl, dass er mich nicht als ebenbürtigen Weltenbummler wahrnimmt. Wahrscheinlich hat er damit auch recht. Ich reise wirklich gerne, aber bisher bin ich noch nicht besonders weit über Europa hinausgekommen. Klar, ich könnte sagen, dass meine Jugend oder Geld der Grund sind, aber ... Die meisten Länder sind ja billiger als Deutschland.

Ob ich wohl mal nach Afrika reise, also auf den afrikanischen Kontinent? In Berlin sind trotz der vielen GIs nicht so viele Schwarze in der Szene. Und von den britischen Soldaten sind viele eher die schlechte Sorte Skinhead oder eher so Hool mässig unterwegs. Das ist sehr viel cooler hier in London. Wie eigentlich alles cooler hier ist. Und teurer. Egal, heute will ich meinen freien Tag genießen.

Der Freund*innenkreis ist eine tolle Mischung und ich lerne Claires Bruder kennen. Die beiden ähneln sich wie Zwillinge. Ben hat auch rote Haare und ist ebenfalls Skin, ein wenig rougher, was vielleicht auch an seinem Job als Bauarbeiter liegt, als die eher feinsinnige Claire, die Kunst studiert. Ein wenig neidisch bin ich schon, wenn ich sie morgens mit ihrer Mappe in die Uni verschwinden sehe. Das hätte auch ich sein können, wenn ...  

Auf einmal nehme ich laute, wütende Stimmen wahr. „I am not sensitive. That is completely beyond the point. It`s your racist bullshit, that I can`t except. Not here. Not anywhere.“ Die Frau von Maxwell hat sich vor einem von Bens Freunden aufgebaut. „I welcomed you to my family and you are telling me, that it is „unnatural“, that I am here in Britain.“ In der kleinen Gruppe am Grill geht es auf einmal voll ab.

Ben wirkt kurz so, als wollte er seinen Freund verteidigen, dann wirft er einen Blick hinüber zu Claire. Diese schüttelt den Kopf. Ben sieht immer noch unentschieden aus. Ich mochte den eigentlich, aber ... Tatsächlich haut er jetzt mit seinem Kumpel ab.

John sieht ihm hinterher. „Well ...“ Ihm stehen Tränen in den Augen. „You never know - until you do.“ Claire kommt auf uns zu. Ihre Miene wechselt zwischen Mitgefühl und Wut. Sie will John den Arm um die Schultern legen, aber er wendet sich behutsam ab, verschwindet im Haus seines Cousins. „I guess, he needs some time without ...“

Ich habe wirklich Angst, dass ich ihn auch mal so enttäusche, weil ich auch nur ein stumpfer, dumpfer Weißer bin, der nichts von seiner Lebensrealität versteht.


21. August - Brixton  

John und Claire fahren für ein verlängertes Wochenende zu ihrer Familie nach Brighton und auf einmal bin ich Freitag Abend allein in der kleinen Wohnung. Mit jeder Stunde dort fühle ich mich - einsamer.

Schließlich rufe ich um acht Uhr abends Nigel an. Immerhin hatte er mir versprochen, mir die Blitzkids zu zeigen und das ist schon wieder drei Wochen her. Ein bisschen aufgeregtes Adrenalin strömt durch mich, als ich das Freizeichen höre. Doch tatsächlich hatte ich nicht damit gerechnet, dass er zu Hause ist – und Zeit hat für mich. Wir verabreden uns um 10 pm im Blitz Club.



4 Great Queen Street, Covent Garden  

Der Typ am Eingang sieht aus wie der Sänger von Visage, aber wahrscheinlich irre ich mich. Er lässt seinen Blick über mich gleiten. Was wenn er mich nicht rein lässt? So wie ich angezogen bin, könnte das ein Problem werden, aber er nickt bloß kurz. Anscheinend bin ich blond genug für ihn.

Irgendwo an der Garderobe steht das Wort „Diskow“, aber die ganze Veranstaltung wirkt eher wie eine Art Ball. Wieder komme ich mir etwas seltsam vor, weil mein Outfit bis auf das neue Hemd fast das Gleiche wie vor zwei Wochen ist. So ein bisschen eitel bin ich dann wohl doch, aber ich beschließe, mir davon nicht die Laune verderben zu lassen, sind ja nur ein paar Fetzen Stoff. Irgendwie tut es auch gut mal was anderes zu sehen als bunte Iros, Nieten und Leder. Zudem passe ich hier genauso wenig rein, wie in alle anderen Szenen, komme mir immer irgendwie fremd vor. Mit der Szene in Berlin ist es das Gleiche – nur das ich dort die Leute kenne.

Es wirkt wie eine buntere Abart der Goths, sehr zurecht gemacht und irgendwie manierlich, aber dennoch wie ein eigener tribe. Ich bin mir nicht sicher, wie wohl ich mich hier fühle. Die Leute wirken leicht snobby, aber vielleicht sind das auch nur die Klamotten, die sie tragen. Mit all den Rüschen und Goldknöpfen und Uniformversatzstücken wirkt es, als würde hier Hof gehalten. Dementsprechend unecht und gekünstelt kommt mir das Lachen vor. Es zieht mich an - stößt mich ab. Als würden alle hier nur einstudierte Rollen spielen. Klar, die Goths im „Batcave“ waren in ihrer Kostümierung nicht viel anders, aber irgendwie war mir die Friedhofs-Partystimmung dort sympathischer.

Jemand legt mir von hinten leicht die Hand auf die Schulter und ich fahre herum, erschrecke. Ein schwarzer Balken ziert die Augenpartie meines Gegenübers. Es dauert ein paar Sekunden, bis ich Nigel erkenne. Auch weil er seine Haare zu einem Zopf geflochten hat, was echt schade ist, weil ... Ich mochte gerade die so an ihm. Außerdem trägt er eine Art Warpaint. So etwas habe ich nur einmal gesehen, in einem Video von Adam Ant, dass mir Bela mit leuchtenden Augen vorgespielt hat. Etwas mit „Wild frontier“ oder so. Er fand die Drums überragend - und noch mehr die Outfits im Video. Es wäre die „ehrwürdige Fortsetzung zu Glam Rock“, war seine Analyse.

Der Balken über Nigels Augen ist schwarz und breit. Er sieht so ganz anders aus als im „Batcave“, sehr viel weniger wie Bela, und doch anders aufregend – wie ein geheimnisvoller Sci-Fi-Krieger. Gefährlich und sophisticated. Ich muss mich echt anstrengen, ihn nicht die ganze Zeit anzustarren. Zuerst traue ich mich nicht zu fragen, aber dann bin ich einfach zu neugierig. Ich beuge mich hinüber zu ihm. Auf einmal sind unsere Gesichter im Halbdunkel einander sehr nah: „Ehm, does the ...“ Ich deute auf seine Schminke. „Does it mean something?“

Er lacht. Meine Frage ist wahrscheinlich etwas – naiv? Aber ich bin einfach echt neugierig. Es fasziniert mich auf einem Level, dass ich nicht in formulieren kann. Stattdessen stelle ich vermutlich dumme Fragen.

Nigel lächelt mich an. „It`s just to have something special in this miserable society.“ Er macht eine wegwerfende Handbewegung. „Thatcher and stuff ...“ Langsam streicht er mit seinem Zeigefinger über einen der schwarzen Totenköpfe auf meinem Hemd und damit über meine Brust. „You know, Max, you look really smashing.“

Ich habe seit vier Wochen keinen solchen Kontakt mehr gehabt und - mein Körper reagiert. Nigel fasst mich an der Hand, zieht mich in eine dunklere Ecke. Es ist ziemlich eindeutig, was jetzt kommen wird. Nach einem Moment des Zögerns - Ist es hier okay, wenn sich zwei Männer küssen? Sollte es wohl. Wo, wenn nicht hier? Aber - will ich das überhaupt? Ja! - überlasse ich mich seiner Führung. Im Halbdunkel kann ich seine Augen nur noch als ein leichtes Glänzen in der schwarzen Schminke wahrnehmen. Obwohl Nigel gut einen Kopf kleiner ist als ich, schafft er es mit Leichtigkeit mich gegen die Wand zu drücken. Sein Blick liegt heiß auf mir. Es tut gut, ist schmeichelhaft, so angesehen zu werden. Mein Puls beschleunigt sich.

„Can I ...?“ Sein Gesicht nähert sich meinem. „Can I kiss you?“

Yes, dafür sind wir ja ... NO! Irgendwas in mir begehrt auf, der andere Teil in mir will sich an ihn drängen. Fuck! Ich bin vollkommen rausgerissen aus dem kleinen flow, der sich zwischen uns entsponnen hat, bin nur noch in meinem Kopf. Was will ich? Was ... darf ich? Mann!!! Bela knutscht auch die ganze Zeit mit anderen Leuten rum. Und nicht nur das. Also, warum sollte ich ...

Nigels dunkle Augen blicken mich begehrlich aus dem schwarzen Streifen an und fuck ... Ja! Mein Körper reagiert wieder auf seine Nähe, die leichte Berührung seiner Fingerspitzen in meinem Nacken. Alle Härchen stellen sich auf in Erwartung von ... Ich nicke. Seine Lippen fühlen sich gut an – aber irgendwie nicht auf meinen. Es ist nicht unangenehm, aber es ist weit davon entfernt erotisch zu sein. Trotz der Anziehung, die er auf mich ausübt, passt irgendwas nicht: die Körperchemie, falscher Ort, falscher Zeitpunkt – keine Ahnung.

Vorsichtig löse ich mich aus dem Kuss, bevor es mehr werden kann. „I´m sorry, if I gave you the impression, that ...“ Ich habe ihn angerufen, mit ihm geflirtet, hab Ja! gesagt zu dem hier. Aber es funktioniert einfach nicht. Mein Kopf schwirrt. Mag ich doch keine Jungs? Ist das der Grund? Oder ist das nur, weil er nicht Bela ist? Oder weil ... Keine Ahnung. Mir ist ein wenig schwindelig. Ich stammle etwas Verwirrtes und verabschiede mich viel zu überhastet von Nigel. Unter seiner schwarzen Schminke scheint er mich traurig und wenig resigniert anzusehen. Scheiße.

Wie verloren wandere ich durch London`s Straßen. Die laue Sommernacht, das erregte Stimmengewirr der Freitagnacht dringt nicht wirklich zu mir vor. In meinem Zustand bin ich fast froh, dass John und Claire nicht Zuhause sind, aber zum ersten Mal fühle ich mich hier in London wirklich einsam.

 




Irgendwo, Berlin

Ich flieg raus. Ich soll mal klar kommen, sagt Holger. War also wohl das Risiko. Hab mit ihm anscheinend `nen Streit angefangen. Keine Ahnung. Ich stolper durch die Straßen. Schöneberg, vermutlich? Viel zu hell alles und keine Sonnenbrille. Fuck! Scheiß-Sommer. Das langsame Ausnüchtern am lebendigen Leib ist echt die Hölle, aber ... Irgendwie will ich - keine Ahnung, was ich will. Egal. Ganz nüchtern ist aber auch oberscheiße und so schmeiß ich mir `nen Trip ein. Na, also. Schon viel besser.

Endlich um 22 Uhr geht die Dämmerung über in die willkommene Nacht und ich erlaub mir, wieder saufen zu gehen. Weil ich grad nach meinem Scheißauftritt im Risiko dort nich nochmal auflaufen will, geh ich in eine Kneipe, in der vor allem Goths abhängen. Ich mag die, aber irgendwie pass ich da auch nich so ganz dazu, merk ich schon an der Tür und will umdrehen, als ein Typ in der Ecke meinen Blick auf sich zieht. Beinahe hätte ich ihn übersehen, aber jetzt kann ich den Blick nicht von ihm abwenden.

Dunkel. Nein, nicht dunkel. Schwarz. Rabenschwarz. Nachtschwarz. Schwarz wie ein Abgrund, das Nichts. Schwarz umwabert ihn wie eine Wolke, die ihm überall hin folgt. Nur seine hellen Augen stechen aus der Dunkelheit heraus. Aufmerksam wie ein Raubtier schweift sein Blick umher, bleibt für ein paar heiße, herzstoppende Sekunden auf mir liegen.

Er erinnert mich an Manu, aber wirkt noch mysteriöser, noch strenger. Kann man jemandem auf den ersten Blick verfallen? Ich setz mich an den Tresen, bestell einen Jackie. Näher trau ich mich nich ran an ihn, beobacht ihn stattdessen vom Ende des Tresens. Er trägt ein Kreuz, um das sich eine Schlange windet, deren silberner Körper wirkt seltsam lebendig, aber vielleicht ist es auch der Trip.  

Anscheinend beobacht ich ihn nicht so subtil, wie ich denke, denn er sieht nun wieder zu mir, stößt sich schließlich vom Tresen ab und kommt zu mir hinüber.

„Hi, stranger!“

Oh, englisch. Amerikanisch?

„Hi!“ Der Typ hat eine intensive Ausstrahlung, die mich hypnotisiert, so, als könnte mit ihm alles passieren und ich würd es geschehen lassen. Alles! Und irgendwie such ich grad dieses mysteriöse „Alles“, dass ich nicht genauer definieren kann, aber das damit zu tun hat meine Welt, Himmel und Hölle, auf den Kopf zu stellen, um ...

Er streckt seine Hand aus und ich will zurückweichen, kann es aber nicht, als wär ich seine Marionette - und er scheint es zu spüren. Überraschend vorsichtig streicht er über mein wahrscheinlich nich mehr sehr ansehnlich toupiertes Haar. Ich hab eine merkwürdige Art von Respekt vor ihm, fast sowas wie Angst. Ein Gefühl, dass ich selten hab, aber grad ist alles willkommener als die Wut auf Jan und die Trauer um ihn, uns, unsere Band, die konstant in mir brodelt.  

Er mustert mich und mir wird ganz schwummerig unter seinem Blick. „I like your hair!“ Es ist wie ein dunkles Schnurren. Er hat faszinierende Augen – wie Tore in eine andere Dimension. Schwarz? Ich seh genauer hin. Als würden Feuer drin brennen. Ich kann mich nicht losreißen, will mich mit ihm verbinden, mit dem,  für was er steht – was auch immer das ist.

„You seem to be looking for something.“

Oh, wie recht er hat, dieser Gedankenleser.

„Hmmm. We are looking for a 6th person tonight.“ Er lehnt sich näher zu mir, flüstert mir ins Ohr: „You would be perfect.“

Seine Worte hallen in mir nach wie ein Beben. Ich nick, obwohl ich keine Ahnung habe, wovon er spricht. „It`s the full moon tonight and – would you be interested in celebrating a Black Mass with me?“

Ich will beinah schon wieder nicken, als mir auffällt, was er mir da angeboten hat. „Ehm ... Thanks, Mr. ...“ Irgendwie erscheint mir das passend.

„Belial. Just call me Belial!“ Der Name klingt durch mich wie eine tiefe Glocke.

„Also, ick ... I already have a date with someo ...“

„You are lying.“ Er sagt es ohne Anklage, stellt es - fast ein wenig amüsiert – einfach fest.

Am liebsten würd ich irgendwas Cleveres antworten und mich damit aus seinem Bannkreis lösen, aber ... Er, seine Ausstrahlung ziehen mich an wie die Schwerkraft des Mondes, wie sein Licht die Motten.

„Ehm ... Thank you, but I need to ...“

„You need to go. I know.“

Draußen auf der Straße schnapp ich nach Luft, als wäre ich im All gewesen. Vielleicht war ich ja auch genau dort, wird mir klar. Er hätte mir eine ganze Welt, ein ganzes Universum öffnen können, aber ich war zu feige – verdammt!

Ich suche in der Tasche meiner Lederhose nach einem halben Trip, der da noch sein sollte, finde nichts, eile in Richtung Dschungel. Ich will – muss diese wahnwitzige, vielversprechende und doch unbefriedigende Begegnung vergessen, die mir noch so unter der Haut sitzt.


*
*

 

 



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LYRICS

die ärzte - Rennen, nicht laufen!

The Beatles - We can work it out

The Beatles - Get back

A flock of seagulls - I ran so far away

The Beatles - A day in the life

The Specials - What I like most about you is your girlfriend

The Slits - Shoplifting

Laid back - Sunshine Reggae

Adam Ant - Desperate, but not serious

Visage - The Damned don`t cry

Fischer-Z - Berlin

Misfits - Skulls



ADDITIONAL SONGS

die ärzte - Rennen, nicht laufen – von Bela gesungen

The Beatles – I feel fine
An wen erinnert mich diese playback attitude bloß?

die ärzte – Roter Minirock
Live

die Ärzte, Graz 2022 – God save the Queen

Adam and the ants – Kings of the wild frontier



THE BEATLES - Paul & John

NME - Paul McCartney opens up about his friendship with John Lennon

Did Paul McCartney and John Lennon make up before John`s Death?

John Lennon said Paul McCartney is family in his last interview
He’s like a brother. I love him. Families … we certainly have our ups and downs and our quarrels. But at the end of the day when it’s all said and done, I would do anything for him. I think he would do anything for me.
December 8, 1980 interview with Dave Sholin



(SUB)CULTURES


„Nicht dazu zu gehören, ist ein tief empfundenes Gefühl von mir.“
Farin Urlaub - Interview Galore, 25. Februar 2005



GEN X

The term “Generation X” was catapulted into mainstream consciousness when American novelist Douglas Coupland wrote the 1991 book about the disaffected post-baby-boomer youth. Sometimes called the Slacker generation because they were uncertain about their future, and cynical about what was occurring around them (Cold War threats and Chernobyl), it was through this apathy and malcontent that many subcultures were born. Reeling after their parents left the economy in tatters and angry at the state of the nation, Goths and Blitz kids were all a byproduct of a youth striving for identity in a country under Thatcher.


PRETTY BOYS

Behind the glitter, platforms and extravagant makeup of Glam Rock lay the biggest confrontation to traditional sexual and gender identity hitherto witnessed on British soil. Its emergence in the 70s shattered binary gender identities and rejected the heteronormative world of the mainstream. Roxy Music, T-Rex and David Bowie in his many guises offered a careless camp alternative to the masculine rock’n’roll music cultures that preceded it. As a precursor for his later gender-bending stage appearances, for the 1970 cover of The Man Who Sold The World, Bowie – all tousled hair and a Venus recline – wore a silk dress, cut nearly to the navel.


NEW ROMANTICS / PEACOCK PUNKS / BLITZKIDS

The New Romantics (Documentary BBC)

When Steve Strange and Rusty Egan set up the Blitz club night in Covent Garden in 1979, they lit the match for what would become New Romanticism. On the heels of the night’s popularity, more of the same emerged – including Kinky Gerlinky, the extravagant dress-up night created by Michael Costiff and his wife Gerlinde. Attracting the likes of Vivienne Westwood and Boy George, Kinky Gerlinky became the place-to-be on the burgeoning drag scene where the New Romantics could rock up in their frill and lace finery, extravagant hair and make-up establishing little discernible difference between male or female.

Blitzed: The 80’s Blitz Kids‘ Story

In strife torn 1979 Britain, against a backdrop of strikes, blackouts, racism and homophobia, out of one small London venue called The Blitz came a generation of outrageous teenagers, working class and art school kids, who would define the look, the sound, the style and the attitude of the ‘80s & beyond.
Inspired by David Bowie and driven by a gender bending, genre busting desire to make it, these penniless superstars in the making from Boy George & Culture Club to Spandau Ballet, Visage, Ultravox & Sade would go on to change the face of fashion, music and culture across the world.

Club to Catwalk | Blitz Kids - about Fashion

Why Bowie came recruiting blitz kids for his "Ashes to Ashes" Video

The Blitz Kids - Whatever happened to the Gender Bender’s 2005

Part 1 80’s New Romantics - Essential Beginners Guide




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Chapter 32: 1983 - Pakt

Chapter Text

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* Teenagers in Love *





Lieder und Bilder farbig unterlegt im Kapitel.
Weiterführende Links am Ende.

YEAH! 200.000 Wörter-Marke ist geknackt!

Äh, also, auf Fanfiktion.de zumindest.


Leichte Inhaltswarnung: Okkultes

Ich muss noch mal kurz loswerden, dass das echt so üüüberhaupt nicht mein Ding ist und ich dennoch hoffe, es einigermaßen akkurat darzustellen.




 

1983 - Pakt




1. August – Savignyplatz, Charlottenburg

Ich sitz mal wieder im „Schwarzen Café“. Allein. Grad hab ich irgendwie nich so richtig Bock auf die Szene und den ganzen Kram, aber auch nich auf die Niebuhrstraße, die sich irgendwie ... falsch anfühlt, auch wenn das Zusammenleben mit Eddie unkompliziert ist.

Ich les zum zweiten Mal den neuen Batman. Was für eine Story! Mir war gar nich sooo bewusst, dass Batman so abgründig sein kann. Monika bringt mir noch einen Pfefferminztee vorbei.

Eine junge Frau kommt herein. Ich erkenn sie sofort an ihren abgefahrenen Klamotten, einem gelben Overall. Auch wenn das nich so meine Farbe ist, er steht ihr unglaublich gut. Sie kann es sich echt leisten so aufzufallen.

Sie sondiert die Leute im Café und ihr Blick schweift auch kurz über mich. Ich weiß nicht, ob ich schnell wegsehen soll oder die Hand zum Gruß heben. Ehrlich gesagt hab ich schon seit ein paar Jahren eine ziemliche Schwäche für sie, seit ich sie das erste Mal mit Mania D. im SO gesehen hab.

„Hey!“ Gudrun kommt langsam auf meinen Tisch zu. „Du bist Bela, ne?“

Wow, sie kennt meinen Namen. Ich nick, verschluck mich fast an meiner eigenen Spucke. „Ähm, ja.“

„Ich hab dich und den großen Blonden bei so einer Performance gesehen. Ihr habt aus Schillers Glocke zitiert. War ziemlich witzig irgendwie.“

Nich rot werden, Bela. Zu spät. „Ähm, ja, cool. Danke. Und ... ähm, was machst du so hier?“

„Ich wart auf Beate. Wir wollten heut noch proben, aber ...“ Sie sieht auf die klobige Uhr an ihrem zarten Handgelenk. „Also, eigentlich sollte sie schon längst ... Hast du sie gesehen?“

„Ist das die mit so `nem akkuraten Haarschnitt?“

„Ja, genau.“ Ein schmales Lächeln in meine Richtung.

„Äh, die war glaub ich kurz hier, so vor `ner Stunde oder so.“

Sie atmet tief aus. „Mist. Ich bin echt voll zu spät.“

„Dit kenn ick. Ick bin och immer zu spät.“ Sie hat definitiv mein Mitgefühl.

„So.“ Sie taxiert mich. „Also, eigentlich kommt das bei mir nicht so oft vor, aber ... Es war wichtig. Kennst du John Peel?“

„Ja, klar.“ Nun hat sie wirklich meine ganze Aufmerksamkeit.

„Der Typ hat bei uns in der WG angerufen, aber mein Englisch ist echt nicht so super und ich hab beim ersten Mal echt nix verstanden und wieder aufgelegt. Zum Glück hat er es dann nochmal probiert und sich ein bisschen mehr Mühe gegeben deutlich zu sprechen. Wenn ich das richtig verstanden habe, dann will er uns wohl für seine Show in London.“

„Krass.“ Ich bin wirklich beeindruckt. Die John Peel Sessions sind für viele von uns in der Szene sowas wie der sonntägliche Gottesdienst für Christ*innen.

„Schon, oder?“ Sie sieht mich mit großen Augen und fast ein wenig ungläubig an. „Ich verehre den so dermaßen, auch wenn ich nicht alles im Radio verstehe. Es geht ja vor allem um die Musik. Zuerst habe ich gedacht, da verarscht mich jemand, aber beim zweiten Anruf, hab ich dann seine Stimme erkannt. Ah, ich hätte das so gern Beate erzählt. Nun ja, das muss wohl warten. Weißt du, wo sie hin ist?“

„Nee, also, sie hat nicht mit mir gesprochen. Frag doch mal Monika.“

Als Gudrun zurückkommt, lässt sie sich auf einen Stuhl an meinem Tisch fallen. „Monika weiß auch nichts. Beate war wohl echt ein bisschen sauer. Dabei komm ich normalerweise nie zu spät. Na ja, bei den Neuigkeiten wird sie sich bestimmt schnell wieder beruhigen. Und – was machst du heute noch so?“ Sie schielt auf den Comic, den ich immer noch in der Hand halte.

Es ist mir ein wenig peinlich, obwohl Batman wirklich niemand peinlich sein sollte, im Gegensatz zu Superman. „Also, eigentlich wollt ick hier nur in Ruhe lesen.“

„So, so. Du bist doch sonst immer auf der Piste?“

„Ja schon, aber ... Mhm, grad ist das irgendwie nich so richtig was für mich.“

„Schade. Ich mag, wie du tanzt.“ Sie grinst. Hab ich noch nicht so oft an ihr gesehen, aber es steht ihr ausgezeichnet. „Sieht sexy aus. Ich mag deinen Style insgesamt recht gern. So `n bisschen androgyner als die Meisten.“

Wow. Ich bin ihr aufgefallen. „Äh, ... Danke.“ Am liebsten würd ich mir das schwarze Stirnband richten, mit dem ich meine langen Haare bändige. Es verwirrt mich, dass sie mich anscheinend genauso beobachtet hat, wie ich sie, wenn sich unsere Wege mal im nächtlichen Dschungel getroffen habe. „Aber tanzen und ausgehen und so is grad nich so cool für mich.“

„Und was ist cool genug für dich? Comics lesen?“ Sie grinst nun wirklich.

Ich hab sie immer für ein wenig kompliziert und vielleicht sogar ein bisschen arrogant gehalten – und das sie keinen Bock hat auf Typen, was ja Quatsch ist, schließlich hat sie mit Blixa die Neubauten gegründet.

„Genau“, grins ich zurück und zeig ihr das Cover von Batman. Ist schön hier so mit ihr zu reden. Sie zieht mich irgendwie aus der düsteren Wolke, in der ich die letzten Wochen verbracht habe.

Sie beugt sich ein Stück vor, aber anstatt auf das Cover blickt sie auf meinen Mund. „Du hast ja `ne süße Zahnlücke.“

Nicht gerade das Kompliment, das ich gerne hör, aber immerhin ein Kompliment.

„Und was machst du, wenn du nicht grad Comics liest oder in einer Band spielst oder nicht mehr weggehst?“

„Dann ...“ Soll ich das sagen? „Also, ich häng grad viel auf Friedhöfen und so rum.“

Ihre Augen werden groß. „Echt?“ Sie zieht eine Augenbraue hoch und auch wenn es ganz anders als bei Jan aussieht, zieht sich in mir alles zusammen. Ich sollte gehen , aber sie sieht mich immer noch so interessiert an – und es ist einfach Gudrun Gut. „Hört sich ziemlich gothic-mäßig an.“

„Mhm. Ja. Vielleicht. Ich mag so Kategorien nich so gern. Ick find`s halt grad einfach irgendwie schön dort.“

„Cool. Da hab ich auch Bock drauf. Haste Lust?“ Ihre Augen glänzen ein wenig, aber mir ist nich klar, ob sie wirklich Lust dazu hat oder ob ich nur ein Zeitvertreib bin, weil das mit Beate nicht geklappt hat.

Wir fahren zum Friedhof am Südstern und steigen über die Mauer. Zuerst bin ich mir nicht ganz sicher, ob ich im richtigen Gräberfeld suche, aber dann find ich den Weg zum männlichen Engel ohne Probleme, als würd er mir den Weg weisen, mich zu sich holen.

„Oh.“ Andächtig steht sie vor der großen Steinfigur mit den Flügeln. „Der ist ... wirklich unglaublich schön.“ Sie wirkt genauso beeindruckt wie ich und ich freu mich, dass ich ihr ihn zeigen konnte.

„Ick wünschte, ick könnte `n Song über ihn schreiben“, sag ich leise, als würd ich mit mir selbst sprechen.

„Mhm ... Ja. Ich auch. Ist schwer in Worte zu fassen, oder?“ Sie scheint wirklich zu verstehen und ich nicke.

Wir stromern noch ein wenig durch die laue Sommernacht, die hier abseits des Verkehrslärms so still ist und nach mir unbekannten Bäumen und Pflanzen riecht.

Huuhuuuu!

Gudrun zuckt zusammen und drückt sich einen Moment an mich.

„Ein Käuzchen“, sag ich und die Nacht mit Jan im Zelt ersteht in mir für einen sehr intensiven Moment wieder auf. Ich greife vorsichtig nach ihrer Hand, die schmal und kühl in meiner liegt. Gleich lässt sie los, befürchte ich, aber ihre Hand verschwindet erst aus meiner, als sie sich an einem engen Durchlass zwischen zwei Gruften abstützen muss, dann ist ihre Hand wieder in meiner. Es – sie fühlt sich gut an.

Obwohl sie den gelben Overall trägt, passt sie hier wunderbar her. Auch sie scheint eine Kreatur der Nacht zu sein.

Wir gehen langsam im Dunkeln durch eine Allee von riesigen Bäumen auf die Silhouette einer Art Kapelle oder Aussegnungshalle zu. Es duftet süßlich nach Lilien, wahrscheinlich von einem der Gräber. Vielleicht ist es die Friedhofsatmosphäre, vielleicht weil wir uns kaum kennen, aber wir reden in den nächsten Minuten fast kein Wort miteinander. Es dauert ein bisschen, aber dann entspann ich mich. Es ist schön, dass ich mit ihr so angenehm schweigen kann. Irgendwann ist die Zeit relativ und wir wandeln einfach nebeneinander durch die dunklen Grabreihen wie in einem Traum.

Langsam erscheint vor uns wieder das Licht von Straßenlaternen. Gudrun zieht ihren Overall enger um sich. „Mir ist ein bisschen kalt.“

„Oh. ... Willste meine Jacke?“ Ich hab meine Lederjacke schon halb runtergestreift, aber sie winkt ab.

„Wollen wir zurück?“

Ich nicke und wir klettern aus der traumartigen Stille und Dunkelheit wieder über die Mauer zurück nach West-Berlin. Einen Moment stehen wir unschlüssig voreinander im Licht der Straßenlaterne.

„Also, dann ... Es ... Es war echt schön mit dir.“ Soll ich sie zum Abschied umarmen?

Sie lächelt. „Fand ich auch.“

„Ähm, soll ich dich noch irgendwohin bringen?“

„Willst du den Abend – die Nacht schon beenden?“ Sie kommt ein Stück auf mich zu und lehnt ganz leicht ihre Schulter gegen meine. Wir sind fast gleich groß, fällt mir auf.

„Eigentlich nicht.“

„Super, dann ... Wollen wir zu dir oder zu mir? Bei mir ist vermutlich Bettina.“

Es ist ziemlich klar, auf was das hinauslaufen wird und bei dem Gedanken werden mir die Knie ein wenig schwach. „Zu mir, also, wenn du magst?“

Sie ist die erste Frau, die erste Person, die ich mit in die Niebuhrstraße nehme. Aber wieso sollte ich auch vorsichtig sein? Jan, auf den ich bisher aus unerfindlichen Gründen Rücksicht genommen habe, ist eh nicht da.

„Krasses Zimmer.“ Ich mag die Anerkennung in Gudruns Stimme. „Ist das ein echter Totenkopf?“

„Nein. Leider nicht.“

„Leider?“

„Naja, ick kann dit nich so richtich erklärn, aber ... Echte haben einfach `ne andere Ausstrahlung, da steckt `n ganzes Leben drin. Das hier ...“ Ich klopf auf den Totenkopf und ein dumpfes Geräusch erklingt. „Das hier ist nur Plastik.“

„Und deswegen treibst du dich jetzt auf Friedhöfen rum, damit du vielleicht mal über einen Echten stolperst?“ Sie tritt näher an mich heran, fährt behutsam über meine Wangenknochen. „Schon seltsam, dass wir alle einen Totenkopf unter unseren Gesichtern tragen.“

Von ihrer Berührung und ihren Worten läuft mir ein Schauer über die Arme. Es war klar, warum wir beide hier sind und in der Privatheit meines Zimmers ist die Nähe zwischen uns jetzt echt aufgeladen. In den letzten Wochen hat mein Liebes- oder vielmehr Sexleben vergleichsweise echt gelitten. Gerade mal ein eher zufälliger Ausrutscher mit der hübschen Kassiererin. Das war`s. Aber jetzt ... Ich hab wahnsinnig Lust auf sie – und auch ein wenig Respekt vor ihr. Deswegen wart ich, dass sie entscheidet, den ersten Schritt macht.

Und das tut sie. Ihre Küsse sind fast brutal und so verdammt gut, doch auch sie löschen die Erinnerung an Jan und mich nicht aus.


*


Im Morgengrauen verschwindet sie nach einem kurzen Kuss auf meine Wange. Fast wie eine Vampirin. Ich bin total angefixt, aber hab Angst sie zu sehr zu bedrängen. Sie wirkt sehr unabhängig und nicht so, als hätt sie Bock auf verknallte Typen, die sie ständig sehen wollen.

Also, versuch ich es wie einen Zufall wirken zu lassen, dass wir uns über den Weg laufen. Die letzten Wochen war ich nicht mehr im Risiko, aber davor, war es ja meine Stammkneipe. Am dritten Abend ist sie wirklich da. Ein Lächeln huscht über ihre kühle Miene, als sie mich am Tresen erspäht, aber sie kommt nicht sofort zu mir hinüber, unterhält sich weiter mit Blixa.

Ich such nach anderen Leuten, mit denen ich reden kann und find Klein-Italien. Schon lang nicht mehr gesehen.

Nach einer Stunde seh ich aus dem Augenwinkel, wie Gudrun ihre Jacke über die Schulter wirft und zu mir hinüber sieht. Ich ignorier sie, was mir wirklich schwerfällt. Es ist echt sauanstrengend jemanden so unauffällig zu observieren. Mir tun schon die Augen weh vor lauter Nicht-Hinsehen-Hinsehen.

Ja, sie kommt in meine Richtung. Mein Herzschlag beschleunigt sich.

„Hi Bela!“

Ich dreh mich zu ihr und tu viel zu übertrieben überrascht. „Oh, hey. Hi, Gudrun!“

Sie lächelt schmal, aber ihr Blick liegt intensiv auf mir. Sie nickt zur Tür. „Willst du mitkommen?“

Ich frage nicht wohin. Das wäre uncool. „Ähm, klar.“ Ich verabschied mich schnell von Klein-Italien und geh hinter ihr her. Auf der Yorckstraße bleibt sie stehen und zieht ihre Jacke über. Schick sieht sie wieder aus. Cool und unnahbar.

„Na? Wieder Lust auf `ne Exkursion auf `nen Friedhof?“, scherze ich, um die Spannung zu brechen.

„Nee, aber mit zu dir zu kommen. Zu mir können wir nicht, weil seit neuestem Blixa im Laden schläft. Auch wenn der wahrscheinlich erst im Morgengrauen aufschlägt.“ Sie dreht sich zu mir um. „Also, wenn du Bock hast.“ Sie fährt über meine Wange und jetzt funktioniert die Nähe von letzter Woche wieder.

Ich glaub, sie ist eigentlich gar nich so krass, wie ihre Ausstrahlung es manchmal wirken lässt. Aber cool, verdammt cool, ist sie trotzdem. Mann, zieht mich dieser Mensch an. Seit Jans Verschwinden hat mich nichts mehr so ausgefüllt.


10. August – Tempelhofer Flughafen, Berlin

Wir treffen uns in unserem neuen, aber jetzt verwaisten Ärzte-Übungsraum im Tempelhofer Flughafen. Wir sind beide keine Mucker und deswegen fangen wir gar nich an über Schlagzeug spielen zu fachsimpeln, obwohl ich Gudruns Stil echt liebe.

Wir setzen uns auf das leicht versiffte Sofa in der Ecke.

„Wir haben in unserem Übungsraum mal `ne Katze gefunden“, sagt sie unvermittelt, als sie sich in unserem kleinen Reich umsieht. „Wir haben sie Malaria getauft.“

Ich denk an die verletzte Katze unter dem Balkon und erzähl ihr die Geschichte. Sie hört aufmerksam zu und gibt mir dann einen Kuss auf die Wange, der zu einem Kuss auf den Mund wird und ...

Ich fahr mir mit meinem T-Shirt über die verschwitzte Haut, wische auch ihr den Schweiß ab, was sie mit einem dankbaren Lächeln quittiert. Sogar in den Katakomben hier unten sind die Temperaturen ein wenig sommerlicher geworden.

Nach dem Sex weiß ich nich so genau, wie weiter und zünde mir eine Zigarette an, biete ihr auch eine an. Ein bisschen schüchtert sie mich immer noch ein. Sie ist gut vier Jahre älter als ich, schon Mitte zwanzig und auch das jagt mir ein wenig Respekt ein, obwohl ich sonst sowas eigentlich nie vor jemandem hab.

Eigentlich würd ich sie gern fragen, wie sie es in so kurzer Zeit geschafft haben so berühmt zu werden, aber ich komm mir albern dabei vor. Aber sie haben unter anderem mit New Order gespielt – Jan würde ausflippen! – und wurden nach New York eingeladen. Es ist einfach krass und außerhalb jeglichen Begreifens für mich und unsere kleine Blaskapelle.

„Ick erinner mich noch an euer erstet Konzert im SO mit Mania D.“

„Fühlt sich echt lange her an.“ Sie streicht sich durch die Haare und sieht mich interessiert an. „Hat`s dir gefallen?“

„Ja, sehr.“ Hitze steigt mir ins Gesicht. Ich will mich nicht als naiven Fan outen.

„Schön. Irgendwie waren wir in Deutschland nie so richtig angesehen.“

„Na, aber dafür wart ihr ansonsten total viel unterwegs. Ick würd och gern ma in New York spielen.“ Mist, jetzt ist es mir doch rausgerutscht.

„Jaaaah. Das war schon cool. Aber ey, das hat so much trouble gegeben, nachdem unser Gig im Studio 54 an Yom Kippur war und sie unserer schickes Outfit für Naziuniformen gehalten haben.“ Sie verdreht die Augen und atmet tief einmal ein und aus.

„Was ist Yom Kippur?“

„Der höchste jüdische Feiertag. Das ist wohl der „Tag der Versöhnung“, an dem man seine Sünden bereut und über die Beziehung zu Gott nachdenkt. Na, und wir ignoranten Deutschen wussten das nicht und hatten uns halt mit unseren üblichen Hosen schick gemacht. Die jüdischen Clubbetreiber dachten, wir tragen so Nazi-Reithosen.“ Sie presst die Lippen zusammen. Anscheinend gehen ihr Sachen doch nahe. Sie schlüpft in ihre Hose und setzt sich auf den Schemel hinter meinem Schlagzeug.

Ich fühl mich seltsam geehrt und wünschte, ich könnte mit solch krassen Anekdoten aufwarten. „Wo hat es dir denn am meisten Spaß gemacht?“

Sie überlegt und ich kann sehen, wie sie durch bestimmt über 300 Konzertlocations klickt in ihrer Erinnerung, wie ein verrückt gewordener Diaprojektor. „London!“, sagt sie schließlich und mein Herz wird von einem Blitz getroffen. Sie hat schwarz gefärbte Haare wie ich, aber ich sehe nur wasserstoffblond. „Dort haben wir mit „Siouxsie and the Banshees“ im „Batcave“ gespielt.“

„Krass. Ich liebe Siouxsie. Und Batcave klingt auch verdammt gut. Du solltest vielleicht doch mal den neuen Batman lesen.“

Sie grinst. Zum ersten Mal an diesem Abend.

 


*


Danach seh ich sie vier Tage nicht mehr. Im Risiko ist sie nicht, nicht im Dschungel, nicht im Sound, nicht im ... Ich hab in den vergangenen Nächten alle Läden besucht, durchsucht.



14. August – Eisengrau / Goltzstraße 37, Schöneberg

Schließlich gehe ich im „Eisengrau“ vorbei und tatsächlich – dort sitzt sie hinter ihrer Strickmaschine und zaubert mit schwarzem und neonrosa Garn eine ihrer krassen Pulloverkreationen.

Kurz bin ich versucht so zu tun, als wär ich nur hier, um was zu kaufen, aber das ist ja Quatsch. Natürlich will ich sie sehen, geht es mir nur um sie.

Sie blickt kurz von ihrer Maschine auf, sieht mich erstaunt an und macht dann einfach an der Maschine weiter.

Oh. Okay. Ich sehe mich im Laden um, stöber mich durch die mix tapes, find sogar zwei die mich interessieren, hab aber nur Kohle für eine der Beiden.

Durch die halboffene Tür, die ins Hinterzimmer führt, seh ich Blixa, der auf einer Matratze am Boden sitzt. An seinem Oberarm ist ein roter Strich, in seiner Hand ein Gürtel. Es ist unhöflich, dass ich ihn weiter anstarre, aber er wirkt nicht so, als würde es ihn wirklich stören. Insgesamt scheint er weit weg, nimmt mich wohl gar nicht wahr. Ich schreck zusammen, als sich sein Blick auf einmal auf mich fokussiert.

„Na, Bela?“ Seine Sprache ist sogar bei diesen wenigen Wörtern schleppend.

Gudrun blickt von ihrer Strickmaschine auf, schaltet sie aus und kommt zu mir hinüber. Irgendetwas in ihrer Miene sagt, dass jetzt etwas folgt, vor dem ich mich wappnen sollte.

„Hey!“ Sie küsst mich auf die Wange, nicht auf den Mund. Okay. „Also, es ist schön dich zu sehen, aber ... ich hab gerade viel an der Uni zu tun.“ Sie studiert wohl visuelle Kommunikation an der UdK. Dort wollte Jan eigentlich mal Kunst studieren. „Und außerdem bin ich mit Matador viel unterwegs und hau wahrscheinlich bald für ein paar Wochen ab nach New York, deswegen ...“ Sie weicht meinem Blick kurz aus, sieht mich dann fast zu intensiv an.

„Ähm, ... Ja, klar. Dann ... vielleicht ... sieht man sich mal wieder.“ Ich leg schnell die Kassetten hin und verlass fast fluchtartig das „Eisengrau“.

Grau ist auch der Rest des Tages, der auf mich wartet.

Die kurze Affäre mit Gudrun hinterlässt fast so eine Leere wie Jans Abwesenheit.

Ausgerechnet der meldet sich an diesem Abend. Am liebsten würd ich ihm von Gudrun erzählen, grad weil er sie auch immer toll fand. So `n bisschen als Rache und Angeberei und überhaupt. Dann lass ich es aber, weil ...

Die Leitung zwischen London und Berlin rauscht zwischen uns.

„Hey, komm doch rüber zu mir.“ Jans Stimme klingt so, als müsste ich nur mit den Fingern schnipsen und – Zack! – säße ich bei ihm im feinen London.

„Wie soll `n dit gehn so ohne Kohle?“

„Na, dann musste halt ma wat arbeiten.“

„Mann, ey. Fick dich, Vetter!“ Manchmal macht er mich einfach so wütend. „Viel Spaß noch mit deiner Anarchy in the UK.“ Ich schmeiß den Hörer auf die Gabel, ärger mich dann über mich selber, aber er hätt ja wahrscheinlich auch bald aufgelegt von wegen Kleingeld und so.

Mich macht diese ganze Scheiße einfach nur müde. Ich leg mich ins Bett, wart auf den Schlaf, aber der kommt nich. Schließlich schmeiß ich zwei Benzos.


Ich sitze vor dem Telefon und warte. Er wird anrufen. Das hat er immer gemacht. Früher ist er sogar noch den weiten Weg von Köln nach Berlin gefahren, um mit Diana und mir Geburtstag zu feiern, aber das macht er schon seit ein paar Jahren nicht mehr.

Ich setze mich ins Wohnzimmer, schalte den Fernseher auf superleise, damit ich nicht verpasse, wenn er anruft. Die Tagesschau.

„Ach, Dirk!“ Mitleidig sieht Diana zu mir hinüber und nimmt mich dann kurz in den Arm. „Das war doch klar, dass der Alte nich auflaufen wird!“ Sie hat ihn schon vor Jahren abgeschrieben. „Der ist voll auf so `nem Selbstverwirklichungstrip – vorgezogene Midlife-Krise oder irgendso `n Scheiß.“

Schweißgebadet wach ich auf. Alles dunkel. Fuck, wo bin ich? Ich taste nach einem Lichtschalter, find ihn erst nach ein paar Ewigkeiten. Das Licht wird von meinen schwarz gestrichenen Wänden gedimmt. Ich schnappe nach Luft. Aus der Ecke sieht mich finster der Typ an, den ich dorthin gemalt hab. Fast beruhigt mich sein Anblick. Niebuhrstraße.

Meine Beine sind schon aus dem Bett und laufen automatisch zu Jans Zimmertür. Als ich klopf, fällt mir ein, dass der Penner ja nicht da ist. Eddie zum Glück auch nicht. Scheiße, bin ich verwirrt von dem Traum. Viel zu realistisch. Das mit den Selbstverwirklichungstrips von Leuten, die mir wichtig sind, kommt mir verdammt bekannt vor. Fuck! Echt.

Ich befürchte Etwas von meinem 14-jährigen Ich wartet immer noch vor diesem Telefon – nicht nur im Traum.

Obwohl ich noch erschöpfter und nur noch müde bin, ist an Schlaf nicht zu denken. Das einzige Heilmittel gegen die Einsamkeit ist nicht mehr allein sein, sondern ich brauch jetzt brüllend laute Ablenkung, gerne auch in altbewährter Pulverform. Ich schlüpf in meine Lederhose und mach mich auf ins Risiko, steh aber auf einmal vor dieser Goth-Kneipe – „Black Raven“ oder was ähnlich Klischeehaftes.

Ich öffne die Tür und weiß sofort: Er ist nicht da! Das Knistern in dem verrauchten Raum fehlt.

„Nee, der Typ war schon länger nicht mehr da“, sagt die Frau hinterm Tresen mit einem seltsamen Blick. Dunkle Enttäuschung, obwohl ich mir einrede, dass es besser so ist.

Ich geh auch die nächsten Abende dorthin, aber er ist immer nicht da und so trink ich allein am Tresen ein Bier. Die Leute sind nett, ein paar wollen sich sogar mit mir unterhalten, aber – irgendwie will ich doch allein bleiben. Ungewöhnlich. Die Einsamkeit ist meine einzige Gesprächspartnerin.

 


Ich dachte, ich muss sterben, als sie mich verließ
Ich dachte, ich muss sterben, als mein Vater mich verstieß

Doch zum Sterben geht’s mir einfach noch nicht mies genug ...





15. August – Niebuhrstr. 38 b, Charlottenburg

Belial!

Seit Gudrun nicht mehr da ist, ist sein Name mit einer Wucht zurückgekehrt, die in mir hallt wie ein Glockenschlag. Ich kenn den Namen, aber bekomm ihn nich zugeordnet. Oder ist das nur, weil er mich an meinen Eigenen erinnert? Nee. Oder? Woher kenn ich den bloß?

Eigentlich hab ich in meinem Leben ja schon einiges ausprobiert, aber grad kickt irgendwie nichts so richtig. Das mit Gudrun war wirklich gut, aber der Fall danach umso tiefer. Das Einzige, was mich momentan interessiert ist, diesen Typen wieder zu finden.

Ich geh hinüber in Ja... Eddies Zimmer. Eigentlich wollte ich nur nachsehen, ob er so eins dieser Enzyklo-Dingens hat. Hat er. War ja klar bei dem alten Klugscheißer. Es ist jetzt nicht direkt so `n 30-bändiges Werk, aber vielleicht helfen mir auch die drei Bände von „Meyer`s Lexikon“. Es sieht uralt aus. 1932 steht vorn im Titelblatt.

Ich lass mich auf Jans Schreibtischstuhl sinken und auf einmal schießt mir ungebremst Wasser in die Augen. Eigentlich räumt der Pedant ja immer alles auf, aber hier hängt noch ein Hemd von ihm und aus diesem steigt sein Geruch auf. Ich press meine Nase in den weichen Stoff, beiß mir auf die Lippen und heul das Teil dann trotzdem voll. Scheiße, Jan. Echt. Ob ich wirklich mal nach `nem Job schauen soll? War eigentlich nicht sooo schlimm damals in der Brauerei. Aber da war halt euch er dabei. Ich leg sein Hemd über mein Knie und beschließ, es mit in mein Zimmer zu nehmen.

Ich fahr mir mit dem Handrücken über die Augen, dann zieht der Wissenswälzer meine Aufmerksamkeit wieder auf sich. „Babylon ... Beelzebub ... Belize ...“ Zu weit. Ich fahr mit dem Finger rückwärts über die Wörter. Da. „Belĭal. Im Neuen Testament ein Name des Teufels.“ Mir fällt das Buch aus der Hand. Zum Glück ist Jan nicht da. Trotzdem hör ich ihn in meinem Kopf zetern.

Der Teufel! Krass ... Etwas in mir zittert – und es ist nicht nur Ehrfurcht oder Angst, sondern auch eine seltsame Art von Sehnsucht, der ich keinen Namen geben kann.

Als ich das Lexikon zurückstelle, fällt ein kleines gelbes Heftchen zu Boden. Die Reclamausgabe von Goethes Faust. Oh, oh. Das weiß ich auch ohne Lexikon, denn meine Deutschlehrerin hat uns während der Lektüre so einiges erklärt. Mephisto ist ein weiterer Name für den Teufel.

Ich kann mich noch lebhaft daran erinnern, wie sie versucht hat uns diesen Klassiker näher zu bringen und tatsächlich war es eines der Bücher, die mich in der Schule wirklich interessiert haben. Gerade fühl ich mich dem deprimierten, fast lebensmüden Faust wirklich sehr nah. Seit ein paar Wochen gibt es in meinem Leben nur noch sehr sporadisch Augenblicke, zu denen ich sagen würde: Verweile doch, du bist so schön.

Zum Beispiel könnt ich mir die Walpurgisnacht auf dem Brocken mit den Hexen ganz gut vorstellen. Wenn Mephisto mir so einen glücklichen Moment anbieten würde, dann ... Ich glaub, ich würd nicht nein sagen zu diesem Pakt mit dem Teufel. Etwas mir schaudert wieder in mir vor Angst, vor Neugier.

Es ist fast wie bei der sogenannten Gretchenfrage: „Nun sag`, wie hast du`s mit der Religion?“ Da es bei mir aber weniger um Gott, als vielmehr um Luzifer zu gehen scheint, ist es wohl eher eine Anti-Religion. Aber irgendwie sind die beiden ja auch unlösbar miteinander verbunden wie die beiden Seiten einer Medaille? Ist das nicht dadurch auch schon wieder eine Religion?

Mein Kopf brummt von dem ganzen philosophischen Zeug, aber auf eine gute Art. Das dringende Bedürfnis mich mit Jan über diese ganzen Erkenntnisse und Gedanken auszutauschen, ignoriere ich geflissentlich. Arschloch. Von wegen Pakt. Wir beide wollten die ärzte, haben deswegen sogar `ne andere Band aufgelöst und dann ... Na, ich hätt es mir denken können. Der  junge, braungebrannte Jan damals war ja schon fast ein Omen. Wer fährt denn schon mit sechzehn für mehrere Wochen einfach ins Ausland?

Auf der anderen Seite seh ich mich aber auch irgendwie in der Rolle des Mephisto. Wie oft hab ich versucht, den lieben Jan nach unserem Zusammenstoß im Ballhaus Spandau zu verführen? Es war wie eine Art Hobby für mich. Alkohol? Keine Chance. Und ich hab es wirklich versucht. Zigaretten? Das hab ich schneller aufgegeben. Er findet sie einfach nur widerwärtig. Feiern bis ins Morgengrauen? Bingo. Das hat sogar manchmal geklappt. Ein paar von unseren Abenteuern fallen mir wieder ein. Manchmal kann Jan echt genauso doof-witzig sein wie die echten Betrunkenen. Ich muss grinsen, mag es verdammt gerne, wenn er so ist, sich so gehen lässt. Dann fällt mir wieder ein, was der Auslöser für seine London-Flucht war ...

Ich klapp den Faust zu und steck ihn wieder in das Regal, von dem er mir in die Hand gesprungen ist. Mehr Zeichen des Schicksals brauch ich ja wohl echt nicht mehr. Ich muss diesen Typen finden.


16. August – Niebuhrstr. 38 b, Charlottenburg

„Sach ma, wat hörst`n du da eigentlich?“ Aus Jans ... Eddies Zimmer scheppert es wild und doch melodisch. Es fasziniert mich fast so wie Punk, damals als ich 14 war, dabei hat mir Punk am Anfang ernsthaft Angst gemacht. Zum ersten Mal hatt ich sowas wie Ehrfurcht davor, was Musik auch sein kann – nämlich nicht nur Melodie, sondern Monster. Die Dynamik, die Gitarren, der Gesang, der oft mehr Schreien war.

„Das ist Metal.“

„Hört sich ungewöhnlich an für Metal.“

„Das sind Black Sabbath. Kennst du die nicht?“

„Doch schon mal gehört.“

Eddie nickt, aber ich kann auch das versteckte Augenrollen sehen.

„Cool. Hört sich jut an. Mann, ick vermiss dit echt auf meinen Drums rumzukloppen.“

„Das kannst du doch auch so machen.“

„Och, nee. Alleen üben, dit is total unsexy. Wenn ick spiel, dann will ick och die Energie von meenen Jungs. Oder Mädchen....“ Mhmmm. Irgendwie hab ick noch nie mit Frauen in `ner Band gespielt. Eigentlich och schade. Der Gedanke ist, als würde mein Gehirn die Denkrichtung wechseln. Es tut krass gut. Ich kann auch in einer anderen Band spielen. Genau! „Hey, Eddie, sach ma, kennste vielleicht `ne Band die `n Drummer sucht? Mir ist einfach viel zu langweilig, seitdem Jan weg ist. Keene Bandproben mehr ...“

„Kommt drauf an. Ich kenn da so ein paar Engländer, die suchen gerade eine Vertretung für ihren Drummer, weil der in London bei seiner Familie sein muss. „Soldiers of Fortune“. Aber die machen keinen Punk, sondern eher so Gothic-Zeug. Könnte dir gefallen.“

„Okay. Fortune ist doch jut, wa?“ Es ist fast auch egal, wie die sind. Hauptsache nicht mehr nur die Wände anstarren, warten bis es Abend ist, alleine weggehen, saufen, schlafen - und dann das Ganze wieder von vorne.



19. August – Manteuffelstraße, Kreuzberg

Die Probesession mit den „Soldiers of Fortune“ läuft echt gut. Mal was anderes. Ich muss mich an die andere Art von Musik gewöhnen, aber ich find ihre Songs echt gut. Es ist einfach geil, mal was anderes zu spielen, als bei den Ärzten und den Suurbiers.

Alles, was neu ist, find ich grad gut. Nich denken an das, was wahrscheinlich vorbei ist und nich wieder kommt. Und es ist cool mal nicht mit den üblichen Verdächtigen in Berlin abzuhängen, sondern mit ein paar Engländern.

„Hey, are you up for a drink later?“ Ingmar und Roger sind Brüder, aber Ingmar ist ganz klar der inoffizielle Macher der Band.

„Sure.“

Wir stürzen in einer typischen Berliner-Eckkneipe in Kreuzberg ab. Keine Ahnung, warum die Jungs da so drauf stehen, aber man kennt sie hier, die Timmons-Brüder. Die Stammgäste, vor allem die Älteren erinnern mich ungut an meinen Vater und seine Kumpels, deswegen lass ich das Bier noch ein wenig lockerer laufen an diesem Abend.


20. August – Rote Insel, Schöneberg

„Ick weeß nich.“ Jörg sieht mich nachdenklich von der Seite an. „Also, ick find Horror echt jut und so, aber ick gloob nich wirklich, dass da nach`m Tod noch was kommt, vor allem nich so wat. Nachdem meine Mutter gestorben is, hab ick echt viel drüber nachjedacht, aber ... Ick befürchte, dit war`s dann eenfach. Is doch och okay.“

„Weiß nich. Dit is doch total langweilig. Dann is die Party ja nach dem Leben schon vorbei. Wär doch echt schade.“ In der Variante kommt mir der Tod nur noch trostlos vor. Grau und leer statt geheimnisvoll und mysteriös. Mit der Sichtweise ist ein Schädel auf einmal nur noch eine Ansammlung unbelebter Atome. Aber so ein Leben muss doch Spuren hinterlassen haben. Da kann, da darf nicht einfach nur ... Nichts sein danach.

„Mhmmm, also ...“ Jörg geht zögernd zu seinem Schrank und holt etwas heraus. „Wenn dich dit wirklich so brennend interessiert mit dem Thema Himmel und Hölle, dann ... Ick hab mir dit ma nur so zum Spaß gekooft und für Recherche.“ Er hält mir ein schwarzes Buch hin. „Satanische Bibel“ steht auf dem Einband.

Langam, fast ein wenig ängstlich, greif ich nach dem Buch. „Was ist das?“ Es schüchtert mich ein, elektrisiert mich ähnlich wie der erste Punksong. Als würde man in einen Abgrund gucken.

„Dit is irgendwie von so `ner „Church of Satan“. Hat wohl so `n Typ in den Sechzigern erfunden. Dit hörte sich janz spannend an. Deswegen hab ick`s in `nem Antiquariat mitjenommen.“ Jörg nimmt mir das Buch – die Bibel – nochmal aus der Hand und blättert sie auf, gibt sie mir zurück. „Dit sin wohl die neun satanischen Grundsätze.“

Ich überflieg sie mit einem fiebrigen Gefühl im Herzen. Ein paar der Grundsätze bringen in mir etwas zum Klingen.

Satan bedeutet alle sogenannten Sünden, denn sie alle führen zu physischer, geistiger und emotionaler Erfüllung.

Satan bedeutet Sinnesfreude anstatt Abstinenz.


Jan könnte da wohl nich mitmachen, aber ich mag Sünden. Nur die Konsequenzen sind echt scheiße. „Na, dit hört sich doch jut an.“ Ich versuch zu scherzen, aber auch in meinen Ohren klingt es leicht hohl und - ein wenig zittrig?

„Satan bedeutet Verantwortung für die Verantwortungsbewussten anstatt Fürsorge für psychische Vampire“, lese ich weiter. Ich stutze. „Vampire?“

„Dit jefällt dir nu wieder, wa?“ Jörg grinst mich an und die seltsame Atmosphäre hebt sich ein wenig.

Ich leg das Buch auf seinen vollgestellten Schreibtisch. Zwischen all den kleinen Figuren und Filmequipment scheint es mich an zu strahlen – schwarz.

Jörg sieht mich fast ein wenig prüfend an. „Dit is doch och allet nur uffjeschriebener Quatsch, Bela. So wie die Bibel och. Aber faszinierend is et schon. Et jibt noch vier weitere Bücher: Satan für Feuer, Leviathan für Wasser, Luzifer für Luft und Belial für Erde.“

„Be-Belial?“

„Dit hab ich mir och noch angekiekt, denn da waren so Beschreibungen für Rituale drin. Eigentlich janz spannend, aber dann hat ick nich jenuch Geld dabei. Nun ja, is ja och nich so wichtig, oder?“

Doch, dröhnt es durch mich. Aber so sehr mich das Ganze interessiert, gerade bin ich auch überfordert.

Wir ziehen uns noch einen Vampir-Splatterfilm rein. Er ist totaler Quatsch und Jörg und ich lachen so amüsiert und befreit wie früher, als wir noch 16-jährige Dekorateurslehrlinge waren und so ein Film für uns echt noch was Besonderes war. Aber der Gedanke, dass es vielleicht doch wirklich Vampire gibt und ... auch noch andere dunkle Sachen lässt mich nicht los. Da ist so eine Sehnsucht nach ...  

 


*



Deswegen zieh ich nach dem Film noch ein paar Straßen weiter zu Manu. Es ist gut mit ihr, anders gut als mit Gudrun - und vor allem Jan, aber ... Ich will ihr es nicht zeigen, aber die Session mit ihr war nicht mehr ganz so befriedigend, wie am Anfang. Es liegt nicht wirklich an ihr, denn irgendwie ist grad bei allem so `n bisschen die Luft raus.

Sie scheint es zu spüren und das tut mir leid. Schnell lenk ich sie ab. „Sach ma, dit Pentagramm über deinem Bett ...?“ Ich seh sie interessiert an.

„Ach ...“ Sie winkt ab. „Ich sollte das echt mal übermalen. Also, es hat mich mal sehr fasziniert so vor ein, zwei Jahren, aber das war eine Phase. Es ist ja doch alles nur Hokuspokus und Glaube, fast schon wie eine eigene Religion.“

Aufmerksam seh ich sie an. Ist sie mein Schlüssel, um das Tor zu den dunklen Seiten der Welt aufzustoßen. „Was ... was hast`n damals so gemacht?“

„Ach ...“ Sie errötet fast ein wenig und irgendwie ist das süß und macht sie ein wenig menschlicher, denn ich hab sie auf einen ziemlich hohen Thron gehoben, meine Meisterin.

„Ich dachte damals, dass ich mich vielleicht als ... Hexe nützlich machen könnte und hab so Schutz- und Schadenszauber gelernt.“

„Und?“ Ich halt den Atem an. „Hab`n die funktioniert?“

„Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Keine Ahnung. Wenn man glauben will, dann sieht man ja in allem Zeichen.“

„Kannst du ... kannst du mir auch so `nen Schutzzauber machen?“

Sie sieht mich aufmerksam an. „Für was willst du den denn?“

„So was gegen ... gebrochenes Herz wär ganz schön.“

Sie fährt mir durch die Haare. „Och, du armer schwarzer Kater. Wer soll dir denn das Herz brechen?“

Eh schon zu spät, denk ich ein wenig grimmig. „Ein ... ein sehr, sehr guter ... Freund von mir.“

„Bist du deswegen so traurig die letzten Wochen?“

„Oh. Dit haste gemerkt?“

„Naja, ansonsten bist du ja immer so ein kleines Energiebündel.“ Sie lächelt mich an. „Aber in letzter Zeit wirkst du meistens ziemlich ernst und ... zurückgezogen.“

„Mhm. ... Ick hab viel nachgedacht über ... die Vergangenheit und so. Also, hast du so `n Anti-Liebeskummer-Trank?“

Sie lacht. „Das war nichts zum Trinken, sondern es geht eher um so Räucherwerk und tatsächlich auch Zaubersprüche. Aber Sandelholz, Iriswurzel und so ein paar andere Sachen hab ich nicht mehr im Haus.“

Ich kenn echt viele Leute, aber irgendwie kann mir grad keine*r wirklich das geben, was ich bräuchte.


 


*
*




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Belas Zimmer - Bild



LYRICS

die ärzte – Alleine in der Nacht

Malaria – Passion

die ärzte – Ist das alles?

Malaria – Einsam

Black Sabbath - The Dark



ADDITIONAL SONGS

die ärzte - Alleine in der Nacht, live

John Peel Session – Malaria, 1981

die ärzte – Ist das alles?

 


BANDS & PERSONALITIES


GUDRUN GUT

Wikipedia
Mit Bettina Köster zusammen betrieb sie ab 1978 den Laden Eisengrau in der Goltzstrasse in Berlin-Schöneberg. Dort wurden in Berlin produzierte Kleidung, Tapes, Fanzines u. a. verkauft. Den Laden führte sie später mit Blixa Bargeld weiter.
Gudrun Gut, N. U. Unruh und Beate Bartel waren neben Blixa Bargeld Gründungsmitglieder der „Einstürzenden Neubauten“.
In Women in Rock, einem Dokumentarfilm von 1980, sind Mania D mit zwei Stücken vertreten, 1995 wurde diese Dokumentation neu publiziert.

Spiegel - Bild

Vogue - Über Feminismus im Musikgeschäft
Ich war lange in dieser Grufti-Bewegung unterwegs, in der vieles verkleistert und romantisiert wurde, aber irgendwann hat mir das gereicht. Man durfte nichts richtig beim Namen nennen. Heute ist mir das ganze verspielte Zeug zu viel. Ich habe immer noch meine exzentrischen Klamotten von damals im Schrank, aber mir ist die Romantik abhanden gekommen, nicht nur in der Mode. Jetzt ist mir Realismus lieber. Ich mag es strenger. Ich habe auch gemerkt, dass ich mich nicht mehr so stark über meinen Stil definiere wie früher. Ich habe vieles abgelegt, weil ich festgestellt habe, dass ich es nicht mehr brauche. Für Rüschen gibt es in meinem Leben heute keinen Platz mehr.“

Vice - Sie haben uns schlichtweg nicht verstanden, weil wir keinem Klischee entsprachen
Wie hat das damalige Berlin den Sound von Mania D und Malaria! geprägt?
Die Frage ist: Was prägt Musik? Ist es die Stadt oder der Künstler oder doch die Zeit. Das ist schwierig zu definieren. Mania D war sehr frei, teilweise waren es nur Texte, losgelöste Stücke und viele atmosphärische Backingtracks. Malaria! war auch keinesfalls konzeptionell, die Songs waren aber strukturierter. Was den Sound geprägt hat, kann man nicht wirklich in Worte fassen.

10 Schlagwörter, die Sie mit ihrer Jugend in Berlin verbinden?
Außenklo, Punk, Ausgehen, Freunde, Revolution, Musik, schlaflose Nächte, Kunst, Straßenkampf, Kommunen.


MALARIA!

Electronicbeats - On Mania D
Kaput-Mag - Everything came easily, we never put an effort into getting any deals
Bild


EISENGRAU


BLIXA BARGELD


JOHN PEEL

Wiki - German Artists in the John Peel Sessions


SOLDIERS OF FORTUNE

Discogs - Waiting for World War III
Artists


JÖRG BUTTGEREIT

Prawda 06 - Interview ab S. 58



(SUB-)KULTUREN

Doku - Women in Rock, UK - featuring live performances from  Siouxsie & The Banshees , The Slits and Girlschool


SATANISMUS

Wikipedia - Satanische Bibel




BÜCHER

Johann Wolfgang von Goethe - Faust I



INSTAGRAM-ART zu Faust

Rey aka gkrtzl
#däfaust
Video mit DTH Soundtrack - Teufel

Wolfgang aka wolfdragon_tv
Verweile doch du bist so schön.


*

Chapter 33: 1983 - Skin

Chapter Text

*




Ta-DÄÄÄÄÄ!!!

TiL spotify playlist by Anno



Dank Anno, relative.rockbar auf Instagram, gibt es nicht nur tolle Bilder zu TiL, sondern nun auch eine Spotify-Playlist für „Teenagers in Love“ mit allen Liedern, die auf Spotify auffindbar waren bzw. passenden Alternativen. Ein paar wenige fehlen. Siehe im Anhang unten.
Vielen, vielen Dank für deine Arbeit, Anno!!! Ich bin so dermaßen glücklich über diese fantastische Zusammenstellung und ich hoffe, ihr habt auch Spaß daran.


Vorwort

Dieses Kapitel ist kürzer als die Meisten, weil ich mich auf Grund von akuter Müdigkeit durch konstantes Reisen dazu entschieden habe, es zu halbieren. Belas Part wird ins nächste Kapitel verschoben, was ein wenig schade ist, weil mir eigentlich die parallelen Erfahrungen der Beiden wichtig waren, aber ... ansonsten geht es hier nie weiter.

Es ist schon viel zu lange her ...




 

* Teenagers in Love *




Content announcements:
* Viele Dialoge in englisch.
* Rassistische Sprache!
* Bondage – nicht übermäßig explizit
* Einige Timelines passen mal wieder nicht.



1983 - Skin




10. August – Marquee - 90 Wardour Street, Soho

Am Samstag Abend gehe ich mit Claire und John zu einem Konzert von Sham 69. Die will ich schon seit Jahren sehen und so habe ich die Woche über für das Konzertticket gespart. Es war mal wieder so eine, die einfach nur ereignislos an mir vorbeigeflogen ist, so wie jede der vier Wochen davor. Nur Arbeit, Arbeit, Arbeit.

Die Schichten sind hier in London auch keine acht, sondern zehn Stunden lang. Ich könnte echt kotzen, nicht nur wegen des ständigen schmierigen Essensgeruchs, der nun ständig an mir hängt, sondern vor allem wegen des mickrigen Gehalts. Und John fehlt mir ...

Als ich durch die Eingangstür ins Marquee trete, fühlt es sich an, als würde ich von working Max morphen zu Jan. Oder Farin. Livekonzerte, Bands, Musik ...  

Schon vor Konzertbeginn ist die Atmosphäre aufgeladen, steckt mich an. Die Leute stehen so eng, dass bei jedem Pogoversuch alle – freiwillig oder unfreiwillig – mitmachen müssen. Mehrfach bekomme ich einen Arm und Ellbogen in den Bauch. Ein weiterer Nachteil, wenn man so groß ist. Neben mir steht John und seine große Gestalt ist ein gutes Schild, vor zu viel schmerzhaftem Körperkontakt. Ihm scheint es nichts auszumachen. Kommt selten vor, dass ich mich so beschützt fühle.

Auf einmal geht von der Tür ausgehend ein Raunen durch die Menge. „Skins“ höre ich immer wieder und „Boneheads“. Ich sehe mich im Raum um. Klar. Außer John und Claire sind noch mindestens zwanzig weitere Skins hier.

John brüllt über die Musik etwas zu einem anderen Skin, dessen Antwort ich ebenfalls nicht verstehe. Auf einmal packt er mich am Arm. „It`s better, we go now.“ So ernst wie er mich ansieht, frage ich nicht weiter nach. Er wirft sich seine Jacke über, nimmt Claire an der Hand und drückt sich zum Ausgang durch, zieht uns hinterher.

„How many?“, fragt John den Bouncer an der Tür.

„Only four so far.“

„Okay.“ John zieht die Schultern hoch, als wollte er sich wappnen.

Als wir vor die Tür treten, stehen wir schlagartig in lautem Gebrüll. Eine Gruppe von Skins schreit auf eine andere Gruppe Skins ein. An einer der beiden ist irgendwas falsch. Ein Typ hat sich den Union Jack wie ein Superman-Cape umgehängt. Darauf prangt ein schwarzes NF, das aussieht, als hätte es ein Kleinkind draufgemalt. „What are they?“, frage ich Claire nervös.

„National Front“, sagt sie schnell und wendet sich wieder John zu. Hört sich nicht gut an. Gar nicht gut.

„Bloody hell!“ Johns Körperhaltung ist auf einmal nicht mehr nur nervös angespannt.

Ich lese „White Power!“ auf einer Art Banner. Nun kann ich Johns Unruhe echt verstehen.

„These spineless fucks.“ John macht einen Schritt auf die National Front Skins zu. „Who do they think they are?“, zischt er. „Real skins would never become such racist scum.“

Claire legt vorsichtig ihre Hand auf Johns Arm, mustert die Gruppe aufmerksam. Es sind vier Typen und eine Frau – äußerlich kaum zu unterscheiden von den anderen Skins, die das Konzert besuchen. Nur ihr Gesichtsausdruck macht klar, was für eine menschenverachtende Ideologie in ihren Köpfen wuchert.

In Berlin wäre das hier eine brandgefährliche Situation. Bilder vom Überfall auf das KZ 36 in Kreuzberg strömen brutal durch meinen Kopf, durch meine Venen. Das war damals noch mit Soilent Grün.

Eine junge Frau mit einem Renee-Cut ist unter den vier Leuten. Unsere Blicke kreuzen sich kurz. Irgendwie sieht sie traurig aus. Seltsam.

Der Macker neben ihr ist dagegen wie ein angestachelter Pitbull. Schlagartig macht sich nun auch in mir Panik breit. „Are they gonna beat us up?“

„I don´t think, they dare to even try, since they are just four.“ Johns Gesicht entspannt sich ein wenig, als er mich ansieht, aber seine Augen verlassen keine Sekunde die Gruppe und das Geschehen vor uns. „But you never know. Mostly this is propaganda for their racist agenda, but ... they are really not appreciative of Black skinheads.“

„Maybe we should leave.“ Ich sehe hilfesuchend zu Claire, die nickt, aber John wirkt nicht so, als würde er freiwillig den Nazi-Skins das Feld überlassen.

Sie beginnen etwas zu grölen, dass ich als „If the Kids are united“ erkenne. Bisher habe ich John als sehr relaxten Typen kennengelernt, aber jetzt blitzt es in seinen Augen. „That they dare to sing that song.“

Einer der Faschos öffnet seine Jacke und zeigt uns sein T-Shirt, auf dem steht: „Young national front“ mit dem Union Jack. An seinem Oberarm kann ich ein Hakenkreuz-Tattoo ausmachen und mir läuft es kalt den Rücken runter. Auch Punks haben immer wieder mit diesem historischen Symbol schockiert, manche Nazi-Punks vielleicht sogar kokettiert, aber das hier ist etwas anderes. Etwas ganz anderes ... Aggressivität scheint wie ihre Tattoos in diese Typen eingraviert zu sein.

„Why are they in front of the conc...?“ Ich kann meine Frage nicht beenden, denn der Typ mit der Flagge schwingt diese auf einmal in Johns Richtung, trifft ihn damit fast am Kopf. „We don`t want you, N***! Go back to ...“

John will sich auf den Angreifer stürzen, aber Claire hält ihn mit aller Kraft zurück. Alles scheint in Zeitlupe zu passieren. Das NF-Arschloch droht John weiterhin mit der Stange, brüllt rassistische Scheiße zu uns herüber. Seine hohlen Freunde fallen mit ein, aber mehr scheinen sie sich nicht zu trauen angesichts von Johns Größe.

John zieht Claire, die seiner Stärke und Wut nicht wirklich etwas entgegensetzen kann mit ihrer zierlichen Statur, ein Stück hinter sich her. Auf einmal bleibt er abrupt stehen, dreht sich zu ihr um. Ein Blitz aus Sorge durchzieht mich, als er den Faschos den Rücken zu dreht und ich schnelle an seine Seite, behalte die Nazi-Skins im Blick.

„You traitor! Fucking White Trash“, kotzt mir die Frau vor die Füße. Ich check erst mit Verspätung, was sie meint.

Auf einmal rennen behelmte Bobbies von der Seite auf uns zu. Ich war noch nie so froh, die Bullen zu sehen – bis zu dem Moment, in dem sie ihre Schlagstöcke zücken und auf John und mich zu stürmen. Die Nazis scheinen für sie nicht zu existieren.

„Hey!“, brülle ich den ersten Bobby an. Im nächsten Moment wird mir klar, dass das eine absolut blöde Idee war, denn nun habe ich die volle Aufmerksamkeit eines Cops mit gezogenem Schlagstock auf mir.

„Run!“ John packt mich an der Schulter, ich stolper, fang mich wieder und dann lauf ich so schnell, wie ich noch nie in meinem Leben gelaufen bin und gefühlt um mein Leben. Claire! Ich drehe mich um, sehe rot neben mir. Sie ist da.

Nach fünf Querstraßen renne ich fast vor eines der großen schwarzen Taxis. Bremsen quietschen, Hupen. Wieder rettet mich John. Ich kann nicht mehr. Meine Seite sticht, als würde ich mit Lanzen traktiert. Erst jetzt sehe ich, dass Blut aus Johns Nase auf sein weißes T-Shirt strömt.

„Okay! Stop!“, keucht Claire und zieht uns in einen Hauseingang. „I think, we got rid of them. Let me see, darling.“ Vorsichtig inspiziert sie Johns Nase. „Do you think it´s broken?“

„No, I believe not.“ Johns Stimme klingt sehr kehlig. Er hat den Kopf in den Nacken gelegt, um die Blutung zu stoppen.

„How dare them! They are fucking unbelievable!“ Ich habe Claire noch nie so wütend gesehen. Anscheinend John auch nicht, denn er schreckt aus seiner Schonhaltung, wodurch einige dicke Blutstropfen auf den Asphalt fallen. Er legt ihr entschuldigend die Hand auf den Arm. „Sorry, love! I should have not ... We should have just left, as you suggested.“

„It`s not that.“ Claire sieht ihn voller Mitgefühl an. „There is absolutely nothing that you would have to apologize for, John. Who did that?“ Sie deutet auf seine Nase.

„Does it even matter?“ Er klingt so resigniert, dass es schmerzt. Auch Claires wütende Miene fällt in sich zusammen.

„It was the pigs.“ John sagt es ganz leise und Claire zieht ihn in ihre Arme.

In der U-Bahn starren viele Leute auffällig unauffällig den blutverschmierten John an. Ich kann förmlich sehen, wie sich in ihren Köpfen eine Geschichte formt. In ihr ist John nicht das Opfer.

„We have to be a bit careful tonight, when we go back home“, sagt John. Seine Stimme klingt nasal, da sie durch das getrocknete Blut verstopft ist. Immerhin schwillt sie nicht an, ist also wohl wirklich nicht gebrochen.

„More careful?“ Was soll denn nach den Nazi-Skins und prügelnden Bullen noch passieren? Ich habe mal wieder keine Ahnung, was John meint. Claire scheint es zu bemerken.  „Tonight is the two year memorial of the Brixton riots.“

Als wir in an der Metrostation Brixton aussteigen, spüre ich sofort, was sie gemeint haben. Etwas liegt in der Luft. Vor den Läden stehen kleine Grüppchen zusammen, mehr als sonst. Einige schweigen, andere diskutieren aufgeregt miteinander. „If they come back tonight ...“, höre ich im vorbei gehen.

Als John die Wohnungstür hinter uns schließt, atmet er hörbar durch, zumindest versucht er es. Es wird eher ein Röcheln. Er verschwindet im kleinen Bad. Ich stehe unschlüssig im Flur herum, setze mich dann ins Wohnzimmer. Claire kommt mit einer Flasche Rotwein und drei Gläsern herein und setzt sich zu mir auf die Couch.

„I ... I don`t drink.“ Ich zeige auf die Flasche.

„Oh, sorry, honey.“ Sie legt mir ihre Hand auf den Arm. Der Kosename läuft warm durch mich. „I should know by now, right?“

John sieht gewaschen und in frischen Klamotten fast so aus, als wäre gar nichts passiert. Er lächelt, aber es wirkt eher tapfer als echt. In seinen Augen, da ist etwas, dass verletzter wirkt als sein Körper. Er legt eine Platte auf. Schon die ersten Takte verraten mir, womit wir es zu tun haben. Zum ersten Mal höre ich den Clash-Song mit anderen, sensibleren Ohren für den Text.

Claire und John trinken schweigend ein Glas Wein, während John weitere Platten auflegt: The Specials und The Selecter. Ihr „Too much pressure“ passt zu diesem krassen Abend wie ein Soundtrack, wie die Faust auf`s Auge. Bei Peter Tosh rutsche ich immer tiefer ins Sofa und ...


Normalerweise schlafe ich recht gut, wenn ich weiß, dass alles um mich herum sicher ist, doch heute Nacht erwache ich von lautem Gebrüll unten auf der Straße. Sirenengeheul. Verschlafen setze ich mich auf. Ich bin nun allein im Wohnzimmer. Blaulicht flackert für einen Moment durch den kleinen Raum, dann ist wieder alles ruhig. Ich richte mir mit ein paar geübten Handgriffen mein Nachtlager her, schlüpfe in meinen Schlafsack, zieh mir das Ende übers Gesicht, falls noch mehr Blaulicht die Nacht erhellen sollte.

Aber natürlich – Murphy`s Law – zuerst kann ich nicht wieder einschlafen, dann muss ich pinkeln. Genervt setze ich mich auf, schäle mich aus meinem Schlafsack.

Johns und Claires Schlafzimmer hat keine Tür, wird nur durch einen Vorhang vom Flur getrennt, dahinter gedimmtes Licht und leises, aber bestimmtes Geflüster. „Relax, Darling!“, höre ich Claire.

Ich will nicht gucken, aber der Vorhang schließt nicht ganz. Was ich sehe, lässt mich innehalten. John kniet fast nackt vor dem Bett. Claire ist im Gegensatz zu ihm voll angezogen, trägt noch immer ihr Weggeh-Outfit. Über Johns Körper ziehen sich weiße Striche. Ich sehe genauer hin. Seile auf nackter Haut. Claire führt einen weiteren Strick über Johns glatten, nackten Brustkorb und macht einen Knoten. Es sieht kunstvoll aus, ästhetisch.

Hitze steigt in mir auf. Mein Körper scheint vor meinem Hirn zu verstehen, was dort passiert. Ich kenne diese Bilder nur in Schwarz-weiß von den Gwendoline-Comics. Real ist es noch tausendmal aufregender. Vor allem habe ich noch nie einen Mann so gebunden gesehen. Warum habe ich bisher nicht an diese Möglichkeit gedacht? Ein elektrischer Funke jagt durch jede Synapse in meine Körper, entfacht ein wildes Feuer in mir.

John hat die Augen geschlossen. Er wirkt wie in Trance. Claire ist vertieft in das Fesseln. Die beiden wirken wie ein sehr vertrautes und eingespieltes Team. Ihre Ruhe, die Konzentration, das Miteinander.

Sehnsucht steigt in mir hoch, so schön sieht es aus. Ein undefinierbarer Laut von mir schreckt sie aus ihrem Tun. Wie lange stehe ich schon hier? Die Zeit scheint anders zu vergehen seit meiner Entdeckung. Ich sollte wegsehen, mich abwenden – jetzt sofort – aber ... Ich kann mich nicht von der Szene vor mir lösen, bin wie hypnotisiert.

Claires und meine Blicke treffen sich, sie hält kurz inne, so dass auch John aufsieht, mich erspäht. Vermutlich sollte ich peinlich berührt sein, aber - ich bin es nicht. Und John und Claire anscheinend auch nicht. Seine Augen glänzen und etwas in mir will – ich weiß nicht was, aber ...

Zwischen den beiden wandert ein Blick hin und her. Kurz flüstert Claire John etwas ins Ohr und dieser nickt. Schließlich kommt sie zu mir, schiebt den Vorhang zwischen uns ganz zur Seite. Nun schrecke ich doch ein Stück zurück, als wäre ich aus einer Trance erwacht.

„Sorry, Max. We didn`t wanted to wake you up.“

„No, no. It was the sirene of the cops and ... I´m sorry. I didn`t wanted to intrude on you two. I just needed to go ...“ Ich zeige zum Bad.

Claire hebt beschwichtigend die Hand. „It`s okay. I mean, if that`s okay with you.“ Sie sieht mich ein wenig besorgt an, dann lächelt sie. „How long have you been standing there?“

Gute Frage. Lange. „For a bit. I know, I shouldn`t have, but ...“ Ich beiße mir auf die Lippen.

Sie mustert mich und da ich nur in Boxershorts vor ihr stehe, entgeht ihr wohl auch nicht, dass ... Schnell wende ich mich ab. „Sorry, I will just ... And then I`ll go back ...“ Ich deute zum Wohnzimmer.

„It is really okay, Max! ... Ehm, maybe this is an awkward question, but ... John and I were wondering, if you want to play with us?“ Ihre Stimme ist sanft und einladend.

„I... I have ... never...“

„Okay. But - would you like to?“ Claires Augen liegen so angenehm auf mir.

John blickt zu mir auf. Trotz seiner Position sieht er so entspannt aus, wie ich ihn noch nie gesehen habe. Es strahlt von ihm aus, in mich. Der letzte Rest Nervosität fällt von mir ab, weicht einer fiebrigen Neugier. Er lächelt zu mir hoch und es steckt mich an, als wären wir Verbündete. Es knistert ein wenig, aber vor allem hat es etwas Sphärisches, als schwebten wir drei in einem warm leuchtenden Kreis, geschützt außerhalb von Zeit und Raum.

Claire lächelt mich an. „You can also just watch and see, if and what you might like.“ Ohne weiter darüber nachzudenken schiebe ich mich hinter ihr in das kleine Schlafzimmer.

Alles ist wie ein Traum – intensiv und doch leicht unscharf an den Rändern, obwohl meine Sinne hochkonzentriert und übersensibel sind.

„There are ... options“, sagt Claire freundlich und legt mir behutsam ihre Hand auf den Arm. Die ganze Atmosphäre ist so warm und ich lasse mich einfach in sie fallen.
„Do you wanna learn, how to bind someone?“ Claire hält mir mit einem fragenden Blick das Seil hin.

Ich finde keine Antwort darauf, obwohl alles in mir Ja sagen will.

„Or do you wanna try, see how it feels to be bound?“Sie betrachtet mich interessiert. „I have a feeling, that you actually might like both.“

Ich habe keine verbale Erklärung dafür, warum ich nicke, aber etwas in mir rastet bei ihren Worten ein.

Ein leises Lächeln von Claire, als könnte sie in mir lesen. Sie scheint besser zu verstehen, was mit mir los ist, als ich selbst gerade. „Good.“ Sie streicht mir mit dem Seil über den Unterarm und ein Schauer breitet sich von der Stelle in mich aus. „You say immediately, if you don`t like something, okay?“

Ich nicke wieder. Gerade will ich alles, will die Verbindung, will ... Ich zucke zusammen vor meinen Gedanken, dem Begehren, das in mir hochkocht, den Phantasien. „But ...“ Ich sehe zu John, der mir einfach nur zu nickt.

„It`s really okay, Max ... Jan.“ Etwas in mir löst sich, als er meinen Namen sagt. Mir ist fast ein bisschen zum Heulen, aber eher weil es so schön ist, so unerwartet und irgendwie – befreiend.

Claire führt das Seil über die Innenfläche meiner Hand. Ein kleiner Blitz fließt durch meine Nerven den Arm hoch, läuft weiter durch die Synapse, breitet sich von dort über meinen ganzen Körper aus. „Should I bind your hands? Just as a careful trial?“

Ich strecke meine Hände nach vorne. Sie zittern und ich will es verstecken, ziehe sie zurück.

Claire legt mir ganz leicht ihre Hand auf die Schulter. „It’s okay, darling. Don’t worry about it. We play it slow. If you feel in any way uncomfortable, then you just tell me to stop. Alright? Any time...“ Sie sieht mich ernst an, dann lächelt sie. Das Zittern in mir wandelt sich ein erregtes.

Claire hilft John vom Boden auf und als er vor mir steht, sehe ich erst die ganze Schönheit der Stricke an seinem Körper. Ein Kunstwerk. Vorsichtig strecke ich die Hand aus und John nickt. Ich fahre über einen Knoten auf seiner Brust. Ein Schaudern läuft durch ihn und kleines Stöhnen fällt von seinen Lippen. „Would you like to kiss me?“, fragt er leise. Seine dunklen Augen liegen so lockend auf mir und ich falle in das Funkeln darin. Der elektrisierende Strom ist nicht mehr nur in meinem Körper, sondern verbindet mich mit ihm.

„Yes.“ Meine Stimme ist rau.

John sieht zu Claire und sie nickt. Johns Mund erwacht zu einem strahlenden Lächeln. Ich sollte mich wundern, vielleicht sogar entsetzt sein. Aber da ist nichts ausser „awe and wonder“, darüber, dass ich Teil dieser Vertrautheit werden darf, dass ich eingeladen bin. Vorsichtig nähere ich mich ihm. Die Hitze seiner nackten Haut strahlt bis unter mein T-Shirt. Und es ist mir im Weg, denn ich will ihn noch näher. Ich streife das T-Shirt über meinen Kopf und Johns Lächeln strahlt noch mehr, sein Blick gleitet anerkennend über mich.

Ich atme ein, als würde ich von einer Klippe springen, dann spüre ich seine Lippen. Weich und voll. So anders als Belas, anders als Bines – und anders als bei Nigel, will ich es, will ich, was John mit mir macht. Ein paar Bartstoppeln kratzen an meinen Lippen und ich keuche auf.

Eine leichte Berührung von Claire an meiner nackten Schulter und auch diese flirrt durch mich. „Are you still comfortable?“ Ich kann nur nicken, vollkommen gefangen im Moment. Claire steht hinter mir, ganz nah und nun verbinden mich diese Schwingungen durch die Seile, durch die Atmosphäre, auch mit ihr.

Ihre Hand gleitet an meinem Rücken hinunter und sie nimmt behutsam meine Hände, führt sie übereinander. Etwas Weiches, dass sich straff um meine Handgelenke spannt. Pulsierende Wellen schlagen von der Stelle durch mich. Ist es das, was Bela mit seinen Drogen fühlt? Der Gedanke erschreckt mich einen Moment so, dass John von mir ablässt.

„You`re okay?“ Er sieht mich viel zu prüfend an. Gleichzeitig tut seine Aufmerksamkeit gut.

„Ja. Yes, I`m more than okay. I just ...“

„It`s a lot, hm?“ John lächelt. „Do you wanna stop?“ Auch Claire hinter mir hält nun inne.

„No, it`s ... beautiful.“ Ich höre Claire leise lachen und Johns Lächeln ist so warm. „Good.“ Seine Lippen wandern zu meinem Hals. Ich beiße mir auf die Lippen, um das Stöhnen, das mit aller Gewalt in mir hoch wallt zu unterdrücken. In mir tobt ein wild, stilles Synapsenfeuer, dass wahrscheinlich irgendwas mit Dopamin und Endorphinen zu tun hat, aber ich will es gerade gar nicht so genau wissen, sondern einfach nur ... „This is ... I have never felt so ...“

„It`s magic, isn´t it?“ Ich höre das Lächeln in Claires Stimme. „Go ahead. Follow your ideas. Your desires.“

Und das tue ich. Mit einem Seufzen drehe ich mich zu Claire und küsse sie, dann John, lasse mich fallen in das Spiel mit ihnen, zwischen uns dreien.


Als ich wieder allein auf dem Sofa liege, bin ich immer noch wie verzaubert. Der Alltag und alle Sorgen sind weit weg. Ein Rest von Erregung bebt durch mich, aber vor allem tiefe Entspannung. Es tut so gut nach den vielen neuen Eindrücken, nach dem wuseligen Londoner Alltag sich einfach fallen zu lassen, in etwas, das anscheinend schon länger in mir darauf gewartet hat, zum richtigen Zeitpunkt die richtigen Leute zu treffen.

Es ist gut, mehr als gut, und doch bringt es mich fast so durcheinander wie damals die Erkenntnis, das und wie sehr ich Bela mag.




*
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Spotify Playlist von Anno

Es fehlen:
Beton Combo
Ätztussis
The Feelies - What goes on (12)
Georg Kranz - Trommeltanz (13)
Mutter - Die Erde wird der schönste Platz im All (14)
(ersetzt durch Cover von Chuckamucka)
PVC - Berlin by Night (15)
PVC - Wall City Rock (15)
Campingsex (15)
Die Ärzte - Halloween (22)
S.Y.P.H. - Unreif für die Zukunft (26)
Male - Die Toten Hosen ihre Party (29)

Plus spezifische Mashups von Youtube, die durch die regulären Versionen der Songs ersetzt sind



LYRICS

Sham 69 – If the Kids are united
The Clash – Guns of Brixton

Wikipedia – Guns of Brixton


ADDITIONAL SONGS

The Clash - This Is England (Alternate Version
Sham 69 – If the kids are united - Live  
The Specials – A Message to you, Rudy
The Specials – Racist Friend
The Selecter – Too much pressure



FANFICTION

Lenchen – Als wir unsterblich waren – Kapitel 3 – Naziüberfall auf das Konzert im KZ 36

 


* BACKGROUND KNOWLEDGE *


BANDS

Sham 69
The Selecter


BRIXTON RIOT 1981

BBC – Uprising Trailer
From Academy Award winner Steve McQueen comes Uprising, a pioneering three-part series showing how three events intertwined in 1981 and defined race relations for a generation.



RUDE BOYS

West Indian migration to the UK soared after the Second World War, and with it came a wealth of cultural influence. With people settling largely in London, the newcomers made an incredibly valuable contribution to the rebuilding of Britain’s post-war economy through their addition to the workforce, before a series of racist laws from the 60s to the 80s slowed immigration. The introduction of Reggae, Patois and the style and swagger of the Rude Boys formed a major repository of inspiration (and appropriation) for subcultures to come, including Skinheads and Ska fans.

Black Jamaicans brought with them music such as dub, ska, rocksteady, and reggae, as well as fashion items such as striped suits, thin ties, and pork pie or Trilby hats — both of which were a part of the rude boy subculture that rose to prominence in Kingston, Jamaica, in the early 1960s. A name used to describe rebellious and violent youth frustrated with poverty and inequality throughout Jamaican shantytowns, rude boys became an integral part of the skinhead subculture.

The Guardian – Rude Boys : Jamaican subculture Photography
Museum of Youth Culture – Rude Boy
Film – The harder they come
Skinheads / Rude Boys and The Selecter (2014)


SKA

Photos of Ska girls


2TONE

Wikipedia
Video – Two Tone Britain


SKINHEADS


Video - The real skinheads : The roots of the Skinhead movement
Video – BBC Don Letts – The Story of Skinhead
Bild
Bild


ROCK AGAINST RACISM

NY Times - The Radical British
Musicians Who Fought Racism With Rock



White Power Skinheads UK

Wikipedia
Timeline Screwdriver




*

Chapter 34: 1983 - Blut

Chapter Text

*


Längeres Vorwort (schon wieder)


Mir brummt ein wenig der Schädel nach diesem Kapitel.

Erstens, weil ...

... ich bin gerade wieder sehr am „Kauen“ wegen des Real People Fiction – Dilemmas. Mich nervt es, dass ich über das Leben echter und auch noch lebender Menschen schreibe – finde aber gleichzeitig die historischen Kontexte der 80er politisch und subkulturell wahnsinnig spannend und kann mir momentan nicht vorstellen über etwas anderes zu schreiben.

Dennoch ...

Zweitens:  das Thema „Satanismus“. Religion(en) ist einfach überhaupt nicht „my cup of tea“. Wie viele Idelogien pendelt vieles im Spektrum zwischen gut - schlecht.

Viel rund um die Rituale und Figuren ist übrigens nicht recherchiert, sondern reine Erfindung meinerseits. Ich hoffe, ich habe es für diese konkrete Geschichte einigermaßen passend dargestellt. Und ich hoffe, ich trete mit dem Kapitel und allgemein niemandem zu nahe, die*der diese Religion betreibt.

Ich schreibe Szenen gerne intensiv, so dass Leser*innen wirklich eintauchen können in die fiktiven Welten. In diesem Fall kann das unangenehm werden. Ich habe die Stellen mit (!) und (!!!) je nach gefühlter Intensität markiert.

Passt auf euch auf - und ansonsten viel Spaß mit Bela. The Windmills





* Teenagers in Love *





Achtung – Content announcement:
* Schwarze Messe mit Blutritual und die Auswirkungen auf Bela
* Schneiden



 

1983 - Blut






1. September – Manteuffelstraße, Kreuzberg


Es kickt einfach nicht mehr.

Mein Partyleben, die Nächte, die Drogen - alles ist gerade wie Alltag, wie Nachtschicht, als müsste ich zur Arbeit gehen, aber ich weiß auch einfach nicht, was ich sonst machen soll. Es kickt nicht mehr, nicht so, wie ich es gerade bräuchte, um mich wirklich abzulenken, um zu vergessen, dass die Sonne in der Niebuhrstraße untergegangen ist. Ich mache es fast automatisch, weil ich sonst nichts anderes zu tun hab.

Die Ärzte? Auf Pause geschaltet? Eingefroren? Tot? Keine Ahnung.

Im Proberaum der „Soldiers of Fortune“ sitzt eine Frau in einem schwarzen Lederoutfit, an dem gar nicht mal so viel Leder dran ist, so knapp sitzt es. Ihre Ausstrahlung hat etwas Wildes, Animalisches und lässt mich nicht mehr los.

Das Raubierhafte liegt vor allem in ihren Augen, die immer wieder zu mir blitzen. Eigentlich kann ich die Lieder inzwischen, aber ständig verspiel ich mich, weil ihr Blick auf mir liegt und mir von Dingen erzählt, die ich nicht mit Worten verstehen kann. Sie wird mich fressen und es wird mir gefallen.

Als wir zusammenpacken, kommt sie zu mir rüber. „Hi! Ich bin Kristin from Canada, aber du bist German, sagt Ingmar. So, wir könne auch sprecke deutsch. Meine Mum is aus Berlin, but sie migrated to Canada after the big Krieg.“

„O-okay. Also, ähm, hi!“ Ich halt ihr meine Hand hin, aber sie redet einfach weiter.

„Well, today, habe ich already ein Treffen in die Abend mit meine Rockabilly band.“

„Cool.“

„Oh, you bet, that we are cool. We call ourselves „The Legendary Golden Vampires“.“

„Geiler Name. Echt!“ Ihre Augen leuchten hellgrün über ihrem schwarzen Outfit, das sich wie eine zweite Haut an sie schmiegt. Jaguaraugen. Sie fixieren mich wie Beute und es macht Dinge mit mir, die sich unter meine Haut brennen, dort weiter glimmen. Das Treffen ist wie ein Unfall. A happy accident, sagt man wohl im Englischen. Etwas in mir erwacht wieder zum Leben.

„Thanks. Ich würde dich gern eine andere Mal sehen.“ Sie streicht über meine Mähne und grinst. „Wie heißt du, Mr. Beautiful Black Hair?“

„Bela.“

„Mhm. Fantastische Name, Darling. Bela Lugosi, I suppose.“

Wow. Ich kann nur nicken. Absolute Traumfrau. Und sie weiß definitiv, was sie will und anscheinend bin das ich, wenn ich das hier alles richtig deute. Ich geb ihr meine Telefonnummer und hoff, dass ich es schaff nun nicht die ganze Zeit im Flur auf ihren Anruf zu warten.

Und natürlich häng ich doch die ganze Zeit neben dem Telefon herum. Einmal geh ich schnell in den Edeka und die sexy Kassierin ist sogar da. Sie grinst mich an, fragt, ob wir uns mal wieder treffen wollen, aber ich in meinem Kopf spuckt nur die Jaguarfrau herum.

Zwei Tage später und fünf Anrufe, die nicht von ihr sind, hör ich endlich. „Hi! It`s Kristin! Is Bela da?“

Mein Herz poltert los, aber ich versuch, meine Stimme cool und tief klingen zu lassen. „Yeah. Hi! Ich bin´s. I mean, it`s me.“

„Hey. Good to hear you, Bela. Es ist bisschen spontan, aber how about we meet tonight somewhere? Are you free?“ Und ob ich free bin, freeer geht gar nicht.

„Ja.“

„Do you know „Risiko“?“

Ich nick. „Na, klar.“ Vielleicht ist Gudrun auch da. Kann nicht schaden, wenn sie mich mit Kristin sieht, oder? Auch wenn das ein irgendwie doofer Gedanke ist. Aber mein Herz ist auch noch doof angeknackst von der Affäre mit ihr, die für mich wohl `n bisschen mehr als das war.

Im Risiko ist einiges los, aber Gudrun ist natürlich nicht da. Murphy`s Law, nennt man das wohl. Egal, umso besser. Kann ich mich besser auf Kristin konzentrieren. „So, your band friend is a Regisseurin?“ Meine Stimme kiekst am Ende so uncool hoch, weil ich mir unsicher bin, ob ich das richtig verstanden habe.

„Band mate. Yeah. Li-San is doing independent films.“

„And you are looking for, ähm, Statist*innen, ja?“

Sie nickt. „Yeah. Die neue Film ist über ...“ Sie lehnt sich ganz nah zu mir und haucht mir dunkel ins Ohr „Vampires.“ Das Wort und ihre Stimme wirbeln durch mich. Sie legt eine Hand auf meine Schulter und mustert mich. „Du wärst fantastisch für eine kleine Rolle in die Film. It`s called „Bad blood for the vampire“.“

„Ähm, okay. Sure. Guter Titel.“

Sie lächelt zufrieden. „Ich schau mal, was ick – ohne nun ich sage auch schon diese berlinerische Ick wie du.“ Sie lacht. „Also, ick schau mal, was ick kann tun für dich, honey, okay?“

Am Ende bleiben wir nur eine knappe Stunde im Risiko und gehen dann zu mir in die Niebuhrstraße.

„Wow, Bela! I instinctively knew why I wanted you.“ Sie inspiziert jedes Bild in meinem Zimmer.

Ihre Finger kratzen über meinen Nacken und die Härchen dort stellen sich in einem wohligen Schauer auf. „Es ist so – wie sagt man: geil? Love the all Black. And die Skulls ...“

Der Sex mit ihr ist fucking awesome. Sie ist über mir und treibt mich unaufhaltsam auf den Höhepunkt zu, in ihrer Hand blitzt etwas.

„Can I ...?“ Sie zeigt mir eine Rasierklinge.

Ich bin schon soweit weggetreten, dass ich einfach nick. Kühles Metall, eine feine Klinge an meinem Handgelenk, das sie neben meinem Kopf fixiert hat. Ich bekomm es durch meinen Orgasmus nur nebelhaft mit, wie sie mich schneidet, aber der Schmerz jagt zusammen mit den Wellen durch mich und ich fall brutal, aber verdammt gut. Ihr Mund an der blutenden Stelle und – sie trinkt. Meine Vampirin.

Es ist nicht Liebe ... Vielmehr bin ich ihr verfallen, als würde ich ihr nun wirklich gehören.


5. September – Risiko, Schöneberg

Tatsächlich scheint Kristin ihre Film-Freundin sehr bekniet zu haben, dass ich mitspielen darf. Nach den Filmen mit Jörg bin ich nun zum ersten Mal an einem richtigen Filmset, obwohl auch hier nur auf 8mm gedreht wird. Verdammt aufregend. Und dann auch noch ein Film über einen unsterblichen Vampir – ich bin im Himmel.

Die Anfangsszene spielt im Risiko, während eines normalen Freitagabends. Scheint nich mal alle zu interessieren, warum jemand mit einer Super-8-Kamera rumläuft. Manchmal sind die Szeneleute schon echt extrem cool, man könnte fast kalt sagen.

Da sie zwei Barkeeper brauchen, ist auch Eddie mit dabei. Wir beide dürfen Blixa und Maria hinter der Theke ersetzen. Eine echte Ehre, auch wenn Blixa aussieht, als wollte er mich deswegen am Liebsten anfauchen, sein Revier verteidigen.

Vor unserer Szene schminkt uns eine Frau, die selbst aussieht wie eine amtliche Vampirin, toupiert unsere Haare nochmal nach. Eddie und ich sehen fast ein wenig wie Zwillinge aus, aber verdammt schick. Das könnt ich eigentlich auch so tragen.

Ich bin wirklich beeindruckt. Auch von Li-san, durch deren klare Regieanweisungen ich mir nicht mehr so fehl am Platze vorkomme. Ihre Erklärung für diese Anfangsszene des Films lautet, dass wir uns als  Barkeeper möglichst im Hintergrund halten sollen, damit der Hauptfokus der Zuschauer*innen auf der Frau liegt, die mit einer Art kleiner Peitsche auf der Theke vor uns tanzt. Also machen Eddie und ich so Pseudo-Barkeeperzeug und ich hoffe, das mich die Peitsche der Frau nicht trifft, obwohl ... Vielleicht wäre das sogar ganz angenehm ... Obwohl angenehm, ist irgendwie das falsche Wort dafür.


Am nächsten Tag steht eine Außenszene an. Dieses Mal bin ich nicht als Statist dabei, sondern helf bei der Set-Deko aus für die große Festszene. Anscheinend hab ich Kristin gegenüber meine Dekorateurslehre erwähnt. Fantastisch. Die fünfzig Euro kann ich echt gut brauchen und außerdem ist es verdammt cool. Vielleicht wäre das ja was für mich, wenn die Ärzte ... Ich seufze.

Mein Herz macht einen viel zu schnellen, harten Schlag, als ich Gudrun entdecke. Sie sieht kurz zu mir rüber, hebt die Hand. Ein kleines Lächeln. Scheiße, echt. Ich vermiss sie. Sie mich auch?

Ich geh grad ein paar Schritte in ihre Richtung, als Kristin sich bei mir einhakt. Okay, dann promenier ich halt mit der Jaguarfrau ein wenig über das Set. Och nich verkehrt.

Es dauert ganze zwei Stunden bis Li-San die Szene zu ihrer Zufriedenheit heruntergekurbelt hat. Es ist toll zu beobachten, wie konzentriert und professionell sie das Ganze angeht.

Das große Festmahl, bei dem der alte Vampir von anderen Vampir*innen verspeist wird, wirkt vor der alten Ruine besonders stimmungsvoll. Die Frau hat ein Händchen für so gemäldeartige Inszenierung.


In den nächsten Tagen helf ich Li-San noch an einem anderen Set in der Passionskirche. Blixa spielt eine der beiden Rollen. Steht ihm verdammt gut, das Priestergewand. Er und der Vampir wälzen sich auf dem Boden und es wirkt ein wenig laienhaft, aber gefilmt sieht es bestimmt okay aus. Es sind ja auch die Atmosphäre und die Intention, die bei solchen DIY-Projekten zählen.

Anscheinend hab ich mich trotz meiner mangelnden Erfahrung ganz gut geschlagen, denn nach dem Dreh nimmt mich Li-San mit zu sich nach Hause und zeigt mir ein paar der entwickelten Szenen auf einem kleinen Fernseher. Sieht echt gut aus.

„You know, I would like this one song of your ärzte-Band for a scene.“

„Häh?“

Sie lacht. „Look.“ Sie zeigt mir die Szene und spielt gleichzeitig das Intro von „El Cattivo“ ab. Schade. Ich hätte so gerne ein Lied von mir darunter gehabt, ein Lied, in dem ich singe, gerade auch weil es ein Vampirfilm ist. Aber Kristin will das Westernmäßige mit Farin für Marias große Szene und es passt auch echt gut.

Und sie will noch ein anderes Lied von Farin. Und der Arsch ist noch nicht mal da.

Aber ich kann Li-San irgendwie auch nicht böse sein, denn sie liebt Ed Woods „Vampira“, wie sie mir mit funkelnden Augen erklärt, vielleicht liebt sie den Film sogar noch ein bisschen mehr als ich selbst.

Am Ende des Abends küsst sie mich auf die Wange und ich bin sofort angezündet, will gerne ein wenig mehr mit ihr, aber sie meint, ich sei toll, aber dass es Kristin gegenüber nicht fair wäre. Natürlich respektier ich Li-Sans Wunsch, aber ehrlich gesagt bin ich mir nicht so sicher, ob Kristin das wirklich kümmert. Ich verehr diese Frau sehr, aber ... Ein bisschen fühl ich mich wie ihr Spielzeug. Doch die Welten, die sie mir eröffnet, sind zu spannend für Zweifel.


15. September – Niebuhrstraße

Jan ist nun seit zwei Monaten weg. Vor Ewigkeiten hat er mal angerufen, gesagt, dass er es schon öfter versucht hätte. Vielleicht stimmt es ja sogar. Ich weiß es nich. Er wollte, dass ich zu ihm nach England komm. Idiot. Als ob ich Kohle für sowas hätte.

Trotzdem lässt mich seine Einladung nicht mehr los: „Ja, ich will.“ wechselt sich in einem nervigen Ringelpiez ab mit „Nein, nicht für diesen blöden Wichser, der ständig abhaut.“ und „Aber er will, dass du kommst.“ Alles in meinem Kopf läuft seitdem - mal wieder - wirr durcheinander, nicht nur die Gedanken auch die Gefühle für ...

Heute abend erreicht das Kopfchaos einen weiteren unrümlichen Höhepunkt. Ich zieh Manus Tarotkarten heraus. Ich breite sie wieder in diesem eleganten Bogen vor mir aus. „Was soll ich bloß wegen Jan machen?“, flüster ich den Karten zu. Durch den Aufruhr in mir finde ich aber keine Antwort, keine Karte, die zu mir spricht. Wahrscheinlich gibt es für das, für uns, für Jan und London und mich, einfach keine Lösung, keine einfache Lösung.

Ich stell mir die Frage nochmal. Dieses Mal offener: In was finde ich Erfüllung?

Dieses Mal werden meine Finger wie magisch sofort von einer Karte angezogen. Mit angehaltenem Atem zieh ich sie aus dem Halbkreis – und dann kann ich gar nicht mehr atmen.

Der Gehörnte starrt mich an. Der weiße Ziegenbock scheint zu lächeln. Mit zitternden Fingern greif ich nach Manus Interpretationsbuch.

Es klingelt. Kristin steht unangemeldet vor der Tür. Was für ein erfreulicher Anblick an diesem düsteren Abend. Ich nehm sie mit in die Küche.

„Oh. The Toth-Tarot. And – the devil. Uh...“ Sie setzt sich zu mir. „Interessiert dich diese Sache?“

„Ick weeß nich.“ Ich blick auf die Karte. Ein Schauer läuft mir den Rücken runter. Ich hab schon öfter mit Satanismus kokettiert, aber ...

„Diese Karte shows, dass du in Kontakt kommst with your darker side. I love seeing that.“ Sie lächelt mich an und es ist schön, aber ...

Ich fühl mich schon oft hingezogen zu allem, was mit den dunkleren Seiten zu tun hat, aber ich selbst bin nicht besonders evil. „Aber ist der Teufel nicht das personifizierte Böse?“

„Ach, that is bullshit christian propganda. As if they would be ... Just think of all the cruelties they commited. The crusades? And don`t get me started on burning women ...“ Ich hab sie noch nie so wütend gesehen. Kristin nimmt die Karte in die Hand. „This here is also Pan, the God of hedonism. Nothing to be afraid of. He is all about ecstasy, indulgence, delirium.“

Hmmm.

„You like that, Bela. I should know.“ Sie grinst mich an, zwinkert mir zu und ich kann wieder etwas leichter atmen. „Lucifer is about living to the fullest and the fucking life itself – pardon my french.“ Ihre Augen leuchten. „Longing, passion, giving in, communion, the real one, where you actually have sex, not Christian abstinence and confessions and guilt. Fuck that.“ Sie strahlt mich an, hat selbst sehr viel Leidenschaft in ihre Worte gelegt. Dann wird ihr Blick ernst. „You ... you take drugs, right?“

Ich nicke, vielleicht ein wenig zu vehement, vielleicht um mich selbst zu versichern, dass ich das wirklich immer noch will – auch nach dem Drama mit Jacques.

„Well, are you also interested in something like ... orgies?“

Orgien. Hört sich doch gut an. „Äh, ... ick gloob schon.“ Oder?

„So you can share people. Good. Really good. You know, every try to make someone your property will only end in frustration and heartbreak. People are not made to be owned. We want to be free.“

Ich nick wieder, dieses Mal sehr viel nachdenklicher – trauriger.

„Hmmm ... maybe – it`s only a maybe, but maybe I have something for you.“ Sie macht ein Gesicht, wie jemand, der zu gern das Weihnachtsgeschenk verraten würde, aber dann wäre die ganze Vorfreude weg.

„Wat meinst`n du?“

„It`s about ... him. Satanas.“ Sie deutet auf die Teufelskarte in ihrer Hand. Ständig dieses Wort in seinen tausend Gesichtern. Es lässt mich eindeutig nicht los. Das ist ein Zeichen. Oder? Bei ihr wirkt es zudem so, als wäre der Teufel eine Mischung zwischen Knuddeltier und Rockstar.

„Du meinst ...“

„Black Masses. Praying to the devil ...“ Ihre Augen haben so einen besonderen Glanz bekommen, dennoch hört es sich bei ihr an wie ein Freitagabend-Hobby und zugleich nicht, was mir die aufgestellten Härchen an meinen Armen verraten.

„Deine Zimmer ...“ Sie seufzt und hat Sternchen in den Augen. „Du magst doch auch the Dark and the Occult!“ Kristin sieht mich fast schon herausfordernd an.

„Ähm, ... Schon.“ Mein Herz hämmert, als hätte ich `ne zu hohe Dosis Speed erwischt. Es tut gut, mich mal wieder so zu spüren.

„I thought so. Ich oft irre mich nicht. Und als dich gesehen habe, da ... You are looking for something, aren`t you?“

Ich nicke wieder – wie hypnotisiert.

„Have you ever been part of a ... Black Mass?“

„Was?“

„Mhm, kann man vielleicht übersetzen mit Schwarze Gottesdienst oder so, aber Gott hat nicht viel zu tun damit.“ Sie lacht dunkel.

„Meinste vielleicht `ne "Schwarze Messe"?“

„Yeah. Sounds about right.“

„Äh, nee. ... Was macht man denn da so?“

„It is hard to explain. Glaubst du an dark entities and powers, Bela?“ Kristin sieht mich nun viel ernster an. Ihr Blick ist zu eindringlich dafür, dass wir hier nur in der WG-Küche sitzen, die seit Jans Flucht zunehmend mehr versifft.

Kristin kommt näher, sieht mich auf einmal viel zu eindringlich an. Diese Seite von ihr kenn ich bisher noch nicht so gut, aber vielleicht war es genau das, was mich an ihr so angezogen hat. Die Härchen in meinem Nacken stellen sich auf. „Vielleicht.“ Ich nicke vorsichtig.

„Maybe?“ Sie rückt ein Stück von mir ab. „Das hört sich nicht an very convinced.“

„Also, ick hab nich so viel Erfahrung mit so wat, aber ...“ Ich beiß mir auf die Lippen. „Aber ick würd echt gern mehr lernen drüber.“ Die Sehnsucht nach dem Mehr ist wieder da. Die Wellen, die von dem Gedanken ausgehen, die von Belial ausgingen, als wäre er nicht irdisch, dafür unverletzlich.

„Okay. That`s a start, but ... Let`s see, when you are really ready.“ Sie lächelt mich an, hält mir ihre Hand hin und zieht mich in mein Zimmer. „It will be fucking sexy“, schnurrt sie in mein Ohr. Ein kühler Lufthauch bläst über meinem Nacken. Ich drehe mich zum Fenster. Es ist geschlossen, draußen viel zu warme 25 Grad für September.


21. September – Manteuffelstraße, Kreuzberg

Auch wenn es kein Ersatz für die Ärzte ist, so freu ich mich doch immer auf die Proben mit den „Soldiers of Fortune“, nicht nur weil Kristin dort meistens abhängt, oder weil es meine Abende füllt, sondern weil es einfach gut tut, mich nützlich zu fühlen, nicht nur als Drummer.

Ich erwarte, dass wir auch heute nach der Probe noch was trinken gehn zusammen, wie sonst auch, aber Kristin wirkt abgelenkt, schon fast auf dem Sprung.

„Hey, ähm, haste Lust noch ins Risiko zu gehn und ... dann zu mir?“

„Aaah ...“, druckst sie rum.

„Nee, nee. Is schon okay. Ich dacht nur, weil ...“

„Well ... I kind of ... have an appointment later.“

„Okay?“

Sie wirft Ingmar, dem Sänger der Soldiers, einen Blick zu. Anscheinend hat der etwas mit ihrem Zögern zu tun. Schließlich zuckt der mit den Schultern und nickt zuerst ihr, dann mir zu. „Well, Bela, if you are really interested ... There is this guy. He`s a bit ... special. And – you could say intense, maybe even a bit insane. His name is Belial and he ...“

Es rauscht in meinen Ohren, als mein Puls beginnt einen neuen Takt zu schlagen. Das nächste Wort, dass ich wieder bewusst höre, ist „Initiation“ und „Teufelsberg.“ Allein der Name jagt mir schon einen wohlig-gruseligen Schauer über den Rücken.

„Dort halten wir the ceremony. Aber ... Bela, ich kann nicht einfach bring a complete stranger into the unholy circle. If you want, if your really, really want this ... then I will ask, okay?“

„Ich will.“


Teufelsberg

„He said yes!“, verkündet mir Kristin strahlend. Sie reicht mir ein Bündel aus schwarzem Stoff, in das etwas Hartes eingewickelt ist. „Don`t open it yet. It`s a surprise. Oh, you will love it. Tonight`s the orgy of the Autumn equinox.“

Die Nacht ist warm und feucht, als wären Kirstin, Ingmar und ich in den Tropen. Eine ungewöhnliche Hitzewelle hält Berlin seit ein paar Tagen in Atem. Zum Dschungelgefühl tragen noch zusätzlich die lianenartigen Ranken bei, die mir in der Dunkelheit ständig ins Gesicht schlagen.  

Ich quäl mich über das Geröll des Teufelsberges, stolpere ständig über lose Steine. Kein Wunder, es ist ja ein Trümmerberg. So viele kaputte, zerbrochene Leben unter meinen Füßen.

Immer wieder leuchten in der Dunkelheit wie rote Augen die Lampen der Ami-Abhörstation auf uns hinunter.

(!)

Auf einmal lodert ein Feuerschein durch die Bäume. Wir erreichen einen Bunker. Grau und verfallen mit einer fiesen Zweite-Weltkriegs-Ausstrahlung. Aber die brennenden Fackeln, die darin in einem Kreis platziert sind, faszinieren mich, locken mich, es wirkt wirklich feierlich.

„Time to get dressed up.“ Kristin holt aus ihrer Tasche ein schwarzes Gewand, streift sich einfach mitten in der Botanik ihre Klamotten ab und schlüpft dann in die schwarze Kutte. So schnell, wie sie es macht, wirkt es wie ein schon oft aufgeführter Tanz, eher professionell, als wie ein halber Striptease.

Als Letztes setzt sie sich eine schwarze Maske auf, die in dem schwarzen Stoff verborgen gewesen ist. Die Maske stellt ein volles Gesicht dar, aber eben in Schwarz, mit starren, eckigen Gesichtszügen. Nur durch die Löcher für die Augen kann ich etwas Lebendiges glänzen sehen. Die ganze Verwandlung hat keine drei Minuten gedauert und nun steht neben mir etwas, dass mehr an ein Wesen als an Kristin erinnert.

„Should I help you?“ Ihre Stimme klingt dumpfer unter der Maske. Ich fühl ihre Finger an meiner Gürtelschnalle.

„Äh, nee, ick ...“ Vielleicht hätte ich ihre Hilfe doch annehmen sollen, denn bei mir wirkt die ganze Entblätterung viel schwerfälliger, meine Lederhose klebt durch den vielen Schweiß wie eine zweite Haut. Vielleicht sollte ich auch besser Miniröcke zu solchen Gelegenheiten tragen. Die sind sehr viel praktischer. Neben mir rackert sich Ingmar ab, aber schließlich haben wir es geschafft.

Auch wenn die Nacht so ungewöhnlich warm ist, so fröstelt es mich nun doch an der frischen Luft. Schnell streife ich mir die Kutte über die nackte Haut. Ein bisschen wärmer. Der Stoff ist dünn, aber umschmeichelt mich wie glatter Satin. Meine Synapsen erwachen zum Leben bei der seidigen Berührung. Nur die Maske nervt. Ich bekomm kaum Luft drunter.

Doch als wir durch die rostige Eisentür des Bunkers treten, ist das alles vergessen. Das Licht der Fackeln erleuchtet rissigen Beton. In der Mitte des Fackelkreises steht ein Altar mit einem schwarzen Samttuch, auf dem mehrere Gegenstände stehen, darunter ein silberner Kelch, ein kleiner silberner Dolch und ein umgedrehtes Kreuz. Die Flammen spiegeln sich heiß in dem glänzenden Metall.

Hinter dem Altar steht jemand in einer schwarzen Robe. Für einen kurzen Moment bin ich mir nicht sicher, ob es sich wirklich um einen Menschen handelt. Über der schwarzen Maske, die einem mächtigen Ziegenkopf nachempfunden ist, thronen Hörner. Das einzig Weiße im Raum. Sie leuchten spitz und scharf.

Mein Atem stockt, setzt dann umso schneller wieder ein. Auch das Schwarz der Robe scheint aus der Dunkelheit des Raumes zu leuchten. Ich kann den Blick nicht abwenden, bin mir trotz der Ziegenmaske absolut sicher, dass das Belial ist, dass ich ihn wirklich wieder gefunden hab.

„Ich freue mich, dass ihr wieder so zahlreich den Weg zu mir gefunden habt.“ Ich habe eine dröhnende Stimme erwartet, aber er sagt es so weich, dass es wie eine warme Umarmung ist. „Es scheint auch ein Neuer unter uns zu sein, der den Kreis der 13 vervollständigt.“

Kristin oder Ingmar, ich kann unter den Kutten nicht mehr erkennen, wer wer ist, stupsen mich in die Seite und ich stolper einen Schritt nach vorne. Erst jetzt nehm ich wahr, dass die Fackeln nicht an der Wand befestigt sind, sondern dass weitere Menschen in Kutten und Masken diese halten.

Der Mann mit der Ziegenmaske und den Hörnern tritt vor mich. Er hält mir eine beringte Hand entgegen: „Ich bin Belial, der gehörnte Priester. Willkommen im Namen des gefallenen Engels, des Teufels und des Anti-Christen.“

Er ist es. Er ist es wirklich. Einen Moment weiß ich nicht, wie ich reagieren soll, etwas wie Lampenfieber jagt durch mich, dann erinner ich mich an Kristins Anweisung: Niederknien, den roten Ring küssen. Er fühlt sich heiß an meinen Lippen an.

„Ich hoffe, du erweist dich Seiner Dienste würdig.“ Immer noch diese samtweiche Stimme, aber darunter fließt etwas Dunkles, Unergründliches. „Nun, möge unsere Novizin vortreten zur unchristlichen Taufe.“

Eine schwarze Gestalt tritt vor und ich husch zurück an den leeren Platz, hoffe, dass ich zwischen Kristin und Ingmar stehe. Das ganze Szenario, die Inszenierung flammt durch mich wie ein Waldbrand, vor dem man fliehen will, aber doch wie gebannt stehen bleibt, um die alles verschlingende Hitze zu spüren, die Kraft der Flammen.

Belial legt der Novizin seine Hand auf den Kopf. „Du wirst heute deinen bisherigen Namen ablegen und einen neuen satanischen erhalten. Bist du dazu bereit?"

Oh, shit. Ich mag meinen Namen. Ich mag ihn wirklich. Immerhin hab ich ihn mir selbst gegeben. Ich will keinen andern. Was meint er damit? Ich seh hilfesuchend zu der Gestalt, in der ich Kristin vermute, aber die hängt an Belials Lippen, als wär der Luzifer, der aus dem Himmelreich gestürzte Engel.

Belial nimmt mit beiden Händen den Dolch vom Altar, hält ihn in die Luft, dann vor sein Herz. „Im Namen Luzifers streiche ich die Seele von Hannah aus dem Buch Gottes – aeternus et umquam.“

Belial holt ein Buch heraus. Er schneidet der Novizin in den Unterarm. Blut perlt als dünnes Rinnsal in den Kelch. Belial taucht eine Feder hinein und schreibt etwas in das Buch, hält es dann der Frau hin – sie küsst das Buch, dann die Hand Belials.

„Entsagst du dem christlichen Glauben?“

Die Novizin nickt.

„Dann sag es.“

„Ich entsage dem Glauben. Ähm, ich meine, dem christlichen Glauben.“

Ich muss seltsamerweise an meine Oma denken. Sie hat lange bei uns in der Seegefelder Straße gelebt. Sie ist noch jeden Sonntag in die Kirche gegangen. Manchmal hat sie versucht, Diana und mich zu überreden mitzukommen, aber wir sind nur an Weihnachten zum Gottesdienst. Nun ist Oma schon seit fünf Jahren tot. Jetzt geht überhaupt niemand mehr an Weihnachten in die Kirche. Fast bereu ich es ein bisschen, dass ich ihrem Wunsch nicht öfter nachgekommen bin.

„Verpflichtest du dich, bei jeder nächtlichen Zusammenkunft dabei zu sein, auf keinem Hexensabbat zu fehlen und bei jeder schwarzen Messe anwesend zu sein?“

Die Novizin haucht ein weiteres Ja.

Ganz schön viele Verpflichtungen. Ich weiß echt nicht, ob ich das schaff. Ich komm ja schon zu den Bandproben meistens zu spät.

Belial küsst die Novizin auf die Stirn, wobei der Kuss durch die Ziegenmaske eher symbolisch ist. „Bei der nächsten Sitzung wirst du dich der satanistisch-sakrilegischen Initiation unterziehen.“

Er gießt etwas Dunkelrotes aus einer silbernen Kanne in den Kelch, nimmt dann den Dolch, streift seinen Ärmel zurück. Mit einer eleganten Bewegung zieht er die Klinge über sein Handgelenk und mir wird heiß, als ich den Schmerz wie einen Schatten auf meiner eigenen Haut fühle. Dann legt er den nun blutigen Dolch zurück auf den Altar und greift nach dem Kelch. Rot perlt von der weißen Haut, tropft in den silbernen Pokal. Mit diesem und dem Dolch dreht er nun langsam die Runde im Kreis.

Die Kuttenträger*innen lehnen die Fackeln an die Wand, wo sie mit ihren Flammen die Betonwand schwarzmalen. Im Kreis streifen nun alle einen Ärmel ihres Gewandes zurück. Sie scheinen zu wissen, was sie zu tun haben.

Ein leichtes Zittern jagt durch meine Hände. Will ich das? Der gehörnte Priester bleibt vor mir stehen. „Heute noch nicht.“ Er scheint genau zu wissen, mit wem er es unter den schwarzen Gewändern zu tun hat – und was mich gedanklich umtreibt. „Du gibst nur ein Haar in den Kelch, Zögling.“

Irgendwie find ich Haare in dem Gemisch ekliger als das Blut, aber als ich versuch, mir eines aus meiner toupierten Mähne zu reißen, merke ich, wie sehr mir meine Haare doch - heilig? - sind. Auf merkwürdige Art macht es Sinn, was er von mir fordert.

Belial dreht eine weitere Runde, schwenkt dabei den Kelch und murmelt dabei beschwörende Worte, die ich als Latein identifiziere. Würde Jan verstehen, was er sagt? Was sagt er? Ich versteh ein paar Brocken, aber kenn ihre Bedeutung nicht.

‚Gloria Deo, Domino Inferi, ... terra vita .... Laudamus te. Benedicimus te, adoramus te, glorificamus ... Domine Satanas, Rex Inferus Imperator omnipotens.„

Als er eine Runde vollendet hat, beginnt er sie von neuem, hält nun allen den Kelch mit dem Rotwein-Blut-Haargemisch hin. Gekonnt führen sie den Kelch unter ihre Maske. Ob ich wieder nicht darf? Vielleicht besser so. Ich klecker mit Sicherheit. Aber nein.

„Zögling, fühlst du dich bereit dazu, einen Blick ins dunkle Reich zu werfen?“

Ich versuch, die ganze Kraft meiner überzeugten Seite in mein Nicken zu legen und er reicht mir den Kelch, der unerwartet schwer ist in meiner Hand.

Ja, es ist Rotwein. Sehr metallisch schmeckender Rotwein. Kurz will mein Mund, meine Kehle, mein Magen sich weigern, das Gemisch anzunehmen, aber dann habe ich es geschluckt. Gar nicht so schlimm, wenn man nich zu viel drüber nachdenkt. Außerdem ... es ist schon genial, dass ich wirklich Teil von all dem hier sein darf.

Ich habe als letzter getrunken und Belial stellt sich wieder hinter den Altar. Er weist mit der Hand auf die Novizin und sie tritt vor, öffnet ihre Kutte. Ich stutze kurz, als darunter blondes Schamhaar sichtbar wird. Natürlich ist auch sie unter dem Stoff nackt. So entblößt legt sie sich auf den Altar. Ihre geöffnete Kutte fällt wie ein Paar schwarzer Flügel auf beiden Seiten des Altars hinunter. Nur die Maske bleibt auf. Ihr weißer Körper leuchtet vor dem schwarzen Samt. Wie eine Opfergabe, denk ich. Es sieht schön aus, dennoch möchte ich am liebsten ihren Körper wieder mit Stoff bedecken.

Der Gehörnte tritt vor sie und zeichnet ihr mit dem Gemisch im Kelch ein umgedrehtes Kreuz auf die Stirn, auf das Herz, auf ihren Bauch, auf das helle Schamhaar. „Dein Name sei von nun an Pandora, denn ich weiß, dass in dir, auch wenn du dich gerade noch schüchtern fühlst, ein großer Schatz schlummert, der nur geweckt werden will.“

„Pandora“, flüstert sie fast ehrfürchtig, dann lauter, als ob der neue Name ihr wirklich Kraft verleiht. „Mein Name ist Pandora.“

Belial beugt sich über sie und durch mich blitzt es aufregend und nervös. Ist das der Anfang der Orgie? Ist das okay so? Aber sie will es. Oder? Aber will ich das sehen, will ich Teil davon sein?

Er küsst Pandora durch seine Ziegenmaske auf die Stirn, beugt sich dann wieder zurück. Belial beginnt eine Art Gesang, in den der Rest der Gruppe einfällt. Als ich erkenne, dass es verschiedene Namen des Teufels sind, brauch ich ein paar Takte bis ich mitmachen kann. Fühlt sich irgendwie fast ein bisschen wie im Proberaum an, wenn Jan eine Melodie vorspielt und ich dann mit dem Schlagzeug dazukomm.

Ich rezitiere mit den anderen schwarz gewandeten Gestalten die Worte, verfall in einen gemeinsamen Rhythmus, wieg mich in diesem leicht hin und her.

Belial hebt die Hände. „Nun wollen wir zum sinnlichen Teil der Zeremonie kommen: der Transformation unter der Tag-Nachtgleiche, die heute in Richtung der Nacht kippt.“ Er öffnet seine schwarze Kutte. Auch er ist darunter nackt. Auf seiner Brust ist ein umgedrehtes Kreuz eintätowiert, um das sich ein Pentagramm spannt. „Die Transformation steht nicht nur im Zeichen der Lust, sondern es geht um Harmonie und Gemeinschaft.“

Nun öffnen auch die anderen ihre Kutten. Nackte Haut blitzt im lodernden Schein der Flammen auf. Nur die Masken bleiben auf. Ich beobachte wie sich verschiedene Menschen aufeinander zu bewegen. Vor mir tanzen nackte Körper, auch die Fackeln tanzen, der ganze Raum. Jemand fasst mich an der Hand und – vielleicht tanze ich jetzt auch. Ich will an dieser Orgie teilnehmen, mich in diese neue Welt fallen lassen wie in eine Droge, aber ... Etwas in mir will gehen und es wirkt nicht so, als könnte man hier einfach wieder verschwinden. Der Raum um mich herum verschiebt sich, wabert. Steigt da Rauch auf?

Ich versuch, meine Augen scharf zu stellen, kann es aber nicht. Bilder huschen vor mir – in mir - vorbei. Eines lässt mich zurückschrecken. Ich stoß gegen eine der anderen Kuttenträger*innen, der oder die ein missbilligendes Zischen ausstößt.

Der hypnotische Gesang verebbt, alle halten inne, als Belial auf mich zu tritt. „Zögling!“

Ich nick hilflos.

„Dich haben Zweifel befallen.“ Es ist eine Feststellung. Vor den anderen fühlt es sich fast nach Anklage an, ist mir peinlich, gerade wegen Kristin und Ingmar, die für mich vermutlich gebürgt haben.

„Ick ... ick ...“ Eigentlich bin ich nicht auf den Mund gefallen, aber in seiner Präsenz ist es schwer Worte, vor allem die Richtigen, zu finden. Aber es ist nicht direkt Zweifel, auch nicht Befremden, denn eigentlich find ich es schon gut, aufregend, aber eben auch ... unsicher. Ich bin mir einfach unsicher, in diesen ganzen Ritualen, die ich nicht kenn und deren tiefere Bedeutung ich nicht versteh. Außerdem ist irgendwas mit meinen Augen kaputt. Sie gaukeln mir Bilder vor, die gar nicht da sind. Nich besonders angenehm.

„Das ist nicht schlimm, Zögling.“ Belial legt mir eine Hand auf die Schulter und es erdet, tröstet mich. „Für heute ist das Ritual für dich erstmal beendet. Ich und deine Patin ...“ Er winkt einer Gestalt zu. „... begleiten dich nach draußen.“ Seine warme Hand wandert an meinen Rücken und ich tret mit ihm hinaus in die noch immer milde Nacht.

„Du kannst deine weltliche Kleidung wieder anlegen.“

„O-okay.“ Ich bin froh und gleichzeitig enttäuscht. Vor ihm und Kristin zieh ich mich unter meiner Kutte wieder an, bin froh, dass die wie eine Umkleidekabine ist.

„Welcher Natur sind deine Zweifel, Zögling?“ Er klingt wirklich interessiert, aber ich weiß nicht, wie ich meine wild durcheinander tanzenden Gedanken erklären soll.

„Ick ... also, ick mag dit schon allet, was so mit dem Teufel und so zu tun hat. Und ick fand dit Ritual und die ... Messe och echt jut, aber ... ick hat irgendwie so komische ... Halluzinationen?“ Ich nehme die Maske ab.

„Ach, du bist das?“ Ich höre erstaunen unter dem Ziegenkopf.

„Äh, ja, also ... ick bin das.“ Es ist schön, dass er mich anscheinend auch wahrgenommen hat damals, auch wenn ich mir nun in meiner „weltlichen“ Kleidung vorkomm wie so `n räudiger Straßenpunker.

„Wie heißt du?“

„Äh, Bela.“

„Mhmmm. ... Schöner Name.“

„Hab ick mir selbst gegeben.“

„Eine Selbsttaufe? Na, das ist doch ein Anfang. Vielleicht sind deine Zweifel gar nicht so groß, wie ich angenommen habe. Deinen Namen – es tut mir wirklich leid – musst du dennoch ablegen, wenn du dich dem Orden des Gehörten anschließen willst.“

Ein fast körperlicher Schmerz überkommt mich bei dem Gedanken. „Mhm. O-okay.“

„Ah, da flammen sie wieder auf deine Zweifel, hm, Bela?“

„Ja. ... Irgendwie schon.“ Ich hör mich echt sehr kläglich an.

„Wegen der Halluzinationen ... Hast du dich mit ihnen wohlgefühlt?“

Geht so, denk ich. „Naja, ... Is nich dit erste Mal und es war nicht direkt schlimm, aber ... seltsam.“

„Es wäre gut, wenn du dich an diese Art von Rausch gewöhnen könntest. Es wäre wirklich schön, wenn du Teil unseres Kreises werden würdest. Aber der Rausch ist Teil unserer Zeremonie. Es geht darum, sich auch im Chaos wohlzufühlen, es als sinnliche, kreative Quelle nutzen zu können.“

Mhm. Ich weiß nicht. Eigentlich liebe ich den Rausch, aber ... „Was ... was is `n dit für `n Zeug, dass da in dem Kelch ...“

„Das ist ein Geheimnis – das „Zeug“!“

„Oh, äh, ja ... Entschuldigung. ... Belial?“

„Ja?“

„Kann ick fragen ... Warum bist du Priester geworden? Also, warum willst du dem Teufel dienen?“

„Nicht will, Bela. Ich diene ihm. Eigentlich ist das auch ein zu großes Thema für heute Abend. Nur so viel ... Das, was mich an der Bibel am meisten fasziniert hat - vor langer Zeit - das war die Geschichte von Luzifer.“ Belials Stimme klingt versonnen. „Luzifer hat seinen Vater so sehr geliebt, aber dieser war ... einfach abwesend.“

Ein Ziehen in mir.

„Und so hat Luzifer aufbegehrt. Er war der Engel, der rebelliert hat gegen das scheinheilige Regime Gottes, gegen seinen strafenden, gewalttätigen Vater. Den Heuchler Gott, der seinen Sohn geopfert sehen wollte. Er hat in Frage gestellt, dass Gott der Alleinherrscher ist, dem alle folgen.“

„Aber ... ist Luzifer dann nicht das personifizierte Böse geworden?“ Wieder dieses merkwürdige Schaudern in mir, dass nicht nur unangenehm ist.

„Nein. Er ist ein gefallener Engel. Luzifer bedeutet in Latein „Morgenstern“, aber die direkte Übersetzung ist „Lichtträger“ und das ist doch schön, oder?“

Ich muss wieder an meine Tarotkarte denken. Der Eremit. Die Karte hat von einem Führer gesprochen. Hab ich ihn gefunden?

„Aber da wo Licht ist, ist automatisch auch Schatten. Wir tragen ihn alle in uns. Die Sünde, die Luzifer vorgeworfen wird, bestand nur darin, dass er zu sehr geliebt hat und Gott diese Liebe nicht geteilt hat. Weißt du, wie das ist, Bela? Wenn man zu sehr liebt?“

Tränen schießen mir in die Augen und ich will mich schon peinlich berührt abwenden, aber Belial legt mir wieder seine Hand auf die Schulter und drückt leicht zu. „Hey, das ist okay. Es ist gut, etwas oder jemanden zu sehr zu lieben. Ansonsten spürt man das Leben ja nicht. Und wir haben nur dieses eine. Vielleicht aber auch nicht ... Die Frage ist, wo möchtest du dann sein, Bela? Im Himmel? Oder in der Hölle? Wo wird man die interessanteren Menschen treffen?“

Ein Lächeln klingt durch seine Stimme. Es ist ein bisschen unheimlich, aber vor allem anziehend so als wüsste er Dinge, die anderen verborgen sind. Er lacht noch einmal. „So habe ich mich in die Dienste Luzifers gestellt und – ich sah, dass es gut war.“




*
*





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LYRICS

Inkubus Sukkubus - Vampyre Erotica
die ärzte - El Cattivo
die ärzte - Schlaflied
The Cult - She sells sanctuary
Ghost - It`s a sin
Alien Sex Fiend - I walk the line
Ghost - Year Zero


ADDITIONAL SONGS

Slayer – Cult
Religion is hate – Religion is fear – Religion is war – Religion is rape

Zeal and Ardor – Devil is Fine
Artikel - Preiset den Gospel des dunklen Herrn
... rasselnde Kettenbeats, welche an die Anfänge der Rockmusik erinnern, namentlich den sogenannten „Chain Gangs“, als afroamerikanische Sklaven*innen an den Füßen beieinander gekettet waren und entmenschlichende Zwangsarbeit verrichteten; den einzigen Trost spendeten ihre aus der Not geborenen Klagelieder, welche im Endeffekt die Anfänge der modernen Rockmusik begründeten.


BAND

Inkubus Sukkubus
Alien Sex Fiend
The Cult



FILM

Bad Blood for the Vampyr -
Director: Lysanne Thibodeau




ORT

Teufelsberg


TAROT

Thoth Tarot - The Devil


SATANISMUS

Wikipedia - Satanismus
Wikipedia - Schwarze Messe



RITUELLE GEWALT

Wikipedia - Rituelle Gewalt
Die englische Wikipedia-Seite ist übersetzt mit „Satanic Panic“.

SATANISMUS & ROCK

Buch: Wir wollen nur deine Seele

1984 erstmals erschienenes Buch von Ulrich Bäumer, das über den christlich-missionarischen Literaturverlag der Evangelischen Gesellschaft für Deutschland herausgegeben und vertrieben wurde. Es befasst sich aus evangelikaler Sicht mit okkulten und satanischen Einflüssen in der Rockmusik.
Den Erfolg der Beatles führt Bäumer darauf zurück, dass John Lennon dem Teufel seine Seele verkauft habe. Die spätere Ermordung durch Mark David Chapman sei der Preis für diesen Deal gewesen. [S. 55]

In der Rock-Kulturszene wurde das Buch eher als unfreiwillig komisch betrachtet; die Band Die Ärzte wählte den Titel ihres Live-Albums „Wir wollen nur deine Seele“ in Anspielung darauf.

BILD - Wir wollen nur deine Seele



INTERVIEWS

BELA

NW - Ich bin auf der Suche
An welche Verschwörungstheorie glauben Sie selbst?
Felsenheimer: Ich denke über die irrsten Sachen nach und bin empfänglich für Quatsch. Lange habe ich es für möglich gehalten, dass Vampire keine rein literarische Erfindung sind. Es war meine Form der Romantik, mir vorzustellen, dass diese Legenden auf teils wahren Begebenheiten beruhen.


FR - Weltuntergang doch relativ undankbar
Was würden Sie machen, wenn man Ihnen plötzlich die Rolle des Weltretters anböte, so wie Bruce Willis sie in „Armageddon“ gespielt hat?
Ehrlich gesagt, ich war neulich für die Rolle eines homosexuellen Serienmörders im Gespräch. Das finde ich deutlich interessanter. Ich fand als Kind auch Batman immer besser als Superman, das Gebrochene, Tragische, Finstere.


FARIN – ohne Originalquelle

Bist du wirklich Atheist und „von heidnischer Kultur“ oder sind das nur coole Sprüche von dir?
Ich bin Atheist, ich glaube nicht, dass mein Leben von irgendwas kontrolliert wird.



Radio Bob - 9 geheime Botschaften Rocksongs
Rückwärts gespielte Songs und ihre geheimen Botschaften - mit einem Surprise Gast am Ende! ;-)






*

Chapter 35: 1983 - Wunden

Chapter Text

*



Und schon wieder ein Vorwort. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob es notwendig ist, aber wollte lieber sicher gehen.

Also, …

Erstmal hoffe ich, dass das letzte Kapitel dich nicht allzu befremdet zurückgelassen hat. Ich möchte versuchen die (semi-)fiktionalen Charaktere Bela und Farin soweit möglich in ihrer - vermuteten – Komplexität darzustellen, so wie ich sie vermittelt durch verschiedenste Medien erlebe.

So war vor allem im letzten Kapitel die Ambivalenz in Bela, der Zwiespalt zwischen Abenteuer, Faszination und Erschaudern vor der Intensität solcher Rituale (und Drogen) der Fokus.

Ich glaub ehrlich gesagt, das war alles noch viel krasser damals in West-Berlin und ich kratze hier nur an der Oberfläche. Deswegen sagen Leute von damals aus den 80ern wohl auch: Das lässt sich nicht erklären. Man muss dabei gewesen sein.

Farin und Bela in der Geschichte sind ja von zuhause weg und werden im„Coming-of-Age“-Story Arc insgesamt langsam ein wenig älter und erwachsener, wodurch auch die Themen mit ihnen erwachsener werden. Dadurch wird die Geschichte manchmal ein wenig härter, als es der Titel „Teenagers in Love“ vermuten lässt.

Nach dem letzten Kapitel habe ich lange überlegt, ob ich die krasseren Szenen in eine Art Outtake-Datei im Forum parken soll und nicht innerhalb dieser Geschichte poste, denn sie stechen schon ein wenig heraus aus den vorherigen Kapiteln. Aber ... Sie gehören einfach auf eine Art und Weise in dieses Universum – und zu Bela.

Leider habe ich keine bessere Lösung gefunden – ohne zu viele Kompromisse einzugehen für die diversen Wünsche von Leser*innen und meinem eigenen Anspruch an Komplexität.

Also, ich will es nicht zensieren, aber ich will hier nicht zu oft mit unliebsamen Überraschungen aufwarten und damit einen potentiell unsafen Raum in der Geschichte schaffen. Deswegen schaut bitte immer auf die Inhaltsangaben am Anfang, ob das für euch so passt und lasst gegebenenfalls Teile der Geschichte aus.

Deswegen auch eine weitere Warnung für den ersten Teil dieses Kapitels, denn es schließt von der krassen Atmosphäre an das Letzte an. Es geht noch einmal um die Auswirkungen der Rauschdrogen aus dem Ritual auf Bela.

Wenn das beim letzten Mal schwierig für dich zu lesen war, könnte es besser sein, du steigst erst nach diesem Symbol ein mit dem Lesen: (!!!)

Ganz liebe Grüße von The Windmills






* Teenagers in Love *



Inhaltswarnung:
* Halluzinationen
* Schneiden und Blut

Lieder und Bilder farbig unterlegt im Kapitel.
Weiterführende Links am Ende.



1983 - Wunden




21. September

Ich kenn diese Tür. Wie bin ich hierher gekommen? Ein weißes Auto. Taxi? Ich erinner mich an Licht – Straßenlaternen? – die über mir einen geheimen Morsecode gefunkt haben.

Alles ist gerade ein wenig seltsam ver-rückt in meinem Kopf. Oder die Naturgesetze haben sich verschoben.

Der Schlüssel passt wundersamerweise ins Schloss. Die Tür öffnet sich – Magie. Ich fall im Flur auf die Knie, krabbel hinüber zu Jans... Eddies Zimmer, drück die Tür auf. Dunkelheit. Noch mehr Dunkelheit, aber diese hier fühlt sich mehr nach Schutzhöhle an.

Heiß. So verdammt heiß.

Ich krabbel ins Bad, kletter mühsam in die Wanne. Wahrscheinlich hätt ich mich ausziehen sollen, egal. Ich will das Feuer in mir löschen, vor allem das im Arm. Deswegen lass ich das Wasser kalt. Meine Zähne schlagen aufeinander.

Nass. Schräges Gefühl.

Heiß.

Kalt.

Heiß!!! Viel zu heiß. Mein linker Arm steht in Flammen. Das Feuer fließt aus meinem linken Unterarm in meinen Körper wie Gift. Er brennt. Nur langsam wird es besser.

Das nasse Leder klebt auf meiner Haut. Ich quäl mich aus den Klamotten. Aus der Wanne. Kalte Luft auf heißer Haut. Ich verkriech mich in Jans Bett, das aber fast wie meines riecht, nach Kneipe und Rauch. Vermutlich wegen Eddie. Jan ist verschwunden. Tränen beißen in meinen Augen ... Arschloch. Ich will nich schon wieder wegen dem heulen. Aber ich will auch nich in mein Bett ...

Die Decke fühlt sich gut an. Wie eine leichte Wolke über mir. Ich muss nur den Arm raushalten, weil der brennt immer noch und ich habe Angst, damit Jans Bett anzuzünden.

Menschen mit schwarzen Masken tanzen vor meinen Augen – durch Jans Zimmer. Sind die alle mitgekommen? Aber ich war doch allein.

Schieb ich grad irgendwelche Hallus? Was war in dem Kelch?, hallt es durch meinen Kopf. Kommt dit davon?

Kristins Stimme. „Let yourself fall into it.“ Ist die hier? Ich seh mich um. Nee, ich bin immer noch allein. Vielleicht hat Kristin sowas im Taxi gesagt. Wahrscheinlich haben sie und Hallu-Kristin recht. Wenn ich auf `nem Trip hängen geblieben bin, dann hat das dagegen ankämpfen meist nur noch schlimmer gemacht.

Ich atme aus, lass mich in die Matratze sinken. Besser. Bloß diese verdammte Hitze im Arm. Merkwürdig. Als würd dort ein Vulkan toben, der nich ausbrechen kann. Er bringt mein Blut zum Kochen. Ich atme vorsichtig ein. Ein Wirbel aus Flammen und tanzenden Körpern und ... Feuer flackert vor meinen Augen. Feuer in mir, das raus will. Ich brauch sowas wie `ne Eruption oder wie das heißt bei den Vulkanen.

Fuck. Geschockt starre ich an die Wand. Jetzt brennt es doch. Flammen an der Balkontür. Sie lecken an Jans Büchern, an seinen heiligen Platten. Ich muss das löschen. Ich quäl mich aus dem Bett. Find keinen Behälter. Der Duschschlauch ist mal voll zu kurz. Menno. Feuer ist echt gefährlich. Schließlich füll ich eine Plastiktüte vom Edeka mit Wasser und renn in Jans Zimmer, das dunkel und verlassen vor mir liegt. Hat Jan den Brand schon gelöscht? Blödsinn, Bela. Der ist nicht da.

Wahrscheinlich hat es gar nich gebrannt. ... Oder?

Ich leg mich wieder ins Bett, aber ... Mit meinen Arm stimmt wirklich etwas ganz und gar nich. Ängstlich seh ich auf mein linkes Handgelenk. Blut! Wo kommt das denn her?

Ich kletter wieder aus dem Bett, geh ins Bad, schalt mit dem Ellbogen das Licht an, will das Blut ins Waschbecken tropfen lassen ...

Weißes Porzellan.

Ich seh auf meinen Unterarm. Da is nix. Keine Schnitte. Nichts. Nur Haut, aber die scheint zu pulsieren, zu brennen.

Ich leg mich wieder hin – aber es geht nicht weg. Soll ich Feuer mit Feuer bekämpfen?

Ein Trip in meiner Hand. Auch der wabert. Ach, nee. Meine Finger zittern. Besser kein Trip – vor allem so allein. Ich bin doch allein? Oder? Ich geh die ganze kleine WG ab, die auf einmal riesig wirkt. Niemand da. Ich bin allein – ganz allein.

Warum bin ich allein? Ach, ja. Eddie ist ja bei seiner Ex. Schon die zweite Nacht. Sieht so aus, als gäb es da ein happy ending. Immerhin bei einem von uns ...

Wieder ins Bett. Aus dem Dunkel steigen neue Bilder auf. Die tanzenden Menschen werden von böseren Bildern abgelöst. Viel böseren. Eine Fratze wabert vor mir. Das hat nichts mehr mit Belial zu tun. Das hier macht mir ernsthaft Angst.

Die Fratze kreischt, dass sie mein Blut will.

Ich verkrieche mich unter Jans Bettdecke. Verdammt. Das muss – muss! – aufhören und zwar schnell. Die Stelle am Unterarm, in die Belial nicht geschnitten hat, ist am schlimmsten. Wie kann etwas, dass nicht da ist, so verdammt weh tun? Ist das der Grund? Das nicht vollzogene Ritual? Der fehlende Blutzoll? Sucht mich deswegen der Dämon heim? Will er, was ihm zusteht? Funktioniert das so?

Auf einmal steh ich im Bad. Als ich in den Spiegel sehe, legt sich das schattenhafte Abbild des Dämon über mein Gesicht im Spiegel. Meine Faust knallt in den Badspiegel. Scherben in meinen Knöcheln. Eine größere Scherbe in meinen Fingern. Ich beiß mir auf die Lippen, zähl bis drei, und fahr mit ihr über die Haut an meinem Unterarm. Die Schnitte schmerzen ǘbler als das, was Kristin gemacht hat. Aber es tut soooooooo gut.

Mein Herzschlag beschleunigt sich wie bei einem Orgasmus – ich atme keuchend ein – langsam, ganz langsam kommt das wilde Toben in mir zum Stillstand und Ruhe breitet sich ausgehend von meinem Arm in mir aus.  

Ich schlaf wie ein Stein, aber als ich erwache, fühlt es sich dennoch an, als wäre ich die ganze Nacht gelaufen, geflüchtet. Und Jans Bett sieht aus, als hätte ich jemand drin geschlachtet. Oder jemand mich. Notdürftig verbind ich die drei Schnitte. Der eine sieht nich so gut aus. Ich ziehe noch ein paar Splitter aus meinen Knöcheln, wasche mir die Hände, versorge die Wunden so gut ich kann. Muss reichen so. Mit den Verletzungen geh ích mit Sicherheit nich zu `nem Arzt.

Wenn das Brennen und vor allem dieser Fratzendämon nicht zurückkehren, war es das voll wert.

Jetzt erst mal raus aus der einsamen WG. Ich brauch mindestens einen Liter Jacky, um diese Nacht zu verdauen.

(!!!)


* * *



Irgendwann ruft Kristin an, will wissen, wie es mir geht. Das ist echt lieb von ihr, aber ich glaub, ich will sie erst mal nich wiedersehen. Sie erinnert mich zu sehr an diesen bizarren Abend.

„Nee, allet jut.“ Ich lüg ein wenig, weil ich nicht will, dass sie vorbei kommt, um nach mir zu sehen. „War schon irgendwie krass. Und dit Zeug hat halt schon so `n bisschen übel gebeamt. ... Wat war dit denn?“

„I don`t know. But – isn`t it fantastic.“

„Mhm.“

Anscheinend merkt Kristin, dass ich sie nich sehen will. Vielleicht will sie auch mich nich mehr sehen. Es bleibt unausgesprochen, aber als ich auflege, weiß ich, dass es das war mit uns beiden.

Wie jeden Abend steigt auch heute wieder bodenlose Angst in mir auf, als es draußen dunkel wird.  Ich hatte noch nie Angst vor der Dunkelheit, aber nun legt Panik kalte Hände um meinen Hals.

Ich geh ins Bad und check den Verband. Verdammt. Die Schnitte scheinen einfach weiter zu bluten. Ich seh genauer hin, aber da ist nichts. Nur drei blutverkrustete rote Linien. Ich will mit den Fingern drüber kratzen, es wegmachen, aber das soll man bei so Wunden wohl eher nich tun. Ganz leicht fühl ich in den Schnitten immer noch die Hitze brodeln.

Eddie ruft an. Er will wohl wieder bei seiner Freundin einziehen. Ich weiß nicht mal, ob ich es besser finde, allein zu sein oder nicht. Immerhin muss ich so meine augenscheinlichen Probleme gerade vor niemandem verstecken.

Schnell raus hier, ins Helle, unter Menschen.

Irgendwo – bei Gitti? - penne ich hackedicht ein.

Ein paar Dunkelheiten später kommen die Hallus nur noch sporadisch zu Besuch, der Dämon wird ruhiger, nebelhafter. Anscheinend hat ihn das Blutopfer beruhigt. Gut. Trotzdem ... Ich weiß nicht weiter.

Die Wunden auf meinem Arm brennen nun auf andere Art und Weise, aber so doll, dass ich nicht schlafen kann. Ich desinfiziere sie mit einer Verdünnung aus Farins Wasserstoffperoxid für seine blonden Haare. Das Zeug zeckt ordentlich, aber der neue Schmerz fühlt sich nach echter Reinigung an, heilsam.

* * *



Durch mal wieder viel zu wenig Schlaf verwischt alles, nicht nur vor meinen Augen, auch in meinem Kopf.

In der Eisenacher bleib ich vor so einem super schrägen Esoterikladen stehen. Irgendwas zieht mich hinein.

„Hallo!“ Die Frau hinter der Theke strickt und ist zudem noch extrem klischeehaft in Batik gehüllt und mit vielen bunten Kristallen behängt.

„Ähm, entschuldigen Se, aber jibt et vielleicht ... Also, jibt et och noch andere Tarots als dit Thoth von Crowley?“

„Aber sicher, mein Lieber.“ Sie legt das Strickzeug zur Seite und führt mich zu einem Regal, in dem einige Kartensets liegen. Keines erregt wirklich meine Aufmerksamkeit. Ich erwart irgendwie, dass die Karten zu mir sprechen, so wie es bei Manus Tarot der Fall war. Sollte da nicht sofort eine Verbindung sein? Mhm ...

Die Frau legt mir ihre Hand auf die Schulter. Es erstaunt mich, dass sie meine ganze Aufmachung in schwarzem Leder und mein zerrocktes Aussehen nicht komplett erschreckt. „Ist alles in Ordnung mit dir?“

„Ähm, ja. ... Danke.“ Ich schluck.

Sie sieht mich dennoch weiterhin sehr aufmerksam an. Ihr Blick liegt so lang auf mir, dass trotz der merkwürdigen Situation, etwas in mir beginnt sich zu entspannen und das löst die ganzen Emotionen, die ich so gut es geht, in Schach halt. Sie wollen an die Oberfläche sprudeln, aber ... Das geht nicht. Die sind viel zu wild und ungebändigt. Ich schluck nochmal, schluck sie runter.

Die Eso-Tante greift in eine Schale mit Kristallen. „Hier.“ Sie hält mir einen opaquen schwarzen Stein entgegen. „Der beschützt dich vor negativen Energien. Ich glaube, du kannst den gerade gut brauchen.“

Ich blick auf den tiefschwarz glänzenden Stein, in dem sich gleichzeitig ich und das Universum spiegeln. Das ist natürlich totaler Quatsch, sowohl meine Gedanken, als auch, dass der Stein mich schützen kann, aber es rührt mich, rührt mich wirklich viel zu stark, dass diese Hippiefrau wissen will, wie es mir, dem fertigen Punk, geht, mir helfen will. „Ähm, also wie viel kostet den der Stein?“

„Das ist ein Geschenk. Behalt ihn in nah am Körper, ja?“

„Okay“, ich nicke hilflos. Was soll nach der Nacht vor - keine Ahnung wie vielen - Tagen mir noch Schaden zufügen? Trotzdem will ich sie nicht täuschen, grad weil sie so nett ist. „Also, ick will echt nich undankbar sein, aber ... Eigentlich glaub ick nich so wirklich an so wat ... Esoterisches?“

Sie lächelt. „Du suchst mehr den Weg im Okkulten, hm?“

Na super. Sieht man mir das jetzt auch noch an? Schließlich nick ich, denn ich will sie nich anlügen. Andererseits bin ich mir nach der Nacht auf dem Teufelsberg nich mehr so sicher.

„Das, was du als Esoterik bezeichnest, ist definitiv mit dem Okkulten verwandt. Eine andere Seite derselben Medaille.“ Es klingt, als wüsste sie, wovon sie spricht.

„Hm, okay. Also, danke.“ Ich seh wieder zu dem Regal mit den Karten. „Eigentlich wollt ick nur `n Tarot mitnehmen, aber ... irgendwie sagen mir die Motive nüscht.“

„Ja. Das kommt vor. ... Kannst du zeichnen?“ Sie lächelt, als ich fast schon vehement nicke. „Dann kannst du dir auch dein eigenes Tarot machen. Genau dafür sind die Karten da, dass man seine Gedanken darauf projiziert und reflektiert.“

Als ich den Laden verlass, strahlt der Stein warm in meiner Hosentasche.

In dieser Nacht schlaf ich wieder besser - ohne Alpträume.

* * *



Ein paar Tage später find ich im Briefkasten eine Karte mit dem Tower of London, an der Seite ein Kran – keine Ahnung warum. Mit sehr verwirbelten und gemischten Gefühlen starr ich auf den Kran. Keinen Bock mir die andere Seite der Karte anzusehen, sie zu lesen. Steht wahrscheinlich eh nur drin, dass er in London bleibt. Ich komm auch ohne ihn gut klar.

Ich lass die Karte im Flur auf den Boden fallen. Sie segelt zwischen den Schuhhaufen und ich zieh los ins Risiko. Oder das Sound. Oder den Dschungel. Oderoderoder ...

 

* * *



So `n paar Tage später bin ich wieder in der WG. Ich muss irgendwie mal wieder richtig schlafen. Natürlich fällt mir sofort diese Scheißkarte wieder in die Hände, als ich mich auf dem Boden sitzend aus einem Schuh quäl.

„Hey Bela, echt schade, dass du nicht rüber kommen willst.“ les ich. „Ich würde so gerne mit dir das Nightlife hier unsicher machen.“

Pffff. Nightlife. Als ob ... Unsicher ist wohl eher das Wort der Stunde.

„Mit John und Claire ist es echt nett.“

Na, super. Reib`s mir halt noch mehr rein, Jan.

„Nur die Jobsituation ist eher beschissen und nervt.“

Ein kleines hoffnungsvolles Zucken in mir.

„Und meiner Omi in Blumenthal geht`s nicht so gut. Ich hoffe, es ist nichts Ernstes. Ich häng echt an der, aber hab sie schon länger nicht mehr besucht.“

Super Selbstreflexion, du alter Abhauer. Wär wohl besser, du fährst mal deine Oma besuchen, als in London rumzuhängen und über deine Arbeit zu schimpfen.

Ich bin noch wütender als sonst, obwohl die Postkarte ja eigentlich ein nettes Zeichen ist, aber was helfen mir grad „nette Zeichen“. Ich brauch was ganz anderes. Da gibt es so ein Wort für. Kathar...irgendwas. Jan wüsste bestimmt, wie das tolle Wort heißt, aber ist `n bisschen schwierig, ihn zu fragen.

Ich halt meinen Schuh immer noch in der Hand, in der andern Hand die Karte. Ich überfliege den Rest. Kein Wort davon, dass er zurückkommt, dass er mich vermisst. Scheiße, Jan! Echt, ey. Ich schmeiß die Karte zurück auf den Boden, schlüpf wieder in meinen Schuh. Ich muss auch nich schlafen. Statt der Grabesstille hier, lieber weiter ziehen. Es muss knallen, mich vergessen machen, mich von Jan reinigen. Ob es da wohl auch ein Ritual für gibt? Ich seh auf meinen verbundenen Arm. Mhm. Vielleicht keine Rituale mehr. Auch wenn es wahnsinnig spannend war, so `n bisschen war es schon irgendwie `n Eigentor. Der Arm brennt nur noch so ganz leicht. Immerhin.

Ich blick wieder auf die Karte. Vielleicht geht das Reinigen auch einfacher. Auf einmal hab ich mein Feuerzeug in der Hand, zöger einen Moment, dann halte ich es an eine Ecke der Karte. Der Tower auf London wellt sich in den langsam auflodernden Flammen. Ich drehe die brennende Karte langsam hin und her, sehe wie die Flammen die Adresse erreichen. Das „N“ von Niebuhrstraße wird dunkel und ich humpel mit meinem nur halb angezogenen Schuh rüber zum Spülbecken und dreh den Wasserhahn auf. Etwas spät. Die Hälfte ist kaum mehr zu lesen.

Ach, Mann, Jan!



29. September – Brixton, London

„Your mum called and she wants you to call her back.“ John sieht mich ernst an. „She didn`t sound good.“

Ich will schon aus der noch geöffneten Haustür, aber John hält mich zurück. „Here. Please use our landline.“

„But ...“

„It`s fine, Jan. Really. Please just call her from here.“



1. Oktober

Mein Herz schlägt mir in der Kehle, als ich die Wohnungstür in der Niebuhrstraße aufschließe. Ich lausche in die WG. Stille. Alle Türen stehen offen. Verlassen – die ganze Wohnung wirkt ausgestorben.

Was hab ich auch erwartet? Es ist ja auch die letzten Tage niemand ans Telefon gegangen. Und selbst wenn Bela wüsste, dass ich wieder da bin - er hätte wohl kaum einen roten Teppich für meine Ankunft als verlorener Sohn ausgerollt.

Da Eddie ja immer noch bei mir im Zimmer wohnt, stelle ich mein Gepäck erstmal in der Küche ab und mache mir einen Tee. Seufzend blicke ich auf das Chaos im Spülbecken. Das Geschirr beziehungsweise der Schimmel hat das Machtvakuum in der WG genutzt, um sich wieder erfolgreich auszubreiten. Nun ja, irgendwie bin ich auch mit daran schuld.

Ich schalte das Radio an und lass Wasser ins Spülbecken laufen. Das Wasser ist so heiß, dass es mir fast die Haut von den Fingern kocht, aber irgendwie mag ich den Schmerz. Er hat etwas Reinigendes. Danach sollte ich mich wohl auch mal abwaschen. Der Reisedreck vom Trampen steckt in meinen Klamotten, in meinen Poren. Ich hasse Viehtransporter, aber nach drei Stunden warten, wollte ich einfach nur noch durch die DDR auf meine kleine Insel, West-Berlin.

Jemand stochert im Schlüsselloch – endlos. Ich schalte das Radio aus. Schließlich klappt die Wohnungstür auf. Wieder zu. Schritte im Flur. Mein Herzschlag rast los, was Quatsch ist – wahrscheinlich ist das nur Eddie. Leise gehe ich zur Küchentür. Bela sitzt im Flur auf dem Boden und müht sich damit ab, seine Schuhe abzustreifen. Zu betrunken? Ich mustere ihn. Nein, eher erschöpft. Er ist fast grau im Gesicht, so müde wirkt er.

„Hey!“

Er zuckt heftig zusammen, sieht dann zu mir auf. „Jan?“ Er wirft seinen Schuh auf den Haufen im Flur und steht langsam auf. „Biste dit wirklich oder hab ick wieder nur Hallus?“

Hallus? Er sieht wirklich fertig aus. Die altbekannte Sorge zieht durch mich wie ein Flashback. In den letzten Jahren habe ich ihn in einigen Zuständen gesehen, aber noch nie so, nicht mal in dieser einen Nacht.

Vorsichtig trete ich in den Flur, nähere mich ihm. Seitdem er vor gut zwei Wochen den Hörer aufgeknallt hat, haben wir nicht mehr miteinander gesprochen. Er riecht nicht auffällig nach Alkohol, aber dennoch krass. Seine Lederjacke hängt an ihm, betont das er noch dünner geworden ist. Was hat er gemacht? Nicht nur die letzte Nacht, so wie er aussieht. Seine Haut ist ungesund bleich und stumpf, seine Haare, seine Augen.

„Nee, ick bin`s wirklich, du Knalltüte.“ Durch den blöden Scherz ist meine Sorge noch deutlicher wahrnehmbar, aber ich bin selbst viel zu müde, um meine Fassade aufrecht zu erhalten. „Hey, Bela. ... Bist du okay? Du siehst ...“ Ich finde keine Worte für seinen Zustand, zumindest keine schmeichelhaften.

„Hab nich so viel geschlafen die letzten Tage“, murmelt er in Richtung Boden.

„Speed?“

„Nee … Auch. Ach, egal.“ Er weicht meinem Blick aus. „Und du? Biste jetze wirklich wieder hier? Oder hauste gleich wieder ab?“

Ich denk an Omi, aber … In dem Zustand, in dem wir uns beide befinden, ist es keine gute Idee sich zu unterhalten. Das eskaliert hundertpro.

„Willste einfach pennen gehen?“, frage ich ihn leise.

Er stutzt, hat wohl gemerkt, dass ich seiner Frage ausgewichen bin. Dann nickt er und ich strecke ihm vorsichtig meine Hand entgegen – wie ein Waffenstillstands-Angebot. Nach einem schmerzhaft langen, aber wahrscheinlich verdientem Zögern, ergreift er sie. Unser Handflächen treffen aufeinander wie bei einer Kernfusion und Feuer jagt durch meine Synapsen. Es ist surreal ihn nach der langen Zeit in London wieder zu sehen, ihn zu spüren. Ich will ihn an mich ziehen, näher, enger, will ihn spüren lassen, dass ich wieder da bin, brauche den Abdruck von seinem Körper auf meinem, auf meiner Seele, aber ich traue mich nicht. Gerade ist mir Bela wahnsinnig fremd. Vielleicht ich ihm auch ...

Dennoch schmerzt es, dass er meine Rückkehr so gleichmütig hinnimmt. Er ist so – abwesend, abweisend. Aber ich will nicht betteln. Doch ich kann ihn auch nicht einfach so gehen lassen ...

Belas Hand feuert immer noch in meiner, befeuert meine Sehnsucht, meine Angst, dass ... Ich ziehe ihn behutsam in sein Zimmer, erwarte Gegenwehr – aber er folgt mir einfach. Allerdings direkt begeistert wirkt er auch nicht, eher so als hätte er nicht die nötige Energie für einen Streit. Ich setze ihn auf sein Bett, versuche ihn aus seiner Lederjacke zu pellen, weil es so wirkt, als hätte er auch dafür keine Kraft. Und auf einmal wehrt er sich doch, aber da habe ich sie ihm schon ausgezogen. Als ich sie in der Hand halte, fände ich verbrennen eine gute Idee, so abgewrackt riecht sie. Aber er liebt sie – und ich auch.

Ich knöpfe sein Hemd auf, dass wohl mal weiß war. Blasse Haut und ein Geruch, der mich an den fast schicksalhaften Abend vor drei Monaten erinnert, Eine Mischung aus Angst und Genervtheit übernimmt wieder in mir. Dann überwiegt die Sorge. Er muss raus aus den Klamotten und unter die Dusche, Ich fasse an den Knopf seiner Lederhose.

„Hey, hey, hey! Wat machste denn?“ Schlagartig ist er wieder voll da, grinst mich herausfordernd an. „Sach doch eenfach, wenn de mit mir ficken willst.“

„Sehr witzig, Herr Felsenheimer! In dem Zustand eher nicht. Du gehst jetzt erstmal duschen.“

„Und in welchem Zustand dann?“ Ein geisterhaftes Grinsen und nicht nur das ist gerade geisterhaft. Er sieht aus wie ein Wrack und flirtet mit mir. Und das Schlimmste ist – es funktioniert. Ein Kribbeln läuft durch mich, lädt mich elektrisch auf. So kriegt er also die unzähligen Frauen rum. Und Männer, von denen ich nur ahne, dass es sie gibt. In die WG bringt er ja nie jemanden mit. Wegen mir?

„Duschen.“ Ich bugsiere ihn in unser kleines Bad, setze ihn auf den Rand der Badewanne und ziehe ihm das Hemd über die Schultern. Auf einmal macht er sich ganz steif.

„Dit kann ich selber, du Henne!“

„Mann, jetz nerv nich. Du kannst ja kaum stehen.“

„Nee. Jetz lass mich. ... Bitte!“

Mein Alarm, mein ganz speziell auf ihn abgestimmter Alarm, beginnt zu schrillen. Ich gehe vor ihm in die Hocke und ziehe am Ärmel.

„Autsch. Du tust mir weh, Jan.“

Ich schwanke zwischen verzweifelt und genervt. Es ist, als hätte er in den drei Monaten einfach wieder an diese eine fast fatale Nacht angeknüpft. Dabei wollte er doch ... Ich packe seine Hand.

„Auuuu. Lass mich, du blödes Arschloch.“ Er faucht mich an wie eine Katze, wahrscheinlich zu Recht. Mit seiner freien Hand trommelt auf meinen Brustkorb und ich kippe fast um. Es tut weh, aber nicht mehr weh, als das, was zwischen uns gerade so überhaupt nicht stimmt. Das Wiedersehen hatte ich mir echt anders vorgestellt.

Verdammt. Ich will ihm nah sein, auch wenn das hier eine andere Nähe ist, als ich sie erwartet habe. Ich atme langsam einmal tief durch, versuche die Barriere in meiner Brust zu durchbrechen. Wie war das nochmal mit „Heinrich, der Wagen bricht.“? Aber wir sind hier ja ganz klar nicht an einem märchenhaften „… und dann lebten sie zusammen glücklich bis an ihr Lebensende“ angekommen.

Ich stehe auf, ziehe ihn mit mir behutsam vom Badewannenrand hoch, ziehe ihn in meine Arme, will den Abstand verringern, aber er kämpft weiter gegen mich. Sein purer Wille besiegt mich trotz seines wackligen Zustands fast, aber ich bin körperlich stärker, wenn ich will und ich weiß, wenn es wirklich für ihn nicht okay wäre, dann würde er mich beißen oder mir zwischen die Beine treten, irgendwas tun, um wegzukommen.

„Bela, ick ...“

Langsam wird sein Ankämpfen gegen mich schwächer, eher ein Anlehnen. „Du bist ein echter Idiot, Urlaub!“ Es klingt nicht sehr leidenschaftlich.

Vorsichtig lasse ich ihn los und er sinkt erschöpft zurück auf den Rand der Badewanne. Er lässt mich nun ohne Widerstand an sein Hemd, aber sieht mich nicht an. An einem Ärmel sind dunkelrote Spritzer. Aus dem Ärmel schimmert etwas. Ich ziehe vorsichtig daran. Ein Verband? Ich lasse ihn los, als hätte ich mich verbrannt.

„Bela, was ist das?“

„Nüscht.“ Er zieht seinen Arm weg. Schlagartig flammt seine Wut wieder hoch. „Und jetz verpiss dich, Vetter!“ Er schubst mich in Richtung Tür und ich stolpere mit dem Rücken gegen den Rahmen. Kurz bleibt mir die Luft weg. Ich hasse es, wenn mich jemand so anpackt. Da kommen ganz alte, böse Gefühle hoch, aber – hier stimmt gerade etwas ganz gewaltig nicht.

„Vergiss es! Was ist das?“ Ich greife nach seiner Hand, ziehe den Ärmel höher. Ein Verband. Eindeutig. Schmutziges Grau. Um seinen ganzen Unterarm, sein Handgelenk. Was zur Hölle ...? Bevor er sich wieder wehren kann, ziehe ich in grausamer Vorahnung den anderen Ärmel hoch. Weiße, unversehrte Haut.

Ich knie mich vor ihn, versuche uns auf Augenhöhe zu bringen, aber er starrt weiterhin auf den Fliesenboden. „Bela ... Kann ich das bitte sehen?“ Ich versuche, es so sanft zu sagen, wie ich kann mit der eiskalten Angst in meinem Herzen, zeige auf den dreckigen Verband, sehe, dass meine Finger zittern. Scheiße.

„Nein!“

„Okay.“ Ich versuche ruhig und vernünftig für uns beide zu sein. „Dann gehen wir halt zu `nem Arzt!“

„Mach ick doch schon“, motzt er.

„Hä? ... Oh, Mann. Ernsthaft?“

„Hattest auch schon mal mehr Humor ...“ Er zieht einen Mundwinkel hoch.

„Findste, dass dit hier witzig is?“

„`N bisschen.“ Er versucht nicht sehr erfolgreich ein Schmunzeln und für einen kurzen Moment erkenn ich tatsächlich auch eine gewisse Situationskomik, durch die es sich besser ertragen ließe. Alles lässt sich mit Humor besser ertragen - in dem Fall Galgenhumor.

Ich schäle ihn behutsam aus dem Hemd. Wie ein Häufchen Elend sitzt Bela nun halbnackt und mit hängendem Kopf vor mir. Es – er bricht mir das Herz. Ganz langsam beginne ich den schmuddeligen Verband an seinem linken Unterarm ab zu wickeln. Nun zieht er ihn doch wieder weg und es tut weh, dass er mir nicht zu vertrauen scheint. Aber gerade deswegen kann ich nicht einfach gehen und ihn hier allein sitzen lassen. Ist das hier, was auch immer es war, passiert, weil ich nicht da war, weil ich gegangen bin?

Ich reibe mir über den Brustkorb, weil er weh tut. Etwas drückt ganz seltsam darauf und ich kann nicht mehr so gut atmen. Ich zwinge mich zur Ruhe, sehe ich ruhig an, und mit einem tiefen Aufseufzen gibt er schließlich nach, hält mir mit einem halb ängstlichen, halb schmollenden Ausdruck seinen Arm hin.

Nach ein paar Lagen kommt ein dunkelroter Fleck zum Vorschein. Meine Hände zittern schlagartig so, dass ich mir nicht mehr sicher, ob ich es wissen will. Nein. Wir müssen da jetzt beide durch. Wenn wir sowas nicht hinbekommen, dann ... Ich sehe zu ihm auf. Er blickt zur Seite.

Die letzte Lage fällt nicht, bleibt wie festgeklebt hängen, behutsam spähe ich darunter. Getrocknetes Blut hält sie fest. Vorsichtig trenne ich Haut und Blut, beiße mir dabei so fest auf die Lippen, dass die auch fast anfangen zu bluten. Bela kneift ein paar Mal die Augen zusammen, aber gibt keinen Laut von sich, was es noch gruseliger macht.

Auf seinem Unterarm erscheint noch mehr getrocknetes Blut, darunter drei parallele Schnitte. Nicht direkt am Handgelenk, höher. Zwei sind eher oberflächlich, der Dritte aber ist tiefer und länger. Und es scheint, als hätte er sich wieder geöffnet. Ein wenig hellrotes Blut perlt daraus hervor.

Ich frage ihn das alles nicht. Warum? Warum machst du das? Warum jetzt? Jetzt, als ich nicht da war ... Wofür? Womit? Mit wem? Alleine? Der Gedanke schmerzt seltsamerweise am meisten. Hilft dir das? Gegen was? Und – bin ich schuld?

„Tut das weh?“

„Wat gloobst `n du?“ Viel zu leise. Ich wünschte fast, er wäre wieder so wütend wie vorher.

„Ick würd sagen, es is nicht entzündet, aber sicher bin ick mir nich. ... Kann ick fragen, ob ...Warst ... Warst du das?“

Das Nicken ist so minimal, dass ich mir nicht sicher bin.

„Und ... Mit was, mit was hast de dit ...?“

„Mit ... `ner ...sch...be.“

„Mit was?“ Ich frage so ruhig, wie es mir möglich ist.

„Spie...cherbe.“

Ich verstehe wieder nicht, was er gesagt hat, so leise spricht er.

Er deutet hinter mich und erst jetzt sehe ich, dass der Spiegel am Badschrank fehlt. Kalte, dunkle Angst kriecht zurück in mein Herz.

„ ... ... Und warum?“

„War `ne dumme Idee.“

„No shit!“ Die Wut ist schneller als ich und jetzt geht das Dominospiel los, dass selten zwischen uns stattfindet, aber wenn dann heftig. Mein Domino fällt, stößt gegen seines und ...

„Du verficktes Arschloch.“ Bela springt auf, stolpert ein wenig. „Kommst hier einfach reingerauscht und fängst an mir – mir! – Vorhaltungen zu machen. Sag mal, Farin, tickste noch ganz richtig?“ Er drängt sich an mich, mich gegen die Wand. Die Kacheln in meinem Rücken sind kühl. Sein Gesicht ist so nah vor meinem, dass ich seine dunklen Augenringe, die rotgeäderten Augen in Großaufnahme sehe.

In mir schlägt ein roter Puls, den ich bei seinem ersten Schubs noch unterdrücken konnte. Ein grauenhaftes Gefühl. Ich sollte sofort einen Schritt zurücktreten, aber ich komme nicht von ihm weg.

„What the actual fuck, Bela?“, schrei ich ihn an. Meine Stimme hallt durch unser kleines Bad. Ich weiß nicht mehr wohin mit mir, mit ihm, bin komplett überfordert. Auf Englisch würde man wohl sagen: He is pushing all my buttons. And very sucessfully so. Ich merke, wie mir angesichts seiner Vorwürfe die Kontrolle entgleitet, vielleicht auch weil er nicht unrecht hat. Er macht mich einfach so wahnsinnig. Ist das jetzt das neue Ritual, dass wir uns jedes Mal prügeln, wenn ich aus London zurückkomme?

Sein Herz rast an meinem Brustkorb und sein Trommelschlag tätowiert eine Botschaft an mich in mein Herz, aber ich verstehe sie nicht. Auf einmal wird aus seinem tobenden Drängen, ein erschöpftes sich an mich lehnen.

„Du, Jan?“ Sein schlagartig ernster Tonfall lässt mich aufhorchen. Ich suche in seinen Augen, die nun zum ersten Mal offen am heutigen Nachmittag auf mir liegen. „Sach ma, glaubste, dass ... Also, dieser Club 27 ...“

Jetzt hat er meine absolute, ungeteilte Aufmerksamkeit – obwohl, die hatte er vorher schon. Eine kalte Hand greift nach meinen Eingeweiden und drückt ganz fest zu. Ich atme, zumindest versuche ich es, zwinge mich, unterdrücke den Kotzreiz. Was hab ich alles nicht mitbekommen in den drei Monaten meiner dummen Abwesenheit?

Die alte Überforderung aus viel zu viel Gefühl für ihn und so viel Unsicherheit legt sich wieder auf mich.

„Bela ...“ Auf einmal ist sein Gesicht in meinen Händen und seine Augen liegen so groß auf mir, aber mein Puls wütet immer noch viel zu sehr – und meine Verzweiflung. „Willste de dich umbringen, oder was?“, bricht es schließlich verzweifelt aus mir heraus. „Ist es das?“ Ich lass sein Gesicht wieder los, wische mir über mein eigenes, weil da irgendwas ist. Nass. Ich heul wohl mal wieder. Scheiße. „Ist dit jetz dein neuester Kick, oder wat?“

Erschrocken tritt Bela einen Schritt zurück, wird noch bleicher. „Quatsch. ... Ick lieb das Leben. Sehr. Also, ... manchmal `n bisschen zu sehr.“ Heulen ist anscheinend ansteckend, denn nun höre ich auch von ihm ein unterdrücktes Schluchzen. Er merkt es wohl auch, blickt zu Boden, aber ich sehe sie dennoch silbern fallen. Es ist seltsamerweise besser als diese Fassade, die er mir die ganze Zeit präsentiert, die ihn mir so fremd gemacht hat.

Behutsam lege ich meine Hand an seine Wange, fange eine der Tränen. Er schmiegt sein Gesicht hinein. Seine Wangenknochen fühlen sich so zerbrechlich an meiner Handfläche an. Ich streiche mit meinen Daumen über sie und Belas Augen fallen zu. Er brummt, schnurrt fast wie eine Katze. Die Vibrationen fließen durch meine Fingerspitzen und ich lasse mich gegen seine Stirn sinken, schließe ebenfalls meine Augen.

„Bela …“ Es wird nur ein Flüstern. Auf einmal küsse ich ihn auf die Stirn. Er atmet scharf ein. Es klingt, als wäre er geschockt von meiner Aktion, aber er bleibt. Einen Augenblick verharre ich, suche nach Worten, dann küsse ich ihn auf die Wange, die feucht ist, beuge mich noch ein Stück tiefer. Seine Lippen schmecken salzig und zittern. Seine Zähne hat er wohl auch schon länger nicht mehr geputzt. Ich vergrabe mein Gesicht an seinem Hals. Er riecht wirklich krass, aber eben auch nach Bela, nach allem, was ihn ausmacht und es tut so gut seine Haut warm an meiner zu spüren, ich schmiege mich an ihn, spüre, wie seine Haltung weicher wird, wie er sich an mich kuschelt.

„Jan …“ So leise. So viel zerbrechlicher Bela. So viel zerbrechliches Ich.

Scheiße, scheiße, scheiße. „Warum … Warum hast du das ...?“ Ich schüttel den Kopf, weiß nicht weiter.

Seine Lippen werden zu einer schmalen Linie, er sackt wieder in sich zusammen, löst sich von mir und setzt sich wieder auf den Rand der Wanne. Viel zu weit weg, als wäre er auf einen anderen Planeten geflohen.

Ich setze mich zu ihm, lege ihm vorsichtig eine Hand auf den Rücken. „Okay. ... Ich frag nich nach.“ Es fällt mir so schwer.

Bela presst seine Lippen noch fester zusammen, dann nickt er.

„Jan?“ Er dreht seinen Kopf zu mir. Seine Augen scheinen grün zu leuchten.

„Mhm?“

„Küss mich. ... Küss mich so, als würdeste de mich wirklich lieben.“

Wie kann er das nicht wissen, nicht wissen dass ... Ich erhebe mich, knie mich vor ihn, nehme seine Hände in meine. „Bela, ick ...“

Sein Blick bohrt sich so eindringlich, fast verzweifelt in mich. „Sag es.“

Fuck. Ich will, aber ... ich kann nicht. Ich kann einfach nicht. Wieso fällt mir das so schwer? Gefühle, alte Gefühle und Gesichter wabern hoch, aber ich bekomme das Problem nicht zu fassen, weiß nur, dass es nicht wirklich etwas mit Bela zu tun hat, nicht mit dem, was mit ihm manchmal problematisch ist, sondern ...

Es ist, als müsste ich eine verrostete, riesige Tür aufschieben, die so ohrenbetäubend quietscht und das Geräusch ist wie ein Alarm, ein Hilferuf. Aber ich will ihn einlassen. Verdammt nochmal, ich will ... Ich seufze. Es klingt nicht schön.

Vorsichtig nehme ich sein Gesicht zwischen meine Hände und sehe ihm lange in die Augen. „Ick ... ick hab dich sehr, sehr lieb, Bela.“ Ich lege alles, ich versuche alles – die ganzen komplizierten, komplexen Gefühle für ihn - in meinen Blick zu legen.

Nach ein paar ewigen Augenblicken nickt er. „Okay.“ Langsam, ganz langsam breitet sich ein Lächeln auf seinem Gesicht aus. „Und jetzt küss mich.“

Ich muss gegen meinen Willen grinsen. Es tut gut. „Gerne. Aber erst duscht du und putzt dir die Zähne und ...“

„Sehr charmant, Herr Senheimer!“

„So charmant wie Se riechen, Herr Seegefelder!“

„Nur wenn Se mit unter die Duschen kommen.“

Sich vor ihm jetzt, da wir uns so lange nicht gesehen haben und es nicht direkt das ersehnte Wiedersehen ist, mich vor ihm auszuziehen, ist ... Egal. Ich ziehe mir meinen Wollpulli über den Kopf, mein T-Shirt.

Belas Augen wirken auf einmal dunkler, er streckt seine Hand aus, streicht mir über den Brustkorb. Ein Schauer breitet sich auf meiner Haut aus, unter meiner Haut. Seine Finger malen elektrische Kreise, dann halten sie auf einmal inne.

„Was ist das hier?“ Er fährt über eine Stelle an meinen Rippen.

„Was meinst ...?“ Dann fällt mir ein, was seine Aufmerksamkeit auf sich zieht.

„Das ... Das ... erklär ich dir ein andermal. Okay?“

„Hat dir jemand weh getan?“ Er mustert mich mit zusammen gekniffenen Augen, wird ein paar Zentimeter größer, aber als ich den Kopf schüttel, sieht er mich nur fragend an.

Schnell ziehe ich den Rest meiner Klamotten aus und steige an ihm vorbei in die Wanne. „Komm!“

Ich ziehe den Duschvorhang um uns beide und auf einmal sind wir einfach nur Jan und Bela und ganz viel heißes Wasser, dass alles wegzuwaschen scheint, was nicht gestimmt hat.

„Kannst du ...?“ Bela sieht mich mit einem so schmelzend bittenden Ausdruck an und ich bin echt gespannt, was er fragen wird. „Kannst du mir die Haare waschen, bitte? So wie damals ...“

Ich küsse ihn auf den Kopf und bekomme den Mund voller Wasser. Dieser Typ wird niemals aufhören, mich zu überraschen. Im Positiven, wie im Negativen.

„Klar. Ist besser, wenn de dein Arm aus`m Wasserstrahl hältst.“

„Okay.“ Er hält sich an der Duschstange fest, als würde er im Bus fahren und ich muss grinsen. Es tut verdammt gut.

Ich schnappe mir die Schaumaflasche. Der Geruch von grünen Äpfeln erfüllt das kleine Bad. Bela schließt die Augen, vielleicht weil er es genießt, vielleicht weil ihm sonst der Schaum in die Augen läuft und für noch mehr Tränen an diesem Abend sorgt.

„Danke, Jan!“, höre ich ihn unter meinen Fingern brummen. Ich lasse meine schaumigen Hände auf seinen Rücken gleiten, über seine Rippen, die viel zu deutlich unter meinen Fingerspitzen zu fühlen sind. Ich spüle den Schaum aus seinen Haaren, die nun ungewohnt glatt an seinem Kopf liegen, ihn noch zierlicher wirken lassen.

Vorsichtig ziehe ich ihn an mich, weiß nicht, was ich gerade will. Ich greife nach der Seife, beginne an Belas Brust. Sein Körper ist mir so fremd und vertraut zugleich. Es ist wie ein Wieder-Kennenlernen.

„Hey, Bela!“ Er blinzelt mich gegen den Sprühnebel der Dusche an. Das Wasser verschmiert den Kajal um seine Augen. Es sieht aus, als würde er schwarze Tränen weinen. Ich wische sie behutsam weg, aber das schwarz lässt sich nicht aufhalten „Ick ... Ick lie...“

Er nickt, bevor ich den Satz vollenden kann. „Ick dich och, du Dussel.“ Wir scheinen uns wieder ohne Worte zu verstehen.

Bela küsst mich auf die Brust und meine Brustwarzen reagieren sofort auf ihn. Fast erwarte ich, dass er etwas versucht, wünsche es mir, aber Bela schmiegt sich ganz still an mich, während das heiße Wasser auf uns beide herab prasselt.

Als das Wasser kühler wird, schalte ich die Dusche aus, wickle Bela in ein Handtuch, rubbel ihm die Haare etwas trockener, wodurch sie wieder ordentlich vom Kopf abstehen. Da wir keine frischen Handtücher mehr haben, klaue ich seins. Ein Schmollen, ein Murren, dann rückt er es raus. Von der heißen Dusche dampft seine Haut förmlich. Er geht er hinüber zum Waschbecken, vermutlich um seine Haare zu ordnen, aber da ist kein Spiegel mehr.

Ich drücke ihm seine Zahnbürste in die Hand, suche meine aus dem Rucksack in der Küche. London wirkt gerade wahnsinnig weit weg.

Bela lächelt mich mit dem Mund voller weißem Schaum an. „Tut gut“, versteh ich und nicke. Es ist, als würden wir uns beide gerade in etwas zurückverwandeln. In uns beide - Dirk und Jan, die vom Anfang, als wir noch unschuldig - unschuldiger waren. War Bela je so? Wahrscheinlich nicht, aber irgendwie lieb ich das auch an ihm.

Ich verbinde seinen Arm neu, so gut ich kann. Mir wäre wirklich lieber, ein echter Arzt würde sich das ansehen, aber vielleicht weist der dann Bela einfach irgendwo ein, weil er denkt ... Ich klebe ein Pflaster über den Verband und unterdrücke einen Seufzer.

Wir huschen über den kühlen Flur und landen in meinem Bett beziehungsweise Eddies. Hoffentlich kommt der nicht ausgerechnet jetzt nach Hause, aber ich kann gerade nicht an ihn denken. In mir ist nur Bela. Bela. Bela!

Meine Matratze ist in meiner Abwesenheit nicht größer geworden, aber ich bin froh, Bela so nah bei mir zu haben. Vor dem Balkon fällt dunkelblaue Oktoberdämmerung über Berlin. Ich bin zurück – auch wenn meine Ankunft sich etwas anders gestaltet hat, als erwartet. Ich bin immer noch so aufgewühlt, dass ich mich nicht verstecken kann. Alles in mir ist offen und ich will es nicht verstecken, auch wenn es sich gefährlich anfühlt.

Ich lehne mich gegen Bela, der mich müde ansieht, dann lächelt.

„Du bist wieder da.“

Ich streiche durch seine langen, langen Haare. Drei Monate ... Nach dem Duschen sind sie zwar verstrubbelt, aber ganz weich und trotzdem immer noch ein bisschen struppig, so als wäre das ständige Toupieren in die DNA der Haarsträhnen übergegangen.

Er, wir riechen nun fast zu frisch nach Seife und ich wünsche mir ein wenig der vorherigen Version von ihm zurück, den wilden, ungezähmten Bela.

Bela kuschelt sich neben mir unter die Decke, an mich. Ich kann meine Augen nicht von ihm nehmen, stütze mich neben ihm auf einen Ellbogen. Er sieht schön aus, sieht sogar in seinem kaputten Zustand so verdammt unwiderstehlich aus. für mich ist er eine Mischung aus purer, leuchtender Energie und ganz viel dunklen, tiefen Gefühlen. Ein Engel mit schwarzen Flügeln. Das Bild würde ihm bestimmt gefallen. Vielleicht zeichne ich es mal für ihn.

„Jan ...“ Er zieht an mir, zieht mich zu sich hinunter, zieht mich auf sich, aber ich bin viel zu groß und er so fragil, noch dünner als im Juli. Ich stütze mich über ihm ab, will eine Schutzmauer sein gegen diese Scheisswelt, die ihm wehtut, in die er immer wieder mit offenen Armen rennt, bis er mit Blutenden zurückkehrt. Ich will ihm eine Schutzmauer sein – auch gegen mich selbst und meine Abwesenheit ...

Seine Haut ist so heiß an meiner nach der Dusche. Langsam senke ich meinen Kopf und küsse ihn auf die Schulter, auf seinen Arm, den Verband, weiß, dass ich das vermutlich nicht tun sollte. Es ist, als würde ich sein Verhalten gutheißen. Egal, fühlt sich gerade richtig an.

Bela dreht den Kopf weg. Schämt er sich? Er schämt sich doch eigentlich nie für etwas.

Ich rutsche wieder zu ihm nach oben, fasse ihn vorsichtig am Kinn und zwinge ihn behutsam, mich anzusehen. Er blickt mich aus kajalverschmierten Augen an. Seine helle Iris leuchtet daraus hervor wie eine Supernova – gigantisches, wunderschönes, lebendiges Chaos. Ein gewaltiges Universum.

Der olle Nietzsche fällt mir ein: „Man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können.“

Menschen wie Bela sind selten. Man muss auf sie aufpassen,

„Bela ... Ick wüsste schon gern ... Warum ...?“

Wasser schimmert in seinen Augen, die um etwas zu bitten scheinen. Ich küsse ihn auf den Mund, aber er weicht mir aus. Es tut weh nach unserer vorherigen Nähe, aber ich glaube, ich verstehe, was los ist. Ich mag es auch nicht, wenn man mich so auseinandernimmt, in meinen Raum eindringt, wenn ich so verwundet bin – innen und außen. Und eigentlich hatte ich ja versprochen ihn in Ruhe zu lassen … Aber - warum?

„`tschuldige. Ick wollt dich nich ...“

„Na, toll. Dit macht`s ja viel besser.“ Der bittere Bela ist zurück. Gleichzeitig ist seine Haltung immer noch so verwundbar, erinnert mich an einen geschlagenen Hund, einen der bellt, manchmal beißt.

„So, meint ick dit nich.“

„Wie meinst es `n dann? Hm, Jan?“

„Ick hab ... Ick kann dit grad nich erklärn, vor allem wenn ick nich weiß, was ... Du ... Dit ...“ Ich streiche vorsichtig über den frischen Verband. „Dit hat mir janz schön Angst gemacht.“ Ich küsse ihn vorsichtig, warte.

Einen Moment ist sein Körper ganz starr an meinem, dann wird sein Blick auf mir auf einmal intensiv. „Schlaf mit mir.“ Bittend und eindringlich.

Die Haare an meinen Armen stellen sich auf und – noch etwas anderes. Fuck. Das ist so typisch Bela. Einfach sowas rauszuhauen, nachdem er aussah wie ein Statist aus „Die Nacht der lebenden Toten“. Dennoch – seine Worte entfalten einen Sog. Aber ... Das kann doch nicht ... „Was?“

„Ick will, dass de mit mir schläfst.“ Er streicht über die aufgestellten Haare an meinem Arm, blickt mich so ernst an.

„Aber ...“

Der ernste Blick wandelt sich in einen - ängstlichen? „Weil ... weil de nich willst?“

„Nee ...“

„Also, ... nein?“

„Nee, schon.“ Und ob ich will. Ich hab mir das schon öfter vorgestellt mit ihm, aber ... Ich bin echt unerfahren im Gegensatz zu „Ick kenn alle Betten Berlins“-Bela. Obwohl seit London stimmt das auch nicht mehr so ganz. Das Erlebnis mit John und Claire hat irgendeinen unterirdischen Damm in mir zum Überlaufen gebracht. Ich würde Bela gerne davon erzählen.

„Ich hatte was mit einem Pärchen“, könnte ich sagen. Bela würde mich wahrscheinlich sehr ungläubig ansehen, dann grinsen: „`n Dreier, oder was?“ Vermutlich fände er das gut, dass ich mal ein bisschen rum experimentiere. Oder wäre er eifersüchtig? Seltsamer Gedanke. Bela doch nicht. Oder?

Mein Gesicht wird heiß, als wäre diese Unterhaltung real. Ich mochte die Zeit mit John und Claire, aber ich war nicht verliebt in die beiden, eher verknallt in das, was sie mir gezeigt, eröffnet haben, die Erkenntnis, was ich auch mag, Doch ich habe noch keine Worte für meine neue Entdeckung, bin selber noch zu durcheinander von dem unerwarteten Geschenk, seiner Schönheit.

Ich kehre zurück in die echte Realität. Bela sieht mich so hoffnungsvoll und doch in Erwartung einer Zurückweisung leicht ängstlich an, dass mir meine ständige Zurückhaltung leidtut. Ich scheine genickt zu haben, denn ein Lächeln breitet sich wie in Zeitlupe auf Belas Gesicht aus. Das Strahlen kehrt in seine Augen zurück.

„Ick helf dir, okay?“ Er nimmt meine Hand und führt sie an seine Hüften. Unter meinen Fingern glatte Haut, ich lasse sie weiter wandern, spüre die Wölbung seines Hinterns. Und ich mag seinen Hintern – sehr, aber ...

„Bela? ... ... ... Ick hab das noch nie gemacht.“ Ganz diffus im Hintergrund ist da auch Angst. Angst, dass dies sein nächster Kick ist, nachdem Schneiden nicht mehr hilft.

„Willste denn?“

Ich presse mich an ihn. Ein Grinsen spielt leicht um seine Lippen.Er kratzt leicht mit seinen Fingernägeln über meinen Rücken und ich erschauder. Mhm … Sein „Schlaf mit mir.“ klingt immer noch durch mich. Ich brauch einen Moment, um zu atmen, löse mich von ihm.

„Magste dit nich?“

„Doch. Sehr.“ Zu sehr? Ich beiß mir in einem Anfall von Panik auf die Lippen. Das ist zu groß, der Moment falsch.

„Hey, Jan. Red mit mir. Verschwind nich wieder.“ Bela lehnt sich zu mir hoch. „Bleib, Jan. Bitte“, flüstert er mir zu.

Ich weiß genau, was er meint, kämpfe gegen die Wand, die mich schützen will vor viel zu viel Gefühl. „Aber ... wir werden einander nur wieder weh tun. Vielleicht retten wir besser einfach, wat noch jut is. Unsere Freundschaft, die Band.“

„Nur Freundschaft is für mich zu spät. ... … … Und bei dir?“

„Ick find dit so schön mit dir. Du bist mir verdammt wichtig. …“

„Aber?“

„… Aber es überfordert mich.“

„... Nur jetzt grade oder ... immer?"

„Jetzt." Ich küsse ihn. Minzgeschmack auf unseren Lippen und dann Belas Blick auf mir - so hilflos und komplett offen. „Ick lieb dich wirklich, Jan.“

„Schei...“

Er lacht traurig. „Okay, das ist auch eine Antwort.“

„Nee, so meinte ick dit nich.“

„Wie denn dann?“

„Na, wenn de sowas zu mir sachst, dann ... Ick versuch, echt `ne klare Linie zu haben für uns, damit wir wieder klar kommen, das wir wieder miteinander funktionieren, nach dem … mit Jacques und auch …“ Ich sehe auf den Verband, der auf seiner weißen Haut kaum Kontrast bildet.

„Ick will keene Linien, Jan. Ick will dich.“

„Und die ganzen anderen Leute?“ Ich versuche, es so neutral wie möglich klingen zu lassen.

Er nickt langsam. „Mhm. ... Die auch. ... Und du willst weiter abhauen aus Berlin, hm?“

„Reisen.“

„Okay, dann halt reisen.“

„Ja.“

„Tja, wenn wir dit allet wollen und och uns beide, dann wer`n wir da wohl Kompromisse finden müssen, wa?“

„Mhm.“ Ich streiche über Belas Hals, sein Schlüsselbein. Seine Haut ist so warm und weich, kribbelt durch meine Fingerspitzen. Behutsam schiebe ich meinen Arm unter seinem Nacken durch und ziehe ihn an mich. Ganz nah. „Kann ich dich richtig küssen?“

„Ich bitte darum, Herr Urlaub!“ Bela zieht mich auf sich und dieses Mal lasse ich mich auf ihn sinken, versinke in ihm und uns.





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LYRICS

Boy Harsher - Pain
The Cure - Lovesong
Grant Lee Phillips – Boys don`t cry
Depeche Mode - Precious



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Chapter 36: 1983 - Bühnen

Chapter Text

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* Teenagers in Love *




Lieder und Bilder farbig unterlegt im Kapitel.
Weiterführende Links am Ende.

Inhaltsangabe:
* leicht expliziter Teil im Bahnhofskino



1983 - Bühnen




2. Oktober – Niebuhrstr. 38 b

Bela wälzt sich herum beziehungsweise er versucht es, denn es ist kein Platz.

„Jaaan?“ Er sieht mich zuerst verschlafen, dann mit großen Augen an. „Ick hab dit nich nur geträumt, oder?“ Er kneift mich in den Arm.

„Autsch. Sach ma … Sollte man sich da nich selber kneifen?“

„Och, nö. Tut doch weh.“

„Mhm.“ Ich sehe ihm prüfend in die Augen. „Und? Wie geht`s dir?“

„Gut. Sehr, sehr gut.“ Er schmiegt sich an mich und lege den Arm um ihn, bette seinen Kopf auf meine Brust.

„Is echt schön, dass de wieder da bist. … Warum bist `n du wieder da?“

„Also, Omi ist so `n bisschen mit schuld.“

Ich kann sehen wie Belas Miene sich verdunkelt, aber er ist nicht wütend, sondern enttäuscht und traurig – und das ist schlimmer.

„Ich wäre eh in zwei Wochen wieder gekommen.“

„Und? ... Willste dann wieder zurück ... nach London?“

Ich schüttel den Kopf. „Nee. Irgendwie ist reisen und in einem anderen Land arbeiten, was anderes. Ick fand`s echt nich so cool.“

Bela atmet hörbar auf. „Jut.“ Er kuschelt sich an mich. „Wat war nu mit deiner Oma?“

Ich streiche ihm durch die Haare, die immer noch ungewohnt weich sind. „Also, sie hat seit `nem Monat so Schwindelattacken. Und vor zwei Wochen ist sie in der Küche gestürzt. Oberschenkhalsbruch. Zum Glück nichts Schlimmeres. Nach der OP und dem Krankenhausaufenthalt hat Muttern sie nach Frohnau geholt und jetzt soll ich helfen sie zu pflegen, „weil ich ja ansonsten eh nichts Wichtiges zu tun hab“, geb ich die originale Formulierung meiner Mutter wieder.

Um auf andere Gedanken zu kommen, wühle ich in meinem Rucksack. „Ick hab dir übrigens wat mitgebracht aus London.“ Ich überreiche Bela leicht nervös das Hemd. „Ick hab nochmal dit Gleiche in weiß. Ich hab gedacht, dann können wir so zusammen auf die Bühne gehn.“

„Awww.“ Gerührt drückt Bela das schwarze Totenkopf-Hemd an seine Brust. „Es ist – perfekt! Danke, Jan! Dit is echt ... Ick lieb dit voll.“ Vorsichtig wie etwas sehr Wertvolles legt er das Hemd über den Stuhl, dann küsst er mich auf die Wange, auf den Mund, zieht mich im Nacken noch fester an sich und auf einmal sind wir wild am rumknutschen. Mit einer energischen Bewegung drückt er mich zurück auf meine Matratze, lässt sich halb auf mich sinken und presst sich mit einer eindeutigen Bewegung an mich.

„Ick weiß, was de gestern gesagt hast und keine Angst, ich lass dir da Zeit, aber ... ick will dich fühlen. Kann ick dich anfassen?“ Belas Hand tastet über meinen Bauch.

Mir ist das Knutschen so dermaßen zwischen die Beine geschossen, dass ich nicht mehr rausbekomme als „Bela ...“

Er schiebt seine Hand in meine Boxershorts. Fuck, hab ich das vermisst mit ihm. Ich will ihn auch anfassen, aber er schiebt meine Finger von seiner Hüfte weg. Mit einem liebevollen Blick streicht er mir den langen Pony aus dem Gesicht und flüstert mir ins Ohr: „Ick will grad nur dich. Ick will dich hören und sehen und fühlen.“

Kurz macht mich das sehr schüchtern, aber seine Finger bewegen sich so geschickt, dass ich nicht lange darüber nachdenken kann. Belas Mund ist immer noch an meinem Ohr. Auch sein Atem ist schneller geworden. „Ick glaub, du weißt gar nich, wie schön du bist.“

Ich versuche, mich an seiner Schulter vor seinem aufmerksamen Blick auf mir zu verstecken, aber er lächelt nur. „Und so verschwitzt noch schöner.“ Er wischt mir den Schweiß von der Stirn und leckt seinen Finger ab. „Und lecker.“ Er grinst, dann küsst er das Stöhnen von meinen Lippen.

 

* * *



Beim Frühstück um 14 Uhr sieht mich Bela auf einmal mit einem Blitzen in den Augen an. „Sach ma, ick hab grad an die Ärzte gedacht. Jetze wo du wieder da bist, können wa uns für den Senatsrock-Wettbwerb anmelden.“

„Meinste? Gab`s da nich 1.000 Mark für den ersten Platz?“

„10.000, Alter!“

„Krass! Genial. Ick hab echt viel nachjedacht bei meinen langweiligen Jobs in London. Ick möcht von der Musik leben können.“

„Ick och, Hase!“ Bela schmeißt sich auf meinen Schoß. „Dit is unser Sprungbrett, Farin. Monika aus`m Schwarzen Cafè hat mir dit vorgeschlagen. Sie is dort in der Jury und meinte, wir hätten gute Chancen.“ Belas Augen glitzern, als wäre schon ein Bühnenspotlight auf ihn gerichtet. „Hans hat nich so richtig gezogen.“

„Oh.“ Den hatte ich voll vergessen. Ich schüttel betroffen den Kopf. „Habt ihr eigentlich mit den Ärzten weitergemacht?“

„Nee. Ohne dich hätt dit ja nu nich so viel Sinn gemacht. Hans schreibt ja so gut wie keene Songs und ick ...“

„... war mit anderem beschäftigt.“ Ich streiche über seinen Verband. „Wie fühlt sich`s an?“

„Viel besser.“

„Mhm.“ Ich lehne mein Gesicht an seine Schulter, streichel ihm leicht über den Rücken, kuschel mich an ihn. Ist verdammt kühl hier in der Küche. „Hast mich echt erschreckt gestern.“

„Ick weeß.“ Er seufzt tief und dann bricht die ganze lange Geschichte aus ihm heraus. Ich bin wirklich froh, dass er sie mit mir teilt, aber es ist auch nicht leicht ihm auf diesen verschlungenen düsteren Wegen zu folgen. Ich kann seine Faszination sogar ein wenig verstehen, aber – das ist echt nicht meine Welt. Bela kann ich mir – leider? – viel zu gut darin vorstellen.

Er rückt ein Stück von mir ab und sieht mich etwas schräg von unten her an. „Ähm, übrigens von wegen Hans ... Ick gloob, der is grad so `n bisschen sauer auf mich.“

„Oh. ... Warum?“

„Also, er hatte so `n Date mit `ner echt schicken Braut und ick bin dann mit ihr auf die Toilette gegangen zum, ähm, Ficken.“ Er nimmt schnell einen langen Schluck von seinem Kaffee.

„Ach, Mann, Bela! Musste dit sein?“

Er funkelt mich empört an und knallt die Tasse auf den Tisch. „Die wollt nüscht von ihm. Außerdem kann se dit ja wohl auch selber entscheiden.“

„Schon. Aber trotzdem ...“

Er überschlägt die Arme vor seiner Brust und fällt durch die fehlende Balance fast von meinem Schoß. Schnell fange ich ihn auf. „Ick find Sex halt geil und es gibt einfach so viele tolle Menschen.“

„Mhm.“ Er hat ja nicht unrecht, aber manchmal frag ich mich schon ...

Auf einmal wird Belas Miene traurig – richtig traurig.

„Hey!“ Ich drücke ihn an mich. „Was `n los?“

„Ick ... ick hat auch was mit Gudrun.“

„Gudrun? Gudrun Gut?“

„Ja ...“

Wow. „Also, dit is ja nun keen Grund zu gucken wie `ne Trauerweide.“

„Mhm.“, macht mein kleiner Maulheld viel zu leise. Normalerweise würde er total angeben damit oder zumindest ein bisschen.

„Was war denn los?“, frage ich ebenfalls leise, streiche ihm durch seine Mähne.

„Irgendwann hat se sich einfach nich mehr gemeldet. Ick bin ihr noch so `n bisschen hinterhergelaufen. Ick glaub, ick hab mich so `n bisschen zum Idioten gemacht.“

„Warst echt verliebt, hm?“

Bela wirkt echt geknickt. So habe ich ihn noch nicht besonders oft gesehen.

„Dit tut mir echt leid. ... Aber es is doch besser, dass du dit hattest mit ihr anstatt gar nich? Oder?“

Er sieht mich einen Moment nachdenklich an, dann lächelt er minimal. „Hast recht. Hat trotzdem weh getan.“

Ich ziehe ihn ganz fest an mich, atme tief seinen Geruch am Hals ein.

„Danke“, murmelt er an meiner Schulter. „Dit tut echt gut.“

„Warste ... viel unterwegs? Mit andern?“

„Schoooon“, murmelt er in meine Haare.

„Och mit Typen?“

„Nee. Irgendwie waren`s dieses Mal nur Frauen.“

Ich seufze, verdaue die Info. Immerhin anscheinend keine Typen, soweit er sich erinnert. Weiß auch nicht, warum es das leichter macht.

Er löst sich ein Stück von mir und mustert mich ein wenig trotzig. „Hatteste denn gar nüscht mit jemandem in London?“ Es klingt auch ein wenig ängstlich und irgendwie finde ich das gut.

Soll ich das jetzt erzählen? Ich atme ein, aus. „Doch.“

„Oh.“

„Wie oh? Dit klingt ja fast so, als würdeste mir dit nich zutraun?“

„Also, Chancen hätteste mehr als jenuch - och hier in Berlin. Ick gloob, du kriegst manchmal gar nich mit, wie manche Leute dich ansehen. Sowohl uff der Bühne, aber och so auf der Straße.“

„Echt?“

„Allerdings. Vielleicht sollt ick dich da gar nich so drauf hinweisen.“

„Eifersüchtig?“

„Machst ja eh nix.“

Ich hebe eine Augenbraue.

„Wat war jetzt los in deinem tollen London?“

„... Ähm, ... Sacht dir „Batcave“ was?“

Seine Augen beginnen zu strahlen. „Hatteste was mit Batman? Oder mit Robin? Oder mit beiden?“

Ich muss lachen angesichts seiner Fanboy-Freude. „Nö, aber „beide“ is trotzdem `n gutes Stichwort.“ Ich erzähl ihm zuerst von Nigel, der ihm so ähnlich gesehen hat, und Bela wirkt fast ein wenig geschmeichelt, dann von Claire und John, aber lasse den Bondage-Teil weg, weil ich – ich muss das selbst noch verstehen.

„Schick.“ Er sieht mich anerkennend an. „Ick hätt och gerne mal `nen Dreier.“

„Dit hattest doch schon oft genuch.“

„Stimmt. Aber ick hätt gern mal einen mit noch `nem anderen Typen.“ Seine Finger wandern über meinen Wollpulli. „Zum Beispiel mit dir.“

„Mhm? ... Oh. Echt?“

„Dit ist doch nich abwegig.“

„ ... Also, du meinst `ne Frau, du und icke?“

„Exakt, du Schnellchecker.“

„O-okay.“

„Okay?“ Belas Miene verzieht sich in vorsichtiger Begeisterung.

„Ja. Muss halt mit der Frau stimmen, ne?“

Bela grinst. „Cool.“ Dann wird seine Miene auf einmal wieder ernster. „Sach ma ... wie sehr mochteste denn die zwei Leute in London?“

„Claire und John?“

Ich genieße es einen Moment, dass er wohl doch ein wenig eifersüchtig ist. „Brauchst keene Angst haben. Die sind vor allem unglaublich nett und ...“

„Ick hab keene Angst.“

„Sicher?“ Ich kann es nicht lassen nachzuhaken.

„Also, schon ... so `n bisschen. Aber ... Ick hab halt eher Schiss, dass de jemanden findest, die oder der deine Leidenschaft fürs Reisen teilt, und och keen Bock auf Drogen und Saufen hat und dann seid ihr weg auf jahrelanger Weltreise.“

Ich streiche Bela über die Haare und schmieg mich an ihn. „Da brauchste keene Angst haben. Ick hab Ecky und ick such gar nich nach anderen Leuten für`s Reisen. Dafür bin ick viel zu gern allein unterwegs.“

„Mhm. Okay.“

„Aber ick hätts schon schön gefunden, wenn de rüber nach London gekommen wärst.“

„Mhm. ... Jetz biste ja hier.“ Bela beugt sich über mich und seine Lippen sind so fordernd auf meinen, sein Körper so heiß an mir, dass ich einfach mit ihm auf dem Schoß aufstehe und ihn hinüber trage in sein Zimmer.

Wir kommen den ganzen Tag nicht aus dem Bett.


3. Oktober – Proberaum Tempelhof

Ausnahmsweise ist mal Hans zu spät, nich ich. Jan hat sich in Rage geredet, aber nich weil er auf Hans sauer ist, sondern über unsere Popstarkarriere. Seine roten Backen und glitzernden Augen gefallen mir enorm gut und ich überlege, wie viel zu spät Hans wohl kommen wird, denn dann könnten wir vorher noch …

„Also, ick mein dit ernst. Ick will wirklich mit Musik meine Kohle verdienen. Mit nur Konzerte spielen, klappt dit aber ja nur mehr schlecht als recht. Ick will `ne Platte mach... Mund zu, Bela. Et zieht.“

„Ääähh ... äh.“ Ich krieg kein vernünftiges Wort raus, so baff bin ich.

„Matzge und Jörg ...“

„Fukking.“ Das ist inzwischen schon ein Reflex.

„Genau der“, grinst Jan. „Schön, dass de deine Sprache wieder jefunden hast. Also, die ham uns doch angeboten, dass sie `ne EP mit uns aufnehmen wollen.“

„Okay. Und an wat haste gedacht?“

„Uff jeden Fall muss „Teenagerliebe“ drauf.“

„Uff jeden Fall.“ Ich küsse Jan auf den Mund, aber der redet einfach weiter.

„Und von dir „Mein Teddy“. Ick lieb dit Lied.“

Vielleicht strahl ich noch mehr als sein 1.000-Watt-Grinsen.

„Und dann wollt ick noch „Grace Kelly“ drauf machen, weil dit grad der 1. Todestag von ihr war.“

„Jute Idee.“

„Dit mag sogar meine Mutter. Die ist auch so `n Riesenfan von ihr gewesen. Durch sie hab ick die und Marilyn eigentlich erst entdeckt. Sie finds nur komisch, dass ick im Text schreibe, dass ick wat mit ihr hatte.“

„Hättste wohl wirklich gern gehabt, wa?“

Jan lächelt dieses leicht schüchterne Grinsen, bei dem mein Herz immer überläuft vor Liebe für ihn. „Und - ick hab `n neues Lied geschrieben.“

„Hä? Wann denn?“

„Heut morgen.“

„Du spinnst.“ Er spinnt wirklich.

„Nee. Et heißt Anneliese Schmidt.“ Jan spielt es mir vor und erklärt mir, bei welchen Parts ich die zweite Stimme singen soll. Es klingt ziemlich genial, aber ...

„Und – wat soll die EP kosten?“

Jans Lächeln wird schmaler. „Is nich billich. 2.-3.000 Mark.“

„Vergiss es, Alter. Keene Chance.“

„Vielleicht doch.“ Jan sieht mich etwas zögerlich an. „Ick hab meine Mutter gefragt – und ...“ Nun kann er das Strahlen nicht mehr verstecken.

„Nein. Ernsthaft???“

„Krass, oder? Sie will dit natürlich allet zurück. Dit heißt wir müssen jetzt echt abliefern, aber ... Ist dit nich geil?“

„Fuck.“

„-ing.“, grinst mich Jan an. „Sie hat gesagt, dass sie dit einmal macht. Wenn`s dann nich klappt ...“

„Und Gerd?“

Seine Miene verdüstert sich. „Der weeß nüscht davon.“

„Aber 3.000, Alter ... Wie sollen dit gehn? Wenn wir dit versemmeln, dann ...“

„Werd ick Nachtschicht am Fließband machen. Aber, hey, wir machen dit schon.“

„Deinen Optimismus möcht ick ham.“

Jan scheint wirklich von der wilden Tarantel gebissen zu sein. Er packt mich um die Mitte und hüpft mit mir durch unseren Proberaum. Als ich ihn in Richtung kleine Couch ziehe, öffnet sich quietschend die Tür. Hans ist da. Na, super.

 

* * *



„Huiuiiuiiiii! Dit klingt ja eher nach Katzenmusik, als nach Punk.“ Farin sieht mit einer gezückten Augenbraue hinüber zu Hans. „Vielleicht sollteste zumindest mal deinen Bass stimmen. Dein Verstärker is viel zu hoch gedreht und das „Hey!“ – wär schon cool, wenn dit im Takt kommt.“ Er schüttelt den Kopf.

Hans schraubt hektisch an seinen Seiten. „Ich hatte keine Zeit wegen meines Studiums. Aber du musst mir jetzt auch nicht direkt Vorwürfe machen, oder?“

„Mhm, tja. Hast recht. Aber ey, für die Platte muss dit sitzen, dit is dir schon klar, oder?“

Hans nickt, wenn auch ein wenig verzögert für meinen Geschmack.

„Wir müssen jetz insgesamt `n bisschen häufiger proben.“ Ich bin voll auf Farins Seite, gerade weil Hans das alles nicht so ernst zu nehmen scheint – zumindest nicht so ernst wie Jan und ich, obwohl ich auch keinen Bock auf üben hab. „Dit Konzert für den Senatsrockwettbewerb steht och an. Dit is dir schon bewusst, oder?“

Hans nickt und wir spielen das Lied noch dreimal durch. Langsam wird es minimal besser.

Danach gehen Farin und ich noch ins Risiko, Hans nach Hause ein Referat fertig machen.

„Na, biste auch wieder da?“, fragt Blixa Farin, als er mir mein Bier hinstellt. „Bela hier war schon ganz traurig.“ Blixa bekommt immer mehr mit, als man denkt. Hm. „Wo warste denn?“

„In London.“

Während sich mir der Magen umdreht, nickt Blixa anerkennend.

„War ganz okay, aber ... Irgendwie ist es schön, wieder in Berlin zu sein.“

Mein Magen entspannt sich wieder und ich genehmige mir einen großen Schluck von meinem Bier. Mhm. Kühl, bitter. Lecker! Und mein einziges heute Abend. Tja.

Blixa lächelt Farin leicht verschwommen an. Keine Ahnung, auf was er schon wieder ist und ob Jan es merkt. Ein kleines bisschen bin ich neidisch. Seit Jan wieder hier ist, versuch ich mich echt zusammen zu reißen mit meinem „Konsum“. Gar nicht immer so einfach.

„Haste gute Musik mitgebracht?“, fragt Blixa leicht schleppend. „Wenn de `ne Kassette da hast, kann ich `n Lied von auflegen!“

Farin sieht mich erstaunt an. Das ist eine verdammt große Ehre. Er zieht eine Kassette aus seinem Rucksack und gibt sie Blixa. „Also, dit is wahrscheinlich so `n bisschen ungewöhnlich, aber dit Lied liegt mir echt am Herzen.“

Klingt echt gut. Ist mal was anderes hier im Risiko. „Dit sind die Specials, oder?“

Farin nickt mich erfreut an. „Cool, oder?“

„Absolut.“ Ich leg meine Hand auf seinen Oberschenkel und er legt seine darüber.

Man merkt, dass auf einmal ganz viele Gespräche verstummen und sich immer wieder Leute zur Theke, zu Blixa wenden, der sich gedankenverloren im Takt hin und her wiegt. Ein paar Leute nicken, andere sehen eher verwundert aus.

Als das Lied zu Ende ist, gibt Blixa Farin die Kassette zurück und mustert ihn interessiert. „Wusste gar nich, dass du so politisch bist, Grinsemann?“

„Naja, ick hab so `n paar wichtige Erfahrungen gemacht in London.“

Klingt ganz schön bedeutsam, wie Jan das sagt. Vielleicht hätte ich doch zu ihm rüber fahren sollen – auch ein paar wichtige Erfahrungen machen, was auch immer die genau waren. Ich hab irgendwie das Gefühl, dass ich da noch längst nich alles drüber weiß.

Blixa nickt bedächtig mit seinen Stecknadelpupillen. „Right on, Farin, right on!“


14. Oktober - Wannsee

Der Herbst zieht golden durch Berlin mit viel tiefblauem Himmel und fast stillt dieses Szenario meine Reiselust. Bela und ich fahren auf den Fahrrädern runter an den Wannsee und laufen unter den bunten Blättern an der Havel entlang – bis wir wieder an diese Scheißmauer stoßen.

Als Bela eine Blätterschlacht startet, ist das eingesperrt sein wieder vergessen. Außerdem sind wir ja nicht wirklich eingesperrt, nicht so wie die drüben.

Wir wälzen uns so dermaßen im Laub, dass ich noch Stunden später Blätter aus Belas Mähne zupfen kann.


16. Oktober - Messe Berlin

Der bisher seltsamste Gig. Auf der Berliner Funkausstellung. Keine Ahnung, warum diese ehrwürdige Institution uns wollte, aber sie zahlen gut und mit der EP brauchen wir alles an Kohle, dass wir kriegen können. Plus jede Art an Bühnenerfahrung für den Wettbewerb. Vielleicht erschließen wir uns ja auch ein ganz neues Publikum.

Obwohl – ich weiß nicht. Ein paar ältere Damen sehen mich leicht geschockt an, als sie verstehen, von was ich da singe. Dabei ist das doch eine Verneigung vor der wunderschönen Grace Kelly.


Meine Welt stürzte ein wie ein Kartenhaus
Ich brach auf der Stelle in Tränen aus
Und das Volk weinte mit mir
Warum hat Gott das zugelassen?
Ich kann es immer noch nicht fassen



Nach dieser Zeile scheinen wir doch auf einer Wellenlänge zu liegen,die älteren "Frau im Spiegel"-Leserinnen und ich. Ich seh sogar, wie eine Frau ein Taschentuch aus ihrer Handtasche holt. Na, also. Geht doch.


Und wir bekommen einen Brief, dass wir beim Senatsrockwettbewerb angenommen sind. Yeah ...


21. Oktober

Wir brauchen so dringend Kohle, dass wir einen Auftritt an der FU annehmen, obwohl der am gleichen Tag stattfindet wie der Senatswettbewerb. Bela sagt, dass er das mit Monika so organisiert, dass wir beide Gigs spielen können. 

Außerdem melden wir uns bei der GEMA als Künstler an.

„Guck ma, Farin! Da kann man och `n Künstlernamen angeben.“ Bela trägt begeistert „Bela B.“ ein. „Geil. Jetz is dit richtig offiziell. Irgendwie hab ick jetz och `n besseret Gefühl. Vielleicht wird dit ja wirklich wat mit unserer Platte und dann regnet es pinke-pinke für uns.“

Er springt von seinem Anmeldeformular auf und tanzt in einem imaginären Geldregen durch unsere kleine Küche. Ich packe ihn um die Hüfte und drücke ihn gegen die Spüle. Fuck. Wie oft kann man eigentlich an einem Tag kommen?


27. Oktober – Niebuhrstr. 38 b  

Ich erwache von Gepolter in der Küche. Bela ist nicht mehr im Bett. 8 Uhr. Okay. Normalerweise bin immer ich als Erster wach. Hoffentlich ist mit ihm alles in Ordnung. Im Klo singen lauthals die Stray Cats. Wahrscheinlich hat es ihn dorthin verschlagen, um diese für ihn nachtschlafene Uhrzeit.

Ich muss grinsen, auch wenn es oft nervt, dass Bela musiktechnisch keine Rücksicht nimmt auf schlafende Leute. Immerhin ist es heute nicht drei Uhr morgens.

Ich quäle mich aus seinem Bett. Puh, ganz schön kühl geworden die letzten Tage. Wir haben natürlich verpeilt rechtzeitig Briketts zu bestellen und auch ansonsten fehlt uns mal wieder die Kohle an allen Ecken und Enden. Deswegen bleiben wir einfach die meiste Zeit bei Bela im Bett.

Die Klotür steht weit offen und im Flur riecht es nach angebratener Butter. Ich will gerade einen Schritt in die Küche machen, als mir auf einmal die Küchentür entgegenfliegt und sich schließt.

„Nich guuuuckeeen!“, höre ich Bela dahinter schreien. „Dit is `ne Überraschung.“

„Ähm, okay.“

„Geh einfach wieder ins Bett“, tönt es dumpf durch die Tür, während Brian Setzer singt:

 

Is it any wonder, why I love you so
Oh you were my first love
When your arms met mine
You just stole my heart for all time


Keine Ahnung, was jetzt wieder in ihn gefahren ist, aber Überraschung klingt eigentlich ganz gut.

Eine halbe Stunde später schwingt die Zimmertür auf und Bela taucht beladen mit einem dampfenden Teller und einer dampfenden Tasse auf.

„Eierkuchen?“

„Genau.“

„Äh, danke.“

„Du weißt es echt nich, oder?“

„Was denn?“

„Na, allet Jute zu deinem Zwanzigsten, Alter. Ab jetzt geht`s bergab mit der holden Jugend.“

„Oh. ... Is schon Dienstag?“

Er kneift kurz nachdenklich die Augenbrauen zusammen. „Ick bin mir relativ sicher.“

„Mensch. Danke. Du bist echt ein Schatz!“ Ich küsse ihn auf die Wange und er sieht sehr zufrieden mit sich aus, als er mir die Tasse mit heißem Kakao in die Hand drückt. „Ick hätt`s echt vergessen.“

„Vermutlich weil ick dich so verzaubert hab.“ Er sieht noch zufriedener mit sich aus. „Und heute Abend lad ich dich ins Kino ein.“

„Cool. Haste schon `ne Idee für`n Film?“

Belas Miene bekommt dieses verschmitzte Grinsen, das meist abenteuerlicheren Ideen vorausgeht. „Yup. Im Bahnhofskino läuft „Cherry – Ménage á trois“ von Russ Meyer und ick dachte, dit passt doch janz jut.“

„Is dit nich so `n Softporno?“

„Jenau. Weeßte noch dit Bild bei mir im Zimmer?“

„Die Frau mit den echt großen Titten?“

„Exakt.“ Seine Augen werfen Sternchen über mich. „Erica Gavin“, seufzt er. „Die spielt da leider nich mit, aber dafür `ne Krankenschwester. Ick bin mir sicher, sie wird dir auch gefallen. Magst de eigentlich große Brüste?“

Ich nicke mit etwas heißen Wangen.

„Jut. Auch wenn ick da jetzt nich so mit Aufwarten kann.“ Er schlüpft aus seinem T-Shirt und streckt mir seine dünne Brust entgegen. Ich beiße spielerisch in eine Brustwarze, was ihm ein wundervolles Stöhnen entlockt und die Eierkuchen werden kalt, weil ...


Bahnhof Zoo, Kino

Wir fahren mit dem Bus die Kantstraße rauf, am Zoo entlang. Draußen ist es schon dunkel und natürlich regnet es. Herbst in Berlin. Brrr! Nur die ganzen Leuchtreklamen erhellen die nasse Straße. Ich presse mein Gesicht an die Scheibe. Sieht schön aus.

An diesem späten Dienstag Nachmittag haben sich außer uns nur noch zwei vereinzelte Herren in „Cherry“ verirrt.

Der Film beginnt mit einer Erzählung über die schlechten Seiten von Marihuana und dem Drogenhandel an der Grenze zwischen den USA und Mexiko. Ich bin tatsächlich so drin, dass ich ganz erstaunt bin, als die Kamera auf einmal auf eine Nahaufnahme von ziemlich großen Brüsten schwenkt.

Bela neben mir vibriert förmlich in seinem Sitz. „Ick wollt dit immer schon mal machen mit dir.“ Er beugt sich noch ein Stück näher zu mir, bis er fast auf meinem Schoß sitzt. „Biste schon hart?“

„Bela!!!“, zische ich in die Dunkelheit neben mir.

„Ist doch okay. Wat denkste denn für wat dit hier is? Also?“

„... Schon so `n bisschen.“ Ich muss tatsächlich mal kurz meinen Schritt rejustieren. Es liegt nicht nur am Film, sondern vor allem an Belas ständigen Berührungen, die durch mich kribbeln. Er schiebt seine Hand auf mein Knie, höher, lässt seine Finger über meine Jeans gleiten.

„Mhmmmm“, brummt er schließlich zufrieden. „Ick könnt dit noch `n bisschen mehr werden lassen“, flüstert er mir lasziv ins Ohr und allein das wirkt schon.

Mir liegt das „Wie?“ schon auf der Zunge, als Bela fragt: „Kann ick dir einen blasen? Oder vielmehr saugen. Mit blasen hat dit ja nu eigentlich nich so viel zu tun.“

Ich ziehe die Luft ein und das „Hier?“ gerät ziemlich quietschig.

„Dit is so `ne Phantasie von mir. So `n bisschen „erwischt werden“-Spannung. Du kannst och gar nich nein sagen“, grinst er mich im Halbdunkel an. „Dit is nämlich Teil deines Geschenks.“

Ich muss so laut loslachen, dass einer der Einzelherren über die typische 70er Jahre Musik tatsächlich ein empörtes „Psst“ von sich gibt, das so gar nicht hilft, um mein Gelächter einzudämmen. Genauso wenig Belas selbstgefällige Miene im Licht des Projektors. Erst als seine Finger meinen Reißverschluss aufnesteln und und er leicht zu packt, vergeht mir das Lachen.

„Oooh“, entkommt mir ein Keuchen. Nein ist keine Option mehr. „O-okay.“

„Echt?“ Belas Augen leuchten so, dass sie der Leinwand Konkurrenz machen.

„Ja.“

„Aah, geil.“ Er lässt sich von seinem Sitz auf den Boden gleiten und klettert zwischen meine Beine. Er klappt den Reißverschluss zur Seite und – ich atme nur noch ganz flach. Allein das Gefühl seiner Finger reicht schon, dass ich mir die Hand vor den Mund halten muss. Oooh ... Ich verstehe schon, was er an dieser Idee so faszinierend findet.

Das Gefühl seiner Lippen, seiner Zunge an meinem Schwanz ist krass. Um zu verdecken, was hier gerade passiert, beuge ich mich ein Stück nach vorne und stoße mit meinem Bauch Bela etwas tiefer.

„Sorry, sorry!“ Schnell beuge ich mich zurück, aber Bela nimmt nur meine Hände und legt sie sein Gesicht. „Oh, das ist geil. Mach weiter. Zeig mir, wie de dit magst.“

Ich kann mich immer wieder durch seine Wangen fühlen, was ziemlich krass ist, aber ich traue mich nicht wirklich mehr zu machen. Doch als ein tiefes, tiefes Stöhnen von Bela durch meinen Ständer vibriert, ist es mit der Zurückhaltung vorbei, was Bela noch mehr Stöhnen lässt. 

Ich keuche ihn seine Haare, suche hektisch nach seiner Gürtelschnalle. Oh, fuck!


5. November - FU Audimax – Die lange Nacht der neuen Namen

Das verwöhnte Studipack findet unseren Auftritt seeehr viel weniger witzig als wir auf der Bühne. Egal. Die Uni hat unseren Auftritt gut bezahlt und außerdem sind wir jetzt perfekt aufgewärmt für den Wettbewerb. Der ist eh wichtiger. Wir müssen nur noch rechtzeitig hinkommen.

„Was für eine Scheiße.“ Bela fährt sich theatralisch über seine verschwitzte Stirn. „Können Se vielleicht noch `n Zahn zulegen, Meister?“

„Wenn Se noch `n Zehner drauflegen – vielleicht, M-e-i-s-t-e-r!“, erwidert der Taxifahrer.

Ich bin halb begraben unter meinem Verstärker. Neben mir jammert Bela weiter. „Och, Menno. Nüscht trinken, nach dem ick so auf der Bühne gerackert hab.“

„Wirste schon überleben.“ Ich drehe mich zu ihm. „10.000 Mark stehen auf dem Spiel!“ Ich küsse ihn und das Gejammer hört auf.

In dem Moment dreht sich Hans vom Beifahrersitz zu uns nach hinten. Seine Augen werden enorm groß, als er uns sieht. Durch die viele Zeit, die ich mit Bela verbracht habe, ist mein Zensursystem etwas beeinträchtigt. Außerdem hatte ich vergessen, dass Hans ja nicht weiß, gar nicht wissen kann, dass Bela und ich ... Aber er sagt auch nichts, sieht nur wieder nach vorne.

Endlich sind wir auf der Potsdamer. Noch eine rote Ampel, dann sind wir vorm Quartier Latin und jetzt ist nur noch schnell, schnell, schnell angesagt.

Monika war echt eine Riesenhilfe. Sie hat alles so arrangiert, dass wir als letzte auftreten.  

Wir schnappen den ganzen Kram und rennen durch die Tür. „Wir sind die Ärzte und treten heute beim Wettbewerb auf“, schreit Bela einem Typen entgegen. Anscheinend sind ein paar der Helfer*innen eingeweiht, denn sie bringen uns sofort in den Teil hinter der Bühne.

Hoffentlich läuft alles glatt.

Wir starten mit „Tittenmaus“. Bela ist noch etwas außer Atem von der ganzen Rennerei, aber singt sich bravourös durch das Lied.

Super Anfang, aber jetzt müssen wir ein bisschen auf die Gute Laune drücken. Das bleibt einfach unsere Geheimwaffe gegen die ganzen semi-professionellen, überwichtigen Mucker hier.

Uns geht’s prima, beginne ich nach dem Gitarrenintro, während Bela den Takt trommelt.

Der Jubel bei unserem Auftritt ist mehr als euphorisch. Bela hat per Telefonlawine wirklich jeden Mensch angerufen, den er in Berlin kennt und für unseren Auftritt mobilisiert. Allerdings hat er dabei auch einige blöde Sprüche kassiert und kam ganz traurig in mein Zimmer.

„Ratze hat gesagt, dass ich den echten Punk verrat.“ Ich habe ihn auf meinen Schoß gezogen und ihm zur Aufmunterung meinen Entwurf für das Cover unserer EP gezeigt.

„Wow. Krass. Ick mach och `n Cover.“ Und Zack war er in seinem Zimmer verschwunden, weil er auch was zeichnen wollte. Mal sehen, wie wir uns Covermäßig arrangieren.

Gitti, Pony und Tessa klauben vom Boden Eintrittskarten auf und werfen sie in Stapeln in die bereitgestellten Abstimmboxen. Keine Ahnung, ob das erlaubt ist, aber ich werd mit Sicherheit niemanden darauf hinweisen.

Da wir der erste von insgesamt fünf Konzertsonntagen sind, müssen wir jetzt über einen Monat warten bis wir wissen, ob es geklappt hat.

Man würde sich bei uns melden.

 

*
*




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LYRICS

Depeche Mode – Never let me down again
die Ärzte – uns geht`s prima
The Specials - Racist Friend
die ärzte - Grace Kelly
Stray Cats - bring it back again
Cherry - Raquel Theme


ADDITIONAL SONGS

Ode an das Bahnhofskino - Bela B. (feat. Peta Devlin, Smokestack Lightnin‘)
Lyrics

Die Ärzte – Uns geht`s prima
live 1985
live 2011

The Specials - Free Nelson Mandela
Lyrics


SETLISTS & AUFTRITTE

die Ärzte – Berlin FU Audimax – die lange Nacht der neuen Namen – 5.11.1983 - live Setlist

die Ärzte – Berlin Quartier Latin – Senatsrockwettbewerb – 5.11.1983

Poster FU Audimax – Die lange Nacht der neuen Namen


CLUBS

Quartier Latin


VIDEOS

Berlin: Wieder entdecktes Filmmaterial in Farbe aus den Siebzigern | Spirit of West-Berlin 1977


*

Chapter 37: 1983 - Schwansen

Chapter Text

*



* Teenagers in Love *





Lieder und Bilder farbig unterlegt im Kapitel.

Weiterführende Links am Ende.



1983 - Schwansen





14. November – Niebuhrstr. 38 b

„Hey, Bela? Wo bist `n du?" Es ist echt angenehm, dass Bela gerade so viel häuslicher ist.

„Hier in der Küche. Haste Hunger? Es gibt Nudeln."

„Cool. Gerne."

Bela setzt mir einen dampfenden Teller vor. Ich sehe auf seinen Arm. Langsam verheilt es, aber eine Narbe ist noch recht sichtbar, wenn man weiß, wo man hinsehen muss.

„Also, ick war heut wieder in Frohnau. Omi meinte, sie hat Heimweh. Sie will zurück nach Hause. Und ... also, ick hab angeboten mitzukommen."

„Du fährst wieder weg?" Belas Miene verschließt sich wie eine Auster.

Ich hole tief Luft. „Komm doch mit."

„Wat soll ick `n da in ...?"

„Sieseby."

„Wo is `n dit überhaupt?"

„In Schwansen."

„In Schwanzen? Hmm, hört sich jut an. Vielleicht komm ick doch mit."

„Mann, Bela. Dit is einfach `n kleener Ort in Schleswig-Holstein."

„War ick noch nie. Is da nich och dit Meer."

„Ja, schon, aber jetz nich direkt an Omis Gartenzaun. Da ist nur die Schlei, aber die is och schön."

„Oh, schade. ... Und wat kann ma da sonst noch so tun?"

„Na, ma sehn wat der Punk uff´m Dorf so macht!"

Er überlegt. „Aber wär et nich besser, wenn wir beede ma gucken, was der Punk hier so macht? Du hast doch jesagt, wir brauchen neue Lieder und ... überhaupt."

Ich ziehe ihn hinüber zu mir auf meinen Schoss. Da er heute seine langen Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden hat, küsse ihn in den Nacken. „Komm mit. Bitte."

Er brummt ein „Vielleicht."

„Willste ma mitkommen nach Frohnau, damit de meine Oma kennenlernen kannst?"

Es ist nicht direkt Begeisterung, die sich auf Belas Gesicht spiegelt, aber er nickt.


21. November

„Aber, junger Mann, was ist denn mit ihrer Hose? Hatten Sie einen Unfall?"

Frau Jensen beziehungsweise „Omi", begutachtet mit Laserblick durch ihre Brille meine kaputte Jeans. „Äh, nö."

„Dit kennste doch och von mir." Jan scheint es ein wenig peinlich zu sein, dass seine geliebte Großmutter mich gerade so unter die Lupe nimmt.

„Und die ganzen Ringe an Ihren Fingern. ... Sind sie ein Rocker?", erkundigt sie sich vorsichtig bei mir.

Jan muss so lachen, dass er Schluckauf bekommt. „Och, Omi!" Er streichelt seiner Großmutter über die Schultern und ihr Gesichtsausdruck wird etwas milder.

Ich find`s gut, dass sie es mir ins Gesicht sagt und nicht so hinten rum über mich redet, aber ... leicht wird es mit uns beiden wohl eher nicht.

„Kaffee und Kuchen sind fertig." Jans Mutter scheucht uns vom Flur ins Esszimmer und die Situation entspannt sich ein wenig. „Juliaaaa! Kommst du bitte runter?", ruft sie die Treppe rauf.

Im Esszimmer steht eine sehr festlich gedeckte Tafel und jetzt hab ich noch mehr Schiss, dass ich mich daneben benehm, obwohl ich Frau Vetter echt dankbar für die Ablenkung bin, denn so ein bisschen macht mich Jans Omi nervös. Noch mehr allerdings Gerds Anwesenheit, der mit einer Zeitung am Ende der Kaffeetafel thront.

Aber es ist schön, Julia mal wieder zu sehen, die gerade die Treppe hinunterhüpft.

„Na, du?"

Julia stellt sich vor mich und ist schockierenderweise mit ihren 13 Jahren nur noch einen halben Kopf kleiner als ich.

„Hallo, Bela!"

„Kannste mal uffhören zu wachsen? Du bist ja schon fast so groß wie icke. Willste Jan überholen oder wat?"

Julia stellt sich auf die Zehenspitzen vor Jan. „Krieg ich hin", erklärt sie überzeugt, woraufhin Jan sie durchkitzelt, bis sie sich vor Lachen krümmt und dabei fast einen Stuhl umwirft.

Ein stechender Blick erscheint hinter der Zeitung und sofort lässt Jan seine Schwester los.

Ich setze mich so weit weg von Gerd wie es geht und lande neben Jans Oma. „Danke, Uta. Dit sieht echt lecker aus", sage ich besonders auf Höflichkeit bedacht.

„Das ist ja ein wenig sehr unkonventionell, dass mit dem Duzen." Frau Jensen sieht zuerst mich leicht tadelnd an, dann ihre Tochter.

War wohl nicht so erfolgreich mein Ausflug in den Knigge.

„Ach, Mama, das ist doch heute nicht mehr so ein Problem. In meiner WG haben wir uns doch auch alle geduzt ..."

„Ich bin schon froh, mein Kind, dass du da nicht mehr bist bei diesen ..."

„Hippies, Omi!", sagen Julia und Jan wie aus einem Mund und grinsen sich breit an. Auf einmal muss auch Frau Jensen ein wenig lachen, was die Familienähnlichkeit zwischen den netten Teilen der Familie Vetter-Marciniak enorm betont.

Frau Jensen reicht mir den Marmorkuchen. „Bitte, Herr Felsenheimer!"

Jan spukt fast seinen Kakao über den Tisch.

„Ähm, Frau Jensen?" Sie sieht mich aufmerksam an. Diesen Blick kenn ich irgendwo her und es fällt mir nicht mehr ganz so schwer zu fragen: „Wegen dem Duzen – also dit wär mir ehrlich jesacht lieber und können Sie mich bitte Bela nennen?"

„Also, ... ich kann es versuchen, wenn Sie das möchten, Herr ... Bela!"

„Äh, ja. ... Danke."

Jan beginnt von seinen Abenteuern in London zu erzählen – also, zumindest von den Jugendfreien.

„Also, ich versteh das nicht mit diesem Pank."

„Ganz meine Rede, Schwiegermama", pflicht ihr natürlich sofort der olle Gerd bei.

„Punk, Omi!", versucht Jan ihr zumindest ein paar Basisbegriffe beizubringen.

„Und wegen diesem - Punk! – musstest du jetzt nach England?"

„Nee, wegen Arbeit!"

„Aber die gibt es doch auch hier in Deutschland, mien Jung."

Gerd wirkt, als würde er gleich in Applaus ausbrechen.

„Ja, aber ick wollt halt mal wieder raus."

„Du und deine Reiseleidenschaft. Ich weiß wirklich nicht, von wem du das hast." Frau Jensen seufzt und Gerd nickt so heftig, dass ich hoffe, ihm fällt der Kopf ab.

Ich weiß echt nicht, was ich von diesem Zusammentreffen halten soll und frag mich ernsthaft, was Jan an seiner Oma so mag. Andererseits reagiert Frau Jensen wirklich kein Stück auf Gerds Kommentare – als wäre dieser gar nicht da. Irgendwie wirkt seine anbiedernde Art dadurch noch bizarrer, aber sie wird mir sympathischer.

Nach dem leicht spannungsgeladenen Kaffeetrinken bringen Jan und ich das Geschirr raus.

„Und?" Er sieht mich erwartungsvoll an.

„Na, also, ick weeß nich, ob deine Omi so erbaut ist, wenn ick da mitkomm. Und ehrlich gesagt, ick och nich. Auf dem Gerd-O-Meter ist sie mir etwas zu beliebt."

Jan seufzt. „Mhm. Dit nervt mich och immer, dass der sie so jut findet. Aber ... die kann och janz anders. Willste denn wirklich nich?"

„Wenn dann nur wegen dir, du Arsch." Ich hau ihm mit Schmackes auf den Hintern und genieß sein empörtes Gesicht und den Hauch rot auf seinen Wangen.

„Echt?"

„Mal sehen. Ick versprech lieber nüscht ... Aber ick hab och keen Bock wieder allein in der Niebuhrstraße rumzusitzen."

„Also, ja?" Jan legt seine Arme um mich und sieht mich erwartungsvoll an.

„Ick schein ja nich drum rum zu kommen."

„Yeeesssss!" Jan küsst mich auf die Wange.

„Ick hab noch nicht wirklich ja jesacht, junger Mann."

„Okay."

In dem Moment kommt seine Mutter zur Tür rein. Sie wirft einen erstaunten Blick von Jan zu mir, aber dann räumt sie einfach den Kuchen in den Kühlschrank und geht wieder raus.

„Sach ma, weiß Uta Bescheid über dit mit uns?"

Jan schüttelt den Kopf. „Nee. Eigentlich würd ick`s ihr schon gern erzählen, aber – ick hab keen Bock, dass Gerd ..." Jan beißt sich auf die Lippen und ich will jeden einzelnen seiner üblen Gedanken wegküssen. „Also, wenn de wirklich dabei bist, dann schneid ick dit Thema mal mit meiner Oma an, okay?"

„Na, die wird sich freun." Ich kann die Skepsis nich aus meiner Stimme raushalten.

„Ick mach dit schon."

„Wenn de meinst. Ick geh ma eine rauchen." Ich ignorier Jans leicht angewidertes Gesicht und geh hinaus in den Garten. An ein paar Ästen der Kastanie hinterm Haus leuchten golden noch ein paar von diesen lustigen Blättern. Auf einmal hör ich aus dem gekippten Küchenfenster Jans Stimme.

„... fänd ich`s echt schön, wenn Bela mitkommt", beendet er gerade etwas, dass sich verdächtig nach einem Plädoyer anhört. Bin ich der Angeklagte? Näher kann ich nich an das Fenster ran, denn Jan, der Asket, würde sofort den Rauch erschnuppern. Immer wieder ein Grund für kleine Seitenhiebe seinerseits. Genussvoll ziehe ich an meiner Kippe.

„Ik weet ja nich, Jan, wat dat so en gode Idee is. De Jung kummt mi al en beten unbehabelt vör." Keine Ahnung, was Frau Jensen da für eine Sprache spricht. Klingt eigentlich schon irgendwie deutsch, aber ich versteh außer ik, jung und Idee nich viel. Außerdem klingt Omi im Gegensatz zu Jan nicht sehr begeistert. Hat ich mir schon gedacht. Das haben sie und ich immerhin gemeinsam.

„Aber ... Bela is mein ... Freund."

„Dat weet ik doch, dat ji Frünnen sünd."

Jan holt Luft, ich halt sie an. „Ähm, Omi, also, Bela ist ... mein Freund, wir sind ... naja, also, wir sind zusammen."

Wow. Mutig. Das Outing hatte ich jetzt nicht erwartet und irgendwie bin ich echt stolz auf Jan, dass er vor dieser älteren Dame so zu sich, zu uns steht. Hauptsache, Gerd kriegt nix mit.

Stille. Verdammt lange.

„Er ist mein richtiger Freund. Wir sind verliebt und ich fänd`s echt schön, wenn er mit nach Sieseby kommen könnte."

Jetzt halten wir eindeutig beide die Luft an.

„Nu ... Also, ... Ik do ma so, as wenn ik dat nich verstohn häv."

„Apropos verstohn, Omi, kannste nich hochdeutsch mit mir schnacken?"

„Ach, mien Jung. Fröh hest du dat doch ok verstohn. Na, wenn du meinst. Also, Jan, ich kann, da nicht viel zu sagen. Vielleicht ist es besser, ich tu so, als würde ich nicht verstehen, was du da andeutest. ... Ich bin da gerade einfach zu ... überrascht und bei uns gab`s das damals nicht."

Frau Jensen ist ungefähr 200 Jahre alt und hat beide Weltkriege miterlebt. Also, auch wenn ich ihre Einstellung echt nicht gut finde oder verstehe – damals war das wohl wirklich noch anders.

„Quatsch, Omi. Natürlich gab`s das. Was glaubste denn, wofür der rosa Winkel im KZ gedacht war?"

Hui. Das eh schon unerwartete Thema nimmt nochmal `ne ganz andere Abzweigung.

„Ach, Junge. ... So hab ich das nicht gemeint. ... Die armen Leute damals ... Natürlich ist ein Freund von dir bei mir willkommen. Das weißt du doch und ..." Ihre Stimme wird immer leiser, anscheinend gehen sie aus der Küche.

Nachdenklich drück ich meine Kippe aus. Ich bin mir echt nich sicher, ob ich mit will.


24. November

An einem Novembermorgen erwache ich und Berlin ist verschwunden. Grauer Nebel hat die Stadt verschluckt. Bela neben mir schläft noch selig. Manchmal sieht er trotz seiner schwarzen Wavermähne aus wie ein unschuldiger Engel.

Aus dem Nebelschleier ragen nur ein paar Baumskelette und die S-Bahn besteht heute nur aus leuchtenden Fenstern, die sich wie eine Lichterprozession viel langsamer als sonst an unserem Haus vorbei schieben. Das sind eigentlich die Momente, in denen ich anfange von italienischen Stränden zu träumen, aber – es sieht schön aus.

Schöner ist nur der Anblick neben mir. Ich kuschel mich vorsichtig an Bela. Die Matratze ist definitiv viel zu schmal für uns, aber irgendwie sind wir heute Nacht mal wieder bei mir im Zimmer gelandet, als wir aus dem Risiko gekommen sind. Wir beide sind gerade viel zusammen im Nachtleben unterwegs. Ich länger, er weniger lang und so treffen wir uns momentan perfekt in der Mitte.

Bela neben mir riecht angenehm nicht nach Alkohol. Mit dem Saufen scheint er sich gerade wirklich zusammen zu reißen – und einerseits freut es mich sehr, andererseits will ich ihn nicht einschränken.

Allerdings hat er sich gestern doch was von dem weißen Pulver genehmigt, wenn ich das richtig mitbekommen habe. Aber wirklich beschweren kann ich mich nicht. Das anschließende Gefummel auf der Toilette mit ihm im Sound war ziemlich geil. Ich mag es, wenn mir Bela bei diesen halböffentlichen Nummern den Mund zu hält und das Verbotene daran hat schon so einen eigenen Kick. Da hat Bela mich echt auf den Geschmack gebracht.

Aber damit ist jetzt wohl erstmal Schluss, denn übermorgen geht es mit dem Zug Richtung Schleswig-Holstein. Ich will gerade gar nicht weg, aber hilft wohl nichts. Ich habe es Oma versprochen – und auch meiner Mutter. Außerdem - ein bisschen freu ich mich auch auf die Ecke da oben und Omis kleine Kate.

Ich sehe zu Bela, der friedlich neben mir schläft und dabei den Großteil meiner Matratze belegt. Ich streiche ihm eine Strähne aus dem Gesicht.

Wenn ich ihn doch nur überreden könnte, mitzukommen. Es würde ihm auch mal guttun, aus Berlin rauszukommen, weg vom weißen Pulver. Aber er ist sich einfach nicht sicher und ich kann ihn ja schlecht zwingen. Das muss er schon selber wollen ...


26. November – Sieseby

„Wieso is`n da Stroh auf`m Dach?" Bela stellt die Koffer ab und beäugt Omis Haus kritisch. „Is dit so `n Wikinger-Ding hier, oder wat?"

„Reet. Das ist ein Reetdach, Bela."

„Noch nie gesehen."

„Na, die habt ihr wohl nicht in Berlin." Omi schließt ihre Haustür auf. „Endlich weda to Huus!" Sie freut sich wirklich, wieder zurück zu sein.

„Aber ..." Bela beugt sich zu mir und flüstert: „Deine Omi hat aber schon `ne Heizung und so. Oder?"

„Naja, sie hat einen großen Kachelofen für das ganze Haus. Aber dit is ja nich besonders groß."

„Nich dein Ernst."

„Doch. Deswegen is dit ja och so `n Problem, dass sie hier allein wohnt. Dit janze Holzgeschleppe."

„Wir heizen also mit Feuer, ja?"

„Genau."

Nun strahlt Bela doch ein wenig. „Cool."

Die Fahrt mit dem Zug durch die DDR, über Hamburg und Kiel war mehr als anstrengend und ich heilfroh, dass Bela dabei war, der das ganze Gepäck durch die Gegend gehievt hat, damit ich Omi beim Gehen unterstützen konnte. Ich glaube sie wahr insgeheim auch froh.

Bela lacht viel zu amüsiert los, als ich mir beim Eintreten den Kopf am Türstock anhaue. Omis kleine Kate ist alt und die Leute waren wohl früher kürzer als ich beziehungsweise ich war früher auch kürzer. Autsch.

„Hier, Jungs!" Wir bekommen die Kammer oben im Dachboden, die ich auch schon als Junge in den Sommerferien immer bewohnt habe. Ich liebe dieses kleine Zimmer, aber dort oben ist nur Platz für ein Bett. Hat Omi ihren Frieden damit gemacht, dass Bela und ich ...?

Anscheinend fällt ihr das auch jetzt erst auf. „Jan, vielleicht schläfst du besser unten in der Stube", schlägt sie stirnrunzelnd vor.

„Nö, dit is schon okay, Frau Jensen. Jan und icke schlafen in Berlin och oft zusammen in seinem schmalen Bett."

Ein leises „Oh" entkommt meiner lieben Großmutter, dann dreht sie sich einfach um und humpelt langsam die Treppe runter.

Nach dem Abendessen mit Schwarzbrot und Rührei nimmt sie Bela beiseite. „So, Junge, du bekommst jetzt erstmal vernünftige Kleidung." Sie zieht ihn in Richtung ihres Schlafzimmers und wirft ihm ein paar von Opas alten Sachen zu. Den grauen Wollpulli kenn ich noch und ich weiß auch noch gut, wie sehr der kratzt. Auf den Pulli folgt eine braune Cordhose, die Omi über Belas Arm legt.

„Dit wird echt schick, Bela!" Ich kann es mir nicht verkneifen. Er tritt mir gegen das Schienbein und wendet sich dann wieder Omi zu: „Vielen Dank, Frau Jensen. Aber dit is doch nich nötig."

Als Bela mein schlecht unterdrücktes Kichern hört, wirft er mir hinter Omis Rücken noch einen Blick zu, der auch einen gestandenen Wikinger getötet hätte.

Es folgen noch ein gelber Friesennerz und ein paar dicke Gummistiefel. Auch wenn Bela es noch nicht weiß, er wird sie brauchen.


1. Dezember

„Ähm, Bela? Also, ick ..." Es macht mich ein klein wenig schüchtern, weil ich einfach nicht weiß, wie er das findet. Deswegen halte ich ihm einfach das selbstgebastelte Ding vor die Nase.

„Wat is `n ditte?" Argwöhnisch begutachtet Bela den Zweig, an den ich aus Butterbrotpapier zusammengeklebte Säckchen gehängt habe.

„Kennste keen Adventskalender?" Ich drehe den Ast um, so dass die Zahlen zum Vorschein kommen.

„Oh ..." Seine kritische Miene weicht einem Strahlen. „Haste denn extra für mich zusammen gefriemelt?"

„Ja und Nein."

„Aha."

„Der is nämlich für uns beide. Ich hab die ungraden Zahlen und du die geraden."

Andächtig starrt Bela auf den Zweig. „Heißt dit, dass da heute für mich schon wat drin is?"

„Genau, du Schlaumeier."

„Cool." Jetzt strahlt er wirklich und seine hellgrünen Augen sind wie tanzende Lichter.  Er zieht mein selbstgemaltes Bild aus dem Säckchen mit der Nummer 1, sinkt auf den Stuhl hinter ihm ohne seine Augen von dem Bild zu nehmen.

„Dit ... dit sin ja wir beide – am Wasserfall in Kreuzberg", flüstert Bela ganz andächtig.

Ich lehne mich über seine Schulter, lege meine Wange an seine. Wir beide sehen echt schön aus zusammen. „Danke. ... Dit is..." Als Bela zu mir aufsieht, schimmert es verdächtig in seinen Augen.

Ich geh in die Knie und lege meine Hand so wie auf der Zeichnung an seine Wange und auf einmal ist meine Kehle viel zu eng.


4. Dezember

„Kann ich Ihnen die Einkäufe tragen, Frau Jensen?"

„Ist schon in Ordnung, Bela! Ich kann das selbst machen. Meine Hüfte ist schon viel besser."

„Aber das macht doch keene Umstände ..." Ich greif nach dem Korb, kurz zieht sie daran und ein Hin und Her entsteht, aber dann lächelt sie dankbar und ich trag ihr den Korb pfeifend über den Wochenmarkt hinterher.

„Sind das ihre Enkel, Frau Jensen?", fragt die Frau hinter dem Stand, an dem Jans Oma ein paar Zweige wegen irgendeiner Barbara kauft.

„Nur der Große." Dann zeigt sie auf mich. „Das ist ... sein Freund."

Jan und ich sehen uns an, denn es ist nich klar, wie sie das jetzt genau gemeint hat.


6. Dezember

Jan hackt seit einer Stunde draußen Holz. Inzwischen hat er schon seine Jacke ausziehen müssen, weil die Sonne echt ordentlich Wumms hat heute Mittag. Fuck, ich lieb es, wenn er so rote Wangen hat und ihm seine Haare verschwitzt ins Gesicht hängen. Sein Pulli dampft in der kalten Luft. Bei mir dampft auch einiges.

Anscheinend spürt er meinen Blick auf sich, denn er sieht zu mir hoch. Ich werf ihm durch das kleine Fenster unserer Dachkammer eine Kusshand zu und er strahlt.

Ich öffne das Fenster. „Ick find ja, dass de bitte sofort ma hier rauf kommst, wenn de fertig bist mit dem doofen Holz."

„So?" Er zückt seine Augenbraue, aber ich seh genau, dass er weiß, was ich mein.

Gepolter auf der Treppe.

„Hier bin ick!"

„Dit ging ja ma fix." Ich halt Jan mein heutiges Adventskalenderdings entgegen.

Er sieht auf den Zettel, den ich gemalt hab und runzelt die Stirn, stutzt. „Is das `ne Rute?" Er sieht zu mir hinüber und hebt eine Augenbraue.

„Jenau", erwider ich fröhlich. „Und wat macht man damit, mein Schatz?"

„Kinder versohlen. Find ich gar nich jut. Außerdem war ich voll brav dieses Jahr, im Gegensatz zu d..."

Ich zieh ebenfalls eine Augenbraue hoch und seh ihn so lange an, bis er wegguckt. Genau, Jan.

„Also, eigentlich hatt ick dit anders gemeint, weil ... Ick dachte, du magst das vielleicht."

„... `ne Rute? .... Oh. ... Mhm." Seine Wangen werden leicht rot. War das jetzt ein Volltreffer oder total daneben?

„Also, ick hab manchma gemerkt, dass de ziemlich drauf reagierst, wenn ick deine Hände mal `n bisschen grober festhalte, wenn wir ..."

In Jans Augen passiert etwas, dass ich als Begehren lese. Lag ich wohl doch nich so daneben mit meinen Beobachtungen. Oder?

Mehr als Knutschen passiert aber nich am Abend im Bett. Schade.


9. Dezember

„Na, Ihr beiden? Kommt ihr denn zurecht mit dem Teig?", fragt Omi aus dem Wohnzimmer. Wir haben darauf bestanden, dass sie sich in ihrem Lehnstuhl vor dem Ofen ausruht. Das beruhigende Knacksen der Glut ist bis hier zu hören.

„Ja, klar", rufe ich hinüber in die Stube und zeige dann mit dem Nudelholz auf Belas Kunstwerke, die er freihändig mit einem Messer aus der Teigplatte schneidet. „Also, ick glaub nich, dass Omi die Penisplätzchen so zu schätzen weiß", flüster ich.

„Das sind Pilze." Belas unschuldiger Gesichtsausdruck sagt alles, dann schleckt er sich betont lasziv die Finger ab, lässt mich dabei keinen Moment aus den Augen.

Als Nächstes schneidet er ein Herz aus und hält es mir entgegen.

Ich lege Holz im Ofen nach, was allerdings dazu führt, dass ...

„Iiiih!!!", quietscht Bela los und sucht Schutz hinter dem Küchentisch. „Deine Finger sind voll Ruß. Geh weg damit."

Ich tu so, als wäre ich ein Zombie aus seinen geliebten Romero-Filmen und wanke mit ausgestreckten Armen und wirklich sehr schwarzen Fingern auf ihn zu. Blöderweise ist sein Versteck hinter dem Tisch eine Sackgasse, aber dann schiebt er mir den Tisch entgegen und flieht die Treppe hoch.

„Aaaaaahhhhhhh ..." Im Hintergrund höre ich Omi fragen, ob wir vom wilden Affen gebissen worden sind. So ähnlich.

Ich schalte einen Zombiegang höher und erwische Bela am Ärmel, bevor er unsere Zimmertür zuschmeißen kann, packe ihn und schmeiß ihn auf das Bett. Schnell fixiere ich mit den Knien seine Arme und streiche mit einem Finger über seine Wange. Das hinterlässt einen wundervollen dunklen Strich auf seiner blassen Haut.

„Neiiiin. Nimm deine schwarzen Pfoten von mir." Bela wehrt sich, aber ich halte sein Gesicht mit einer Hand fest, zeichne ein paar weitere Striche über seine Wange, zeichne Belas wilde Schönheit nach.

„Steht dir." Ich bin ganz verzaubert von meinem lebendigen Kunstwerk.

„Was?" Auf einmal liegt Bela ganz still unter mir.

„Du siehst aus wie ein wilder Krieger."

„Echt?" Langsam verzieht sich sein Mund zu einem Lächeln. Gefällt ihm. Mir auch.

Ich näher mich seinem Gesicht, lecke über seine Lippen. „Wenn wir jetzt in Berlin wären ..."

„Dann?"

„Dann würd ich dich ..." Ich atme tief ein, lasse meine Hände an seinen Hintern wandern.

Er sieht mich mit großen Augen an. „Oh, fuck. ... Fass mich an. ... Bitte."

Ich ziehe ihn vom Bett hoch, drücke ihn gegen die Wand und schließe die Tür. Hoffentlich dudelt das Radio unten in der Küche laut genug Weihnachtsmucke. Mit fahrigen Händen öffne ich seine Jeans und küsse ihn.

Danach sind wir eine wilde Mischung aus aschefarbener und verschwitzter Haut, nicht nur im Gesicht. Wir müssen beide das Lachen brutal unterdrücken, als wir uns im Spiegel mustern. Leise schleichen wir uns runter in das kleine Bad und unter die Dusche.

Bela rubbelt an seinem Bauch herum. „Ick wusst gar nich, dass Ruß in Verbindung mit Wichse so schlecht abgeht. Vermutlich eine chemische Reaktion, wa?" Er sieht mich fragend an.

„Mit Sicherheit, Professor Felsenheimer. Ich denke, sie sollten das einmal genauer untersuchen. Ich würde mich auch für eine Versuchsreihe zur Verfügung stellen."


13. Dezember

„Dit is `n Seil, oder?" Ich schaue nochmal genauer auf Jans gemaltes Kärtchen.

„Öhm, ja. ..." Jan beißt sich auf die Lippen. „Also, ... ick hab nachgedacht über dit, was de mir schenken wolltest, also mit der Rute und ... Also, wenn de Lust hast könnten wir mit so `nem Seil ma wat ausprobieren. ... Vielleicht jetz nich direkt hier, aber wenn wa zurück in Berlin sind."

Ich seh ihn erstaunt an. „Also, mit so `nem Seil kann man ja ziemlich viel verschiedene Sachen machen ..."

„Mhm." Mehr sagt er erstmal nich dazu. Okay. Meine Phantasie ist auf jeden Fall seeehr beflügelt.

„Du muss übrigens heute och schon ein weiteres Türchen aufmachen." Jan drückt mir das kleine Säckchen mit der 14 in die Hand.

„Wegen meinem Geburtstag?" Vermutlich mach ich ein Gesicht wie ein Fünfjähriger, so wie Jan über mich lacht.

„Eine Watt-Wanderung!", les ich. "Is Watt nich so Schlamm?" Tolles Geschenk. Meine Geburtstagsaufregung hat `nen ordentlichen Dämpfer bekommen.

„Nee. Dit is einfach Meeresboden, also Sand. Jedenfalls meistens."

„Und dit an meinem Geburtstag." Ich verdreh theatralisch die Augen.

„Genau. Und wir müssen auch schon um 7 Uhr mit dem Dorfbus los."

„Geil." Ich hau Jan meinen Ellbogen in die Rippen. „Danke, du Sadist!"


14. Dezember – Sankt Peter Ording

Wir fahren früh am Morgen los hinüber an die Nordsee nach Sankt-Peter-Ording, um passend die Niedrigwasser-Tide zu erwischen. Als wir am Vormittag ankommen, ist der Himmel immer noch dämmerungsblau und das Wasser noch dabei sich zurückzuziehen. An der Seebrücke warten wir auf den Beginn der Führung.

„Da kann man doch nich rein gehen." Bela blickt kritisch auf die Nordsee vor uns, in der 50:50 Wasser und Sand sichtbar sind. Aber die wasserbedeckten Flächen nehmen immer mehr ab, wenn man genau hinsieht.

„Wart ma ab. Dit wird schon noch weniger." Wir gehen ein kleines Stück vom Strand hinein. Noch geiler wäre es definitiv barfuß, aber bei den Temperaturen um die 6 Grad bin ich wirklich dankbar für die Gummistiefel. Belas von Opa sind vollkommen überdimensioniert, aber er behauptet: „Quatsch, zu groß. Dit is Glamrock."

„So, jetzt merk dir  ma `nen Bereich und dann beobacht den genau."

„Okay", kommt es etwas gelangweilt zurück. Ein paar Minuten später sieht er mich erstaunt an. „Dit Wasser versickert ja alles. Die Nordsee hat eindeutig irgendwo `n Loch."

Dann beginnt die Wattenmeer-Führung mit einer Expertin von der Schutzstation Wattenmeer. Viele Leute sind wir nicht an diesem windig, kühlen Dezembertag.

Wegen Belas leicht watschelnden Gangs - dank der Glamrock-Gummistiefel - fall ich vor Lachen fast in einen Priel. Es sieht einfach zu witzig aus, wie Bela mit ihnen durchs Watt stapft - wie ein Superheld in Ausbildung.

Wiebke, die Frau von der Schutzstation gräbt mit einem kleinen Spaten im Watt und zeigt uns ein paar der „Schätze".

„Iiiih." Bela versucht zurückzuspringen, vor dem großen, borstigen Wurm, der sich auf der Hand der Expertin ringelt, aber er ist mit seinen Stiefeln so eingesunken, dass er fast auf den Hintern fällt. Schnell fange ich ihn auf.

„Also, ick weeß nich." So komplett angewidert kann echt nur Bela gucken.

„Sie sind wohl eher nicht so der Angler", lacht Wiebke.

Wir gehen ein Stück weiter und sie hebt etwas vom Boden auf. Eine weiße Muschel. „Das ist eine Herzmuschel."

„Echt?" Bela traut sich wieder näher. „Aber ..." Enttäuscht sieht er Wiebke an. „Dit is doch gar keen Herz."

„Dafür muss man eine Ganze finden. Also mit zwei Hälften", erklärt sie ihm. „Wenn man die zusammenklappt, dann ergibt das ein Herz."

„Oh, cool!" Bela beginnt die riesige Sandfläche abzusuchen.

„Und jetzt kommen wir zu dem, was die meisten als das Highlight so einer Wanderung betrachten", verkündet die Expertin nach einer Stunde laufen. „Dort drüben sehen sie die Bank mit den Seehunden und Robben."

„Awwwww!!!" Bela hat Sternchen in den Augen, obwohl die Seehunde mit ihren Jungen wirklich weit weg sind.

Die Führerin hat das wohl auch bemerkt, denn sie gibt ihm extra ihr Fernglas.

„Die sehen ganz flauschig aus", höre ich Bela hinter dem Riesenfernglas säuseln. „Und die gucken voll süß."

„Ja, aber meine Damen und Herren", sagt unsere professionelle Begleitung. „Ich weise noch mal drauf hin, dass sie bitte die Jungen nicht anfassen, falls sie mal eines am Strand finden. Und auch nicht vergessen – Seehunde und Robben sind Raubtiere."

„Ick will trotzdem eins mitnehmen. Schenkste mir `ne kleene Robbe zu Weihnachten, Jan? Büdde!!!" Er hält mir das Fernglas hin.

Okay, ja, die sind echt süß. „Klar. Schwimmst du oder ich rüber?"

„Du. Bist doch `n Gentleman, oder? Außerdem hab ick heut Gebuuuuurtstag."


Nach einer weiteren Stunde kommt das Wasser mit ziemlicher Wucht zurück, da wegen des Mondes der Tidenhub anscheinend höher als normal ist.

„Krass." Bela starrt auf die Wasserpfützen um uns herum, die deutlich an Fläche zunehmen, als wir zurückgehen.

„Das ist wirklich nicht ungefährlich", sagt auch unsere Expertin. „Und viel unterschätzen das."

Die untergehende Sonne taucht nochmal alles in feuerrotes Licht, dann ist sie weg.

Zum Abschied zeigt sich noch die dunkelrote Sichel des Mondes am Horizont.Bela winkt ihr zu. „Tschüss, sagt man hier, oder?"

Als wir auf den Zug zurück nach Sieseby warten, frag ich Bela: „Macht doch Spaß so `n Schlammspaziergang, wa?"

„Mhm. Die kleenen Robben waren soooo süß. Danke, Jan." Bela stellt sich auf die Spitzen seiner gelben Gummistiefel und küsst mich. Ich will, dass es mir egal ist, was die anderen Leute auf dem Bahnsteig denken – und beschließe einfach das es mir egal ist.

„Du hast heute noch gar nüscht von deinem Adventskalender bekommen – weil wir so übelst früh los mussten." Bela sieht mich vorwurfsvoll an. „Aber - tada!" Er hält mir seine geschlossene Faust entgegen. „Mach die Hände auf!"

Ich halte meine darunter und etwas Weißes fällt hinein. „Was ...? ... Aw. Danke."

Im warmen Abteil pennt Bela an meiner Schulter ein. Opas beziehungsweise nun sein Wollpulli kratzen an meinem Arm. Ich drehe meinen Kopf und vergrabe mein Gesicht in seinen Haaren.

Als wir am späten Nachmittag mit ein paar Windböen wieder in Omis kleine Kate geweht werden, duftet dort alles nach frisch gebackenen Waffeln.

Bela schält sich neben mir aus den Glam-Gummistiefeln und seinem Friesennerz. Schnuppernd folgt er dem Geruch wie ferngesteuert in Omis Küche. „Meine Oma hat mir zu meinem Geburtstag auch immer ..." Schlagartig bricht er in Tränen aus. Sie rollen einfach seine Wangen hinunter und fallen auf den Wollpulli.

Omi sieht mich fast geschockt an, dann geht sie zögerlich hinüber zu Bela und täschelt ihm die Schulter. „Na, na, mien Jung." Da Bela gar nicht aufhört, nimmt Omi in schließlich in den Arm und lässt Bela sich einfach ausheulen.

Mit ziemlich roten Augen schaufelt er sich vier Waffeln mit heißen Kirschen und Schlagsahne rein. „Dit schmeckt richtich jut, Frau Jensen!"

„Kann ick vielleicht ma ihr Telefon benutzen? Ick würd gern meiner Schwester allet Jute zu unserem Geburtstag wünschen."

„Hast du eine Zwillingsschwester?"

„M-hm. Diana."

„Ach, das ist ja schön."

„Ja." Bela lächelt versonnen. „Früher sind wir uns echt nah gestanden."

„Und jetzt nicht mehr so?" Omi sieht ihn fragend an.

„Ick ... ick gloob dit liegt so `n bisschen an mir, weil ... ick nich so oft ..." Auf einmal wirkt Bela viel jünger. „Ick vermiss dit schon oft, aber dann ... Dann geh ick doch wieder lieber abends in Berlin weg, als zu ihr nach Spandau raus zu fahren."

„Ruf sie ruhig an."

Ich höre Bela in der Stube. „Allet Jute, Schwesterherz. ... Danke. ... Mhm, lecker. Jans Oma hat hier Waffeln gemacht. ... Ja, genau. Wie früher. ... ... Schön. ... Sach ma, hat ... Papa angerufen? ... Nee? Sicher nicht? ... Mhm. Naja, ick hatte vielleicht jedacht, weil 21 is ja schon so `ne Wegmarke, ne?" Er klingt so verdammt niedergeschlagen. „Bei ihm früher hat dit ja die Volljährigkeit bedeutet. Deswegen hab ick gehofft, dass er vielleicht ... Aber ..." Bela seufzt, dass mir das Herz schmerzt. Omi und ich sehen uns an. Sie wirkt genauso betroffen wie Bela. „Okay, Schwesterchen. Mach et jut. Bis bald, nee. ... Ja, ick meld mich."

Bela bleibt noch einen Moment in der Stube, nachdem er aufgelegt hat. Ich höre ein Schnäuzen, dann kommt er mit einem aufgesetzten Lächeln wieder zu uns rüber. Am liebsten würde ich ihn einfach auf meinen Schoß ziehen, ihn umarmen und einfach nicht mehr loslassen, aber vor Omi wäre das dann wohl doch ein wenig viel. Also spiele ich sein „Alles in Ordnung"-Spiel mit. Aber Omi hat das klar durchblickt.

„Nu, min Jung." Sie mustert Bela aufmerksam. „Möchtest du vielleicht einen steifen Grog?"

Bela sieht meine Oma an, als hätte sie ihm etwas sehr Unanständiges angeboten. „Einen was?", fragt er vorsichtig, während sein Blick hilfesuchend zu mir wandert.

„Eigentlich ist das heißes Wasser mit Zucker und Rum, aber ich mach den immer mit schwarzem Tee."

„Ach, so. Na, da sach ick nich nein."

„Na, wunderbar. Jan will ja nie."


Nachdem ich am Abend den Ofen angezündet habe, hole ich meine Gitarre heraus und klimper ein wenig darauf herum. Omi und Bela sind nun schon bei ihrem zweiten Grog angekommen und die Stimmung ist wieder leichter in der kleinen Kate.

„Wartet mal, Jungs." Mit strahlenden Augen humpelt Omi hinüber in ihr Schlafzimmer und kehrt mit einem Kasten zurück, den sie kaum tragen kann. Zum Vorschein kommt Opas altes Schifferklavier. Sie flüstert mir etwas ins Ohr und lächelt Bela verschwörerisch zu, der uns unsicher beobachtet.

Ich spiele die ersten Takte zu „Dat du min Leevsten büst". Dann fällt Omi mit dem Akkordeon ein.

Belas Augen sind auf einmal ganz weit weg, so als würde er auf das Meer hinaus blicken, dann lächelt er erst mich an, dann Omi. „Dit klingt echt schön, Frau Jensen!"

„Danke, mien Jung. Ich hab schon so lange nicht mehr gespielt." Omi hält ihm ihr Grogglas zum Anstoßen hin. „... Ich bin übrigens die Marieke, aber du kannst mich auch Omi nennen, wenn du willst."

Bela ist selten sprachlos, aber dieses Mal bleibt sein Mund offen stehen. „Oh. ... Gerne. Also, sehr gerne. Danke, Omi!" Dann stößt er feierlich mit ihr an und es ist, als wäre Bela nun wirklich offiziell von ihr adoptiert. Ich leg ein Scheit im Ofen nach, um meine Rührung zu verstecken.

Nach drei weiteren Liedern packt Omi das Schifferklavier wieder zurück in den Koffer. „Wisst ihr, was wir noch machen können?" Ich sehe genau, wie Omi versucht, ihrer verschmitzten Miene einen unschuldigen Anstrich zu verleihen. „Bela, kennst du eigentlich Kinderphotos von Jan?"

„Nee, nee, nee." Hektisch stelle ich mich vor den Schrank, in dem sie die Photoalben verwahrt. „Dit machen wa jetz nich."

Bela grinst mich an. „Leider, leider ist mir diese Ehre bis heute noch nicht zuteilgeworden." Sie haben sich schon längst gegen mich verbündet.

„Aw, niedlich. Ick wusst jar nich, dass du mal so knuffige Hamsterbacken hattest." Bela kneift mich in die Wange und ich beiße ihn in den Finger.

Das wird mir Bela noch in zehn Jahren und wahrscheinlich auf der Bühne im SO aufs Brot schmieren.


Nachts im Bett kuschelt sich Bela an mich. „Ick mag deine Omi."

Ich küsse ihn auf den Kopf. „Dit freut mich." Und das tut es wirklich. „Sie dich och."

„Ich Weiß. ... Hey, Jan?"

„Mhm?"

„Wenn wir - wenn ick mal Papa werd, nee, dann ... Dit darf einfach nie so werden wie mit deinem Vater oder dem Arschloch Gerd oder mit meinem. Wir dürfen nich so werden. ... Okay?"

„Hmmm. Also, ick gloob, dit is nüscht für mich."

„Vater werden?"

„Mhm. ... Weeßt ja wie zuverlässig ick bin ..."

„Hm. ... Ick kann mir dit och nich wirklich vorstellen, aber ... Irgendwie sin wa ja och noch ganz schön jung, wa? Och wenn mir dit oft nich so vorkommt, mit allem wat ick schon erlebt hab."

„Is es sehr schlimm, dass dein Vater ... sich nich mehr meldet?"

Er sagt nichts und ich fühle nur sein Nicken an meiner Schulter.

„Das tut mir leid." Ich lege meine Hand an seinen Kopf und streiche vorsichtig darüber. „Ick weeß nich, wie ick dit finden soll, dass Joachim auf einmal wieder so viel in Berlin is. Aber – is wahrscheinlich besser, als wenn er ganz weg wär. Nur Gerd ..."

„Der könnt sich einfach verpissen, wa?", sagt Bela mit belegter Stimme und dieses Mal nicke ich.

„Danke für den schönen Geburtstag." Bela küsst mich auf die Wange und lässt sein Gesicht warm an meinem liegen. „Vielleicht müssen wir dann so `n bisschen Ersatzfamilie füreinander sein."

Die Vorstellung ist wirklich schön und trotzdem bekomme ich ein wenig Angst. Familie heißt schließlich auch Verantwortung und da sein füreinander. Bisher habe ich das nicht so wirklich gut hinbekommen, befürchte ich.

„Ick lieb dich wirklich sehr, Bela!" Auch wenn der Satz verdammt wahr ist, so ist es nicht leicht ihn so laut zu sagen.

„Mhm", schnurrt Bela warm an meinem Hals.

Ich wünschte, ich könnte so uneingeschränkt lieben wie er – und es auch zeigen. „Und ick hoff, ick enttäusch dich nich zu sehr."

„Mhm, tja ... Wird wohl trotzdem passieren."

Seine Worte tun ein bisschen weh, aber er hat ja recht.


21. Dezember

Lautes Geschrei und jemand zieht mir die Bettdecke weg.

„Schnee! Jan, es schneit!"

„Waas?" Draußen dämmert es erst, aber da ist auch so ein Schimmer von ... „Sach ma, wat is `n in dich gefahren?"

„Schnee, verdammt nochmal! Komm schon."

Jemand packt mich an der Hand, wirft mir meine Jeans zu und den Wollpulli. Bela selbst ist schon angezogen.

„Schnee!!!"

„Ja, ick hab dit schon verstanden." Nun muss ich doch grinsen. „Mein Morgen beginnt um 16 Uhr"-Bela ist vollkommen aus dem Häuschen.

Er packt mich an der Hand, stürmt mit mir die Treppe runter und reißt die Haustür auf. Eine kleine Schneeböe weht auf den Flickenteppich im Flur.

Draußen zieht Bela dann doch erstmal die Kapuze seines Parkas über den Kopf, aber dann strahlt er in den Himmel, von dem unablässig dicke Flocken segeln. Es muss die ganze Nacht geschneit haben, so eingedeckt wie die Häuser schon sind.

Mit einem Plumps lässt sich Bela in Omis Vorgarten rücklings in den Schnee fallen und streckt Hände und Beine von sich. „Du musst och einen machen!"

„Was machen?"

„Na, `nen Schneeengel!"

„Engel? Du meinst wohl eher Bengel ..."

„Höhö, Herr Urlaub. Kennste dit nich?"

„Nö, aber du wirst mich wahrscheinlich gleich in die Philosophie von Schneeengeln einweihen."

„Da jibt et nüscht zum Philosophieren. Dit muss man einfach machen – ohne Nachdenken. Siehste!"

Bela erhebt sich wieder. Tatsächlich haben seine Armbewegungen so etwas wie Flügel um den Abdruck seines schlanken Körpers in den Schnee gezaubert.

Bela tritt ganz vorsichtig um die entstandene Figur herum und malt einen Kreis über den Kopf des Engels, dann ein paar Hörner.

Sofort sieht es sehr viel mehr nach ihm aus.

Ich beobachte mit einem verdammt warmen Gefühl im Herzen, wie er im Vorgarten mit raus gestreckter Zunge ein paar der dicken Flocken fängt. Mit einem Lächeln kommt er zu mir hinüber und presst seine Lippen auf meine, leckt mit seiner Zunge in meinen Mund.

„So schmecken Schneeküsse. Lecker, wa?"

„Und ob ..."

Das Gefühl in meinem Herzen gräbt so tief in mir, dass ich auf einmal Wasser in den Augen habe – oder Schnee. Keine Ahnung.

Eine Bewegung in der Haustür. Omi steht in ihrem Morgenrock und weißen Nachthemd dort und schüttelt den Kopf.

„Oh. Ähm, lasst euch nicht stören, Jungs." Schon ist sie wieder weg, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass ich auf ihrem Gesicht ein Lächeln gesehen habe.

„Vielleicht friert die Schlei ja noch zu", strahlt Bela beim Frühstück.

„Och, min Jung. Das wird wohl eher nichts. Die Schlei ist ein Meeresarm."

„Oh, schade."

Es schneit bis in die Nacht.

Bela kuschelt sich an mich. „ick muss grad dran denken, wie de dit erste Mal bei mir übernachtet hast. Als dein Bus weg war ..."

„Nach der Soilent Grün Probe, ne? Ja, ick kann mich da och noch jut dran erinnern. Da hat es auch geschneit."

„Mhm. Ick war total aufgeregt damals."

„Echt?"

„Ja, dit war doch dit erste Mal, dass de mein Zimmer gesehen hast und irgendwie – ick wollt halt, dass es dir gefällt."

„Tut mir leid, dass ick damals so ... schlechte Laune hatte."

„Mhm. War wegen Gerd, wa?"

Ich nicke einfach nur. Inzwischen hat Bela einiges live mitbekommen und jede Erklärung erübrigt sich.

„Ick ... ick wollt mich so gern damals an dich kuscheln, aber – ick hab mich nich getraut. Aber dann haste meinen Arm genommen und ..." Bela kuschelt sich an mich und seufzt tief an meinem Hals.

„Ick fand dit damals voll schön mit dir. Warste eigentlich – warst damals schon in mich verknallt?"

„Dit hättste wohl gern, wa?" Bela knufft mich in die Seite – relativ liebevoll.

Ich kann das Lächeln nicht mehr einfangen. „Irgendwie schon."

„`n bisschen. Ick fand – find dich einfach so krass attraktiv."

Hui. Komplimente sind echt schön und das ist echt ein großes. Ich weiß nur nicht so genau, wie ich die annehmen soll, aber Bela spricht schon weiter. „Und du?"

„Ick hatte damals so gar kein Wort dafür, aber mir war schon och klar, dass dit `n bisschen mehr is als Band und Freundschaft mit dir. Bei dir hab ick mich – fühl ick mich einfach immer so - verstanden?"

„Mhm. Ick weeß, wat de meinst. Hättst och nich alle unter deinen Mantel gelassen, oder?"

„Genau." Ich ziehe ihn an mich und küsse ihn, küsse ihn mit Liebe, nicht mit Begierde. Er wird ganz weich in meinen Armen und schließlich landen wir genau in der Position wie damals in seinem Bett. Aber dieses Mal schmiegt er sich wirklich an meinen Rücken und ich kuschel mich an seinen Bauch.


22. Dezember

Ein Brief von meiner Mutter.

„Herzlichen Glückwunsch!" steht riesig auf einem Zettel. Mehr nicht.

Ich schüttel den Umschlag und ein Zeitungsausschnitt fällt heraus. Bela starrt über meine Schulter auf die Meldung aus der Berliner Zeitung, dann fällt er mir um den Hals. „Verdammt! Wir haben`s echt geschafft."

„Hä?" Irgendwie schnall ich gerade gar nichts, starr nur auf das abgedruckte Bild von Sahnie und mir.

„Wir ham gewonnen."

„Den Wettbewerb?"

Bela wedelt mit einer Hand vor meinem Gesicht herum. „Allet roger bei dir? Normalerweise haste nich so `ne lange Leitung, mein Lieber!"

„Wir ham echt ... Dit jibt`s doch nich ..."

„Naja, also ick gloob Gitti und ihre Leute ham so `n bisschen nachjeholfen, aber egal ... Zehn-Tausend-Mark, Farin!"

„Ick fass es nich."

„Ick gloob, dit wird was mit die Ärzte", strahl ich. „Dit hab ick im Urin."

Später rufen auch noch die Veranstalter offiziell bei uns an. Wir haben die Kohle wirklich gewonnen.

Ich bin so aus dem Häuschen und Jan auch, dass Omi uns vor die Tür schickt, damit wir dort weiter herum tollen.

„Dann könnt ihr auch gleich zu Bauer Pedersen rüber laufen und den Weihnachtsbaum abholen."

„Okay", schreien wir und laufen los, an der Schlei entlang. Ein paar Bereiche um die Reetgürtel sind sogar schon ein wenig gefroren, aber noch weit entfernt von Schlittschuh laufen.

Früher war Jan wohl öfter auf dem Hof und hat mitgeholfen, die Tiere zu versorgen. Besonders hatten es ihm die Hunde angetan, grinst Bauer Peddersen und wirkt als wollte er dem großen Jan durch die Haare strubbeln

Auf dem Rückweg werden wir ordentlich durchgestochen von der Tanne, aber sie riecht so dermaßen gut – nach Wald und Weihnachten.

Jan schubst mich auf dem Weg plötzlich in eine besonders hohe Schneewehe und schmeißt sich auf mich. Als ich protestieren will, hält er mir seine eisig kalten Hände über den Mund. Ich lecke an seinen klebrigen Fingerspitzen. Sie schmecken nach Harz und Jans Küsse nach klarer Winterluft.


24. Dezember

Ich werf ein paar Strohsterne wie Konfetti auf die Zweige und schau, was hängen geblieben ist.

Jan zückt mal wieder seine Augenbraue. „Hast du noch nie `nen Baum geschmückt?"

„Also, entschuldige mal." Ich stütz empört meine Hände in die Seiten. „Natürlich. Aber bei uns war halt mehr Lametta und nich so viel Strohgedöns und Schleifen."

Jan sieht kurz echt getroffen aus und ich stell mich auf die Zehenspitzen und geb ihm einen Versöhnungskuss.

Aus der Küchentür sieht Omi zu uns herüber. Kurz werden ihre Augen groß und ihre Miene wirkt leicht geschockt, dann lächelt sie mir zu und dreht sich wieder um.

Eine halbe Stunde später hat Jan meine ganzen experimentellen Schmückversuche wieder in konventionelle Bahnen gelenkt. Ich frag mich schon, wer hier eigentlich Dekorateur gelernt hat. Kein Sinn für Avantgarde der Junge.

Auf einmal steht Omi in ihrem schönsten Wintermantel in der Tür zur Stube. „Wir müssen los, damit wir noch gute Plätze bekommen!"

„Wohin?" Fragend seh ich Omi an.

„Na, in den Gottesdienst, du Dösbaddel."

„In `nen Gottesdienst?" Wenn ich Fell hätte, würd es sich sträuben. „Also, Kirchen guck ich mir manchmal ganz gern an, aber Gottesdienst?"

Jan greift nach seinem Parka. „Ick bin ja och nich so `n Fan davon, aber wenn ick hier war an Weihnachten, hab ick sie halt immer begleitet. Musst aber nich mitkommen."

„Mhm. ... Okay." Ich schwing mich in meine Lederjacke. „Ick werd schon nich gleich zu Staub zerfallen. Also, hoff ick zumindest."


Tatsächlich war`s sogar ganz nett in der kleinen Kirche in Sieseby, auch wenn ich die ganzen Lieder nich kannte und es nicht direkt überschwängliche Party-Stimmung war.

Dafür fließt der gute Grog für Omi und mich wieder in Strömen, als wir wieder in der Kate sind. Jan trinkt heißen Apfelsaft mit Zimt.

Anscheinend ist bei Omi traditionell vor dem Essen Bescherung. Bei uns zu Hause in Spandau war es immer genau anders herum, aber eigentlich ist es mir auch egal. Geschenke!!!

Jan und ich haben in Sankt-Peter-Ording für Omi eine Platte mit norddeutschen Liedern gekauft und jetzt krieg ich das Lied „An de Eck steiht’n Jung mit `nem Tüddelband..." nich mehr aus dem Kopf, denn Omi hat sofort ihren alten Plattenspieler entstaubt. Immerhin hat sie mir sogar den Text beigebracht. Super. Jetz kann ich noch `ne Fremdsprache.

Etwas Walzerartiges ertönt aus Richtung Plattenspieler. Ach ja, Hans Albers und die Reeperbahn nachts um halb eins. Ich fall fast vom Hocker, als Omi anfängt mitzusingen und ihr halbleeres Grogglas dazu schwingt. Sie sieht schlagartig dreißig Jahre jünger aus.

Jan streckt seiner Omi die Hände hin. „Aber, Jan. Ich kann doch mit meiner Hüfte nicht ..."

„Dann machen wir ganz langsam."

Ich setz mich in Omas Lehnstuhl und seh einem sehr ausgelassenen Jan und einer noch ausgelasseneren Omi beim Tanzen zu.

Außer Atem lässt sich Jan schließlich neben mich auf den Boden fallen und holt etwas hinter seinem Rücken hervor. „Hier." Er drückt mir sehr unzeremoniell ein in Zeitungspapier eingewickeltes Päckchen in die Hand.

Fühlt sich seltsam weich an. Ich reiße das Papier ab und ... „Awwwwwwww! Is die süüüüüß!"

Das Fell ist so krass weich.

Jan beäugt meine Kuschelei mit dem Kuscheltier. „Na, dann kann ick wohl heute auf `m Teppich vor `m Bett pennen, wa? So verknallt wie de aussiehst."

„Quatsch. Robby hat dich auch lieb." Jan verdreht sehr gekonnt, aber dennoch fürchterlich amüsiert die Augen, während ich ihm mit Robbys-Robbenschnauze einen Kuss auf die Wange drücke.

„Ähm, Jan? Also, ..." Ich seh zu Omi, die so tut, als wäre sie mit der Plattenhülle beschäftigt. „Ick hab für dich nur `ne Massage als Geschenk."

„Nur?" Jans Augen leuchten. Gut.


Oben in unserer kleinen Kammer sieht mich Jan auf einmal ganz ernst an. „Weeßte noch vor einem Jahr? Als de Weihnachten verpennt hast?"

„Ähm, ... ja!"

„Ick war so froh, dass de zuhause warst. Ick war so ... Ach, egal. Ick will jrad gar nich an Gerd denken." Mit einem Ruck zieht er sich seinen Pulli über den Kopf und legt sich erwartungsvoll auf unser Bett. „Darf ich bitten, Herr Masseur!", grinst er mich an und ich grins zurück.

Ich reibe mir meine Hände, so dass sie ein bisschen warm werden und schwing mich über Jans Hüfte. „Is dit so jut?"

„Seeehr! Danke. Ick hab immer wieder so Rückenschmerzen."

„Kommt dit, weil de so lang bist?"

„Ja, wahrscheinlich."

„Okay, ick hex die weg, ja?"

„Wow." Jan keucht unter meinen Bewegungen hart auf. „Ick wusste gar nich, das du so viel Kraft in deinen hübschen Händen und Armen hast."

„Also, ick bitte Sie, Herr Senheimer. Wer is`n hier der Drummer?"


25. Dezember

Wir sitzen gerade beim Nachmittagskaffee, als draußen ein Auto vorfährt.

„Das werden sie wohl sein." Omi steht mühsam auf.

„Wer denn?"

„Sollte `ne Überraschung sein."

„Und wer ...?" Jan steht auf und sieht aus dem Fenster. Auf einmal ist sein Gesichtsausdruck sehr verschlossen. „Oh ..."

Die Tür öffnet sich und Julchen kommt herein. „Jaaaaan!" Sie springt in Jans Arme, was gar nicht so einfach ist, denn sie ist schon wieder gewachsen. Jans Grinsen ist zurückgekehrt.

„Na, du Liebe?" Er drückt seine Schwester an sich, gibt dann seiner Mutter einen Kuss auf die Wange. Als Letzter kommt Gerd zur Tür herein.



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LYRICS

Nena – Leuchtturm
Die Ärzte – Bauernhof
Freddy Quinn - Friesenlied
Lale Anderson - Dat du min leevsten büst
Mania D - Stille Nacht
Hans Albers - Auf der Reeperbahn nachts um halb eins
James Last - Biscaya





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Chapter 38: 1983 - Komm

Chapter Text

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* Teenagers in Love *




Ganz herzlicher Dank geht von mir raus an die Betaleserinnen dieses Kapitels devilesburgfraeulein und vernice für ihre superhilfreichen Anmerkungen und Vorschläge. I couldn`t have done it without you. Und auch nochmal vielen Dank für eure tollen reviews zu der Geschichte.


Inhaltsangabe:
* insgesamt expliziterer Inhalt, vor allem am 31.12.


1983 - Komm




25. Dezember – Sieseby

Da in Omas kleiner Hütte kein Platz ist, fahren meine Lieben am frühen Abend in einen Landgasthof im Nachbarort. Zum Glück!

Omi mustert mich, als ich mich zu ihr hinunter beuge, um ihr einen Gute-Nacht-Kuss zu geben. „Das war keine so gute Überraschung, hm?“

„Doch, doch“, sage ich schnell, lege mit einem Grinsen nach. Bela streicht mir über den Rücken.

„Aber?“, fragt Omi weiter.

„War echt okay.“

„Nu Quatsch dich nich um Kopf und Kragen, min Jung. Du hast die ganzen Wochen so gestrahlt und seit deine Familie angekommen ist, hast du nur für Julchen gelacht. Ich nehme mal stark an, weil Gerd dabei war, oder?“ Omi ist nebenberuflich Hellseherin.

Belas Hand liegt warm auf meinem Rücken. Schließlich kann ich die Fassade nicht mehr aufrecht erhalten und nicke.

„Das tut mir wirklich leid, Jan. Ich wollte ihn auch nicht hier haben, aber Uta hat darauf bestanden.“

„War ja nett gemeint. Und es war schön, Julchen und Mama wieder zu sehn ...“

Omi seufzt. „Gerd hat dich nie gut behandelt.“ Etwas Wütendes erscheint in ihrem Blick und es tut gut. „Die beiden haben anscheinend gerade ziemliche Probleme, aber Uta rückt nicht so richtig mit der Sprache raus.“

„Aber nicht wegen Julchen, oder?“

„Nein, nein. Doch nicht wegen der Süßen. Um Gotteswillen. Das scheint was anderes zu sein. Wenn ich es wüsste, würd ich`s dir sagen, Junge, aber sie weiht mich ja nicht ein.“

„Okay. Danke, Omi. ... Also, ick will echt nich undankbar sein, aber ... am liebsten würd ick mit Bela morgen einfach zurück nach Berlin fahren.“

„Mhm. Ich verstehe. Na, wegen mir gerne. Du ...“ Sie sieht zu Bela und lächelt. „Ihr wart ja wirklich lange hier. War schön mit euch beiden.“

„Dit fand ick och“, sagt Bela.

Omi lächelt uns an und da ist so ein leichtes Grinsen, das ... „Schlaft gut, ihr beiden!“

„Du auch.“

„Nacht, Omi!“ Bela nimmt meine Hand und zieht mich in Richtung Treppe. „Ick bin echt froh, dass ick mitgekommen bin.“


26. Dezember – Sieseby

Ich nehme meine Mutter beim gemeinsamen Frühstück beiseite und teile ihr unsere Entscheidung mit.

Sie seufzt einmal tief. „Aber, Jan, wir sind doch gerade erst ...“ Ich sehe sie einfach nur ernst und bittend an und schließlich seufzt sie. „Okay. Ich möchte auch nicht, dass das wieder eskaliert. Dann fahrt ihr halt schon zurück nach Berlin.“ Sie überlegt kurz. „Wenn ihr wollt, könnt ihr auch in Frohnau unterkommen. Macht halt nicht zu viel Unfug dort.“ Sie drückt mir sogar noch einen 50-Markschein in die Hand. „Esst bitte vernünftig in Berlin, okay?“

Ich hatte echt nicht gedacht, dass es mir so schwerfallen würde, die kleine Kate auf dem platten Land zu verlassen. Bela wohl auch nicht. Er umarmt Omi so lange, dass diese ihm halb lachend, halb mit Tränen in den Augen auf den Rücken klopft. „Du erstickst mich ja, min Jung. Kommt einfach bald mal wieder, ja?“

„Machen wir Omi“, erwider ich an Belas Stelle, weil der gerade nicht sprechen kann.

Aber Omi mustert mich nur wissend. „Na, mal sehen, ob du nich wieder irgendwo anders hin willst. Irgendwie hast du wohl doch Seemannsblut in den Adern. Aber ... ihr seid hier immer willkommen. Beide.“ Sie legt einen Arm um Julchen, die nun in der Dachkammer schlafen wird.


27. Dezember – Niebuhrstraße 38 b

So wunderbar es bei Omi in der Kate auch war, es ist schön, wieder zu Hause zu sein. Immerhin waren wir einen ganzen Monat weg. Als ich in mein Zimmer sehe, sind Eddies Sachen weg. Ich atme auf. Es gehört nun wirklich wieder mir, auch wenn noch ein leicht fremder Geruch darin hängt.

Da wirklich komplett Ebbe ist in unserem Kühlschrank, gehen wir einkaufen. Natürlich sitzt im EDEKA die hübsche Verkäuferin im roten Minirock an der Kasse. Aber Bela steuert auf die Nachbarkasse zu. Ich ziehe ihn zurück und widerwillig kommt er mit. „Hey!“, begrüße ich die Minirock-Kassiererin.

„Hey!“, sie grinst und lässt eine Kaugummiblase platzen. Dann wandert ihr Blick hinter mich. „Na, dich hab ick ja lang nich mehr gesehen!“ Meint sie Bela? Und da ist so ein Unterton, den ich nicht komplett lesen kann.

Bela neben mir wird fast ein wenig blass. „Ähm ... Also ...“ Er klingt für seine Verhältnisse enorm unsicher und ich sehe zwischen den beiden Hin und Her.

„Schon jut“, sagt die schicke Kassiererin schließlich. „Haste denn Silvester schon wat vor? Wär mal wieder ganz nett mit dir ...“

„Ähm, ja. Also, ja, ick hab schon was vor, mein ick.“ Bela schmeißt schnell unsere ganzen erstandenen Kostbarkeiten in eine Plastiktüte.

„Schade. Und du?“ Auf einmal sieht die Minirock-Kassiererin mich an.

„Icke?“

„Ja.“ Ich hab wirklich noch nie jemand so aufreizend Kaugummi kauen gesehen.

„Wieso?“

„Wir müssen leider schnell weiter, ne?“ Bela drückt ihr einen 20-Markschein in die Hand, obwohl unser Einkauf nur 17,56 gekostet hat. „War schön, dich ma wieder gesehen zu haben.“ Und schon zieht er mich aus dem Laden.

„Sach ma! Wat war `n ditte für `ne Akti...“ Dann fällt der Groschen. „Oh, Mann, Bela. Du hast nich wirklich ... Oder?“

„Naja, sie war dit Date von Hans, von dem ich dir erzählt hab.“

„Der Fick auf der Toilette?“

Bela nickt, grinst nun doch ein bisschen.

„Krass. Die hat sich mit Hans verabredet?“

„Fand ick och. Und sie ja dann och ... Und dann ...“

„Ja, ja. Schon jut. Will ick gar nich allet hören.“


Am Nachmittag erscheint Bela in seiner Lederjacke in meinem Zimmer. „Komm.“

„Äh, ja, okay. Aber wohin?“

„Wir gehn zum Pimmeldoc.“

„Bitte?“

„Ick ...“ Er kommt auf mich zu und sieht mich sehr intensiv an. „Ick will echt demnächst mal mit dir schlafen und ... Et wär echt schön, wenn wir dit ohne Angst vor komischen Tierchen und Bakterien machen könnten.“

„Tierchen? Ähm ...“

„Na, da jibt et doch so einiget, wat ...“ Er bricht ab. Wir erinnern uns wohl beide gut genug daran. „Also ick möcht mich vorher für dich durchchecken lassen.“

„Ähm, ja. ... Sehr verantwortungsvoll, Herr Felsenheimer.“

„Für dich doch immer.“ Er küsst mich und das schöne warme Gefühl schwebt durch meinen Bauch.

„Und ick dachte, du kommst mit, weil ... vielleicht is es besser, wenn du dit och machst. Ick weeß ja nicht, wat du in London ... und so.“

„Also ... Ick gloob nich, dass ick ... Aber kann ja nich schaden.“

Nach dem letzten Mal kenne ich die Prozedur ja schon, aber angenehmer macht es das auch nicht, weder vom Peinlichkeitsgrad her noch das Gefühl, als der Arzt ein Wattestäbchen in meinen Schwanz steckt.

Außerdem sieht eine der Arzthelferinnen von damals etwas zu interessiert von mir zu Bela und zurück. Ich will gar nicht wissen, was sie sich ausmalt.


„Also, et gibt echt Schöneres als Ärzte an meinem Schwanz rumfummeln zu lassen“, seufze ich, als wir wieder zurück in der WG sind.

Bela legt seine Hand auf den Reißverschluss meiner Jeans und grinst: „Sicher?“ Seine Bewegungen werden eindeutiger und natürlich reagiert mein Körper auf ihn. Er öffnet meine Hose. „Ick will mit dir ...“

„Aber wir ham doch noch gar nich dit Ergeb...“

Er grinst noch breiter. „... in die Badewanne.“

Es ist tatsächlich sehr angenehm, mit Bela so im warmen Wasser zu liegen, auch  wenn ich wegen meiner Größe plus Bela kaum Platz habe.

„Ick würd dir ja echt gern einen runterholen.“ Belas Hand spielt an meinem halbharten Schwanz herum. „Aber ... heißes Wasser und Wichse ergibt echt keene schöne Mischung. Dit flockt immer so komisch aus.“

„Dit is, gloob ick, dit Eiweiß im Sperma.“

Bela sieht mich erstaunt an. „Ah ... Hm. Interessant. Noch interessanter ist allerdings ...“ Nun legt er sich doch auf mich und unsere nasse Haut gleitet verdammt gut aneinander. Bela hat dann die großartige Idee, dass, wenn er mir einen bläst und schluckt, ja gar nichts im Wasser landet.

Am Ende ist durch unser Herumgeplantsche mehr Wasser außerhalb der Wanne als drin.


28. Dezember – Niebuhrstraße 38 b

Einen Tag und einen Abend gibt Bela Ruhe, dann spüre ich, wie seine übliche Berlinenergie beginnt in ihm Wellen zu schlagen.

„Hey, Jan? Hättste Bock heute wegzugehen?“

„Ähm ... ja. Warum nich.“

„Cool. Malaria! spielen heute im SO.“

„Malaria!, hm?“

„Ja.“ Bela sieht fast ein bisschen kleinlaut aus. „Ick hätt echt voll Bock auf das Konzert von denen. Aber nich allein, weil ... Kommste mit?“

In meinem Kopf rasen kurz fünfzehn verschiedene Gedanken zu dem Szenario durcheinander, aber einen Moment später bringe ich sie effektiv zum Stoppen, weil ... Klar will ich Malaria! sehen. Was für eine Frage. „Okay!“

„Okay?“

„Ja! Okay. Die sind toll.“ Das sind sie wirklich, auch wenn das Hintergrundwissen über Belas Affäre mit Gudrun ein wenig seltsam ist. „Geben ja selten genuch Konzerte in Deutschland.“

„Dit dacht ick och. Danke, dass de ...“ Bela küsst mich und ich freu mich tatsächlich auf einen Abend, eine Nacht mit ihm im Berliner Nachtleben.

Wir fahren mit der U-Bahn rüber nach Kreuzberg.

Einen Moment bin ich nach der Ruhe in Schwansen dann doch leicht überwältigt von der pulsierenden Großstadtenergie rund um den Kotti und in der O-straße. Doch Belas fiebrige Euphorie strahlt auch auf mich aus und wir stürzen uns gemeinsam in die Nacht.


Kreuzberg, SO 36

Die blauen Neonbuchstaben „SO 36“ leuchten uns entgegen wie der Stern der Weisen über Bethlehem. Das SO ruft fast ein Zuhause-Gefühl in mir wach, wobei – ein wenig muss ich mich nach den dunklen Bars und Clubs in London an die helle Beleuchtung im SO gewöhnen. Alle sehen so ein bisschen kränklich und sehr cool aus unter dem weißblauen Neonlicht und den Rauchschwaden, die den Raum durchziehen.

Malaria! sind einfach krass. Gudrun am Schlagzeug sieht einfach verdammt lässig aus – und irgendwie unnahbar. Ich bin zu gleichen Teilen etwas eifersüchtig auf Bela –  und auf sie. Ein schräges Gefühl.

Bettina hat als charismatische Frontfrau das Publikum vom ersten Song an im Griff und auch die anderen Frauen haben eine echt coole Ausstrahlung und das im wahrsten Sinne des Wortes. Sie sind wirklich cool. Bettinas Stimme ist so suggestiv, klingt durch mich wie eine dunkle Verführung.


Your blood on my cheek
A subhuman roar.
Uh, trash me for my pleasure
Beyond this world that we despise
Uh, you give me such a joy and I -
I kiss the darkest places
And you embrace me like a toy.


Bela neben mir wird immer ruhiger. Ungewöhnlich. Ich sehe zu ihm hinunter. Im bläulichen Licht des SO nuckelt er sehr nachdenklich an seiner Bierflasche.

„Hey! Allet okay mit dir?“

„Mhm. ... Ja. Ja ... geht schon.“

Ich lege meine Hand unter sein Kinn und sehe ihm prüfend in die Augen.

„Dit ... Sie hat doch so wat gesungen wie „You embrace me like a Toy“. Hat sich `n bisschen zu echt angefühlt in Bezug auf ...“ Er beißt sich auf die Lippen und ich will es wegküssen, die Verletzung und die Traurigkeit.

„Ick hol mir mal noch `n Bier. Willste och wat?“

„Ja. `ne Cola.“

Um Mitternacht ist Bela ganz schön angetrunken, aber auch süß. Natürlich will er rumknutschen. Ich wünschte, mir wäre es so egal wie ihm. Wahrscheinlich bin ich zu nüchtern dafür. Doch hier im SO – ich kenn mindestens ein Drittel der Leute und ... Aber ich will verdammt nochmal auch seinen Mund auf meinem, fühlen wie es ihn anmacht. Ich will ihn gerade ins Männerklo ziehen, da kommt jemand den schmalen Gang auf uns zu geeilt.

„W-o – zum Teufel – w-a-r-s-t  d-u, Felsenheimer?“

„Oh, ... Hi, Gitti!“ Bela versucht sie auf die Wange zu küssen, aber sie dreht sich weg und starrt ihn weiter wütend an. „Aber ... Ick hab doch jesacht, dass ick nich in Berlin bin.“

„Schon. Aber du hast vergessen zu erwähnen, dass dit `n janzer Monat wird. Gab`s da keen Telefon, wo du warst, oder wat?“

„Nee, schon. Sorry, also ...“ Bela sieht mich hilfesuchend an, aber ich weiß echt nicht, ob ausgerechnet ich da helfen kann.

„Also, et tut mir echt leid. Aber Jans Omi ...“ Bela greift nach meiner Hand und unter Gittis Falkenblick bleibt es nicht unbemerkt. Sie sieht erst zu Bela, dann zu mir, dann auf unsere Hände.

„Sacht ma ... Ihr beede ...?“ Sie runzelt die Stirn, dann schleicht sich ein lauerndes Lächeln auf ihr Gesicht. „Dit sieht mir doch sehr nach ... Seid ihr ...?“

„Zusammen!“, ergänzt Bela und leuchtet wie ein Weihnachtsbaum, was jede weitere Erklärung unnötig macht.

„Nein! Echt?“ Auf einmal ist Gitti wieder das grinsende Gör, als das ich sie kennengelernt habe. „Wie geil ...“ Auf einmal umarmt sie Bela, dann mich. „Oh, dit freut mich echt, Jungs!“ Dann fällt ihre gute Laune schlagartig wieder in sich zusammen. Vorsichtig sieht sie Bela an. „Ähm, heißt dit dann, dass ...“ Sie deutet auf Bela und sich. „Is dit ... sind wir damit ... vorbei?“

Gitti blickt mich mit so traurigen Augen an, dass ich echtes Mitgefühl mit ihr habe. „Nee. ... Also, wegen mir ... Ick bin nich direkt `n Fan von Belas ganzen Abenteuern, aber ihr beede ... Ihr macht mal, was ihr immer schon gemacht habt, okay?“

„Echt?“ Das Strahlen kehrt wieder auf Gittis Gesicht zurück und es tut auch mir gut. „Cool. Danke, Jan. Dit is echt ...“ Sie drückt mir einen dicken Schmatz auf die Wange. „Ick weeß dit echt zu schätzen, Schätzchen!“ Auf einmal verdüstert sich ihre Miene wieder und sie tritt einen Schritt zurück. Ich folge ihrem Blick.

Gudrun schwankt auf Bela zu. Keine Ahnung, was sie intus hat, aber sie bekommt auf jeden Fall nicht mit, dass Gitti und ich hinter Bela stehen. Sie hat nur Augen für ihn.

„Hey, du!“ Sie streicht sich ihren Pony aus der Stirn und fährt mit einem Zeigefinger über Belas Brust, der sie nur perplex ansieht.

In mir beginnt etwas zu knurren.

„Oh-oh...“, macht Gitti neben mir. „Gleich bricht sie ihm nochmal sein kleines Herz.“

„Er war echt verliebt, wa?“, frage ich vorsichtig, obwohl ich das ja schon weiß. Aber so ein Blick von außen ist manchmal ziemlich hilfreich.

„Mrrrmm.“ Gittis Schnauben spricht Bände. „Dit war allerdings nich nur für ihn hart. Zuerst hat er sich jar nich mehr gemeldet und dann bin ick den Turteltäubchen och noch über’n Weg gelaufen hier im SO. Dit war jrossartig.“ Sie rollt mit den Augen.

„Ick ... ick muss ... Jan fragen?“, höre ich Bela zu Gudrun sagen.

„Wen?“

Bela zeigt auf mich und Gudrun sieht mich unter ihrem Pony fragend an. „Ah. Farin, nee?“

„Ja“, gebe ich recht kurzangebunden zurück.

Bela zieht mich zur Seite. „Sie ... sie hat jefragt, ob ick ...“ Sein kleinlauter Blick sagt alles.

Mir wird kalt, dann krass heiß. „Und jetz soll ick ... dit absegnen, oder wat?“ Das SO dreht sich ein klein wenig um mich.

„Du kannst nein sagen, Jan! Echt!“

„Aber ...“ Ich will nicht, der sein, der Nein sagt. „Kannste dit nich selbst entscheiden?“

„Schon – irgendwie. Aber ick wollt halt wissen, was de davon hältst?“

Mhm. Tja, was halt ich davon? Mein Körper sendet auf jeden Fall ziemlich zwiegespaltene Signale durch mich. „Dit sin jetze wohl die Kompromisse, wa?“, ziehe ich schließlich mein Fazit.

„Ick muss nich.“

„Aber ... Es is Gudrun, nee?“

Er nickt minimal.

„Mhm. ... Puh. Gewöhnungsbedürftig.“

„Is es mit Gudrun schlimmer als mit Gitti?“

„So `n bisschen.“ Ich geb mir einen Ruck. Der Erste will nicht so richtig zünden und ich gebe mir noch einen. Wir haben ja schon darüber geredet. Die Theorie war leider weniger schmerzhaft als die Praxis, aber ... Ich will, dass wir das hinbekommen, dass wir einander nicht einsperren, den Anderen so lange einschränken, bis er nicht mehr er selbst ist und wir einander dann dafür verabscheuen.

„okay“, murmel ich, sag es dann nochmal lauter: „Okay!“

„Echt?“ Bela sieht nicht so richtig überzeugt aus.

Auf der einen Seite beobachtet Gitti mit gerunzelter Stirn unsere Unterhaltung und irgendwie habe ich das Gefühl, dass sie genau weiß, um was es geht und dass sie gerade Cheerleader für „Team Farin“ ist.

Auf der anderen Seite steht Gudrun, die vermutlich nicht wirklich viel versteht, nicht nur wegen dem, was auch immer sie eingeworfen oder getrunken hat. Ich kann sie nicht doof finden. Es ist einfach Gudrun. Wenn ich an Belas Stelle wäre, würde ich zu dem Angebot auch nicht nein sagen, zumindest wenn ich mich trauen würde.

„Komm, dampf ab!“ Ich gebe ihm einen kleinen Schubs in Richtung Gudrun und Bela sieht mich lange an, kommt nochmal auf mich zu. „Danke. ... Ick ...“ Er küsst mich schnell auf die Wange und einen Moment tut es ein bisschen mehr weh, dass er gleich weg sein wird.

Gitti und ich sehen zu wie die beiden den langen Gang vom SO Richtung Ausgang verschwinden. Gudrun legt einen Arm um Bela und die beiden wirken verdammt nochmal ganz schön pärchenmäßig. Ein kleiner Sturm tobt in mir, aber es ist nicht der Orkan, den ich erwartet habe. Immerhin. Es ist sogar mehr okay, als scheiße.

„Tja, da waren`s nur noch zwei ...“, seufzt Gitti neben mir. „Schade, dass de nüscht trinkst, Farin. Ick hätt echt grad Bock mich mit dir zu besaufen.“

„Wenn ick bei `ner Apfelsaftschorle bleiben darf, dann kannste deinen Plan gerne in die Tat umsetzen.“

Sie hängt sich bei mir ein und wir gehen zum Tresen. Hinter der Bar mustert uns Rohr und so ein bisschen kann ich in seinem verwirrten Blick lesen, dass er die Kombination aus Gitti und mir wohl nicht erwartet hat. Ich auch nicht wirklich, aber gerade fühle ich mich echt ein wenig behütet durch Gitti, meiner Leidensgenossin.

„Prost!“ Sie hält mir ihre Bierflasche entgegen und ich stoße mit meinem Glas dagegen. „Der Abend hat ja echt mal `n paar sehr interessante Wendungen jehabt.“ Gitti seufzt. „Aber dit ihr beede zusammen seid.“ Sie grinst mich an. „Dit freut mich wirklich!“

„Danke!“ Ich lächel sie an und mein es ernst.

Ihr Blick auf mir wird nachdenklich. „Stehste jetzt eigentlich nur auf Typen? Also, wenn ick dit fragen darf.“

„Nee.“

„Ah. Okay. ... Dit könnte Bine freuen.“

„Wasss?“ Der Name fährt mir in die Knochen und mein Körper versteinert. „Wieso `n ditte?“

Gitti beugt sich ein Stück zu mir. „Ick weeß nich, ob dich dit überhaupt interessiert, aber ... Sie hat letztens erwähnt, dass sie dich doch manchmal ganz schön vermisst.“

Zuerst kapiere ich gar nicht, was Gitti da gesagt hat, aber als ich es dann verstehe, macht es das keinen Deut besser. Ich drehe mich von ihr weg.

Ein Arm an meinem. „Hey, Jan!“

Unwillig drehe ich mich wieder ein Stück um. Gitti mustert mich.

„Wat soll `n dit nach so langer Zeit?“ Meine Stimme ist ziemlich ungehalten, obwohl ja Gitti echt nichts dafür kann.

Diese hebt auch abwehrend die Hände. „Hab ick mir schon jedacht. ... Aber ick dachte och, vielleicht is es ja jut, wenn de dit weißt. Ick hatt so `n bisschen gehofft, dass dir dit vielleicht so `n bisschen hilft, weil ... Du warst danach so ... verletzt.“

Ich nicke wild. „Dit hat och weh getan.“ In meinem Herz überlagert ein altes Echo Belas Abgang mit Gudrun. „Mit Bine. Dit is so was von vorbei. Wie kommt die überhaupt uff die Idee ...“ Meine Stimme ist viel zu laut und ich will nicht so wütend sein. Eigentlich hatte ich damit abgeschlossen – zumindest hatte ich das gedacht.

„Tschuldige.“ Gitti legt beschwichtigend ihren Arm auf meinen. „Ick wollt keene alten Wunden uffreissen, aber ... Haste denn nu mit Bela dit Problem nich wieder?“ Sie fragt es ganz vorsichtig.

„Mhm.“ Ich stutze. „Mhm. ... Also, nich überhaupt nich, aber ... Der is halt ehrlich damit – meistens.“ Ich merke, dass das tatsächlich ein wichtiger Kern ist, denn ich davor nicht begriffen hatte.

Zum Abschied umarme ich Gitti länger als gewöhnlich. „Ey, danke! Dit hat echt jut jetan mit dir zu reden.“

Sie stößt mir liebevoll ihren Ellbogen in die Seite. „Fand ick och. Mach dir keene schlaflose Nacht wegen Bela, och wenn er dit wert is. Der kommt wieder. Dit weeßte hoffentlich.“

Ich nicke, küsse sie aus einem Impuls heraus auf die Wange. „Ja, weeß ick.“

„Jut. Also, schlaf jut, wa? Ick zieh noch `n bisschen weiter.“ Als sie weg ist, vermiss ich die olle Göre fast ein bisschen.


Niebuhrstraße 38 b

Ich mache es mir mit Charles Dickens im Bett gemütlich, versuche, meinen Frieden damit zu machen, dass Bela ... Es dauert, klappt aber mit jeder Seite ein bisschen mehr, auch wenn es nicht leicht ist. Irgendwie tut es auch gut zu wissen, dass wir beide auch die Dinge machen können, die der andere nicht so gut findet, aber die dem Anderen verdammt wichtig sind im Leben. Es bedeutet ja auch, dass ich Reisen darf – ohne dieses schlechte Gewissen, dass ich die letzten Male immer dabei hatte.

Ich wache davon auf, dass mir jemand ganz leicht über den Arm streicht. „Hey, Jan!“

„Mhm.“ Benommen setze ich mich auf. Bela sitzt neben mir auf der Matratze. „Is schon ...?“ Ich sehe zum Fenster. Stockfinstere Nacht. „Wat ... wat machst`n du schon wieder hier?“

„`schuldige, dass ick dich geweckt hab, aber ick ... hab dich so vermisst.“

„Was?“ Mein schlafmüdes Hirn versteht nicht, was los ist.

„Ick hab dich vermisst.“

Ich schalte das kleine Licht neben meiner Matratze an, kneife geblendet die Augen zusammen. Langsam gewöhne ich mich an die Helligkeit. „Allet okay mit dir?“ Ich mustere Bela, suche nach Anzeichen von Drogen und / oder Alkohol, checke mit einem schnellen Blick auch seine Arme, aber die stecken noch in seiner Lederjacke. „Haste wieder dieses MDMA irgendwat geworfen?“

Für einen Moment wird seine Miene empört. „Nee. Ick bin nüchtern wie `ne Klosternonne. Also – fast.“ Er sieht mich ganz ruhig an, fast ernst. „Ick hab dich nur vermisst.“

Ich merke wie sich meine Mimik entspannt und ein warmes, leichtes Gefühl in meiner Brust zu schweben beginnt. „Aber du wolltest doch ...?“

„Ja, schon.“

„Und?“

„Wir warn och bei ihr, aber dann ... “

„Dann?“ Ich seh wahrscheinlich so verwirrt aus, wie ich mich fühle.

„Dit hat eenfach keen Sinn gemacht. Ick war die janze Zeit mit den Gedanken woanders.“

„Okay.“

„Ick ... Ick hab die janze Zeit an dich denken müssen und ...“ Er hebt ganz langsam seine Hand und streicht mir durch meinen zerzausten Pony. Sein Blick ist so ernst, irgendwie bedeutsam tief und - ich kenne Bela so nicht. Es macht mir fast ein wenig Angst.

„Ick wollt dir nur sagen, dass ick dich liebe, Jan! ... Also, tschuldige, dass ick dich extra dafür geweckt hab, aber mir war dit uff einmal so wichtig, dass de dit wirklich weißt.“ Seine Hand wandert von meinem Pony zu meiner Wange.

Ich will schon sagen, dass er mir das doch schon mal gesagt hat und dass ich das doch weiß, aber ... Da ist etwas, dass ich tatsächlich noch nicht verstanden hatte, nicht so, nicht in seinem ganzen Ausmaß. Ich schmiege mein Gesicht in Belas Handfläche, fühle mich auf einmal auf eine Art geborgen, die ... Ich lege meine Hand über seine.

Bela lässt sein Gesicht an meine Stirn sinken und wir atmen ein paar ewige Augenblicke einfach nur den anderen ein.

„Danke.“ Behutsam löse ich mich von ihm. „Willste mit ins Bett?“ Ich hebe die Decke hoch.

Er nickt, schüttelt dann den Kopf. „Ja. Und nein. Ick fand dit och schön dich so zu vermissen. Also, ick hab dich eigentlich oft jenuch vermisst, aber nie so, dass ick wusste: Du bist da!“ Er streicht über meine Wange. „Ick will heute nacht einfach bei mir drüben schlafen und wissen, dass de hier bist und das alles okay ist und richtig so. Dass wir zusammen gehören, auch wenn wir nich zusammen sin.“ Er runzelt die Stirn, sieht mich prüfend an. „Verstehste, was ick mein?“

Ich schlucke, nicke. „Dirk Felsenheimer, du bist wirklich das rätselhafteste, interessanteste und wunderbarste Wesen, das ick kenne.“

„Dit is `n Kompliment, oder?“

„Ja. Ein sehr großes. ... Bela?“

„Hm?“

Ich schlucke. „Ick bin manchmal `n Arsch, vor allem, wenn ick denk, dass mich jemand verletzt hat. Und ick mein damit nich heute Abend, aber ... Dit könnt och mal zwischen uns passieren, also, schlimmer als bisher. Aber ... Ick will dich nich verlieren. Kannste – och wenn ick `n Arsch bin – kannste schauen, dass wir uns nie verlieren?“

Sein ernster Blick auf mir wird noch intensiver. „Mhm.“ Und nachdenklicher. „Dit kann ick so nich versprechen, aber ick werd`s versuchen. Dit versprech ick dir. Das ick`s versuch. Aber du musst da och `n Auge druff haben. Allein kann ick dit nich. ... Okay?“

„Okay.“ Ich drücke einen langen Kuss in seine Handfläche.

Bela schließt für einen Moment die Augen. Dann öffnet er sie mit einem Lächeln wieder. „Bis morgen, Jan.“ Er küsst mich zuerst auf die eine Augenbraue, dann auf die andere.

„Bis morgen, Bela!“

Ich höre ihn drüben noch ein wenig rumoren. Es ist das heimeligste Gefühl, dass ich seit langer, langer Zeit hatte, seit der WG in Moabit, vielleicht noch nie. Trotz der Mauer zwischen uns fühl ich mich ihm verbunden. Und er hat Recht, manchmal ist das Vermissen, zumindest wenn man weiß, dass der andere einen wirklich liebt, ein  erstaunlich warmes und schönes Gefühl.



29. Dezember – Frohnau, Senheimer Str. 36

Es ist echt genial ein ganzes Haus für sich allein zu haben beziehungsweise mit Bela. Wir pennen oben in meinem alten Kinderzimmer. Ich habe die Matratze aus meinem Bett genommen und neben seine auf dem Boden gelegt.

Obwohl auf unserem Matratzenlager viel mehr Platz ist als in Omis Dachzimmer, wach ich immer mal wieder auf, Bela schläft seelenruhig neben mir. Er wacht nicht mal auf, als ich das kleine Licht einschalte. Ich schnappe mir Oliver Twist und versinke in dem traurigen Schicksal des Findelkindes und Waisenjungen.

Nach ein paar Seiten rührt sich Bela doch neben mir, kuschelt sich an meine Brust und ich lege einen Arm um ihn.

„Wie spät is es `n?“

„Fünf.“

Seine Augen werden für einen Moment groß. „Du spinnst doch.“

„Ähm, danke.“

„War nich so gemeint. Oder - vielleicht doch.“ Er kneift die Augen zusammen, versucht den Buchtitel zu lesen. „Wat lieste denn da?“

„Hab ich aus `m Antiquariat in London. Oliver Twist.“

„Jut?“

„Mhm. `n bisschen zu gut.“

Bela setzt sich neben mir ein Stückchen auf.

„Warum?“

„Ach ... Erinnert mich an ... Lass uns nich ...“ Ich schüttel den Kopf. Obwohl ich dieses Haus in Frohnau so liebe, Gerd ist hier eh schon viel zu präsent.

Aber Mutterns Idee war gut. Wir sind hier in der Senheimer Straße viel häuslicher, fast wie ein Ehepaar. In der WG ist unsere Dynamik doch ganz anders eingespielt, auch weil meistens unsere Tages- beziehungsweise bei Bela eher Nachtrhythmen selten harmonieren.


Wir gehen in dem großen Waldgebiet um Frohnau spazieren. Die Wintersonne ist nur eine milchige Scheibe am Himmel und es ist verdammt kalt. Frost glitzert uns vom gefrorenen Boden entgegen. Sieht schön aus, aber eben auch – frostig.

Ich halte abrupt an, packe Bela am Kragen seiner Lederjacke und küsse ihn.

„Mhm. Womit hab ick `n dit verdient?“

„Du musst dir jar nüscht verdienen. Aber in diesem Fall hat die Natur nachgeholfen.“

„Wie jetze?“

„Na, die Misteln da oben.“

„Echt?“ Bela beäugt die kugeligen Pflanzen, die über uns am Baum wachsen. „Ick glaub, du erfindest dit einfach, damit de mich küssen kannst.“

„Du armes, armes Stadtkind.“

„Genau. Woher soll ick denn och wissen, wie Misteln aussehen?“

„Komm. Ick zeig dir mal, wie ick meine Kindheit verbracht hab.“

Tatsächlich sind an der Stelle, an der ich vor so acht, neun Jahren mit Ecky ein Fort hatte, immer noch Stämme an einen Baum gelehnt.

„Cool. Komm.“ Ich ziehe Bela an der Hand mit mir. „Hier war der Eingang von Eckys und meinem Fort.“

Er lacht. „Was habt er denn gespielt?“

„Och, verschiedene Sachen. Meistens Robin Hood. Wir ham dann so getan, als würden wa in die Villen in Frohnau einbrechen und dort von den Reichen klauen und es den Armen – also, uns – geben.“

Bela bekommt einen solchen Lachanfall, dass er rücklings in einen Blätterhaufen fällt. Natürlich tut er so, als hätte er das mit Absicht gemacht und sieht mich mit einem sehr distinguierten Gesichtsausdruck aus seiner neuen Sitzgelegenheit an. „Wirklich sehr gemütlich hier in Ihrer bescheidenen Unterkunft im Sherwood Forest, Mister Hood.“

Ich knie mich vor ihn und – Zack! - hat er mich von den Füßen gezogen und ich falle mit meinem vollen Gewicht auf ihn drauf. „Uff.“

Ich will mich wieder hochrappeln, habe aber Angst ihm wehzutun. Ich bin zwar fast so dünn wie er, aber doch etwas größer. Aber Bela ist schneller. Er zieht mich noch näher auf sich und hält mich fest. „Mhmm.“ Mit einem genussvollen Seufzen vergräbt er seine Nase in meinem Nacken. „Du riechst gut.“

„Icke?“, murmel ich an seinem Brustkorb. „Ick bin total verschwitzt.“

„Sach ick doch. Du riechst gut.“ Er brummt genießerisch unter mir. Er hat recht. Es ist wirklich verdammt gemütlich hier, aber auch verdammt kalt. Ich kann das Zähneklappern nicht mehr unterdrücken. „Brrr.“

„Lieber jetze nich küssen. Dit wird blutig, wenn dein Gebiss so uffeinander schlägt.“

Ich tue so, als ob ich ihn wirklich beiße und genieße wie er unter mir zuckt und zappelt. „Verdammt ist das kalt. Italien wäre jetz echt so viel geiler als Berlin.“ Belas Miene verdüstert sich. Ich küsse ihn auf die Wange und kletter langsam von ihm runter, obwohl er mit einem „Ooooch. Menno!“ an meinem Ärmel zieht.

„Is dir nich kalt, du Held?“

„Ick dachte, du bis der Held. Komm, rette mich vor der bösen Kälte, Robin.“ Bela streckt mir die Hände hin und ich ziehe ihn mit Schmackes in die Senkrechte, bevor er mir wieder eine Falle stellt. Kaum steht der Junge, knöpft er meinen Mantel auf und kriecht zu mir hinein. Mit dem kühlen Wind und seinem warmen Körper fließen Bilder durch mich - wir stehen wieder an der Bushaltestelle vor dem Rathaus Spandau. Ist lange her. Hätten wir das alles schon früher haben können? Ich ziehe ihn an mich und küsse ihn auf den Kopf.

„Mhmmm“, schnurrt Bela an meinem Brustkorb, seine Nase in meinen Pulli vergraben.

Ich streiche über seinen Nacken. Die weiche Haut dort ist viel zu kühl, wir sollten echt ins Warme.„Wenn ick Robin bin, dann biste übrigens die Maid Marian“, grinse ich zu ihm runter.

„Dit is total okay für mich.“ Ein „holde Jungfrau“ Lächeln umspielt Belas Mundwinkel – und seltsamerweise nehme ich es ihm ab. „Du bis wirklich mein heimlicher Held, weißte.“ Er haucht mir einen gespielt oder wirklich schüchternen Kuss auf die Wange und seine sanfte Liebesbekundung wirkt so gar nicht ironisch, rührt mich bis ins Innerste, rührt mich so, dass ich keine passende Antwort finde.

Einen Augenblick später ist der energiegeladene Bela zurück. Er schiebt mich an meiner Brust rückwärts, was gar nicht so einfach ist zusammen in meinem Mantel. Auf einmal spüre ich etwas Festes in meinem Rücken und drehe meinen Kopf. Eine Birke. Über uns keckert und kreischt im Baum ein Eichelhäher. Kein besonders zartes Vogelgezwitscher. Anscheinend will er uns aus seinem Revier haben.

„Den Baum find ick hübsch“, strahlt mich Bela an. „Komm, wir machen jetzt hier statt des Forts einfach `ne neue Tradition.“ Er drückt mich an den Schultern gegen den Stamm und presst sich an mich. „Oh, Jan. Du riechst so gut. Dit macht mich echt total rattig.“ Er reibt sich an mir.

„Dit merk ich.“ Seine Erregung beginnt auch durch mich zu strömen. Bela streckt sich und leckt über meinen Hals.

„Mhmmm.“ Das Lecken macht mich noch mehr an, aber die feuchte Stelle wird übel kalt. „Sooo neu is die übrigens gar nich.“

„Hm?“

„Na, die Tradition. Bremen?“

„Oh, stimmt.“ Er grinst mich an. „Aber da war et ja och Sommer. Schade, dass dit so kalt is heut. Kommen Sie Mister Robin, drinnen ist doch gemütlicher für das, was ich mit ihnen vorhabe.“

Wir sind kaum durch die Haustür, als Bela meinen Pulli hochschiebt und sich eifrig an meinem Gürtel zu schaffen macht. „Fast find ick dit ja schade, dass wir nich von deinen Eltern überrascht werden können“, grinst er. „Diese Spannung is irgendwie och verdammt sexy.“

„Red weiter und ick bin komplett schlaff.“

„Nein!“ Er küsst mich so heftig, dass ich mir den Kopf an der Garderobe anhaue. „Ick will dich spüren, Jan.“ Seine Hand gleitet unter meinen Mantel, meinen Pulli, in meine Hose, tiefer.

Ein Stöhnen bricht aus meinem Mund. Bela sieht mit glänzenden Augen zu mir hoch. „Haste ... Der Doc meinte ja, dass wir beide clean sind. Ick habe so Bock auf Sex mit dir grad. Haste och Lust?“

Oh. „Ähm, ...“ Ja. Absolut ja. „Ähm, ... okay?“

„Wirklich?“ Belas Gesicht leuchtet auf.

In mir nimmt die Anspannung zu - im Guten wie im Schlechten, aber ich will das Schlechte nicht gewinnen lassen und packe Bela an den Aufschlägen seiner Lederjacke, presse ihn gegen die Garderobe.

„Jaaa.“ Seine Pupillen sind so groß, dass ich mich in ihnen spiegeln kann. „Jan? … Ick will, dass de mich fickst …“, flüstert er mir ins Ohr.

„Du kleiner Romantiker“, wispere ich zurück. Mein Herz rast. Ich bin so verdammt aufgeregt, versuche, es zu verstecken, aber der schlechte Witz verrät mich wahrscheinlich. Ich hab einfach so Angst, dass das nicht klappt, dass ich ihm weh tu. Ich lasse ihn vorsichtig wieder los. „Hey, Bela, ick muss dit noch ma fragen ... Du hast dit schon mal gemacht, nee?“

„Ob mich schon mal jemand gefickt hat?“

„Yap.“

„Ja! … Ein paar Mal.“

„Okay.“

„Dit klingt aber nich nach okay.“ Bela sieht mich mit hochgezogenen Augenbrauen aufmerksam an.

„Nee. Dit is total okay. … Wirklich. Aber …“

„Aber?“

„Also, irgendwie hätt ick`s schön gefunden, wenn es für uns beide dit erste Mal gewesen wär, aber wahrscheinlich is et jut, wenn wenigstens eener Erfahrung hat, wa?“

„Na ...“ Er streckt sich auf den Zehenspitzen hoch zu mir. „Für mich is et dit erste Mal mit jemand, den ick echt liebe.“ Er küsst mich, behutsam und mit so verdammt viel Hingabe, dass ich spüren kann, was er meint. Mein Kopf gibt die Kontrolle auf. Der Boden verabschiedet sich unter meinen Füßen und ich schwebe - nur umgeben von Bela, als wäre er mein Universum. Er beißt mich sanft in die Unterlippe und ich lande wieder in der Senheimer Straße.

„Komm.“ Er lässt mich vorsichtig los, zieht mich die Treppe hoch.

Oben schiebt er mich in mein altes Zimmer und öffnet die Tür zum Badezimmer. „Bin gleich wieder da. Ick muss ... noch so `n paar Sachen vorbereiten.“

„Wat denn ... vorbereiten?“

„Na, hm, ... mich. Halt so `n bisschen. Ick bin dann entspannter und es macht mehr Spaß.“

„Okay? Und ... Was ...?“

Bela grinst und wirkt fast nun auch ein wenig schüchtern. „Erklär ick dir echt gern, aber ... Dit is nich allet supersexy und ... Ein andermal, okay?“ Er küsst mich auf die Wange und verschwindet im Bad.

Oje. Ich hatte echt nicht gedacht, dass Sex noch komplizierter werden kann. Aber ich will es – will Bela wirklich. Langsam ziehe ich meinen Pulli aus, mein T-Shirt. Mit jedem Kleidungsstück springt mein Kopfkino mehr an. Was, wenn ...

Als Bela nackt und eindeutig sehr angetörnt wieder in meinem Zimmer erscheint, bin ich viel zu viele Runden auf meinem Gedankenkarussell gefahren.  Er kletter zu mir auf unser Matratzenlager am Boden, hebt die Bettdecke hoch und drängt sich an mich. „Oh, fuck. Ick hab so Bock auf dich, aber ...“ Seine Hand gleitet über meinen nackten Bauch, tiefer. „Oh.“ Er rutscht wieder ein Stück von mir weg und sieht mich an. „Du wohl nich mehr so, wa?“

„Doch. Schon.“ Ich seufze tief. „Aber ... ick hab `n bisschen … Schiss?“

„Vor wat denn?“

„Na, dass ick dir weh tu. ... Oder ich mich dumm anstell. Und ... das ick dit vielleicht doch nich so mag.“ Aber irgendwas muss da ja dran sein, dass ich bisher noch nicht entschlüsselt habe.

„Oh. … Mhm. Dit braucht Zeit, Jan.“ Seine nachdenkliche Miene weicht einem Grinsen. „Heut is ja och erstmal mein Arsch dran.“ Seine Hände streichen über meine Hüften, fühlt sich gut an. Er kneift mich in den Hintern.

„Autsch“, beschwere ich mich, obwohl der Schmerz eher interessant war.

Bela zieht die Bettdecke ein Stück zur Seite, betrachtet mich, liebevoll und doch voller Hunger. „Mhmm, fühlt sich gut an.“ Bela streicht über die Stelle. „Du fühlst dich gut an.“ Seine Hände auf mir auch. Bela presst sich mit seinem immer noch sehr hübschen Ständer an meine Hüfte. „Also, so perspektivisch würd ick dir dit Vergnügen schon och mal bereiten wollen.“

Erregung rollt wie eine große, elektrisierende Welle durch mich. „Na, siehste.“ Bela blickt stolz auf meinen Schwanz, der langsam wieder Lust zu haben scheint. „Sooo schlimm ist dit nich. ... Haste dit denn noch nie bei dir selbst ausprobiert?“

Ich schüttel den Kopf. „Nee, also ... Okay, vor kurzem Mal so `n bisschen, aber ...“, stammel ich. „Ick kann bis jetz noch nich so janz erkennen, wat daran jut sein soll.“

„Aber eklig fandste dit nich, oder?“ Bela mustert mich sehr genau und leicht ängstlich.

„Nee. Aber et waren jetz eben och nich direkt Sternschnuppen.“

„Mhm. ...“ Bela rollt sich auf mich, küsst mich. „Sweetheart, du sachst sofort, wenn dit nüscht is für dich, okay?“

Ich muss trotz meiner Nervosität grinsen, nicke. Meine Lust ist zurück und meine Finger gleiten über Belas glatten, weißen Rücken, über seinen Hintern, was er mit einem wohlwollenden Brummen kommentiert. Ich lasse meine Finger weiter wandern, aber ...

„Bela?“

„Hmm?“, stöhnt er.

„Kannste ... kannste mir bitte ... helfen?“ Puh, ist das schwer, so was zu fragen.

„Na, klar.“ Bela nimmt meine Hand. Mit einem leichten Grinsen dreht er sich so, dass es für mich leichter wird und öffnet seine Beine für mich. „Magste mich hier anfassen?“

Einen kurzen Moment ist es seltsam, mehr als seltsam, aber er hat echt einen verdammt süßen, kleinen Knackarsch und es ist nicht so, dass ich mir das noch nie vorgestellt hätte.

„Hier.“ Bela streckt sich nach etwas in seinem Rucksack, hält mir eine Flasche Gleitgel entgegen. Der Junge ist definitiv vorbereitet. „Ick hab dit mal eingepackt, weil … Wegen vielleicht und so. Also, davon werden wir heute einiges brauchen.“ Er öffnet sie und drückt etwas auf meinen Finger. „Wow. Ick hab vergessen, was du für lange Finger hast. Mhm. Das könnte echt interessant werden.“

„Weil ick dir weh tu mit denen?“ Verdammt, bin ich nervös.

„Nee. Dit wird sehr, sehr jut!“ Bela verdreht genießerisch die Augen. Er drückt mich zurück auf die Matratze, kniet sich über mich und verwickelt mich in einen schwindelerregenden Kuss. Langsam, sehr langsam, gibt mein Kopf wieder die Kontrolle auf, ab an den Körper. Nur am Rande bekomme ich mit, wohin er meine Finger führt. „Hier. ... Nimm mich mit deinem Finger ...“

Es dauert einen Moment, bis ich mich wirklich traue. Warm, fast heiß. Und eng. Verdammt eng. Bela über mir stöhnt, seine Augen fallen zu und er biegt mit einem Seufzen seinen Rücken durch. Ihm scheint es zu gefallen und anscheinend mache ich nicht alles falsch.

Mein Kopf schaltet sich wieder aus, als Bela meinen Schwanz umfasst. Er beginnt sich über mir zu bewegen. Sein Stöhnen törnt mich fast noch mehr an, als die warme Enge um meinen Finger. Ungewohnt, aber verdammt gut.

„Dit reicht.“ Bela zieht mich hoch, positioniert sich so, dass er vor mir kniet und drückt seinen Hintern an meinen Schwanz und - Fuck. Ich ziehe mich schnell wieder zurück. „Heyyy!“ Bela klingt geradezu empört. „Lass mich dich mal spüren.“ Er legt meine Hände an seine Hüften.

„Ick hab echt Schiss dir weh zu tun.“

„Selbst wenn, ick sach Bescheid, okay? Wir kriegen dit schon hin.“ Er grinst über seine Schulter zu mir. „Und außerdem kann ick dit ab.“

„Hmm. Du bis so weit weg. Und – ick kann dich gar nich richtig sehen. Geht dit och, wenn wir uns dabei ansehn?“

Das führt zu einem ernsthaften Lachanfall seinerseits und ich komm mir wirklich dumm vor.

„Ja, klar. Ist `n bisschen schwieriger vom Winkel her, aber ... “

Bela legt sich auf die Matratze zurück und positioniert ein Kissen unter seine Hüften. „So besser?“

Ich nicke. Bela öffnet seine Beine und ich stütze mich über ihm ab, küsse ihn. Viel besser.

Ein Poltern – aus dem Erdgeschoss. Ich schrecke hoch, falle - falle komplett aus dem Moment. Es war vermutlich nur auf der Straße, hier ist niemand – nur wir zwei - aber mir ist schlagartig so bewusst, dass wir hier in meinem alten Kinderzimmer sind und ...

„Alles okay?“ Bela sieht mich prüfend an.  

Ich lasse mich neben ihn fallen, verberge mein Gesicht an seiner Schulter. „Ick glaub, ick krieg dit hier nich hin“, murmel ich. „Also, ick mein hier in dem Haus, weil ... “

„Oh.“ Einen Moment ist da Enttäuschung, dann streicht er mir über den Arm. „Is okay, Jan.“

Ich atme einmal tief ein und aus. Es tut fast körperlich weh, so sehr komm ich mir wie ein Versager vor.

„Is echt okay.“ Bela dreht sich zu mir und nimmt mich in den Arm. Ein wenig lindert das den Schmerz. „Wir müssen nich. Gibt auch andere schöne Dinge, also … wenn du magst.“

„Dauert noch einen Moment. Mindestens.“ Was für ein Scheißgefühl. Ein bisschen erinnert es mich an das erste Mal mit Bine, aber immerhin kann ich mit Bela darüber reden.

„Aber, mein lieber Robin“, säuselt dieser gerade an meinem Hals. „Machen Sie sich doch nicht immer so einen Kopf. Das ist doch nicht schlimm.“

Gegen meinen Willen muss ich lachen. „Du bist echt doof, Miss Marian.“

„Also, ich muss doch sehr bitten.“ Aber dann küsst mich Miss Marian und ist ein paar Momente später gar nicht mehr die empörte Jungfrau. Ja, es gibt auch noch andere Sachen.



31. Dezember - Niebuhrstraße 38 b

Wir sind wieder zurück in der Niebuhrstraße, in unseren eigenen vier Wänden. Frohnau hat Jan auf Dauer dann doch zu sehr runter gezogen.

Dieses Mal wollen wir Silvester eher ruhig angehen. Ich hab sogar angeboten etwas für uns zu kochen. Diesmal gehen wir nicht in den EDEKA. Der Penny hat auch schicke Sachen zum Futtern. Uta hat Jan noch ein bisschen Weihnachtsgeld zugesteckt und so haben wir ordentlich eingekauft. Wir müssen unsere Einkäufe auf zweimal die Treppe hoch tragen.

Beim zweiten Mal geht auf einmal der Zeitschalter mit einem „Klick“ aus und wir stehen im Dunkeln. Ich tast mich noch einen Treppenabsatz hoch, als Jan an meinem Bein zieht. „Ey, Bela, noch nich dit Licht anschalten.“

„Aber ick seh doch nüsch...“

„Bitte.“ Jan schließt zu mir auf. Sein Atem in meinem Gesicht, so nah steht er auf einmal vor mir. Langsam schiebt er mich an den Schultern zurück bis ich die Wand in meinem Rücken fühle. „Es is unser Jahrestag ...“

„Wie Jahrestag?“

„Na, es is wieder Silvester.“ Er wartet, dass bei mir der Groschen fällt. Er fällt erst, als ich seinen Mund heiß auf meinem fühl. Sehr heiß. Er küsst mich, als würde er mich vögeln, seine Zunge stößt in meinen Mund, so wie damals bei diesem Eiswürfelspiel.

Innerhalb von einer Millisekunde bin ich steinhart. „Jan?“

Sein schneller Atem an meinem Hals.

„Jan, ick will ... dich - so richtig.“ Meine Worte sind nur noch ein Keuchen. „Willste dit vielleicht noch ma probieren ...“, frag ich vorsichtiger, bin fast am Beten, dass er ja sagt.

Sein gieriger Kuss, sein großer Mund, der mich fast verschlingt, ist Antwort genug.

Wir schaffen es gerade noch so die Einkaufstaschen nicht zu vergessen, dann sind wir durch unsere Wohnungstür. Jacken fliegen zu Boden, Schuhe aus. Ich zieh ihm sein T-Shirt über den Kopf, aber nur halb aus, so dass es seine Arme hinter dem Rücken zusammenhält, drück ihn an die Wand wie letztes Silvester draußen im Flur, bevor Ecky uns leider gestört hat, dräng mich an ihn, an seinen nackten Oberkörper. Seine Haut … Ich befrei mich von meinem eigenen Oberteil, fahr mit meinen Händen in die Taschen seiner Jeans und zieh ihn noch fester gegen mich, reib mich an ihm.

Jan sieht auf mich hinunter und drängt seinen Oberschenkel zwischen meine Beine. Sein harter Schwanz an meinem. Die Reibung ist so gut, dass ich aufpassen muss, es nicht einfach schon hier mit ihm im Flur zu beenden. Ich lös mich ein Stück von ihm.

„Ich hol dich jetz in mein Reich der Finsternis", erklär ich mit düsterer Stimme, muss dann aber doch sehr wenig vampirmässig lachen. Jan sieht mich kurz verständnislos an, deswegen streck ich mich und beiß in seinen Hals.

Er quietscht sehr schön auf, aber als ich anfange zu saugen, geht es in ein tiefes, tiefes Stöhnen über. Durch die T-Shirt-Fesselung kann er sich zum Glück nicht effektiv wehren, stattdessen sinkt er ein Stück nach unten, vielleicht weil seine Knie nachgeben, vielleicht weil es ihn noch mehr anmacht. Gut. Der Junge darf einfach nicht zum Nachdenken kommen mit seinem hübschen Schädel. Sein Hals unter meiner Zunge, meinen Zähnen fühlt sich so verführerisch an, dass ich fast wie im Blutrausch weiter an seinem Hals saug und einen riesigen Knutschfleck hinterlass.

Zwischen unseren aneinandergepressten Körpern fummel ich am Knopf seiner Jeans, zieh den Reißverschluss auf. Er streckt mir seine Hüften sehr willig entgegen, aber ich schieb ihm nur seine Jeans über die Hüften, fass ihn absichtlich nicht an.

Ich schäl mich aus meinen eigenen Klamotten und Jan beobachtet mich mit gierigem Blick dabei. Schließlich zieh ich ihm das T-Shirt über die Arme, so dass er sie wieder bewegen kann. Er schlingt sie um mich, zieht mich fest an sich. Seine glatte, warme Haut an meiner. Es gibt nichts, dass mich mehr elektrisiert und gleichzeitig ganz weich innerlich werden lässt. Er streicht mir über den Rücken und allein diese unschuldige Berührung lässt einen Schauer durch mich laufen.

Jan zieht sich die Jeans ganz aus und ineinander verschlungen, tasten wir uns hinüber in mein Zimmer, fallen auf mein Bett. Die Decke rutscht zu Boden und wir haben vergessen, das Licht anzuschalten, aber durch die Tür fällt ein Strahl aus dem Flur zu uns hinein.

Jan stützt sich über mir ab, küsst mich wieder so wild wie im Treppenhaus. Seine Hand auf meinem Bauch, meinen Hüften. Seine Finger auf mir sind so heiß, als könnt ich mich an ihnen verbrennen. Heute fährt er nicht mit angezogener Handbremse, so viel ist klar. Seine Berührungen sind voll ungezügeltem Verlangen. Es tut so verdammt gut, dass Gefühl wirklich begehrt zu werden.

Ich lass meine Hand in seinen Slip gleiten. Mit einem lauten Stöhnen drängt er sich an mich, drückt mich mit seinem Körper in die Matratze. Allein seinen großen, schlanken Oberkörper über mir zu haben, ist so verdammt heiß, aber auch ... Ein warmes, zärtliches Gefühl für diesen großen, blonden Typ strömt durch mich und ich streck mich zu ihm hoch, küss ihn lange auf seine verschwitzte Wange.

„Na, du?“, fragt er leise. Er lächelt und seine weißen Zähne schimmern in der Dunkelheit.

„Na, du?“, antwort ich und forsch in seinem Gesicht, in seinen Augen, wie es ihm geht, erkenn aber nur rote Wangen, Schweißperlen auf seiner Stirn.

Der Strahl des Flurlichts fällt auf ihn, wie er so über mir kniet. Es lässt ihn als Silhouette über mir erstrahlen. Ich streich ganz leicht mit meinen Fingerspitzen über seine Oberschenkel, hör wie er scharf die Luft durch die Zähne saugt.

Er dreht sich ein Stück und ich seh wie verdammt hart er ist. Der Typ hat einfach einen super schönen Schwanz. Passt perfekt zu ihm und seinem Körperbau. Im alten Rom hätt ich ihn genauso in Marmor gemeisselt. Irgendwann werd ich ihm das mal sagen, allein schon, um zu sehen wie er rot wird. Ich steh da total drauf.

Jan greift nach meinem Ständer, positioniert sich so, dass er uns beide gleichzeitig in seinen riesigen Fingern wichsen kann. Oh ... Große Hände sind echt ein Segen, aber es ist fast zu gut. Ich will noch nicht kommen, denn heut will ich Jan mit seinem super schönen Schwanz in mir haben – und ich glaub, heut will er das auch.

Im Halbdunkel streck mich hinüber zu einer Schublade und wühl darin nach Gel, drück Jan etwas davon auf seine langen Finger. Sie gleiten sehr zielstrebig dahin, wo ich sie haben will. Seit unserem letzten Versuch findet er viel sicherer den Weg, aber die Geilheit tobt wie ein unersättliches, kleines Monster in mir und für das ist Jan immer noch viel zu zaghaft.

Ich press mich an ihn, beiß in eine Brustwarze. Er keucht hart auf, seine Finger an meinem Hintern ziehen mich an ihn, seine Hüften und sein Schwanz bewegen sich gegen mich und es ist genau das, was ich will, aber in mir. Ich verwickel ihn in einen wilden Kuss, während ich seine Finger lenk.

Er zögert, aber dieses Mal wart ich geduldig, dass er den nächsten Schritt macht, denn auf einmal will ich, dass es dauert, will mich einlassen auf ihn und sein Tempo, ihn ganz fühlen. Als er mit seinem Finger vorsichtig in mich eindringt, ist es wie eine Offenbarung. Er macht es fast quälend langsam. Ein ganz eigener Reiz und ich will ihm Zeit geben.

„Ja“, keuch ich auf. „Du kannst auch noch einen zweiten ...“ Nach ein bisschen Hin und Her klappt es. Auf einmal knattert im Hof eine Batterie Böller los und Jan zuckt so zusammen, dass sein Finger nun wunderbarer Weise sehr viel tiefer in mir ist, ich beginn mich auf seinen Fingern zu bewegen, viel schneller und tiefer, als er sich traut.

„Is das nich zu krass?“, fragt er atemlos aus dem Halbdunkel über mir.

„`n bisschen“, keuch ich. „Aber nich aufhörn. ... Bitte nich aufhörn. Dit is so ... aaaah!“ Es ist fast ein Jaulen und wir müssen beide lachen. Die Vibrationen davon in mir sind perfekt. „Fass mich an, bitte, bitte, fass mich an.“

Seine andere Hand an meinem Ständer macht den leichten Schmerz perfekt. Ein Schweißtropfen fällt von seiner Stirn auf meine Lippen und ich leck ihn weg. Mhm. Sein Geschmack explodiert auf meiner Zunge. Er ist so verdammt lecker. Ich schließ einen Moment die Augen, schmeck das herbe Salz und ihn in meinem Mund.

„Meeehr ...“ Ich leck über seine Brust, zu seinen Achselhöhlen und es ist wie ein Rausch, aber er windet sich lachend. Ich hatte vergessen wie kitzlig der Gute ist.

„Ah. ... Stop. ... Bitte stop, Bela. ... Oder willste lieber ... Kissenschlacht ... statt Sex?", keucht er lachend.

„Spinner. Was für `ne Frage. Natürlich Kissenschlacht!!!“, grins ich. „Viel besser als Sex!“

Er grinst zurück. Seine dünnen Lippen sind verdammt rot, wirken fast geschwollen von unserer Knutscherei. Auf einmal wird er ganz ernst. „Bela, ick …“ Sein Blick im Halbdunkeln sucht meinen, scheut zurück, sucht wieder meine Augen und bleibt. Ich seh ihn selten so komplett ohne Mauern und der Anblick lässt mich erschauern bis ins Innerste. Schön. Ich glaub, er weiß gar nicht wie schön er ist. Ich brauch einen Moment, um das alles zu verdauen. Behutsam zieh ich ihn wieder auf mich runter und küss ihn auf die Stirn, auf die Wange und vergrab mein Gesicht an seinem Hals. „Kissenschlacht später, okay?" Ich spür wie er nickt.

„Willste ...?“, fragt er leise und es ist fast ein bisschen wie diese komische Frage in der Kirche bei Hochzeiten, aber seine Finger an meiner Hüfte machen klar, was er meint - und ich will.

„Und du?“

Er nickt, küsst mich erst auf den einen, dann den anderen Mundwinkel. Unsere Blicken verflechten sich wieder ineinander und es macht Dinge mit mir, die ...

Mit Jan ist es einfach mehr als nur zwei Menschen, die aufeinander geil sind. Ich hab noch nie jemanden so sehr gewollt. Es ist wie ein Sog. Ich muss ihn jetzt … Langsam zieh ich ihn auf mich, führ seinen Schwanz zwischen meine Beine. Widerstand zwischen uns. Alles in mir zittert, so sehr brauch ich ihn in mir. Ein kurzes Zögern, dann dringt er so behutsam, als wäre es nicht nur sein Schwanz, sondern er selbst, in mich ein.

Er sieht mich prüfend an. Auf seiner Stirn ist eine steile Falte und ein unterdrücktes Stöhnen fällt von seinen Lippen auf mich herab. „Is ... is dit okay?“

„Mehr als okay.“ Ich zieh ihn wieder zu mir hinunter. Unsere Gesichter sind einander auf einmal so nah. „Es is ...“ Ich find keine Worte, aber Jans zaghaftes Lächeln im Halbdunkel zeigt mir, dass er auch so verstanden hat. Er schmiegt sein Gesicht an meinem Hals. Jedes Stöhnen und Seufzen von ihm dringt in mich. Ich liebe seine Stimme und …

Mit Jan ist alles anders, nicht nur, weil ich nüchtern bin. Das ist Jan. Ich brauch ein paar Atemzüge, um wieder ein bisschen runter zu kommen. Dann beug ich mich zu ihm hoch, küss ihn, nicht wild, sondern so langsam, wie ich noch nie jemanden geküsst hab. Ich will mir für immer einprägen, wie er sich anfühlt, wie sein Stöhnen in meinem Mund schmeckt.

Er bewegt sich vorsichtig auf mir Sein großer, heißer Körper, so nah. Mein Brustkorb gleitet verschwitzt an seinem. „Is das okay für dich?“, keucht er.

„Ja. Mehr. Bitte!“ Ich leck über seine Lippen, zeig ihm mit meiner Zunge in seinem großen Mund exakt, was ich von ihm will, stütz mich auf meine Ellbogen und die Reibung in mir ist so gut. Irgendwie nicht nur körperlich, sondern es, dass mit Jan, berührt mich anders. „Oh, fuck. Dit is sooo juuut!“, stöhn ich.

„Gut.“ Er lacht.

Wir verwickeln uns in einen Kuss, der immer wilder wird. Er ist so verdammt hart, traut sich aber wohl nicht wirklich zu zustoßen,und schließlich brauch ich mehr von ihm, brauch es intensiver „Kannst du härter …“, stöhn ich an seinem Ohr. „Also, wenn du magst.“

Mit einem Keuchen sinkt er wieder auf mich nieder. „Ick … Dit is doch zu krass.“ Seine Augen sind ein aufgeregtes Glitzern in der Dunkelheit.

Ich schüttel den Kopf. „Willste denn?“

Er nickt fast zaghaft, legt seine Stirn gegen meine, küsst mich in die Haare, meinen Hals und ich übernehm die Regie, pack ihn an den Hüften, die schweißnass sind und stoß ihm mein Becken entgegen. Einen Moment später spür ich seine Zähne scharf in meinem Nacken.

„Fuck!!!“

„Nich gut?“, keucht er besorgt.

„Zu gut. Ick bin fast gekommen davon“, beschwer ich mich.

Wieder das leise Lachen über mir.

Ich lieb diesen Kerl so und ich will ihn noch näher. Ich stoß ihm meine Hüften entgegen und er nimmt den Rhythmus auf. Unser Stöhnen vermischt sich mit dem Geknalle draußen vor dem Fenster, mit einer vorbeifahrenden S-Bahn und irgendwelchen schrecklichen Schlagern von einer Party im Nachbarhaus.

Verstohlen beobacht ich ihn. Die langen Grübchen an seinen Wangen sind wie Canyons, weil er sich so fest auf die Lippen beißt. Seine Gesichtszüge spannen sich mit jedem Stoß an, die Muskeln und Sehnen an seinem Hals treten hervor. Kurz kneift er die Augen zusammen, wenn er tiefer in mich eindringt. Vielleicht weil es so gut ist, vielleicht weil er glaubt, dass es weh tut. Tut`s auch `n bisschen, aber ... ich lieb diesen Schmerz. Leider merkt er, dass ich ihn beobachte, sofort ist sein Blick wachsam und ein wenig unsicher, seine Bewegungen werden langsamer.

„Jan? Biste okay?“

„M-hmmm!“, stöhnt er. „... Ick ... will irgendwie grad so ... viel. Ick will dich küssen und streicheln und mich an dich kuscheln und dich ficken und …“

Draußen vor dem Fenster explodiert im Hof eine Rakete hinter ihm. Ihr rotes Licht erleuchtet Jans blonde Haare und für ein paar lange Sekunden sieht er über mir aus wie ein rot leuchtender Engel, der wieder verblasst zu einer Silhouette.

Ich will ihn sehen, ihn ganz sehen, uns. Ich reck mich nach der Nachttischlampe und Jan stöhnt hart auf. Warmes Licht ergießt sich über uns beide. Er sieht mich mit glänzenden Augen an, verschwitzt hängt ihm sein Pony in die Stirn. Ich streich ihm ein paar Strähnen aus dem Gesicht zurück, leck über seine Brust, die harten Brustwarzen. Er schmeckt so verdammt nach Sex und Jan und diese Kombination macht mich so schwach und geil gleichzeitig.

Ich schling meine Beine um ihn und zieh ihn so tiefer in mich, geb den Rhythmus vor. Oooh. Für einen kurzen Moment schießen Funken durch mich. Ich such einen anderen Winkel, find ihn. Mehr Funken, wenn auch nicht genug. „Oh. ... Genau da!“

Seine riesige Hand an meinen Schwanz. Ich zieh die Luft zwischen den Lippen ein und er stöhnt über mir laut auf. „ ... Ick glaub ... ick halt ... nich mehr lang durch“, keucht er. Sein Atem fegt stoßweise über meine verschwitzte Brust, stellt meine Nippel auf.

„Is okay. ... Ick will dich, ick will doch so sehr. Bitte ... fick mich. ... Fick mich wirklich. .“

Jan kann nur nicken, so weggetreten scheint er. Gut. Er setzt sich ein Stück zurück zwischen meinen Beinen und packt mich an den Hüften, seine Hände berühren sich fast, weil ich so dünn bin – oder seine Hände so groß.

Draußen kracht es, als würde Berlin in Schutt und Asche versinken. Explosionen im Sekundentakt. Vielleicht ist es Mitternacht. Keine Ahnung. Auf jeden Fall ist es draußen jetzt ziemlich wild und die Raketen funkeln im Sekundentakt zu uns ins Zimmer.

Ich beug mich zu ihm hoch, such seinen Mund. Er verändert seinen Griff, gleitet tiefer in mich und ... „Ja!“, stöhn ich auf. Seine Finger graben sich fast schmerzhaft in meinen Hintern. „N-nnhhh! ... Bitte!“ Ich führ seine Hand wieder zu meinem Schwanz. Er ist so hart, wie ich ihn noch nie zuvor gefühlt habe und seine lange Finger wissen inzwischen genau, was sie mit ihm machen müssen.

Jan krümmt sich auf einmal über mir und zieht sich ein Stück zurück, aber ich will, dass er weitermacht, halt ihn an seinen Hüften fest und stoß ihn in mich.

„Oh, stopstopstop!“ Er bringt die Worte kaum heraus. „Nich bewegen, Bela!“

Erschrocken versuch ich in seinem Gesicht zu lesen. Allein diese kleine Bewegung reicht aus, um ihn wieder laut Aufstöhnen zu lassen. „Allet okay?“

„Ruhig. ... Bitte, Bela! Bleib ... einfach ... ruhig ... liegen.“

„Tut dir was weh?“

„Mir??? ... Nnnnnh-ein. Oooh, nich bewegen.“ Er presst mich fest an sich – Gut! - aber hält mich gleichzeitig auch so fest, dass ich mich nicht mehr rühren kann. „Ruhig. ... Ernsthaft, Bela. ... Ick ... Ick komm sofort“, keucht er an meinem Ohr.

„Mir egal.“ Ich zieh ihn wieder auf mich hinunter, will ihn ganz auf mir, in mir fühlen. „Komm.“ Ich schieb mich gegen ihn, tiefer, und er folgt. Der Sog übernimmt ihn. Er stützt sich mit beiden Händen über mir ab. Sein ganzer Körper, seine Bewegungen werden zu nur noch Wollen. Zwischen seinen Augenbrauen erscheint eine hilflose Falte, dann kneift er die Augen zusammen. Sein Rhythmus wird unregelmäßiger, dann setzt sein Atem ganz aus. „Bela, ick ...“ Sein Oberkörper bäumt sich auf und er zieht stöhnend die Luft ein, bewegt sich noch ein Mal, dann spür ich, wie er in mir kommt.

Ich versink in ihm, in seinem Stöhnen, seinem wilden Atmen und dem Zucken seiner Muskeln, bin so im Einklang mit ihm, dass sein Orgasmus wie ein Phantom auch durch mich wogt. Ich press mich an seine Bauchmuskeln, die sich immer wieder zusammen ziehen und komm einen Moment später zwischen unseren schweißnassen Körpern. Meine Muskeln spannen sich um seinen Schwanz und sein Stöhnen wird noch tiefer. Dann sackt er mit seinem ganzen Körpergewicht auf mich herab. Sein Mund an meinem ist ein wildes Keuchen. „Tut … mir … leid, dass ick …“, vibrieren seine Worte durch mich.

Obwohl ich immer noch leicht weggetreten bin, hör und fühl ich ihn so überdeutlich, als wär er wirklich Teil meines Körpers.

Für einen langen Moment liegen wir einfach nur schwer atmend und ineinander verschlungen da, dann streicht er mir behutsam die Haare aus dem Gesicht. „War`s ... war`s okay?“, fragt er vorsichtig.

„Dit fragste noch?“ Ich küss ihn auf seine heiße, verschwitzte Wange. Er sieht wunderbar zerstört aus. „Und – biste okay?“

Jan sieht mir in die Augen, küsst mich dann lange. Ein einfacher Kuss und doch ist er fast intimer, als alles was wir gerade gemacht haben.

„So jut, wa?“ Mein Gesicht explodiert in einem Grinsen. „Wow.“

Er grinst leicht verlegen, wischt erst sich, dann mir den Schweiß von der Stirn. Sein Grinsen wird immer breiter und gelöster und es tut so gut, ihn so zu sehen. Er beugt sich wieder über mich und vertieft den Kuss.

„Wenn de mich weiter so küsst“, stoße ich hervor, „dann kann ick gleich nochmal.“

Und er küsst mich weiter.

 

 

*
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LYRICS

Malaria!  - Trash me

Malaria!  - Geh Duschen

Depeche Mode – Clean

Ton, Steine, Scherben – komm, schlaf bei mir

Depeche Mode – Stripped



Miscellaneous

Serie: Robin of Sherwood, 1984 – Soundtrack
Kennt noch jemand diese alte Serie? Ich hab die so geliebt als Kind.

die ärzte – Fazit
Unbedingt anhören!


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Chapter 39: 1984 - Zu schön ...

Chapter Text

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* Teenagers in Love *

 




Inhaltswarnung: s. Ende – da es ansonsten Teile der Geschichte spoilert


Hallo, Ihr Lieben!

Damit die Geschichte nicht einfach ewig pausiert, hab ich mich schweren Herzens entschlossen, nun kürzere Kapitel zu schreiben, da es die einzige Option ist während meines Sabbaticals und meiner Reisen.

Auch wenn ich das nicht hoffe, so könnte diese Entscheidung eventuell etwas die Qualität beeinflussen, da ich insgesamt weniger Zeit hinein stecken kann.

Liebe Grüße an Euch von The Windmills



1984 – Zu schön ...
     




1. Januar – Niebuhrstraße 38b


Draußen schrammt quietschend eine S-Bahn vorbei. Eine Hand auf meinem Bauch. Warm. Ich blinzel. Graues Dämmerlicht. Belas Zimmer. Die S-Bahn verklingt in der Ferne und Kirchenglocken dringen zu uns hinein. Nach der lauten, wilden Nacht fühlt sich der Morgen so friedlich an. Ich schlage die Augen auf.

Neujahrstag. 1984. Hoffentlich wird das nicht wie der Roman.

Bela liegt auf dem Bauch, so an mich gekuschelt, dass er mich halb unter sich begräbt. Sein Kopf liegt auf meiner Schulter und obwohl ich die kaum noch fühle, will ich ihn nicht wecken, weil ...

Meine Augenlider sind echt schwer von unserer langen Nacht, fallen wieder zu und ich drifte zurück in die ruhige Wärme um mich. Gemütlich. Einfach zusammen in diesem zeitlosen Raum verweilen, den wir gestern geschaffen haben, während ganz Berlin das neue Jahr begrüßt hat. Wir beide eingesponnen in einem warmen Kokon.

Nur wir beide - wie aus der Zeit geworfen – auf unserem Planeten, in unserem eigenen Universum. Der Gedanke, das Gefühl ist so schön, wie es erschreckend ist.

Bela bewegt sich ein wenig an meiner Schulter. Seine nackte Haut gleitet über meine und alleine diese kleine Berührung echot durch mich wie ein kleines Gewitter – und eigentlich mag ich die nicht, aber diese elektrischen Ladungen sind ... Ich streiche ganz leicht über seinen Rücken, kann jeden seiner Wirbel fühlen. Dünn. Wir beide. Seine Haut ist weich und verschwitzt.

Ich beuge mich vorsichtig ein Stück vor, um Belas Gesicht sehen zu können. Auf seinen schlafenden Zügen liegt ein entspanntes Lächeln. Es dringt so liebevoll in mich. Wie dieser Racker es nur immer schafft, im Schlaf so unschuldig auszusehen. Von wegen unschuldig ... Das Blut schießt mir in die Wangen als die Bilder, Worte, Blicke unserer Nacht durch mich fließen – und noch woanders hin. Oh, fuck. Dafür würde es sich vielleicht doch lohnen Bela zu wecken, aber ich habe nicht das Herz ihn aus dem Schlaf zu reißen. Mein Herz ... Unerwartet zuckt ein heißer, scharfer Schmerz durch mich, den ich nicht komplett verstehe.

Ich lege den Arm um Bela, den er nicht unter sich begraben hat, drücke mich an ihn, vergrabe mein Gesicht an seinem Nacken, küsse die weiche Haut hinter seinem Ohr. Er riecht noch so krass nach Schweiß und Sex, aber es ist schön – mehr als schön. Es ist - überwältigend. Vorsichtig strecke ich meine Hand nach seinen Haaren aus, streiche über die wilde Mähne. Ein dumpfes Murren. Ich fahre behutsam über seine Wange, seinen Nacken. Die Härchen reagieren auf meine Berührung, aber er ist anscheinend schon wieder weggepennt.

Der Schmerz in meinem Herzen verändert sich. Ein Stechen. ... Mit Bine war das auch so - am Anfang. Und dann habe ich sie hineingelassen - in mich, weil ich dachte, sie würde auf mich und mein Herz aufpassen. Das ist ja mal grandios schief gegangen. Was, wenn Bela und ich auch so scheitern? Das wäre äonenfach schlimmer.

Vielleicht doch einfach die Zeit anhalten – nie wieder Teil des Alltags werden.

Wieder dieses schmerzhafte Echo in mir, als wollte sich mein Herz weiten, so groß werden, dass Bela hinein passt – ganz und mit allem, das ihn ausmacht. Dabei ist Bela ja schon ein ganzer Planet an sich. Wenn der mit meinem kollidiert, gibt es dann nicht so etwas wie einen Urknall, der ein neues Universum schafft, aber alles Alte hinwegfegt? Oder war ein Urknall der Auslöser damals im Ballhaus, dass wir uns so zueinander hingezogen fühlen? Um ein neues Universum zu schaffen ...


Your favourite passion
Your favourite game
Your favourite mirror
Your favourite slave


Ich fahre ganz leicht über den verschmierten Kajal unter seinen Wimpern. Er schlägt unkoordiniert herum, erwischt aber statt meiner Hand nur meinen Brustkorb.

„Mmmmrrrr ...“ Mit gerunzelter Stirn schlägt er die Augen auf. „Jan ...“ Seine Stimme ist verpennt und rauh, aber mein Name ganz weich. Das Murren wird zu etwas, dass eher einem Schnurren ähnelt. Ein Leuchten zieht über sein Gesicht wie eine Sternschnuppe und das Leuchten dringt in mich und ...

Ich nehme behutsam seine Hand und lege sie auf meine Brust. Er sieht mich von unten fragend an, lächelt, strahlt mich noch mehr an.

Sein Körper ruht so leicht und warm an meinem, aber seine Haut brennt sich in meine. Die Wärme seiner Handfläche scheint mit den Synapsen in meinen Nerven zu kommunizieren. Meine Kehle wird so eng und mein Herz so weit, so unendlich wie der tiefblaue Himmel im Sommer. Ich schlucke schwer, drehe mich ein Stück zur Seite, fahre mir versteckt über die Augen, will nicht, dass er sieht, wie sehr es, er mich berührt, auch wenn das Quatsch ist, denn Bela bemerkt es natürlich trotzdem, wischt vorsichtig mit seiner Hand über meine Wange, kuschelt sich an mich.

„Hey ... Biste traurig, wegen ... gestern Nacht?“ Er stützt sich auf einen Ellbogen und sieht mich prüfend an. „War`s doch zu früh? Oder zu viel?“

„N-nnhnn“, schüttel ich schnell den Kopf, ziehe ihn wieder fester an mich. „Nein. Also, es war ziemlich ... intensiv. Und ... schön. Und geil.“ Ich muss lachen, obwohl mir immer noch die Tränen runterlaufen und spüre, wie Bela erleichtert an meinem Brustkorb aufatmet. „Aber es war auch ... Irgendwie komisch, oder, dass wir so Liebe machen?“ Es klingt wie ein Schniefen und ich räusper mich schnell. „Sollte dit nich eher mit dem Herzen sein?“

„Bei mir war das mit`m Herzen. Also, auch ...“ Bela grinst mich ganz weich an, küsst mich auf die Wange, wird wieder ernst. „Bei dir och, oder?“

Mann! Das Wasser will unbedingt weiter fließen. Genervt wische ich mir nochmal über die Augen, dann sehe ich Bela an und nicke. „Hmmm ...“

Er streicht mir sanft durch die Haare. „Is schön, wenn de so – offen bist. Aber ... wieso weinste?“, fragt er ganz vorsichtig.

„Weil ...“ Ich lege meine Hand über seine auf meinem Herzen. „Da ist grad so viel los und ick glaub, ick lieb dich und ick glaub, ick hab Angst.“

Seine Augen werden groß. „Wirklich?“

„Ja.“

„Dit is schön.“

„Das ick Angst hab?“

„Nee, dit andre.“

„Weißte, ick hab vorhin gedacht, dass du ein ganzer Planet bist." Bela stützt sich neben mir auf und sich mich fragend an.

Stockend beginne ich ihm meine Planeten, Universums, Urknall-Theorie über uns zu erklären. Er hört einfach nur aufmerksam zu. Als ich geendet habe, sehe ich nervös an, weil ich nicht weiß, ob er diese abstruse Mischung aus Liebeserklärung und Angst versteht.

„Hey, Jan?“ Ernst liegen seine Augen auf mir, ungewohnt ernst und sie glänzen nun auch ein wenig. „Du bist der beste Planet des Universum und ick bin echt froh, dass de in mich reingeflogen bist wie `n Urknall, damals beim pogen im Ballhaus." Ein Schauer läuft bei seinem Blick durch mich. „Und ick mag deene philosophischen Gedanken.“ Er küsst mich auf die Nase. „Sehr. Die Seite kennen gar nich ma so viele Leute an dir, hm?“ Bela sieht auf mich hinunter.

„Irgendwie nur du.“ Er hat recht. Was löst er nur in mir aus?

„Nich ma Ecky?“

„`n bisschen, aber bei dir, da fängt diese Seite an `ne richtige Labbertasche zu werden.“

„Dit is meen Karma oder wie man dit nennt.“

„Bestimmt.“ Jetzt muss ich wirklich lachen.

„Exakt. Weeßte, wir sind einfach füreinander bestimmt.“

Ja, genau so fühlt es sich an und ich muss ihn unbedingt küssen, was Bela eindeutig für eine gute Idee hält. Nur mein Kopf, der will weiter labbern, weil ... Ich hab so Angst, dass ich, dass er sich irrt, dass wir beide uns irren und ...  


Will you let the fire die down soon
or will I always be here?



Bela kuschelt sich noch fester an mich. Sein Becken landet an meiner Hüfte ... Ich stöhne auf, weil diese kleine Berührung so durch mich peitscht.

„Hmmm.“ Bela streicht über meine Brust, küsst meine Schulter, leckt in Richtung meiner Achsel, so dass ich mich unter ihm quietschend zur Seite rolle. „Mann, ick bin kitzlig. Außerdem – tut dir ... Tut dir nicht alles weh?“

„Schon. Aber die Geilheit überwiegt“, kommt es nonchalant zurück. „Außerdem fühlt sich dit jut an.“ Er presst sich fester an mich und er bekommt diesen intensiven Blick, dem ich mich einfach nicht entziehen kann, weil er mir sagt, dass ich der einzige Mensch auf der ganzen Welt bin, den er will und braucht. Er nähert sich meinem Mund. „Und nach dir.“ Bela küsst mich. „Es war schön, dir so nah zu sein.“ Er küsst mich nochmal, drückt sich an meinen Oberschenkel und wie ein Energiestrahl zieht seine Erregung zwischen meine Beine, aber ... „Oh, Mann. Ick könnt schon wieder, aber dit is och wund.“

Er sieht mich echt betroffen an. „Oje. War doch `n bisschen viel, wa? Du has dich aber echt wacker geschlagen für dein erstet Mal.“

Ich knuffe ihn auf den Bizeps. „Idiot.“ Dann muss ich lachen. „Krieg ick jetz `ne Medaille von dir dafür umgehängt, oder wat?“

„Haste schon.“ Bela deutet auf meinen Hals, an eine Stelle an meinem Schlüsselbein, die ich nicht sehen kann und auf meinen Oberarm. Ein tiefroter Fleck. „Ick kann dich gern noch mehr verzieren ...“ Und das tut er dann auch und mein Kopf hält endlich nachhaltig die Klappe.

Den Neujahrstag über kommen wir nicht aus dem Bett. Berlin kann seinen Alltag oder Feiertag allein verleben.

*



Am nächsten Tag übertönt mein knurrender Bauch sogar die Depeche Mode Platte, die über die Lautsprecher im Bad unsere WG beschallt.

Bela grinst mich an. „Wat hältste davon, wenn ick einkaufen geh und uns Frühstück im Bett mach?“ Er sieht von seiner Idee so begeistert aus, dass ich ihn nicht aufhalten will, obwohl ich ihn eigentlich lieber hier im Bett behalten hätte. Allerdings habe ich auch wirklich krassen Hunger. Irgendwie auch süß, wie er sich so tatenhungrig in seine Klamotten schmeißt.

Zehn Minuten nachdem er weg ist, klingelt es an der Tür. Bestimmt wieder den Schlüssel vergessen. Ich schlüpfe schnell in meine Unterhose und öffne die Wohnungstür.

„Äh, oh ... Hallo!“

„Hi Jan!“

„Ähm, also, äh, schön, dass de mal vorbei schaust.“

„Hab ick dich geweckt?“ Diana sieht mich prüfend an und es ist irritierend in Belas Augen zu blicken. Ihre Augen wandern von meinem Hals zu meinem Schlüsselbein. „Oder dich bei was andrem gestört?“ Auch ihr Grinsen hat einen Hauch von Bela.  

Ich versuche, nicht mit der Hand die Knutschflecken zu verdecken. „Ähm, nee, nee. Sorry für meinen Aufzug. Ick dacht nur, das dit Bela wär.“

„Schon okay. Der is gar nich da, wa?“

„Doch, doch. Also, der is nur schnell einkaufen.“ Frühstück im Bett wird wohl nichts mehr.

„Okay. ... Ick wollt ihm `n jutes Neues wünschen. Dir natürlich och.“

„Äh, danke. Dir auch.“ Ich weiß nicht, ob ich sie umarmen soll, aber so halbnackt, kommt das dann wahrscheinlich doch etwas komisch.

Als hätte sie meine Gedanken gelesen, grinst sie noch einmal. Nicht nur die Augen, auch der Mund ist ähnlich, allerdings trägt sie Lippenstift. Sieht gut aus. Seltsam, dass an zwei Menschen so viel ähnlich und trotzdem anders sein kann.

„Kann ick vielleicht hier auf ihn warten?“

„Ja, klar. Komm rin.“ Ich halte ihr die Wohnungstür extra weit auf. „Ick zieh mir ma schnell wat Gesellschaftsfähigeres an, okay?“

Sie nickt nur und geht in die Küche.

Ein T-Shirt und eine Hose später, sitzen wir uns schweigend in der Küche gegenüber. Diana sieht Bela nicht wie ein eineiiger Zwilling ähnlich, sondern eben wie eine Schwester. Bis auf den Mund und das Grinsen und die Augen. Das gleiche Hellgrün – ebenfalls mit Kajal umrandet. Und mit denen mustert sie mich gerade etwas unsicher. Wär schön, wenn ich zu ihr einen besseren Draht hätte.

„Also, ähm, schön, dass de mal vorbei schaust“, wiederhole ich meine Worte von vorher und versuche, es auch so klingen zu lassen. Ich mag Diana, auch wenn ich sie selten sehe. Am Anfang bei Soilent Grün war sie noch öfter dabei bei unseren Konzerten, dann hat sie ihre Ausbildung als Verkäuferin angefangen und hatte dann wohl weniger Zeit und Energie für den Punkrock ihres Bruders.

Sie lächelt mich an.

Riiiing. Riiing. Riiiing.


Das Telefon lässt uns beide zusammenfahren. Ich gehe in den Flur, weiß nicht, ob ich erleichtert bin, dass unsere etwas unsichere Unterhaltung eine Pause erhält.

„Vetter.“

„Hallo, mein Großer!“

In Sekundenbruchteilen habe ich anhand dieser drei Worte ihre Stimmlage und damit ihre Stimmung analysiert – eine alte Angewohnheit, nachdem Gerd eingezogen war. Angespannt, was sie aber zu verbergen versucht.

„Hallo, Mama.“ Ich warte.

„Also, ... Ich wollte nur fragen, ... wie es mit eurer Platte vorangeht?“

„Gut. Ich hab gestern noch ein Lied dafür fertig gemacht.“

„Du hast aber nicht wieder über gerade verstorbene Stars geschrieben. Romy Schneider?“

„Nee. Wär doch langweilig zweimal dit gleiche.“

„Schockt dann nicht mehr so, oder, mein Sohn?“

Irgendwie kennt sie mich doch ganz gut. „Vielleicht.“

„Und über was hast du dann geschrieben?“

„Na, über Anneliese Schmidt.“

„Wen?“

„Na, dit kleine Mädchen, das im Garten sitzt und Blumen für ihre Mutter pflückt.“

„Aha. … Hört sich erstmal nett an, aber so wie ich dich - und auch Bela kenne – kommt da noch das dicke Ende, oder?“

Ich muss aufrichtig lachen, weil – meine Mutter ist schon eine Schnellcheckerin. Schätze ich sehr an ihr. Den Kannibalismus in der letzten Zeile enthalte ich ihr dennoch vor. Ist ja auch einfach nur Quatsch, den man nicht intellektuell debattieren kann.

„Ich finde es echt immer wieder erstaunlich, wie du einfach so ein Lied schreibst.“

„Is doch nich schwer.“

„Sagst du ...“

Es ist nett, sich mit ihr über die Ärzte zu unterhalten und für das Geld für unsere erste Platte bin ich ihr mehr als dankbar, aber ... Irgendwie kommt es mir so vor, als hätte sie nicht wirklich deswegen angerufen. „Wie ... wie geht es dir?“

„Gut.“

Viiiel zu schnell geantwortet, die Gute. „Aha. Und mit Gerd?“

„Okay.“ Viel zu kurz angebunden.

Ich warte. Und warte. Leider beherrschen wir beide das Spiel. „Ick wollt übrigens ankündigen, dass de `n Teil von dem Geld bald zurückbekommst.“

„Woher habt ihr das denn so schnell?“

„Na, von dem Gewinn vom Senatsrockpreis. Also, wir müssen dit zweckgebunden ausgeben. Deswegen ham wa dit meiste in Instrumente investiert. Bela hat sich `n neuet Schlagzeug gekauft und `n drahtloses Headset. Das dürfte sehr viel einfacher werden damit, wenn er singt.“ Das er sich auch eine limitierte Signature-Gitarre von KISS in Axtform gekauft hat, lass ich unter den Tisch fallen. Das würde sie wohl nicht verstehen. „Und ich hab jetzt endlich eine billige Gretsch-Gitarre.“ Wie Brian Setzer von den Stray Cats. Ein elektrisierendes Gefühl in meinem Bauch. Verdammt, wir haben jetzt echt ein gutes Setup. „Von den 10.000 Mark ist immer noch wat übrig.“

„Schön. Das ... Das freut mich wirklich.“ Da ist so ein merkwürdiges Zögern in ihrer Stimme. Ein Zögern, dass ich sofort als „Gerd“ dechiffriere, aber eigentlich ist das auch ihr Problem. Ich hab den Typen ja nicht geheiratet. Leid tut sie mir trotzdem. „Und wie geht es Julchen?“

„Ist oft bei ihrem Freund.“

„Freund, hm??? Dieser Thomas, oder?“

„Ja, genau. Sag mal, Jan ... Ich wollte dich mal als großer Bruder, aber auch als Jungen fragen: Meinst du, ich muss mir da Gedanken machen?“

„Äh, du meinst, weil ... Wohl nich, wenn de se gut aufgeklärt hast.“

„Mhmm. ... Also, ... Bei dir hab ich mir halt nicht so Sorgen gemacht.“

Ich werde tatsächlich ein wenig rot. Ich mag meine Mutter wirklich gern und sie hat ihren Job so gut gemacht wie möglich, aber ... „Weil sie ein Mädchen ist, oder?“, frage ich zaghaft.

Sie seufzt nur. „Du kannst ja nich schwanger werden. Aber stell dir mal vor, Julchen wäre ...“ Es klingt, als hätte sich meine Mutter hingesetzt und ich verkneife mir das „So wie du, meinste?“

Ich bin froh, auf der Welt zu sein, diese Chance bekommen zu haben. Nur die Väter-Situation ist schwer zu ertragen – nicht nur bei mir. Ich denke an Belas Nicht-Vater in Köln. Arschgeigen – alle! Kein Wunder, dass meine Mutter Angst um Julchen hat. Hab ich ehrlich gesagt jetzt auch. Ich lieb Bela und seine impulsive Art wirklich, aber was, wenn dieser Thomas auch so einer ist, der erst handelt und dann nachdenkt?

„Die is vernünftig“, sage ich und hoffe, dass das immer noch so ist. Scheiß Pubertät.

„Hast ja recht. Nur ... Ich mag mir das gar nicht vorstellen, dass Julchen über eine Abtreibung nachdenken müsste.“

„A-Abtreibung?“ Scheiße. Gerade wird das echt ein bisschen sehr real.

„Wird schon nicht passieren, aber ... Könntest du vielleicht trotzdem mal mit ihr ...? Oder ist das komisch?“

„`n bisschen. Aber mach ick, also bevor ... was passiert ... Eine Abtreibung, dit wär echt ...“

„Ich mag mir das gar nicht vorstellen. Also, insgesamt hab ich ja nichts dagegen, wenn sie ... Auch wenn das vielleicht ein bisschen jung ist. Aber inzwischen haben sich die Zeiten ja doch geändert und es gibt genügend Hilfen und ...“

Ja, zum Glück. Die Welt braucht wirklich nicht noch mehr ungewollte Kinder und alleinerziehende Mütter. Dann lieber abtreiben. Doch ich kann mir echt nicht vorstellen, dass so junge Mädchen wie meine Schwester Abtreibungen machen lassen – machen lassen müssen. Krass. Echt krass. Ich muss echt auch noch mehr aufpassen. Obwohl ja jetzt vielleicht erstmal nicht mehr, weil ... Bela.

„Das Gerd da außen vor bleibt, muss ich dir ja wahrscheinlich nicht extra sagen, oder?“

„Nein.“ Ein altes Gefühl schwappt hoch, rührt mich seltsam. Als wäre ich wieder fünf und wir zwei sind noch ein unschlagbares Team. Die Zeitrechnung vor Gerd.

 

*



Als ich zurück in die Küche komme, schrecke ich kurz zusammen. Wegen des ernsten Gesprächs hatte ich glatt Diana vergessen. Blass sieht sie aus. Und ein wenig verheult? „Hey. Is allet ... äh, okay mit dir?“

„Woher weeßte `n dit mit der Abtreibung?“

„Was?“

„Weiß Bela dit och?“

„Was weiß er?“ Ich muss nicht weiter fragen. Ihr Gesicht spricht Bände.

„Oh, shit. ... Sorry, Diana. Ick wußte nich ...“

„Is nich so schlimm.“ Ihre Stimme klingt viel zu tapfer. „Is schon länger her und der Vater war `n Vollidiot. Da fällt die Entscheidung dann och nich so schwer.“

Ich bin echt wie vor den Kopf geschlagen, weiß nicht, was ich sagen soll.

„Also, woher weißte dit jetz?“

„Ähm, ick wusste dit nich. Meine Mutter war am Telefon und ... Es ging um meine Schwester.“

„Julia? Um Gottes willen. Die is doch erst 14.“

„Ja. Nein. Also, dit war nur so `ne Art prophylaktisches Gespräch. Julchen is nich ... brauch nich ...“ Ich lasse mich ihr gegenüber auf den Stuhl fallen, spring wieder auf und setze auf dem Herd Wasser auf. „Magste och `n Tee?“

„Gern.“ Sie klingt so dankbar, dass der Schmerz noch deutlicher hervorsticht. Was sagt man zu diesem Thema?

Die Wohnungstür und ich atme versteckt auf. Diana wischt sich schnell nochmal über das Gesicht. Mit einigen Tüten bepackt kommt Bela in die Küche. „Diana ...“ Seine Augen werden groß. „Hey, das ist ja eine Überraschung.“

„Sorry, also, ich wollt nich ...“ Sie zupft an ihrem Rock herum.

„Ick mein natürlich – eine schöne Überraschung.“ Ein liebevolles Lächeln breitet sich auf Belas Lippen aus. Es scheint zu helfen, denn Diana lächelt zaghaft zurück.

„Hey. Jutes Neuet.“ Er umarmt Diana, die sich nochmal verstohlen über die Augen wischt. Seit gestern ist Bela echt ständig von heulenden Leuten umringt. Diana hat ja zumindest einen echten Grund, die Arme. Mich hat das Ganze echt geschockt. Wenn Bela einen umarmt, so richtig umarmt, dann kann so ein versteckter Staudamm schon mal brechen.

Ich weiß nicht, ob ich Bela vorwarnen soll, aber das wäre nicht okay Diana gegenüber.

„Hey, Schwesterchen?“ Natürlich hat Bela mit seinen feinen Antennen sofort gemerkt, dass etwas nicht stimmt. „Was ist denn los?“ Er streicht ihr übers Haar, was dazu führt, dass Diana nun wirklich herzzerreißend weint.

„Also, vielleicht solltet ihr beeden einfach zusammen wat trinken gehn. Also, wat Alkoholfreies. ... Oder auch nich“, stammel ich. Ich fühle mich so hilflos.

Bela sieht mich verdutzt an, nickt dann. „Ähm, okay.“ Er streicht über ihren Arm. „Komm, Süße. Ick kenn da ein nettes Café ...“

„Also, eigentlich würd ick dit lieber in Ruhe hier besprechen“, schnieft Diana.

Ich bin so ein Vollidiot. Natürlich diskutiert man das nicht in der Öffentlichkeit.

„O-okay.“ Bela sieht mich an, aber ich kann nicht mehr tun als nicken.

Die beiden gehen hinüber in Belas Zimmer, in dem wir vor einer Stunde noch Sex hatten, und ich sinke erschöpft zurück auf den Stuhl.

Meine Gedanken wandern zurück zu meiner Mutter. Auch wenn sie es nie ausgesprochen hat, rechnen kann ich auch: Das mit Joachim war ganz klar eine Notheirat. Ein tiefes Mitgefühl für Frauen überkommt mich. Ich erinner mich an den Tripper, den Bela mir beinahe angehängt hätte.

Ich werde definitiv mit Julchen reden.

*



„Dit ... Dit wusst ick nich, Diana!“ Wo war ich vor 1 ½ Jahren? Auf jeden Fall nicht für meine Schwester da – meine Zwillingsschwester. Wieso hab ich das nicht mitbekommen?

Wir sitzen auf meinem zerwühlten Bett, über das ich schnell die Bettdecke geworfen habe. Komplett erschüttert rutsch ich ein Stück weiter zu ihr rüber, leg einen Arm um ihre Schultern und zieh sie an mich. Sie riecht so unglaublich vertraut und ich ärger mich so über mich selbst, dass ich sie in den letzten Monaten – Jahren - so vernachlässigt hab.

„Papa hat mir geholfen damals.“

„Was? Aber ick dachte, der wär ... weg.“

„Ick hab mich eenfach nich getraut, das Mama zu sagen. Die wär doch aus allen Wolken gefallen. Und da hab ick Papa angerufen. Und der hat sofort gesagt, ick soll zu ihm nach Köln kommen.“

Es ist wirklich ein komplett bescheuerter Anlass eifersüchtig zu sein. Deswegen nick ich einfach. Außerdem bin ich immer noch sprachlos. Was da so alles hinter meinem Rücken passiert ist. Ich hätt wirklich mehr aufpassen müssen, hab Diana viel zu sehr vernachlässigt. Echt kein Stück besser als unser Oller. Tolle Familie …

Ich war halt einfach immer so froh, wenn ich unterwegs sein konnte im richtigen Berlin und nich zuhause, da hab ich das alles wohl ein wenig aus den Augen verloren in Spandau.

„ ... wirklich Verständnis gehabt und hat mich sogar zu dem Termin beim Arzt begleitet. Der hat halt sofort kapiert, dass dit nich jut jehen wird mit Alex und hat mir keene moralischen Vorhaltungen gemacht. Is doch selbst so ein ... Hallodri, unser Vater.“

Wo sie recht hat, hat sie recht. Eine kalte Hand fasst nach meinem Herz. Wie ähnlich bin ich ihm eigentlich? Ist er immer noch mein Vorbild, sowie damals mit 13?



7. Januar – Schnick-Schnack-Studio

Matzge steht an seinem leicht vermüllten Mischpult. Hans mit Abstand von ihm am anderen Ende, dazwischen Jan und ich.

Matzge hält uns irgendein Gekritzel auf einem Schmierzettel entgegen. Eine Songliste.

„Neuet Jahr, neuet Glück, wa?“ Jan sieht mich nachdenklich an. Meint er uns beide? Ich kann grad echt an wenig anderes denken, aber er meint wahrscheinlich unsere erste Platte.

„Na, dit hoff ick ma.“ Ich drück seine Hand kurz, halt sie einen Moment lang fest und er drückt zurück. Tut gut.

Matzges Adlerblick fällt auf unsere ineinander verflochtenen Finger und schon lässt Jan los. Ach, Menno ...

„Also, Jungs, wir müssen drüber reden, welche Songs auf die EP drauf kommen?“

Jan holt neben mir Luft. „Also, wir dachten an Teenagerliebe, Teddybär, Wilde Mädchen und statt Grace Kelly `nen neuen Song, den ich gestern geschrieben hab.“

„Okay, lass ma hören."

Jan greift nach seiner Gitarre. Hört sich echt gut an - und ist witzig.

„Gebongt. Anneliese ist dabei, aber wir haben uns überlegt, dass die EP massenkompatibler sein muss.“ Matzge kritzelt etwas auf seinen Schmierzettel und dreht diesen dann zu uns. „Das sind die Songs, die Jörg und ich uns überlegt haben. Wir haben auch schon angefangen, die zu abzumischen.“ Jan runzelt die Stirn. Es ist fast die gleiche Liste - fast!

„Das neue Lied kommt drauf, aber ich würde lieber statt Wilde Mädchen den Song Grace Kelly drauf behalten wollen.“

Jan und ich sehen uns an. Ich nick zögerlich, obwohl ich das gerade alles ziemlich abgefuckt finde. Jan neben mir nickt noch zögerlicher.

Nur Hans ist voller Eifer dabei. „Genau. Gute Wahl. Das soll sich schließlich richtig gut verkaufen.“

„Aber dann is ja von Bela nur een Lied auf der Platte?“

„Na, von deinen Liedern willst du ja wohl auch keines opfern, nur damit das 50:50 ist, oder?“, meint Hans nur auf meiner rechten Seite. „Außerdem haben Jans Songs mehr Pop-Potenzial.“ Seit wann ist dieser leicht verpeilte Trottel eigentlich so forsch?

„Hans hat recht“, meint Matzge von links.

Jan sieht mich an und einen Moment ist da so ein Knistern zwischen uns, dass nichts mit unserer Verknalltheit zu tun hat. Auch wenn wir es nie klar ausgesprochen haben: Ich befürchte, jeder von uns beiden möchte das perfekte Lied schreiben, den anderen ein wenig beeindrucken mit seinen Ideen. Gut sein. Besser?

„Aber ... Können wir nicht fünf Lie...“, beginnt Jan.

„Sorry, Bela, aber Wilde Mädchen passt halt einfach nicht so gut“, erwidert Matzge nur kurz angebunden und das zieht echt rein, doch ich will nicht zeigen, wie sehr es mich trifft. Sie haben ja nicht Unrecht. Jan schreibt verdammt gute Songs. Weh tut es trotzdem.

„Okay, also dann das Cover.“ Matzge hält Jans Entwurf in der Hand. „Sieht ja ganz gut aus.“ Kurz gibt mir das noch einen weiteren heftigen Stich. Irgendwie läuft da gerade echt was schief.

„Und was is mit meinem Bild?“

„Das hier?“ Matzge zieht meine Zeichnung aus einem Stapel. „Ähm, ja, also ... Wir wollten eigentlich Farins Bild nehmen.“

„Aber ...“ Irgendwie zieht es mir gerade den Boden etwas unter den Füßen weg. „Hey, Jan! Können wa ma kurz reden?“

„Klar.“ Seine Miene zeigt mir, dass er schon genau weiß, um was es geht.

Wir gehen in den Flur. Ich lehne mich an die kalte Wand. „Also, irgendwie ... Es is okay, wenn auf der Platte mehr Lieder von dir druf sind und dit Cover von dir is. Nich nur weil, deine Mutter dit Geld vorgestreckt hat, sondern die sin ja och wirklich jut, aber ...“ Ich weiß nich, wie ich es sagen soll, aber ich kann Jan sein schlechtes Gewissen von den Wimpernspitzen ablesen und bin froh, dass er zu verstehen scheint.

„Dit hab ick mir och schon gedacht. Is nich so cool, wa?“

„Mhm. Ja. Ick dacht halt, dass wir beede ... Ick mein, Hans is eh außen vor, aber wir zwei ...“

„Wir können dein Bild ja hinten drauf machen. Wat meinste?“ Jans Blick liegt sehr vorsichtig auf mir.

„O-okay.“ Es ist besser, aber jetzt auch nicht direkt perfekt.

„Sollen wir mehr dafür kämpfen, dass Wilde Mädchen doch drauf kommt.“

„Mhm. ... Ja. Oder? Nee, vielleicht ... Ist schon okay. Die beiden kennen sich im Musikgeschäft ja besser aus als wir zwee Punker.“

Matzge erscheint im Türrahmen. „Seid ihr fertig mit eurer Besprechung?“ Er zeigt hinüber ins Studio.

Ich kann das gar nicht leiden, wenn andere Leute das Zepter in die Hand nehmen. Und Jan auch nicht. Er rollt überdeutlich mit den Augen und ich weiß, dass ich ihm nicht böse sein kann. Matzge irgendwie auch nicht, denn immerhin werden jetzt endlich mal Nägel mit Köpfen gemacht. Ist ja vielleicht auch gut.

„Sin gleich fertig. Ick muss nur noch ...“ Schnell schreib ich auf meiner Zeichnung noch unsere Adresse in der Niebuhrstraße drauf und unsere Telefonnummer, damit uns Leute auch erreichen können, wenn sie uns buchen wollen oder so.

Wir gehen hinüber ins Studio, um den Stand der Dinge vorgeführt zu bekommen. Matzge startet „Teenagerliebe“.

„Also, ick find, da muss noch `n bisschen mehr wumms rauf“, meint Jan nachdenklich.

„Find ick och. Man hört dit Schlagzeug ja kaum.“ Ich drück mich näher an Jan, spüre seinen Hüftknochen an meinem Oberschenkel. Eigentlich sollte das nicht wirklich sexy sein, und eigentlich bin ich gerade auch immer noch ganz schön geknickt, aber ...

Matzge taxiert Jan einfach nur mit starrem Gesichtsausdruck, unter dem der große Farin neben mir zu schrumpfen scheint.

„Oder vielleicht auch nicht?“, sagt dieser schließlich ratlos. An seiner Wange beginnt so ein Zucken, dass signalisiert, dass er entweder gestresst ist oder genervt. Verständlich. Eigentlich sollte die Produktion der EP der beste Moment überhaupt sein.

„Genau. Jörg und ich sind die Produzenten.“ Matzge baut sich vor Farin auf und sieht ihn trotz seinem gefühlt halben Meter weniger von oben herab an. „Da müsst ihr uns schon vertrauen. Also, quatscht nicht überall rein, okay?“

„Hey, hey, hey.“ Auf einmal steh ich Matzge gegenüber. Matzges Ausstrahlung ist manchmal echt so krass. Wenn er will, kann er ganz schön fies und zickig sein. Als ob er seinen dominanten BDSM-Hintergrund in den Alltag einbaut. Nicht fair, nicht okay, nicht ohne Consent, hat mir Manu ganz klar erklärt und Matzge scheint das gerade zu brechen, was mich echt sauer macht. Vor allem auch Jan gegenüber. Der hat ja nun mit sowas gar nichts zu tun.



12. Januar – Moritzplatz

Endlich mal wieder mit Jan auf `nem Punkkonzert. Die letzten Tage waren wir nur im Studio beziehungsweise sehr häuslich – oder eher bettlich, denn wir sind da kaum rausgekommen.

Eigentlich eine mehr als blöde Idee bei dem Wetter draußen zu spielen, aber es geht um das besetzte Geronimo-Haus in der Oranienstraße und da ist der Moritzplatz am nächsten dran.

Gerade spielen Beton Combo. Mit denen hatten wir in der Vergangenheit immer wieder Stress und so halten wir uns erstmal im hinteren Teil des Publikums. Heske, der Sänger, scheint dennoch extra für mich einen Radar zu besitzen. Immer wieder fällt sein Blick von der Bühne zu uns hinüber.  Blöder Wichser. Mein Mittelfinger juckt echt doll.

Mit Sicherheit pog ich nich zu Heskes Gegrölle, andererseits würde das mich warm halten. Meine Lederjacke hält zwar den Regen von mir, aber langsam wird mir kalt vom Rumstehen. Jan hat natürlich wieder seinen fetten Armeemantel an und am liebsten würde ich da drunter kriechen, aber ich weiß nich, ob er das okay findet und außerdem ...

„Oh, Mann. Dit is ja nich auszuhalten“, brüllt Gitti uns über den klischeehafen Deutschpunk zu und rollt mit den Augen. „Also, ick gönn euch beeden dit ja wirklich, aber so `n bisschen nervt et och, euer Dauergrinsen.“ Natürlich führt das bei Jan zu einem noch breiteren Grinsen. „Und mit den Knutschflecken könnt er och gleich `ne Anzeige in der Zitty schalten.“

Jan zieht erschrocken den Kragen seines Mantels höher. Als ob das, was helfen würde bei den zwei blutroten Flecken an seinem Hals.

„`schuldige.“ Er legt einen Arm kurz um Gittis Schultern und küsst sie auf die Wange.

Oh. Seit wann sind denn die Beiden so Dicke? Hab ich was verpasst?

„Na, wenigstens eener hat Verständnis“, grinst Gitti Jan an,

Eine Viertelstunde später kommen Straßensperre auf die Bühne. Die mag ich und wir drängeln uns zur Bühne durch. Bullensohn entdeckt uns im Publikum und nickt uns zu. Um uns herum pogen die Leute ausgelassen und das ist wahrscheinlich das Beste, was man gegen dieses Scheißwetter machen kann, aber so ganz bin ich noch nicht angekommen auf dem Konzert.

Auf einmal wird es dunkel um mich. Heske, der Sänger von Beton Combo steht vor uns. Der Typ ist so groß und schlank wie Jan, aber sehr viel muskulöser. Und sehr viel fieser mit der Ausstrahlung eines bösen Rambos.

„Hey, ihr Pop-Arschgeigen. Hier brocht ihr gar nich auflaufen. Dit Konzi is nur für echte Punks.“

„Und was machst du dann hier?“, schrei ich zurück und starr ihn nieder. Wie ich den Typ hasse. Aber das beruht wohl auf Gegenseitigkeit. Wir hatten mit Beton Combo echt nur Stress, die letzten Jahre. Weil wir für ihn „nicht aus dem richtigen Kiez“ kommen, also wie sie aus der Gropiusstadt. Kann man noch spießiger sein?

„Echt cool.“ Ich hau ihm auf die Schulter und einen kurzen Moment zuckt er tatsächlich vor mir zurück. „Nee, echt. Also, schon jut, dass ihr hier so `ne Punk-Polizei habt, die kontrolliert, wer dabei sein darf.“ Ich grins ihn volle Breitseite an.

Auf einmal ist mir nah, so nah, dass ich sein Gesicht nur noch unscharf sehe. „Wat soll`n dit heißen mit Punk-Polizei, hm?“ Boah, stinkt der nach Alk, aber ich weich keinen Millimeter zurück.

„Tut mir echt leid für dich, wenn de zu blöd bist um ironische Anspielungen zu verstehen.“ Neben mir lachen ein paar Leute, die wohl unsere Wortgefecht verfolgt haben.

Heske vor uns wird erst blass, dann knallrot – wie ein Luftballon, der kurz vor dem Platzen steht.

Meine Coolness ist nur gespielt, aber ich weiß genau, dass das Heske so richtig auf die Palme bringt, mehr als wenn ich handgreiflich werden würde. „Genuch Selbstironie haste anscheinend och nich, Heske, sonst könnste och ma über so wat lachen. Ick sah da echt wenig Unterschied zu so blöden Hertha-Schlägern. Du, Farin?“

Ich spür, wie Jan neben mir die Luft anhält. Seine Hand bewegt sich in Richtung meiner Schulter, vielleicht um mich aus der Gefahrzone zu ziehen.

Auf einmal ist Bullensohn zwischen Heske und uns und singt brüllend „Spaß muss sein“. Eigentlich sollte der ja auf der Bühne sein, aber anscheinend hat er mitbekommen, dass sich hier Stress anbahnt. Er hört kurz auf lautstark den Text zu gröllen. „Hey, Heske, komm. Nu mach ma nich so `n dicken Larry und lass die beeden.“

Und überraschenderweise hört Heske auf ihn, wahrscheinlich weil Bullensohn auch aus der Gropiusstadt kommt.  

„Wir müssen och nich hier sein, nee“, sag ich laut, aber betont ruhig. „Dann noch viel Spaß, die Herren.“ Ich nicke Bullensohn zu, der mir kurz zu zwinkert und sich dann wieder singend Richtung Bühne trollt. „Wollen wa los?“, frag ich Gitti und Jan.

Gitti sieht mich entschuldigend an. Okay, ich kann`s verstehen. „Und du?“

Jan scheint in den letzten Minuten einen halben Meter kleiner geworden zu sein, so sehr hängen seine Schultern.

Ich kneif ihn in die Wange. „Hey, wir lassen uns von den Wichsern doch nich die Laune verderben, oder?“

„Aua.“ Aber dann muss er doch grinsen, wirklich grinsen und der Regen ist gar nicht mehr so kalt und nass und in mir scheint wieder die Sonne nach dieser Scheißaktion.

Trotzdem bleibt mein Adrenalin noch ein wenig im roten Bereich hängen. „Was für ein Arschloch, ey!“ Ich schüttel den Kopf, während wir warten, dass die Ampel auf grün schaltet. Keine Antwort. Ich seh hinüber zu Jan. „Hey, alles klar, Süßer?“

„Süß ...?“ Jan zieht mich über die Straße, sieht sich nach allen Seiten um und drückt mich dann in einen Hauseingang. „Ick geb dir gleich Süßer.“

„Gerne.“

Seine Lippen sind nass und kalt von dem Scheißwetter, aber als er seinen Mund öffnet ist da nur heißes Begehren und ich will seinen Mantel aufknöpfen, aber da lässt er leider wieder von mir ab.

„Mennoooo.“

Er küsst mich nochmal etwas zahmer. „Zuhause, okay?“

„Na, dann nüscht wie los.“ Ich zieh ihn an der Hand Richtung U-Bahn.

In der Bahn sieht Jan nachdenklich aus dem Fenster, obwohl da nur der dunkle, schwarze Tunnel an ihm vorbei zieht.

„Hey!“ Ich leg meine Hand auf sein Knie und er lässt es zu. Er blickt kurz zu mir hinüber. Sein Lächeln, dass vermutlich beruhigend wirken soll, fällt eher verkniffen aus. „War blöd, oder, dass ick den Arsch so provoziert hab, wa? Sorry, ey.“

„Nee, nee. Schon jut. Heske ist eenfach `n arroganter Idiot.“ Auf einmal lacht er. „Punk-Polizei.“ Aber nur kurz. „Dit is ja nich nur Heske.“ Er spricht nicht weiter, aber ich kann die Geschichten fühlen, die hinter seinem Schweigen lauern.

„Was war los?“ Ich muss einige Augenblicke warten bis Jan mit der Sprache rausrückt.

„Naja, ick gloob `n paar fanden dit nich so jut, dass wa bei dem Senatsrockwettbewerb dabei waren – Staat und so – und dann och noch gewonnen haben. Für die sin wa eenfach Verräter.“ Jan dreht sich wieder von mir weg zum Fenster, zum Tunnel. So geknickt, hab ich ihn bisher nur im Zusammenhang mit dem Arschloch Gerd gesehen.

„Mhm.“ Ich drück sein Knie und lass meine Hand ein Stück höher wandern, bis ich seine Finger erreicht hab, und dass er es für einen kurzen Moment hier in der U-Bahn zulässt, zeigt mir nur noch mehr, wie verletzt er ist. „Da is wahrscheinlich och noch `ne Jute Prise Neid bei. 10.000 Mark is halt schon `ne Stange Geld.“

„Hast wahrscheinlich recht. Aber ... Ick hab in letzter Zeit immer mehr dumme Sprüche abbekommen. Mein neuester Spitzname ist „Milchgesicht“, hat mir Gitti gesteckt.“

„Was?“

„Vielleicht weil ick keen Bartwuchs hab und ...“ Jetzt wirkt er richtig geknickt.

Ich streich ihm über die Wange. „Hab ich doch och nicht. Dit sin einfach Scheiß-Macker. Die können uns nüscht, Jan.“ Ich küss ihn auf die Wange und dieses Mal zuckt er nur ein ganz kleines Stück zurück, dann spür ich seine langen Finger ganz vorsichtig an meinen. Ich streich über seinen Handrücken.

Auf einmal steht eine junge Frau vor uns. Sie sieht merkwürdig nervös aus.

„Hey, ähm, also ... Also, ick wollt ich stören, wa, aber ... Sach ma, seid ihr nich die Ärzte?“


 


*
*




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LYRICS

Depeche Mode – In your room
Hört das außer mir noch jemand, dass die ersten Zeilen auch von Farin gesungen worden sein könnten?
Die Ärzte – Anneliese Schmidt
Depeche Mode – Only when I lose myself
Beton Combo – Zubrowka
Straßensperre – Spaß muss sein


EP „Zu schön um wahr zu sein“

EP Infos

Alternatives Cover


Inhaltswarnung: Das Thema Abtreibung wird erwähnt.



*

Chapter 40: 1984 - Uns geht`s ...

Chapter Text

*



Beinahe hätte es dieses Kapitel, eventuell sogar die ganze Geschichte nicht mehr gegeben. Ich danke den netten Menschen in Kopenhagen, dass sie meinen verbummelten Rucksack samt Laptop beim Lost & Found abgeben haben.

Keinen Dank an Covid und mein Post-Covid-Hirn!

Aber – Ende gut, hoffentlich alles gut.

Viel Spaß und liebe Grüße aus Helsingør, The Windmills





 

* Teenagers in Love *






1984 – Uns geht`s ...





28. Februar – Dschungel, Nürnberger Straße

„Also, du kannst rin, wenn de willst!“ Der Türsteher nickt Bela zu, dann streckt er die Hand aus, mir entgegen wie ein verdammtes Stoppschild. „Aber der Waschbär bleibt draußen.“

Bela hakt sich bei mir ein. „Hey, Ralle. Dit is mein Freund.“

„Sorry, Bela, aber ... So wie der aussieht ...“

Ich weiß nicht, was mich mehr verletzt. Das aussortiert werden oder das der Typ so über mich redet, als wäre ich gar nicht da.

„Nee, der passt hier echt nich rin mit seine komischen schwarzen Dingern.“ Er deutet über seine Augen und ich bin mir meiner Schminke nun wirklich sehr bewußt.

„So `n Quatsch. Wenn Bowie hier in seinem Ziggy-Stardust-Outfit ankommt, lässte den och auflaufen, oder wat?“ Ich kann förmlich spüren, wie ein Adrenalinschub in elektrischen Wellen aus Belas Poren schießt. Belas Schultern straffen sich, sein ganzer Körper ist nun auf diesen Ralle ausgerichtet –  in leichter Angriffsstellung. Obwohl er den Typen zu kennen scheint, gerade ist ihm das wohl egal, da es gilt meine Ehre wiederherzustellen.

Auch durch meine Adern fließt Adrenalin. So fies bin ich schon lange nicht mehr abgewiesen worden, obwohl ich mir in den letzten Wochen seit dem Senatsgewinn echt viele blöde Sprüche anhören musste.

„Is okay, Bela“, sag ich sehr ruhig. Ist es natürlich gar nicht. Diese dumme Zurückweisung wegen meines Aussehens trifft mich persönlich viel härter, als wenn die Punker nerven. Bei denen kann ich das viel einfacher abtun als „Sie haben halt nicht verstanden, wer wir sind und was wir mit den Ärzten wollen.“

Aber heute Abend hatte ich wirklich Lust mit Bela durch die Stadt zu ziehen. Den schwarzen Balken über meinen Augen habe ich mir gemalt, weil ich einfach gerade Bock auf experimentieren habe - und ein bisschen auch in Erinnerung an London. Aber sowas "Exzentrisches, Extravagantes" scheint das olle Berlin anscheinend nicht abzukönnen.

Dabei hat es sich echt gut angefühlt. Ein wenig auch wie eine Maske, hinter der ich mich verstecken kann, auch wenn sie alle Blicke auf sich zieht. Aber die prallen eben sehr effektiv daran ab. Bis auf diesen Scheißspruch. Der ging wie ein Pfeil voll durch und in die Fresse.

Ich stecke meine Hände in die Taschen meines Mantels, berühre das Buch darin, sehne mich danach, damit in ein ruhiges Bett zu kriechen und in den ungefährlichen Welten fiktiver Charaktere zu verschwinden, aber ...

Der Typ hat meinen Trotz geweckt und der kann manchmal so gewaltig wie die Alpen sein.

Ich richte mich vor Ralle zu meiner vollen Größe auf, überrage den Wicht von Türsteher nun um eineinhalb Köpfe. „Komm, Bela.“ Ich packe mein schönstes Hochdeutsch aus. „Der Laden ist mir zu provinziell. Bis der mal auf dem Stand von London ist, leben schon Leute in Kolonien auf dem Mars.“ Ich bedenke Ralle mit einem gefletschten Grinsen, das unbekümmert und trotzdem provozierend wirken soll, tippe mir an einen imaginären Hut. „Schönen Abend noch, der Herr Banause.“

Zum Glück spielt Bela perfekt mit und wir drehen uns synchron um und marschieren erhobenen Hauptes an der Schlange der Wartenden entlang.

„Ey, was für ein Arsch“, bricht es schließlich aus Bela heraus, als wir um die Straßenecke der Nürnberger gebogen sind.

Ich versuche, meine arrogante Attitüde als Schutz weiter aufrecht zu halten, aber  das ist natürlich Quatsch vor Bela.

„Tut mir echt leid.“ Er streicht mir über den Arm und sieht mich so gefühlvoll an, dass bei mir alle Mauern schmelzen. „Du siehst fantastisch aus, mein Hübscher, und wenn heute Abend nochmal jemand, wat anderes behauptet, dann gibts auf`s Maul.“ Er schlägt die Faust in seine offene Hand und ich weiß nicht, wie er es schafft, aber unter dem ganzen verletzten Stolz muss ich nun doch lachen.



Sound, Genthiner Straße

Ins Sound kommen wir ohne Probleme, obwohl ich schon befürchtet hatte, dass der Abend so richtig mit Pauken und Trompeten den Bach runter geht, aber so ganz lässt mich der giftige Spruch trotzdem nicht los.

„Hey, Jan! Allet okay mit dir?“ Belas trotz zwei Jackie-Cola sehr nüchterner und sehr prüfender Blick streift mich, als wir an der Theke stehen. Gerade wäre es mir fast lieber, sein Radar wäre ein wenig durch Alkohol getrübt. Ich mag es nicht so durchleuchtet zu werden, wenn mir gerade Splitter unter der Haut stecken.

„Nee, allet jut.“

„Dit kannste dir selbst un anderen Doofen erzählen, aber ...“

„Hey ...“, begehre ich empört auf, aber Bela zieht unbeeindruckt nur eine Augenbraue hoch. „Okay, okay.“ Ich seufze, lasse das Schutzschild bewusst mit einem tiefen Seufzer fallen. „Irgendwie hängt der Kommentar von dem Arsch noch so `n bisschen schräg hier drin.“ Ich deute auf meinen Brustkorb, in dem sich ein seltsam dumpfer Schmerz eingenistet hat. Es ist nicht nur verletzte Eitelkeit, aber ich bekomme das darunterliegende Gefühlschaos nicht entwirrt. Vielleicht hat es damit zu tun, dass er in Kerbe gehauen hat, die Gerd seit Jahren verbal in mich prügelt, wenn er mich als hässlich bezeichnet.

„Dacht ick mir schon. Was für `n Arsch. Dafür werd ick ihm noch ...“

„Schon jut.“

„Na, nich wirklich, oder?“

„Ja, aber ... Hilft ja och nüscht.“

„Stimmt. So, genuch gelitten, oder?“ Bela sieht mich entschlossen an und – Recht hat er. Ich lass die Arschlöcher nicht gewinnen, indem sie mir mein Leben vermiesen. Bela greift nach meiner Hand. „Komm. Lass uns dit Scheißgefühl wegtanzen.“Er zieht mich durch die Nebelschwaden des Dschungels in Richtung der blinkenden Tanzfläche.

Mhm. Depeche Mode. Mag ich, sogar sehr gern. Aber irgendwie komm ich mir heute sehr ungelenk und nicht in Kontrolle vor wie sonst auf der Bühne. Der Blick einer Frau bleibt lange auf mir liegen und ich bin mir meiner gerade viel zu sehr selbst bewusst – und das nicht im Guten. Ich schleiche an die Seite der Tanzfläche und sehe Bela beim Tanzen zu. Schön sieht das aus. Der Typ ist nicht umsonst unser Trommler mit seinem Rhythmusgefühl. Auf einmal sieht er sich um, anscheinend nach mir. Als er mich am Rand entdeckt, lächelt er mir zu und kommt herüber.

Eigentlich nehm ich ja keine Drogen, aber dieses Lächeln, dass so ganz speziell ist und auch speziell auf mich abgestimmt ist – eine Mischung aus Lausejunge und verschwörerisch, so als wären wir sowas wie Seelenverwandte plus gerade sehr liebevoll – dieses Lächeln ist nur für mich. Und es rüttelt mal wieder an dieser Fassade, die ich oft in der Öffentlichkeit trage, mal als Ritterrüstung, mal als eine Facette von mir die authentischer ist: Grinse-Farin.

Bela schmiegt sich an meine Seite und stellt sich auf die Zehenspitzen, damit er nicht so brüllen muss. „Na, du? Willste nich mehr tanzen?“

„Weeß nich. Mir is grad nich so nach exponiertem Rumgehampel.“

„Schade. Du ... du sahst so gedankenverloren aus“, sagt er an meinem Ohr über dem wummernden Bass.

„Mhm.“

„Brauchste mehr Ruhe?“

„Willste denn schon nachhause gehen?“

„Nee. Ick hab `ne andere Idee.“ Er nimmt meine Hand und zieht mich durch das halbe Sound und dann durch eine dicke Eisentür. Ein Kino tut sich vor mir auf. Die Stuhlreihen sind alle leer, wir die Einzigen.

Auf der Leinwand flimmert Christiane F., die Szene mit David Bowie. Die Schauspielerin erinnert mich mit ihren großen Augen und den langen Haaren total an Julchen und ich will sie einfach nur beschützen vor dem, was jetzt im Film unweigerlich auf sie zurollt.

„Oh, geil, Bowie“, höre ich Bela, dann zieht er mich die Stufen hinauf in Richtung des Projektorstrahls. In der hintersten Reihe drückt er mich in einen der Sessel und setzt sich dann auf meinen Schoß. Er sieht mich mit einem so liebevollen Blick an, dass mir ein tiefer Seufzer entkommt. Zum ersten Mal seit dem Dschungel bekomme ich wieder genug Luft.

„Schön biste, Jan. Lass dir nüscht anderet erzählen.“ Bela streicht mir über die Augenbrauen. Im Licht des Projektors sieht er auf seine schwarze Fingerkuppe. „Damit siehste aus wie `n Krieger.“

„Mhm, ein gefallener“, sage ich müde, aber trotzdem fühle ich mich nicht mehr ganz so freakig mit meinen schicken Balken. Belas Worte, die Art wie er sie sagt, seine Hände in meinen Haaren. Langsam schließt sich die Wunde zumindest ein wenig, die dieser dumme Ralle geschlagen hat. Den Typen selbst werde ich nicht vergessen. Solche Dinge bleiben in mir kleben - für immer.

Bela streicht mir über den Nacken. „Oder wie `n gefallener Engel“, lächelt er und küsst mich auf die Stirn.

„Engel? Ick dachte, du stehst eher auf Luzifer und Konsorten?“

„Und ick dachte, du wärst `n bisschen bibelfester, Herr Buchinhalator?“

„Icke?“ Geschockt sehe ich ihn an. Tatsächlich trifft es mich, dass mein Allgemeinwissen angezweifelt wird.

„Na, Luzifer ist doch `n gefallener Engel“, erklärt Bela. „Hat sein Vater `n bisschen zu sehr geliebt.“ Belas strahlende Augen werden auf einmal dunkel und traurig, sein Blick fällt zu Boden.

Vorsichtig lege ich meine Hand unter sein Kinn und schließlich sieht er wieder zu mir auf. Geschockt sehe ich eine Träne über seine Wange laufen und die zupft an meinem Herzen, weil ich sofort weiß, was los ist, weil ich es nicht nur weiß, sondern selbst erfahren habe. Ich schlucke hart, ziehe ihn in meine Arme, halte ihn fest, halte mich an ihm fest.

„Väter sind scheiße,“ flüstere ich in sein Ohr, als ich meiner Stimme wieder traue, „Dit wissen wir beede doch.“

Er nickt vorsichtig in meine Umarmung. „Mhm“, schnieft er. „Tut trotzdem Scheiße weh – manchmal.“

„Mhm. Ick weeß.“ Sein Schmerz verbindet sich mit meinem, kriecht unter meine Haut. Eigentlich sollte das ja ein netter Abend werden, aber ... „Hey, Bela? Wir zwei, wir müssen wirklich aufeinander aufpassen, so `n bisschen wie ... wie `ne Ersatzfamilie füreinander sein. Okay?“ Es fällt mir echt schwer, dass so zu sagen, weil ich es so sehr will, aber ja nicht mal weiß, ob ich es schaffe dieses hohe Versprechen selbst zu halten.

Bela löst sich vorsichtig aus meiner Umarmung. Sein Kajal ist verwischt und nun wirkt es auch bei ihm so aus, als hätte er sich einen Balken unter das Auge gemalt. Er sieht so schön aus - und verletzlich. Zwei gefallene Krieger, Engel – Söhne.

„Ick hab dich so lieb, Jan!“ Er zieht mich fest an sich, aber sein Mund liegt so behutsam auf meinem, dass ich seine Worte darauf fühlen kann und mein Herz ... Liebe tut sogar weh, wenn eigentlich alles gut ist. So viel Verantwortung und potentielle Schmerzen, wenn es nicht funktioniert.

Vor uns klappt unten die Eingangstür auf und wieder zu. Jemand kommt herein, aber ich will nicht, dass Bela aufhört, mich zu küssen. Gerade ist es mir egal, wer was über uns denkt.

„Na, ihr Hübschen?“ Eine dunkle Gestalt lässt sich neben mich in den Kinositz fallen „Da habt a aber mal Glück, dass dit nur ick bin, die euch beim Knutschen stört.“ Ein unverschämtes Grinsen zieht weiß durch die Dunkelheit. „Sieht jut aus, deene Schminke.“ Gitti deutet auf meine Augen. „Steht dir.“

Ich versuche, zurück zu grinsen, aber einen Moment später geht Gittis Grinsen in einen besorgten Blick über. „Allet okay mit euch?“ Ihre Hand liegt an meiner Schulter. „Ihr seht so ...“

„Glücklich aus?“, ergänzt Bela und versucht ein munteres Lächeln, aber es missrät gründlich.

„Schon, aber ... Na, halt och verheult.“ Gitti legt ihre andere Hand auf Belas. „Ach, ihr Süßen. Wat`n los?“ Sie klingt echt besorgt. Sehen wir so schlimm aus?

„Och, irgendwie is es gar nich so einfach so ... eigen zu sein“, flüstere ich, ohne großartig darüber nachzudenken. Es fasst dieses komplexe Gefühlsgeflecht von total glücklich mit Bela zu sein und den Ängsten, die ich auch genau deswegen habe, plus alles andere, für das ich noch keine Worte habe, nicht wirklich zusammen. Was, wenn wir beide nicht gelernt haben, wie Beziehungen funktionieren? Die Ehe unserer Eltern sind ja seltsam genug. Aber alles auf die zu schieben, wäre wohl auch unfair.

Gitti sieht ihn etwas verunsichert an. „Wat meinste denn mit eigen, Jan?“

Puh. Das Thema ist viel zu schwer und in mir will ein Kippmechanismus es wegklicken, mich zumachen. Mein Körper wird härter, kann sich aber noch nicht entscheiden, ob ich er es weglachen will oder einfach mit steinerner Miene von mir weisen, gleichzeitig will ich Bela und irgendwie auch Gitti so viel mehr erklären, aber ...

„Och, Jan!“ Gitti zieht mich an sich und weil Bela noch auf meinem Schoß sitzt, finden wir uns auf einmal alle in einem Kuddelmuddel aus Armen wieder. Es ist ungewohnt und kurz will ich mich wehren, aber dann berührt mich Gittis ernst gemeinte Umarmung und Nähe an einem Punkt in mir, der das gerade total braucht und ich sinke in ihre Wärme neben und Belas auf mir.



23. März – Proberaum, Tempelhofer Flughafen

„Okay, also, wenn de wirklich nich mit willst, Hans, dann machen Bela und ick dit halt alleine beim Radio.“

„Ja, macht mal. Ich muss einfach für diese Prüfung lernen.“

Bela schüttelt den Kopf. Es ist ziemlich einfach, seine Gedanken zu lesen. Hans zieht sich echt ganz schön raus aus all den Sachen, die gerade orgamässig anfallen.

„Du findest dit och `n bisschen seltsam, wa?“, frage ich ihn in der U 6, auf dem Weg zum SFB.

„Mit Hans?“ Er weiß sofort, was ich meine. „Dit is doch der Traum jedes angehenden Stars im Radio gespielt zu werden. Ick versteh den Typ eenfach nich, aber langsam is mir dit och egal.“

Kurz tut es weh, dass es ihm egal ist. Wir sind schließlich eine Band, ein Team und das muss funktionieren, aber ich will das Fass gerade nicht aufmachen. „Star, hm?“, antworte ich stattdessen und muss schmunzeln.

„Ja, klar Star. ... Jetz lach nich. Ick mein dit ernst mit dem berühmt werden.“

Ich ziehe ihn an mich und küsse ihn auf den Kopf. „Weißte, Bela, mit dir an meiner Seite, also ... Dit fühlt sich zum ersten Mal echt so an, als könnte dit vielleicht wirklich ... Aber ick wills mal lieber nich verrufen.“

Bela lächelt mich an. „Wir beede, nee ...“ Er nimmt meine Hand und drückt sie, lässt nicht mehr los. Ich wünschte, für mich wäre es genauso normal für ihn, aber ich will ihn ja auch nicht wirklich loslassen. Der Impuls kommt von den Blicken, die uns begleiten, dem ungesagten „Früher hätte man euch Gesocks ...“ des Opas auf dem Sitz neben uns. Bela scheint den gar nicht zu bemerken. Ich fasse seine Hand fester und er drückt nochmal zu, auch wenn er nicht weiß, warum.

Mit aufgeregt glitzernden Augen läuft er wild gestikulierend neben mir her die Treppen rauf zum SFB. „Puh, dit is schon `n bisschen sehr uffregend.“

„Hier fühl mal.“ Ich bleibe mitten vor der Eingangstür stehen und lege seine Hand auf mein Herz.

„Junge, Junge. Hey, aber wenn wir uffgeregt sin, dann sin wir meistens am besten.“ Sein Grinsen nimmt mir ein wenig von meiner Nervosität.

„Meinste wir sollen da weniger Berlinern?“, frage ich, als wir in einem endlos langen Flur das vom Pförtner genannte Aufnahmestudio suchen.

„Wieso?... Nee, oder? Is doch `n Berliner Sender. Außerdem – wenn ick so uffgedreht bin, dann wird dit eher noch schlimmer.“


5. April – Senheimer Str. 44, Frohnau  

„Wollte Julchen den nich auch dabei sein?“

„Die ist bei ihrem Thomas.“

„Och. .... Schade.“ Es verletzt mich fast ein wenig, dass der Radioauftritt ihres großen Bruders nicht spannend genug für sie zu sein scheint.

Nachdem ich mich versichert habe, dass Gerd nicht da ist, sind Bela und ich nach Frohnau raus gefahren, um das Interview mit meiner Mutter gemeinsam im Radio anzuhören. Sie soll sehen, dass sie mit ihrer Investition in unsere Band ihr Geld nicht aus dem Fenster geworfen hat. Ein bisschen macht mich das auch nervös, das Interview mit ihr zusammen zu hören. Zum Glück ist Bela auch da. Außerdem – sie kennt mich ja und wahrscheinlich fände sie es eher seltsam, wenn ich im Radio auf einmal ganz anders wäre. Und höflich bin ich ja gewesen, wenn auch eher auf unkonventionelle Art.

Um 16:58 Uhr schalten wir in der Küche das Radio an.

„Hier ist s-f-beat. Mein Name ist Helmut Lehnert und ich habe heute ein paar Gäste aus Berlin in meine Sendung eingeladen. Die Ärzte, das sind drei junge Musiker, sind 19 Jahre alt ...“

„Wir sind doch gar nich mehr 19 ...“, fängt Bela an, aber ich lege ihm nur einen Finger an den Mund. Als ich seine Lippen fühle, steigt in mir das Bedürfnis hoch, ihn zu küssen. Meine Mutter ist voll auf das Interview konzentriert, aber das würde ihr wohl nicht entgehen.

„... und die werden in Berliner Undergroundkreisen zur Zeit hoch gehandelt. Diese Drei-Mann-Band, die Kritik überschlägt sich. Monika Döring zum Beispiel, die Loft-Veranstalterin erklärte sie unlängst in einem Telefongespräch mit mir zu ihren absoluten Favoriten.“

„Ach, Monika is so toll“, strahlt mich Bela an.

„Ihr Urteil: Die Ärzte sind das Beste, was es zur Zeit auf dem internationalen Musikmarkt gibt.“

Meine Mutter blickt auf und sieht Bela und mich überrascht und dann ein wenig stolz an.

„Das hat mich ein bisschen geschockt. Ich find`s ein bisschen übertrieben“, revidiert der Lehnert das Kompliment gleich wieder.

„Pfff“, macht Bela mit Inbrunst.

„Aber witzig sind sie vor allen Dingen und früher waren diese Drei Punks, gründeten „Soilent Grün“ und danach dann die Ärzte und ich habe sie gefragt, warum sie vom Punk zum Pop übergegangen sind.“

„Wir haben uns zusammengefunden halt, um die Ärzte zu gründen“, höre ich mich sagen und mein innerer Zensor schimpft über die Wortwahl und den Satzbau. „Es war, glaube ich, unsere Bestimmung. Ich meine, dit steht ja allet in dem großen Buch geschrieben, dass eines Tages jene Gruppe kommen wird. Nicht umsonst sind wir drei – die Weisen übrigens des Morgenlands – stimmt ja allet – und wir werden halt die Welt missionieren.“

Meine Mutter runzelt die Stirn. Bela und ich grinsen uns an. Schon besser.

Bela fügt hinzu: „ ... gab`s einige Schwierigkeiten. Ich war ja bei den Punkrockern immer gut angesehen, hab immer viel Bier getrunken, aber der Jan, der trinkt nur Milch und dies gab irgendwie Probleme und der konnte nich ewig als glaubwürdiger Punkrocker weitermachen, also da kuckten schon einige auch schief. Der spuckte auch nie ins Publikum, so wie wir.“

Meine Mutter sieht mich mit einem merkwürdigen Blick an, dann grinst sie und es sieht meinem gar nicht so unähnlich. Ein warmes Gefühl für sie zieht durch mich. Sie ist schon echt okay.

„Der hat sich da immer irgendwie geweigert so“, erklärt Bela weiter. „Das war daneben. Wir mussten also was machen, wo die Fans uns bespucken und nich anders rum. Darum die Ärzte. Absolute Härte war das oberste Gebot zur Entstehung des Namens. “

„Wir wollten keine Kompromisse eingehen, was die Wahl des Namens angeht.“ Im krassen Gegensatz zu dem, was ich sage, höre ich mich ganz schön weich, fast zart an.

Dieser Lehnert übernimmt wieder. „Und sie gehen auch keine Kompromisse ein, wenn sie interviewt werden. Das habt ihr gehört. Auf ihrer ersten EP, sie haben eine EP gemacht. Es sind vier Stücke drauf. Eines davon werden wir hören. Da haben sie einen Song gespielt ...“ Lehnert muss sich räuspern. Gut, dass der auch nicht nur professionell rüber kommt. „Der heißt Grace Kelly und den haben sie also Grace Kelly gewidmet und da habe ich sie gefragt, was haben eigentlich 19-Jährige für eine Beziehung zu Grace Kelly.“

„Müssen die ausgerechnet den spielen?“ Meine Mutter sieht uns fragend an.

„War ihre Wahl. Is doch okay“, sage ich in der Küche und dann im Radio: „Grace Kelly hat mein Leben schon immer beeinflusst.“ Man hört mein Grinsen, was gut so ist. „Als ick in der Wiege lag, liefen die Filme von ihr und ick hab einfach nur geweint, weil sie so schön is.“

„Also, ursprünglich – ursprünglich sollte das Lied gar nich Grace Kelly heißen“, fällt Bela ein. „Wir wollten nur über den Tod eines berühmten Rockstars singen und erst ham wir Elvis genommen und äh, ja das ging nich, weil das äh, passte nich von der Reimstruktur so gut ...“

„... homosexuelle Beziehung ...“ Mhm. Den Kommentar hätte ich auch mal zensieren dürfen. Irgendwie doof, dass ich ausgerechnet den dazwischen quaken musste. Ich weiß noch, dass Bela mich ziemlich irritiert angesehen hat für einen Augenblick. Homosexuell. ... Meine Gedanken verschwimmen ein bisschen. Das Wort ist momentan ziemlich oft in meinem Kopf.

Aber sogar bei dem Faux-pas hat er mich unterstützt. „Ja, ja. Das wollten wir nich. Wir wollten im Radio gespielt werden und ja, äh, dann is also Romy Schneider gestorben und Romy Schneider ist tot, dass hat sich ... Das ging irgendwie auch nich und ja, äh, dann is kurze Zeit später Grace Kelly gestorben und gab uns so die Gelegenheit über Grace Kelly Romy Schneider Tribut zu zollen.“

Die ersten Takte von „Grace Kelly“ erklingen und Bela und ich sehen uns an. Krass!

Lehnert moderiert: „Das ist der Song „Grace Kelly“. Die Ärzte.“

Bela ist damit nicht besonders zufrieden. „Warum quatsch`n der jetze rein? Dit is doch echt nich nötig.“

Als das Lied zu Ende ist, folgt natürlich auch gleich die Bewertung von Helmut, dem Experten. „Die Songs der Ärzte sind bis zur dritten Strophe eigentlich ganz lieb und nett und witzig und zum Schluss werden sie dann ganz schön makaber.  Bei „Anneliese Schmidt“ zum Beispiel, einer der vier Songs auf der EP spielt ein kleines Mädchen im Garten ... Warum dieser unappetitliche Schluss?“  

Ups. Jetzt bekommt meine Mutter das wohl doch noch mit. Immerhin gut, dass Bela den erklärt. „Also, die Liebe geht durch den Magen, nee, und da ham wir uns gedacht, dass wir was über lukullische Genüsse machen und äh, weil ... Also, wir dachten, wir wollen nicht nur kindisch sein und eine Ente Anneliese Schmidt nennen, da ham wir einen ... Da war`n wir ein bisschen real und haben ein Mädchen Anneliese Schmidt genannt.“

Das Interview plänkelt zwischen uns und diesem Lehnert weiter. Dann stupst mich Bela in die Seite und in freudiger Erwartung spannen sich meine Lachmuskeln an. „... die Message rauslassen, dass Jimi Hendrix reinkarniert ist in meiner Person ...“

Bela und ich heulen auf vor Lachen und ich bekomme so einen Lachanfall, dass mir ernsthaft Tränen runter laufen. Meine Mutter schüttelt nur den Kopf, aber auch ihre Mundwinkel zucken.

Gut, dass wir den Beitrag auf Kassette mitschneiden, denn die nächsten Sätze verschwinden vollkommen in meinem Lachanfall, der nun auch Bela mitreißt. Ein Wunder, dass wir damals unser Pokerface behalten haben, aber das ist auch Teil des Spiels.

„Wie lang hast du geübt bisher?“, fragt Lehnert.

„Das braucht ich nich.“ / „Gar nich.“, quatschen Bela und ich wild durcheinander. „Das is es ja grad. Der is in mir wiedergeboren. Irgendwann wacht ich morgens auf und kuckte in den Spiegel und hab mich gewundert, dass ich so weiß bin, obwohl ich doch eigentlich Locken hätte haben müssen und `n Bart und ...“

„Was für ein Schwachsinn“, heule ich lachend.

„Das ist ja bescheuert“, sagt auch im nächsten Moment das Radio und ich höre mich synchron aus den Lautsprechern lachen. „Ich find das wirklich bescheuert, aber ich find`s auch sehr witzig.“

Jetzt leitet Helmut über zu Teddybär.

„Das ist die große Lüge meines Lebens. Ich hab nie `nen Teddybär besessen. Nur so `n lila, lila Struppi-Stoffhund, der hieß Struppi witzigerweise, und da hab ich immer abends im Bett gelegen und mit dem Raumschiff gespielt. Und da ham wir dann immer so.“ Bela lacht sehr entzückend. „Da gab`s auch so Killerelefanten, die sind durch`s All geflogen und die ham uns mit ihren Rüsseln versucht abzuschießen, aber ick war jede Nacht der Sieger. Das ging so zwei Nächte – zwei Jahre, jede Nacht und dann hab ich irgendwann mal `ne Säge gefunden und Struppi den Kopf abgesägt und dann bin ich dann drei Jahre später draufgekommen `nen Teddybär-Text zu machen. Das is doch logisch. Mann, muss ich immer Witze erzählen.“

Ich hätte ihn damals beim Interview am liebsten umarmt und einen Kuss auf die Wange gegeben, aber ... so was machen wir, also ich, in der Öffentlichkeit nicht. Doch Bela ist das egal, sehr viel egaler. Er strahlt mich an, beugt sich vor und küsst mich auf den Mund. „Es ist perfekt.“

Meine Mutter sieht uns sehr perplex an, sagt aber nichts. Ich merke, wie mein Gesicht zu glühen anfängt.

„Ähm ...“ Mehr fällt ihr gerade nicht ein.

„Was macht ihr denn hier?“

Augenblicklich schießt ein Blitz durch meinen Körper und ich straffe mich. Hat er den Kuss gesehen?

„Das geht dich nichts an“, höre ich meine Mutter kühl zu Gerd sagen. Ungewöhnlich. Aber an diese neue aufmüpfige Art ihm gegenüber könnte ich mich gewöhnen. Dennoch – was ist hier los?

„Ich muss mit dir etwas besprechen, Uta.“

„Dafür habe ich gerade keine Zeit. Ich höre mir von Jan und Bela ...“

„Das sehe ich anders, Uta. Und wenn du gehört hast, um was es geht, wirst du das ähnlich beurteilen.“ Gerds kalte Miene verzieht sich zu einer gehässigen Fratze.

„Das kannst du auch hier sagen, wenn es so wichtig ist.“

„Dieses Gespräch findet besser nur unter vier Augen statt. Glaub mir, DAS möchtest du nicht vor deinem Sohn und seinem ... Freund besprechen.“

Er hat den Kuss gesehen. Oder? Weiter kann ich nicht darüber nachdenken, denn auf einmal wird meine Mutter leicht blass. Ohne ein weiteres Wort folgt sie Gerd aus der Küche wie ein Geist.

Ein paar Momente später müssen Bela und ich allerdings feststellen, dass unter vier Augen in diesem Haus nicht funktioniert. Mit den Worten kriecht sogar die giftig, elektrische Atmosphäre zwischen den beiden durch die Wände und Türen zu uns in die Küche.

„Ich habe dir vertraut“, brüllt Gerd durch die geschlossenen Türen des Wohnzimmers und der Küche. „Du hast mir versichert, dass du dein ... Techtelmechtel mit diesem Karstens beendet hast und jetzt muss ich von einer Kollegin hören, dass ...“

Karstens? Das ist doch Julias Geschichtslehrer, von ihr sehr geschätzt. Verdammt. In meinem Kopf knallen so viele Bilder aufeinander, dass er sich anfühlt wie ein Flipper. War Julia deswegen nicht hier, sondern bei ihrem Thomas? Kennt sie diese Geschichte? Wenn ja, warum hat sie mir das nicht erzählt? Wie viel ist an der überhaupt dran? Gerd traue ich keinen Millimeter weit, doch ...

Das Schweigen im Wohnzimmer ist laut – sehr laut. Ein Schuldeingeständnis?

Und es tut weh, dass Mama sich mir nicht anvertraut hat. Sie muss doch wissen, dass ich voll auf ihrer Seite stehe. Wenn ich jemanden in mein Herz geschlossen habe, so ganz und gar, egal ob das Familie ist oder Freunde, dann ... Es muss schon ganz schön viel passieren, dass ich diesen Menschen von mir stoßen.

„Hätte ich mir ja denken können. Einmal Schlampe, immer Schlampe", brüllt Gerd mit Inbrunst. Mir kommt es vor, als würde er sich sehr in der Rolle gefallen und noch mehr, weil er uns als Zuhörer hat. „Ich hätte deinen Balg und dich niemals aufnehmen dürfen."

Das alles ist ... Ich kann nicht atmen.

„Zeit aufzubrechen.“ Bela nimmt meine Hand, aber mein Körper ist komplett eingefroren. Er zieht mich fast mit Gewalt in den Flur, setzt mich auf die Treppe, reicht mir meine Schuhe.



S 1 Richtung Wannsee

Ich lass mich in einen Sitz fallen, lege meine Hand auf Jans Oberschenkel. Dieses Mal ist es nicht, weil ich einfach nich meine Finger ihm lassen kann, als wäre er magnetisch, sondern weil ich mir einfach Sorgen mache.

Jan sieht auf meine Hand auf seinem Bein, sich dann vorsichtig im Abteil um. Ein zeitungslesender Opa und eine Mutter, die versucht ihrer Kinder Heer zu werden. Natürlich sind die alle mit anderen Dingen, mit ihren eigenen Leben beschäftigt.

Seitdem wir die Senefelder Straße verlassen haben, hat er kein Wort gesagt. Seine Schritte neben mir waren viel zu schwer, dafür haben sich wohl die Gedanken in seinem Kopf umso wilder gedreht. Ich wünschte, er würde sie mit mir teilen. Auch wenn es gegen mein eigenes Bedürfnis geht, unbedingt und jetzt sofort darüber mit ihm zu reden, inzwischen weiß ich, dass es keinen Sinn macht ihn zu fragen. Manchmal bekomm ich auch so etwas aus ihm heraus gefriemelt mit verschiedenen Taktiken, aber  - nicht, wenn es so wichtig ist. Da ist das verschenkte Liebesmüh. Dann muss er anfangen. Aber das tut er nicht.

Fremdgehen. Was für ein schwieriges Thema. Ich fühle mich von ihm viel zu angesprochen, aber so richtig haben wir noch nicht darüber geredet und jetzt ...

Ich atme vorsichtig auf, als er meine Hand nicht abwehrt, unterdrücke das Aufseufzen, als er seine Große über meine legt. Gut. Es nervt ihn anscheinend nicht.  

„Ick lieb deinen Teddybär-Song.“

„Wa...?“ Ich bemerk zum x-ten Mal, dass es wohl an Jan immer einen Teil geben wird, der mich immer unvorbereitet erwischen wird, denn ich nicht – nie! – verstehen werde. Und ich liebe es. „Danke.“ Mein Lächeln weicht seine versteinerten Gesichtszüge ein wenig auf.

„Tu ick wirklich.“ Er rutscht im Sitz nach unten, lehnt sich gegen mich und legt seinen Kopf auf meiner Schulter ab.

Das andere Thema, das für mich wie eine hellblaue Giraffe im Raum steht, ist für ihn anscheinend gerade ad acta gelegt.



27. März  – Niebuhrstraße 38 b

„Also, ick würd ma sagen, dit Interview mit Muriel machst dann wohl besser du.“

Jan hechtet vom Stuhl hoch, weil zischend das Nudelwasser überkocht. Er reißt den Topfdeckel runter. „Autsch.“ Er hält seine Hand unter den Wasserhahn. „Wir können dit doch och zusammen machen. Hat doch jut geklappt beim SFB.“

„Ey, ick versteh die nich so jut und dann muss ick ja och noch auf Englisch antworten.“

Gekonnt lässt er die Spaghetti ins Sieb gleiten. „Mir wär et echt lieber, du wärst dabei. Dit kriechste doch mit links hin.“

Ich bin mir da nicht so sicher. „Mann, ick war nich so oft in London wie du.“ Klingt ziemlich kläglich und `n bisschen genervt, deswegen lach ich es schnell weg, aber Jan fällt nicht drauf rein.

Er hört auf Nudeln auf einen Teller zu schaufeln, dreht sich um und mustert mich. „Allet okay?“

„Ja, ja. ... Schon.“

„Dit klingt mir aber nich so.“ Er kommt zu mir hinüber, ragt vor mir auf und ich vergrab mein Gesicht an seinem Bauch. Eine Hand auf meiner Schulter, bis ich wieder zu ihm aufseh.

„Mahaann.“

„Hey.“ Er klingt sehr vorsichtig, geht vor mir in die Knie. „Hab ick irgendwat falschet gesagt?“

„Nö.“

„Wat is denn los?“ Jan setzt sich auf den anderen Küchenstuhl und zieht mich zu sich hinüber auf seinen Schoß. Einen Moment mach ich mich ganz steif, dann übermannt mich seine Sorge und seine Wärme und sein Geruch und ich lass mich mit einem viel zu lauten Seufzer an seine Schulter sinken.

„Hey ...“ Er zieht mich ganz nah an sich, bis sein Herz an meinem klopft und legt sein Gesicht an meinen Hals, atmet tief ein. „Was `n los, hm?“

„Ick ... Also, wenn diese Brit*innen dich irgendwie jut finden, nee – oder du die, dann ... Dann biste doch gleich wieder weg, oder? In London, mein ich.“

Tatsächlich bleibt es einen viel zu langen Augenblick still und die Stille sinkt in meinem Herzen wie ein großer Stein.

„Ick gloob nich, das dit passiert“, murmelt Jan schließlich an meinem Hals. Ich wünschte, ich könnte sein Gesicht sehen.

„Super. Dit beschwichtigt mich jetz total." Ich erheb mich, aber zwei lange Arme ziehen mich sanft zurück.

„Hey, Bela.“ Endlich sieht er mich an. Ernst. „Ick werd immer wieder unterwegs sein, aber grad hab ick echt nich vor Berlin zu verlassen.“

„Grad? Echt beruhigend.“ Ich versuch nochmal aufzustehen, aber Jan hält mich fest.

„Hey, ick setz dit mit uns nich leichtfertig aufs Spiel, okay?"

„Du meinst wohl, nich mehr."

„Puh ... Bela, wenn wa anfangen uns olle Kamellen ufs Brot zu schmieren, dann ... Dit führt doch zu nüscht, zumindest zu nüscht Jutem.“ Jan legt seine Stirn an meine und schließt die Augen.

Ich warte.

„Ick weeß, das dit nich allet rettet, aber ... Ick lieb dich echt." Und dann küsst er mich genau so und ich drehe mich bis ich rittlings auf seinem Schoß sitze und das ist verdammt gut und ... Die Nudeln sind danach auf jeden Fall kalt.

Ausnahmsweise bin ich es mal, der ihn erinnern muss, dass wir in zwei Stunden im Café Einstein sein müssen. „Und du musst noch deine Haare bleichen.“

Er zieht an seinen Zotteln. „Mist.“

„Komm. Ick helf dir. Sollst ja schließlich schick aussehen im britischen Fernsehen.“ Ich zerre Jan sein T-Shirt runter, zieh mich selbst aus und ihn unter die Dusche, in der festen Absicht seine Haare zu blondieren. Aber als Jan seinen nackten Körper an mich presst, landen wir wieder in einem sehr verheißungsvollen Kuss. Bis Jan mich an meinen Unterarm packt und dann auf einmal innehält. Es sind nur noch rote Striche von den inzwischen verheilten Schnitten sichtbar. Er streicht über sie, küsst mich dann noch vehementer.

Ich zieh ihn fest an mich, erwider seinen Kuss, bekomm mal wieder den Mund voll Wasser, weil knutschen unter der Dusche seine Tücken hat und spuck es ihm ins Gesicht. Im nächsten Moment hat er mich an die kalten Kacheln der Dusche gepinnt. Um mich wenigstens ein bisschen zu wehren, saug ich mich an seinem Hals fest, was er aber nicht wirklich als ein Problem zu betrachten scheint. Im Gegenteil ...

Es klingelt.

Ich küss ihn einfach weiter. Nichts könnte mir gerade egaler sein, als ...

Und klingelt.

Und klingelt. Penetrant. Mann ...

Und klingelt. „Mist, das ist bestimmt Eddie, der seine Sachen holen will“, fällt es mir siedendheiß ein.

Ich zieh mir schnell meine Unterhose an, ein T-Shirt über, die beide sofort super nass sind. Immerhin ist mein Ständer von dem Gestresse verschwunden. „Is ja jut. Ick komm ja schon.“ Genervt reiß ich die Wohnungstür auf. Vor mir stehen drei kichernde Mädchen, so um die fünfzehn.

„Ähm ...“ Ich schnapp mir schnell Jans Riesenmantel und schlüpf hinein. „Wat wollt ihr denn?“

„Also ... Du bist doch Bela B von ...“, fängt das eine Mädchen an, beginnt dann aber so zu kichern, dass ich kein Wort mehr versteh.

„Wir hätten gern `n Autogramm“, sagt die Zweite und läuft rot an.

Die Dritte tritt einen Schritt zur Seite, um besser in den Flur sehen zu können. „Is Farin och da?“

„Wer is `n das?“, höre ich Jan aus dem Bad fragen und schrei: „Bleib drin.“

„Hä, wieso denn?“ Er lugt aus der Badtür und zwei der Mädchen verfallen in ein kollektives und extrem kreischiges „Aaaaah!“, das mich fast neidisch macht angesichts ihrer Euphorie ihm gegenüber. Jans Gesicht verschwindet so schnell wieder, wie es aufgetaucht ist.

„Oooooh!“, ertönt es unisono.

Anscheinend steht die Kicherende eher auf mich, aber die andern beiden sind wohl auf Jan scharf. „Ey, dit is echt nett, das ihr uns jut findet, aber dit hier is immer noch unser Zuhause, nee? Also, Autogramme jibts nur uf´m Konzert.“

„Biiiiiitte!“, echot es zurück.

Verdammt! Ich kann so enttäuschte Gesichter echt ganz schwer aushalten. „Moment.“ Ich schließ vorsichtshalber unsere Wohnungstür, renn in mein Zimmer, reiß von `nem Block einen Zettel ab und kritzel mit einem Bleistift meinen Namen drauf. Weil es irgendwie so `n bisschen nackt und gar nich so Rockstar mäßig aussieht, wie ich es gerne hätte, mal ich noch so `ne Batman-Fledermaus daneben. Na, also.

„Sin se weg?“ Jan ist hinter mir aufgetaucht und presst sich mit seinem nackten, nassen Oberkörper an mich. „Wat machst`n du da?

„Na, wat wohl? Autogramme schreiben.“

„Autogra...?“

„Ich sach ma so: War vermutlich `ne echt dumme Idee, unsere Adresse direkt auf die EP zu drucken.“

Nachdem wir die Fans verarztet haben und weiteren Avancen durch das erneute Schließen unserer Wohnungstür zuvorgekommen sind, widmen wir uns Problem Nummer zwei: Wir müssen echt los, wenn wir nich zu spät kommen wollen.

Im Bad hängt noch der beißende Geruch des Wasserstoffperoxids. „Mhm. Sieht jut aus.“ Jan betrachtet sich zufrieden im neuen Spiegel, den wir aufgehängt haben, nachdem ich ...

Dann entdeckt Jan die Halskette aus blutroten Flecken unter seinem Schlüsselbein. „Alter! Wann ...?“ Er scheint sich wieder zu erinnern, grinst, wischt dann über die Haut, als ob davon die nigelnagelneuen und sehr sichtbaren Knutschflecken an seinem Hals verschwinden würden. Nur das Grinsen verschwindet. „Ach, Mann, Bela.“

„Du fandst dit vorhin voll gut, als ick ...“

Nun muss er doch wieder grinsen. „Ja, aber ... Ick kann doch so keen Interview geben.“

„Tut mir echt leid“, erklär ich geknickt, was aber zum Großteil gespielt ist. „Ick saug einfach so gerne an deinem zarten Hals.“

„Ick mag dit ja och, du kleener Vampir, aber ausgerechnet heute ...“

„Ick hab `ne Idee. Moment.“ Ich renn zurück in mein Zimmer und komm mit einer schwarzen Priestersoutane von Li-Sans Vampirfilm-Set zurück.

Jan sieht irritiert darauf, nickt dann und schlüpft hinein.

„Oh, fuck, siehst du in dem schwarzen Dings geil aus. Kannste ... Ick fänd dit echt jut, wenn de mich.... Also, Herr Pfarrer, ick war echt super unartig und hab voll gesündigt – mit einem anderen Jungen."

„... Ähm ...“ Auf Jans Miene kann ich wunderbar verfolgen, wie extrem hin und her gerissen er ist. Wow. Hätt ich gar nicht gedacht. Hmmm. Schade. Nie wäre ich lieber zu spät gekommen, aber – wir müssen wirklich los. Es wäre echt peinlich, bei den TV-Fuzzis aus England zu spät zu kommen. Immerhin haben wir auch noch genau dieses alte Café vorgeschlagen, einfach weil ich es witzig fand. Früher hing in dem Café die Kokain-Szene ab. Berlin ist wirklich voller Historie und Geschichten. Seltsamerweise hat Jan sofort zugestimmt. Gut. So schlimm scheint er die ganzen Drogen dann wohl doch nicht zu finden.

Dann fällt mir wieder sein Priestergewand ins Auge. Verdammt. Wie Jan vorhin auf meinen Vorschlag reagiert hat .... Mehr als vielversprechend.


Café Einstein, Kurfürstenstrasse

Eigentlich ist Jan so gut wie nie zu spät, aber dieses Mal bin ich nicht schuld, find ich und auch Jan macht mir keine Vorwürfe, zappelt nur in der U-Bahn mehr als ich mit seinen langen Beinen herum.

Muriel Gray von Channel 4 wartet mit ihrem kleinen Team schon vor dem Einstein auf uns. Sie scheint nicht sauer zu sein über unsere halbstündige Verspätung, nur der Kameramann knurrt etwas wenig höflich Britisches über "Punks".

Mark Reeder ist auch da, schließlich war er es, der die Ärzte vorgeschlagen hat für „The Tube“. Die Sendung ist eine Institution. Ich weiß nicht, ob wir auch eine Chance gehabt hätten, wenn die Hosen Berliner wären oder ob er dann die vorgeschlagen hätte, immerhin ist er mit denen ja voll Dicke, aber ich bin ihm einfach nur extrem dankbar.

"Hey, Bela!“ Es klingt wie Bella, aber egal. „Hello, Farin! Good to see you." Mark strahlt ihn ziemlich an mit seinen hypnotisch blauen Augen.

„Hey, Mark. Pleasure to meet you.“ Jan klingt viel zu britisch, so als ob er dahin gehören würde, auf diese verdammte Insel. Die beiden schütteln sich die Hand, ziemlich lang.

Mark ist ein gutes Stück älter als wir beide und seine blauen, wirklich sehr, sehr blauen Augen liegen gerade lange, sehr, sehr lange auf Jan. Zum Glück verdeckt der hohe weiß-schwarze Kragen die Knutschflecken gut, aber vielleicht wäre es besser gewesen, Mark hätte die gesehen, damit er weiß, dass Jan vergeben ist.

Ihre Hände liegen immer noch ineinander verschlungen und Jan grinst viel zu sonnenscheinig.

„Oh, that looks gorgeous on you", bricht Mark schließlich diese merkwürdige Spannung zwischen ihm und Jan. Er streckt seine Hand aus, als wollte er Jans Kragen richten und ich merke, wie sich mein Arm anspannt, um das zu verhindern. Ich rutsche an seine Seite und Marks Blick streift mich für einen Moment irritiert, dann lächelt er mich an und – verdammt, der Typ sieht echt gut aus.

Im Café haben die Filmleute richtig ein kleines Set mit extra Licht eingerichtet an einem der Tische. Ein Typ mit einer langen Mikrophonangel steht daneben. Die ganze pompöse Interviewsituation macht mich nervös und ich bin echt froh, dass ich nicht vor die Kamera muss.

Jan soll sich an den Tisch setzen und Muriel kommt dann dazu.

„Hahaha Jan!“, sagt Muriel begeistert, als sie neben Jan Platz nimmt. Komisch, dass sie ihn so nennt. Irgendwie find ich das zu privat. Eigentlich heißt er inzwischen bei fast allen Leuten Farin.

Tatsächlich scheint sie das Café etwas zu schick zu finden, wenn ich das Wort „posh“ richtig deute. So richtig passt es auch nicht zu uns, aber genau das ist doch der Punkt. Komisch, dass das die meisten nicht schnallen. Jan hat sofort gecheckt wie witzig das ist, wenn er dort mehr oder weniger Hof hält.

„Oh, I do, indeed“, höre ich ihn antworten. Schlägt sich echt wacker, der Junge. Ich bin total stolz auf ihn, auch wenn sein viel zu guter britischer Akzent einen bitteren Nachgeschmack hinterlässt. „Because I look better than the old ladys around me and I feel good.“

Jan wird wirklich niemals aufhören, mich zu überraschen. Gerade ist er wohl in eine ganz andere Facette seiner selbst geschlüpft. Wie kann man nur so cocky, wie Mark wohl sagen würde, und schüchtern gleichzeitig wirken? Reinkarniert er gerade Bowie in seiner freundlich-höflichen, aber auch leicht abgehobenen intellektuellen Popstar-Attitüde?

Mark scheint auf jeden Fall auch sehr fasziniert von ihm zu sein. Sein intensiver Blick liegt während des ganzen Interviews komplett konzentriert auf Jan. Verdammt, warum sieht der Typ so schick aus in seiner grauen Uniformjacke? Ich weiß grade nicht, auf wenn ich mehr eifersüchtig bin.



Weinlokal Leydicke, Mansteinstr. 4

Wir haben hinüber ins Leydicke gewechselt.

Hans schnappt mich und hält mich am Kragen meines Hemds fest. „Hab nicht vergessen, was du damals hier gemacht hast, Bela.“ Verdammt. Er hat es damals also doch geschnallt, dass ich die hübsche Kassiererin mit dem roten Minirock vernascht habe, obwohl sie sein Date war. Tja, Pech gehabt, mein Lieber.

„Pfoten weg, du Neandertaler.“ Ich reiße an seiner Hand, aber er hält mich locker fest. Meine Beschimpfung war sehr passend gewählt.

„Was`n hier los?“ Jan sieht erst verständnislos zu mir, dann zu Hans, der mich sofort loslässt.

„Nichts“, erwidert Hans arglos und Jan fällt drauf rein. Vielleicht zum Glück. Auch wenn er weiß, was damals passiert ist, gerade möchte ich das lieber nicht so genau diskutieren im Angesicht der Enthüllung im Hause Vetter-Marciniak. Andererseits – irgendwann müssen wir echt mal drüber reden.

„We are ready“, ruft uns der stoffelige Kameramann zu. „Since an hour“, fügt er dann noch hinzu.

Das hier ist nur Playback. Allerdings kann man dabei fast noch mehr Fehler machen, als beim live spielen. Außerdem sind viele unserer Freund*innen und Bekannte als Publikum hier und - unser neues Lied wird im englischen Fernsehen ausgestrahlt. Wir waren uns kurz nicht sicher, ob es nicht zu krass ist, aber Mark und Muriel waren mehr als begeistert.

„Passt allet?“ Jans Augen glitzern vor Lampenfieber.

Ich wuschel ihm nochmal durch die Haare. „Ja. Siehst echt zum Anbeißen aus.“ Um ihm zu beweisen, dass das wirklich so ist, beiße ich in seinen Oberarm und genieß das Quietschen, dass ihm entfährt.

Muriel sieht belustigt zu uns hinüber. „You really do seem to be as fun as people say“, grinst sie.

Ich stelle mich hinter meine Trommeln. Puh. Jan sieht  immer noch so fantastisch aus in dem Priesterding. Leider bemerk nich nur ich das. Schon wieder – immer noch – liegen die schönen blauen Augen von Mark gierig auf meinem Jan.

Und der? Der wirkt von Marks Aufmerksamkeit auf ihm leider etwas fasziniert. Die Blickwechsel zwischen den Beiden machen mich total an, und total eifersüchtig, was ich echt so nicht kenne. Blödes Gefühl. Aber wie Mark Jan ansieht, wie dieser zurück guckt. Mann. Sind definitiv beide schicke Typen, aber Jan ist mein schicker Typ und dem möcht ich mich gern mal versichern.

„That is fan-tas-tic!“, hör ich auf einmal. Muriel läuft vollkommen begeistert vor Hans hin und her. „He looks so ... HJ?“

Ich pruste los, unterdrück dann den aufkommenden Lachanfall.

Muriel scheint in ihrer Verzückung gar nicht zu merken, dass alle der anwesenden Deutschen sie mit großen Augen ansehen. „That works perfect with the song. Isn`t that right, Mark? ... Mark?“

„`xcuse me? ...“ Es dauert mehr als einen Moment, bis Mark von Jan auf Hans umgeschaltet hat.

„Was ist mit der HJ?“ Hans sieht irritiert von Jan zu mir, dann zu Muriel.

Irgendwie tut er, der vermutlich mal wieder nur die Hälfte kapiert hat, mir fast ein wenig leid, aber dann fühle ich wieder seine Hand an meinem Kragen. Ich verstehe, was Muriel damit sagen will. Hans hat wirklich ein recht feistes Gesicht.

Sie wendet sich an Mark. "Isn't that up your alley? The whole uniform thing?"

"Well, maybe a bit." Dessen Blick wandert schon wieder von Hans zurück zu Jan. "But you know ...“

„Was hat sie gemeint mit HJ?“, fragt Hans nochmal beunruhigt, aber ich hab echt kein Bedürfnis ihm das zu erklären, genieß vielmehr seine Verunsicherung.

„Schon jut.“ Ich klopf ihm jovial auf die Schulter, was ihn noch mehr verwirrt.

„I thought, that is something, that you`re into?“, fragt Muriel Mark. Endlich wird seine viel zu intensive Aufmerksamkeit wieder von Jan abgezogen.

Mark grinst vielsagend, inspiziert dann Hans nochmal genauer. „Ja. But it`s not reeeeally a uniform. Too traditional. They wear that stuff in the Alps. But – well, he might look good in a real one, but ...“ Schon wieder wandert sein Blick zu Jan. Verdammte Axt! Dieses Mal stell ich mich wirklich vor Jan – und richt ihm seinen Kragen. Meiner!

„Also, eigentlich steh ick ja mehr auf uniforms“, antwortet Mark auf einmal auf Deutsch-Berlinerisch. „Aber du siehst aus wirklich gut in diese priest thing, Jan.“

Und Jan? Der wird unter Marcs flirtendem Blick wirklich rot. Menno. Er sieht aber auch wirklich gut aus. Ich kann ja auch nicht den Blick von ihm abwenden, werde mit hinein gezogen in dieses Spiel zwischen den beiden. Weiß Jan, auf was Mark alles so steht? Ich hab einiges aus dem Nachtleben gehört über ihn ...

„Sach ma ...“ In einer Drehpause zieh ihn Jan zur Seite in den Gang, der zu den Toiletten führt. „Also, dieser Mark, der ... der scheint dich schon ganz schön jut zu finden.“

Er wird rot. Er hat`s also wirklich bemerkt.

„Findste den denn och schick mit seinem Uniformfetisch?“

Seine Wangen werden noch ein wenig röter und er sieht so schön aus, und es macht mich an, aber ...

„Du weißt schon, das Mark ziemlich viele spezielle Vorlieben hat, oder?“

„Was ... wat meinst ´n damit?“

„Naja, der is halt so in der Sado-Maso-Szene unterwegs und ...“

„Okay. Also, ick find so `n paar Sachen ..." Jans Wangen brennen. „Schmerzen sin ja nich nur schlecht."



Sound, Genthiner Straße

Die Schmerzgrenze erreichen wir beziehungsweise ich in diesem Fall schneller als erwartet.

„Wat `n mit dir los, Winnetou? Fön explodiert, oder wat?“, begrüßt uns der neue Türsteher des Sounds.

Ich spuck ihm vor die Füße und zieh Jan in Richtung Linientreu. Ist das jetzt der einzige Laden, in dem sie Leute wie uns reinlassen? Der Neue vom Sound wird sich noch anschauen, wenn wir erstmal reich und berühmt sind ... Aber erstmal bin ich einfach nur krass wütend.

„Der Arsch denkt wohl, er muss sich gleich ma Respekt verschaffen. Keene Ahnung, wer dit Stammpublikum is.“ Ich würd am liebsten Gift und Galle kotzen. „Sin die jetz alle bescheuert geworden hier?“ Jan ist so nett, keine blöden Sprüche zu reißen, auch wenn das vermutlich gerade echt verlockend wäre, denn ... Ein bisschen witzig war der Spruch leider auch. Ich bleib mitten auf dem Gehweg stehen. „Jan!“

„Äh, ja?“ Verdutzt sieht er zu mir.

„Wir lassen uns von diesen dummen Ignoranten nich einschüchtern, okay?“ Ich halt ihm meine Hand hin. „Wir gehen bis an die Schmerzgrenze!“

Einen Moment sieht er mich fragend an, dann schlägt er ein. Seine langen Finger liegen so perfekt in meinen.

„Bis an die Schmerzgrenze!“, sagt er feierlich, dann guckt er auf einmal ein wenig unsicher. „Wir müssen nu aber keen Blutritual machen, oder?“

„Nö.“ Ich schluck. „Keene Rituale mehr. Zumindest keene mehr mit Blut.“

„Dann is ja jut. Schmerzen allein reichen ja vielleicht och.“ Sein schüchternes, aber vielsagendes Grinsen gefällt mir enorm gut.



 


*
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LYRICS


Depeche Mode - Condemnation
David Bowie – Station to Station
Die Ärzte – Anneliese Schmidt
Depeche Mode – Headstar
Die Ärzte – Eva Braun


INTERVIEWS

SFB Beat – 1. Radio-Interview

Farin: „Da wir von unseren winzigen Clubkonzerten schon einen gewissen Ruf als chaotische Labertaschen hatten, ahnte Helmut Lehnert wahrscheinlich, was auf ihn zukommen würde. Wir waren sehr aufgeregt und quasselten die ganze Zeit durcheinander, was die Radiohörer wohl größtenteils genervt zum Senderwechsel veranlasst haben dürfte. (Das mit dem Durcheinanderquasseln hat sich leider bis heute nicht wirklich gebessert …)“

Interview B-Movie Eva Braun

The Tube - SO36, Die Toten Hosen und die Ärzte



Waschbär-Anekdote Farin

MTV wavetracks mit Markus Kavka und Farin Urlaub

New Model Army – 51st State of America – die ärzte Cover, 2019

Und was machst du am Wochenende? Mit Markus Kavka – ab Minute 13:40



*

Chapter 41: 1984 - Verräter

Chapter Text

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Erstmal vielen Dank an Rockybeachgirl für ihre wunderbare Beta-Arbeit bei diesem Kapitel. Danke, Desi, für deine Unterstützung und deinen Zuspruch. Gerade auch bei der sehr schwierigen Szene.

Inhaltswarnung:
* intensiver Flashback von körperlicher und häuslicher Gewalt
!!! - Kennzeichnung mit !!! am Anfang und Ende

Generell wird es jetzt immer mal wieder ein wenig mehr AU, als es ohnehin schon ist. Zum einen um das klarer als fiktiv zu kennzeichnen und zum anderen um manche Handlungsstränge einzuweben, die das Ganze zu einer interessanteren Geschichte als „Sommer, Palmen, Sonnenschein“ zu machen.


Und - Häppy Birthdäy an Rob, auch wenn dieser hier gar nicht vorkommt. (Was nicht ist, kann übrigens noch werden. ;-)




 

* Teenagers in Love *





1984 – Verräter






23. März - SO 36, Kreuzberg

Buttgereit dreht gerade eine Dokumentation über das SO und hat uns gefragt, ob wir was spielen können dafür. Gute Wahl seinerseits, denn im Improvisieren sind Bela und ich wirklich ein unschlagbares Team.

Ich spiele eine kleine Melodie auf meiner Klampfe, die perfekt widerspiegelt, wie ich mich gerade fühle hier mit Bela an meiner Seite:„Glücklich und froh im SO.“  

Jörg setzt sich ebenfalls zu uns, als wir das Lied einsingen. Ich mag den Kerl, der manchmal genau wie ich, nicht so genau zu wissen scheint, wohin mit seinen langen Armen und Beinen. Als er mitsingt, bin ich kurz echt beeindruckt von seiner krass tiefen Stimme. Auch wenn ich sicher die Noten treffe, so ist mir meine manchmal irgendwie zu hoch. Bela kann beides – hoch und dunkel. Gerade singt er die letzten Töne und mir jagt ein Schauer über den Rücken.

Glücklich und froh bin ich wirklich gerade. Zumindest bis zu dem Moment, in dem mir Jäcky eine Bierdose um die Ohren feuert. Ich kann gerade noch so ausweichen und sie knallt knapp an der Scheibe vorbei in die Fensterbank. Mein Herz poltert gegen meinen Brustkorb. Auch wenn Jäcky nichts dazu sagt, wird deutlich, dass es um mehr geht, als nur um diese Scheiß-Punk-Tradition hier im SO.

Als sich kurz unsere Augen treffen, ist klar, dass Bela es ähnlich interpretiert hat. Wut und ein wenig Traurigkeit scheinen unter seinem Grinsen durch.

Jörg zeigt Jäcky den Mittelfinger, sie streckt ihm die Zunge raus, verschwindet dann aber. „Manchmal sind dit echt solche Assis hier“, flucht Jörg, als er die Kamera ausschaltet. „Aber dit nehm ick uf jeden Fall och mit rein. Is ja typisch SO.“

Ich seh zu Bela. Dessen verkniffenes Lachen spiegelt meine eigenen Befürchtungen. Punkverrat, so nennt es die Szene hinter unserem Rücken, aber durchaus auch mitten in unsere Fressen rein.

Bela atmet tief durch und setzt ein Grinsen auf. „Dit nimmste doch nur rein, weil de och zu sehen bist.“ Jörg grinst zurück, sagt dann aber: „Och, aber vor allem – ihr strahlt so, ihr Beeden, und dit is eenfach ma schön, wat positives drin zu haben, neben dem janzen wütenden Gebrüll.“

Bela und ich tauschen einen weiteren Blick und dieses Mal ist das Lächeln wieder echt.

„Na, genau deswegen ham wa ja die Ärzte gegründet“, erkläre ich Jörg und Bela neben mir nickt enthusiastisch und haut mir euphorisch seinen Ellbogen in die Seite.

„Dit is och jut so“, meint Jörg und packt seine Kamera ein.

Bela beugt sich zu mir hinüber und flüstert mir ins Ohr: „Bis an die Schmerzgrenze“. Als sich unsere Blicke treffen, muss ich schon wieder grinsen und er auch. Seine Augen funkeln vor Leidenschaft und „Denen zeigen wir`s!“. Mit ihm an meiner Seite ist alles besser zu ertragen - sogar der degradierende Bierdosenwurf. Auf einmal spüre ich seine Hand in meiner – nur ein ganz leichtes Streicheln, das viel zu schnell wieder weg ist.

In dem Moment dreht sich Jörg zu uns um. „Jenau dit mein ick – dieset Strahlen“, sagt er nur und umarmt erst Bela und dann sogar mich. „Danke euch beeden.“ Ob er ahnt, was ein entscheidender Teil unserer Gute-Laune-Quelle ist?

„Weeß Jörg eigentlich, dass wir ...“, frag ich Bela, als Jörg mit seiner Super-8 sich auf die Suche nach neuen tollen Szenen aus dem SO gemacht hat.

„Also, direkt jesacht, hab ick nüscht, aber er hat mal so `ne Andeutung gemacht vor kurzem, dass er findet, dass du mir gut tust.“

„Und tu ick dit?“

Belas Lächeln wird ganz warm und weich. „Na, wat gloobst`n du?“ Er sieht sich schnell um, aber gerade sind wir hier backstage allein. Sein Kuss ist genauso warm und weich wie sein Lächeln. „Und wie!“


25. März – Vielklang, Ufnaustr. 8 – Moabit

„Wieso habt ihr `n neues Schild am Studio?“

„Wir wollen uns professionalisieren“, erklärt Matzge mit wichtiger Stimme und Gestus. „Deshalb haben Jörg und ich das Label umbenannt in Vielklang. Schnick-Schnack klingt so nach – eben Schnick-Schnack und das - das würden wir gerne hinter uns lassen.“

Hans nickt bedeutsam. „Ja, klar. Man muss das Eisen schmieden, so lange es heiß ist.“

Ich mag zwar die ganze Art dieses Treffens nicht, aber ganz unrecht haben sie nicht. Wir wollen ja wirklich irgendwie berühmt werden und der Gewinn und die erste EP sind ein echter Raketenstart gewesen für uns. Jetzt muss dennoch Treibstoff nachgefüllt werden.

Dafür wäre es allerdings hilfreich, wenn ich nicht der fast einzige Tankwart wäre. Ein bisschen Glück habe ich wohl auch, oder es liegt am Verliebtsein, denn alle fünf Minuten summen neue Melodien durch meinen Kopf, erscheinen neue Texte vor meinem inneren Auge. Dadurch stammen aber auch dreiviertel aller Songideen von mir, der Rest von Bela und zwei, drei Worte von Hans.

Jedes Mal, wenn wir ihn nach Ideen zu Bassläufen fragen, kommt er mit „Doesn`t make it alright“ in der Stiff Little Fingers Version um die Ecke. Ich mag das Lied, aber kann gut verstehen, warum Bela nur noch die Augen verdreht. Beim letzten Mal konnte auch ich ein genervtes Aufstöhnen nicht unterdrücken. Mann! Wäre echt schön, wenn der mal ein vollwertigeres Bandmitglied abgeben würde. Oder ist das bei Bassisten immer so?

„Wir brauchen mehr Material von euch“, sagt genau in diesem Moment Matzge. „Und zwar Radiotaugliches, nich so Zeug wie „Wilde Mädchen“.“

Belas Song. Der zückt seine Augenbrauen auf eine Art, bei der ich zum ersten Mal verstehe, wie das bei mir wohl aussieht, wenn ich so fies gucke. Ein wenig furchteinflößend und ich bin gerade so verdammt stolz auf ihn, denn bei Matzge würde ich mich das tatsächlich nicht trauen, aber wahrscheinlich schweißt die beiden ihre feucht-fröhlichen Nächte zusammen.

Doch Matzge übergeht es nicht. „Sag mal, Bela, was glaubst du eigentlich, wie das funktioniert, mit dem berühmt werden?“ Er schlägt seine Arme übereinander und wirkt nun wie ein übler Türsteher.

Bela rollt mit den Augen und ich ahne, dass er Angst hat, dass die beiden den Spaßfaktor nun ganz einstampfen wollen.

„Ey, ick muss ma mit den beiden hier reden“, sagt Bela schließlich, sieht dabei aber nur mich an.

„Warum denn?“ Sahnie ist manchmal echt so naiv, auch wenn er sich gerne als der Finanzchecker aufspielt.  

„Dann halt nur mit Jan.“ Bela packt mich am Arm und zieht mich in den Gang.

Wir sehen uns an und eigentlich müssen wir es gar nicht aussprechen.

„Du siehst dit Problem och, oder?“, fragt Bela schließlich. Ich nicke nur.

„Okay. Ham wir Alternativen?“

Wir verfallen beide für ein paar lange Momente in Schweigen, sehen uns wieder an, schütteln beide den Kopf.

„Nich, wenn wir von der Musik leben wollen“, seufze ich schließlich.

Bela lässt so den Kopf hängen, dass ich ihn einfach in die Arme schließe.

Die Tür neben uns geht auf. „Habt ihr`s dann? Wir wollen ...“ Matzge starrt uns an, vor allem mich. Seine Augen werden kurz schmal, dann hat er sich wieder gefangen. Mit hängenden Schultern folgen Bela und ich ihm zurück ins Studio.

„Hallo, Jungs!“ Jörg grinst uns jovial an. Er scheint von den ganzen Spannungen nichts mitbekommen zu haben, zumindest wirkt es so, als er sich die Hände reibt und uns aufmunternd anlächelt. „Wir müssen schauen, dass wir nachlegen. Wir brauchen neue Lieder, gerne etwas pop- und radiokompatibles.“

Matzge lässt während Jörgs Ansprache seinen Blick nachdrücklich von einem zum anderen wandern. „Und insgesamt dürft ihr gerne auch mal ein bisschen mehr üben.“ Beim letzten Satz sieht er nur Bela an.

„Na, danke.“ Belas ganze Körpersprache zeigt flammenden Widerwillen gegen das, was hier gerade passiert.

„Aber, aber ...“ Auf einmal kommt Sylvie Fukking, Jörgs Angetraute, aus dem Büro und instinktiv atme ich auf. Zumindest halb, den Bela ist schlagartig wieder ganz Lächeln und Grinsen. Für meinen Geschmack findet er Sylvie in ihren bunten Kleidchen etwas zu attraktiv.

„Ach, Sylvie. Schön dich zu sehen“, gurrt er und es ist echt scheiße von außen zu sehen, was für ein Meister er in der wunderbaren Welt des Flirtens ist. Obwohl seine Aufmerksamkeit gerade nicht mal mir gilt, strahlt es auch durch mich. Neben der roten Eifersucht, die sich über mein Herz legt.

„Jungs, was macht ihr denn für böse Gesichter hier?“, säuselt Sylvie. „Es läuft doch alles.“ Tatsächlich besitzt sie die Frechheit, noch einen Schritt näher an Bela heranzutreten. Ich mache gute Miene zum bösen Spiel, denn eigentlich würde ich sie gerne mit einem Tritt zurück in ihr Büro befördern, egal wie gut sie mit ihrer Zuckergussstimme gerade die Wogen glättet.

„Also ...“ Sie stupst Bela an die Nase und es zuckt in meinen Fingern. „Ihr nehmt jetzt noch so eine hübsche Platte auf und dann wird das schon mit euren Popstar-Träumen, nicht wahr?“ Sie grinst Bela an.

„Also, wie Sylvie schon meinte ...“ Jörg legt Sylvie demonstrativ seinen Arm um die Schultern. Was für eine Affenshow. „Ihr seid gerade in aller Munde. Und das müssen wir nutzen.“

Das kann man wohl sagen. Leider nicht nur im Positiven. Im SO war die Schimpfwortsammlung am Wochenende in Bezug auf uns recht vielfältig: blöde Wichser, Popidioten, Weicheier, Mädchenband, Clowns und – da sind sich alle einig: Verräter.

„Also, wir würden gerne mit einer weiteren EP nachschießen und dann groß mit euch touren“, verkündet Jörg. „Auch Österreich, Schweiz.“

Reisen, denkt mein Hirn als Erstes, und jubiliert. Aber touren ist ja eigentlich etwas ganz anderes, viel anstrengender, viel weniger frei.

Das ist es dann wohl – das Professionalisieren. Aber genau dafür wollten wir Vielklang ja, damit wir nicht nur Quatsch machen. Mit Bela kann ich mich tatsächlich sehr leicht darin verlieren.

Außerdem – Bela und ich brauchen mal wieder Geld. Und zwar dringend. Die Senatskohle ist komplett in Instrumente und die letzte Platte geflossen und wir wissen nicht, wovon wir die nächste Miete zahlen sollen.

Wenn wir in der Szene nun schon Scheiß-Popper genannt werden, dann will ich wenigstens ein erfolgreicher Scheiß-Popper sein. Scheitern ist keine Option.


30. März – Vielklang-Studio, Ufnaustr. 8 – Moabit

Unsere Bemühungen haben Früchte getragen, die nun aufgenommen werden sollen. Nur – Bela ist mal wieder zu spät. Über eine Stunde zu spät.

„Vielleicht auch besser so“, seufzt Matzge schließlich in seine dritte Tasse Kaffee. „Wir brauchen ihn ja eh nicht wirklich.“

„Häh?“ Irgendwas ist hier superfaul.

„Jörg und ich haben uns nach der letzten Studioaufnahme beraten und entschieden, dass wir dieses Mal besser einen professionellen Studioschlagzeuger nehmen.“

„Wat soll`n dit?“

„Jetzt tu nicht so, Farin. Bela ist mit Sicherheit ein toller zweiter Frontmann bei Liveauftritten“, Matzges Blick wandert kurz zu Hans, „aber so richtig taktsicher ist er halt nicht. Bei den Konzerten stört das ja auch nicht, aber wenn das auf Vinyl gebannt ist, da muss das schon stimmen. Vor allem wenn ihr bekannter werden wollt. Da reicht so `n Punkgetrommel einfach nicht.“

„Sag mal, spinnst du?“ Ich baue mich in meiner ganzen Größe vor Matzge auf, der mich nur unbeeindruckt mustert.

„Hm. ... Von dir hatte ich eigentlich mehr erwartet, Jan. Schade.“

„Sach ma ...“

„Komm, jetzt tu halt nicht so. Du kannst doch einschätzen, wie gut Bela wirklich ist. ... Oder etwa nicht?“ Matzge mustert mich abschätzig.

In mir kämpfen zwei Seiten. Dieser Idiot hat nicht unrecht. Bela steckt wirklich mehr Ambitionen in die Berliner Nächte als in sein Drumset und dementsprechend ist sein Niveau immer noch eher das von Soilent Grün. Andererseits ...

„Hey, Matzge. Ick red jetz och ma Klartext. Wenn ihr uns hier verarschen wollt, dann sin wir weg.“

Aus der Ecke kann ich Hans Blick auf mir spüren. Er muss es gar nicht aussprechen. Die Drohung war naiv und undurchdacht – leer. Denn wenn nicht Vielklang, wer dann? Es ist ja nicht so, dass die Labels Schlange stehen, um uns zu produzieren.

Ich bin so zornig, dass ich aus dem Studio stürme, die Tür hinter mir ins Schloss knalle, dass der Putz nur so von der Decke rieselt. Ich weiß nicht, wohin mit mir und meiner Scheißwut. Am liebsten würde ich irgendwas kaputt hauen in meiner Hilflosigkeit. Haben die ganzen Punks also doch recht. Wir verkaufen hier gerade unsere Seele. Ich sollte meine Drohung wahr machen und gehen. Verdammt! Ich schlage mit der Faust hart gegen die Wand.  

Schnelle Schritte aus dem Treppenhaus.

„Hey, Jan, sorry, mein Wecker.“  Bela ist leicht, aber nicht völlig außer Atem. „Ick bin so schnell los wie ...“ Ich will ihn schütteln und ich will, dass er mich umarmt und sagt: „Wir zwei gegen den Rest der Welt.“

„Was`n ... was`n los? Biste sauer, weil ick ...“ Sein Blick liegt sehr unsicher auf mir.

„Nee. Also, ... Ja, schon, aber ...“ Mit leicht wackliger Stimme erstatte ich ihm Bericht. Mit jedem Wort wird Belas Haltung explosiver. Aus mir ist dafür gerade die Luft total raus nach dem ganzen Drama.

Als ich geendet habe, packt Bela mich hart am Arm und zieht mich zurück ins Studio.

„Ach, kommt der Herr auch mal ...“, beginnt Matzge, bevor er von Belas Gebrüll unterbrochen wird.

„Sag mal, spinnt ihr jetzt alle?“ Bela pinnt ihn mit seinem Blick fest, während er mit schnellen Schritten auf Matzge zu geht. „Wie kommt ihr`n drauf, dass ick dit okay find?“, faucht er und mir stellen sich die Härchen an den Armen auf. Bleich ist er - vermutlich vor Wut. Er funkelt Matzge und Jörg an, der aus seinem Büro kommt.

Die Tür öffnet sich und ein Typ mit zwei Drumsticks in der Hand steht darin. „Hallo! Ich bin der Tom und soll heute hier was einspielen.“

„Ihr könnt mich alle mal, ihr verfickten Dreckslügner!“ Dieses Mal ist es Bela, der die Tür knallt. Ein eindrucksvoller Abgang, selbst für ihn und Angst greift nach meinem Herzen. Das hat er ernst gemeint und ich komme mir vor wie der letzte Verräter und dieses Mal wirklich – nicht weil es irgendein dahergelaufener Punk sagt.


30. März – Niebuhrstr. 38 b

Bela schleicht mit vollkommen verstrubbelten Haaren über den Flur aufs Klo. Endlich. In einer Stunde müssen wir spätestens los.

Seit dem Eklat im Studio haben wir uns nicht mehr gesehen. Mein Herz klopft mir bis in den Hals. Ignoriert er mich? Oder ist er einfach noch nicht wach? Oder verkatert? Oder ...?

Die Spülung. Ein Schlurfen im Flur.

„Hey ...“ Definitiv verkatert. Aber auch ein bisschen kleinlaut. Damit hatte ich nicht gerechnet.

Er lässt sich schwer auf einen Stuhl fallen. „Dit war echt Scheiße gestern.“

Ich nicke, traue mich nicht etwas zu sagen aus Angst, die falschen Worte zu erwischen. „Willste ... Willste denn wirklich aufhören?“

Bela seufzt laut. „Mann, ick will nich ufhören, aber ... Dit hat sich gestern allet so wat von falsch angefühlt.“

„Ick weeß. ... War echt Scheiße.“

„Hey, Jan? Sach ma ...“ Vorsichtig sieht Bela zu mir auf. „Bin ick denn wirklich so übel?“

Ich würde ihn so gerne gerade einfach nur umarmen und ganz, ganz festhalten, aber .... „Matzge meinte, et ... et würd nich reichen für die Aufnahmen.“ Ich sag es ganz leise, so als würde es dann seine zerstörerische Wucht verlieren.

Bela nickt, lässt seinen Kopf dann auf die Tischplatte sinken. Ich bin fast dankbar, dass er nicht nachbohrt, wie gut er meiner Meinung nach ist.

„Dit war`s dann wohl, hm?“, höre ich ihn murmeln.

„Wie meinst`n dit?“

„Na, wenn ick so schlecht bin, dann ... Wieso sollteste denn mit mir weitermachen wollen? Reicht ja schon, dass Hans so unterirdisch ist. Aber zwee solche in einem Trio? ... Dit jeht doch nich.“

„Quatsch.“ Ich streiche vorsichtig über seine Schulter. „Hey, komm ma her.“

Schwerfällig steht er auf, steht unschlüssig vor mir bis ich ihn auf meinen Schoss ziehe. Ich streiche über seinen Rücken. Gerade fühlt er sich unter meinen Händen an wie ein kleiner zerbrechlicher Vogel. Er schmiegt sich vorsichtig an mich und ich halte ihn einfach nur fest, weil ... Es ist mir sowas von scheißegal, wie er Schlagzeug spielt.

„Wir zwei, Bela!“, flüstere ich in seine Haare. „Wir zwei gegen den Rest der Welt.“

Er löst sich langsam von mir. „Echt?“

„Mhm.“ Ich küsse ihn auf die Wange, auf die Stirn, auf den Mund. „Also, wenn de willst ...“

Ein zaghaftes Lächeln erscheint auf seinen Lippen. „Okay. Wir zwei – Farin und Bela! Bela und Farin!“ Er küsst mich - auf die Wange, auf die Stirn, auf den Mund.

Ich wünschte, wir hätten noch ein bisschen Zeit für uns beide, aber ausgerechnet heute müssen wir nach Hannover ...

*


„Bist du immer noch beleidigt, dass sie einen anderen Schlagzeuger geholt haben?“, fragt Hans als wir mit seinem VW-Bus Richtung Westen holpern.

„Halt die Fresse, H-a-n-s.“ Es klingt nicht besonders leidenschaftlich, aber macht die Stimmung im Bus auch nicht gerade besser.

Seitdem Micha irgendwie vor ein paar Wochen in der Versenkung verschwunden ist, müssen sich Bela und Hans nicht mehr noch zusätzlich bei den Suurbier-Proben sehen. Eigentlich hätte ich gedacht, das sorgt für Entspannung, aber ...


UJZ Korn, Hannover

In der Korn spielen wir zum ersten Mal öffentlich ein paar der neueren Lieder. Im ersten Teil stehe ich fast die ganze Zeit im Profil zum Publikum, weil ich checken will, ob Bela okay ist. Es ist deutlich zu sehen, wie sehr er sich Mühe gibt, so sehr, dass er die ganze Zeit auf seine Lippen beißt.

Erst bei „Mein kleiner Liebling“  lächelt er hinter seinem Schlagzeug. Mir fällt ein Stein vom Herzen und ich spiele die zweite Hälfte des Konzerts ebenfalls halb zu ihm gedreht, weil ich ihn die ganze Zeit ansehen muss.

Nach drei Zugaben machen wir endlich Schluss und ich stolpere hinter Bela von der Bühne. „Na? Haben Spaß gemacht die neuen Lieder, wa?“ Ich hoffe, meine vorsichtige Freude kommt bei ihm an.

Er nickt langsam und umarmt mich kurz. „Ick broch jetze erst ma `n Bier.“ Und schon ist er unterwegs Richtung Tresen, um sich in die Arme seines wohlverdientes „Post-Konzert“-Bieres zu werfen. Die anderen waren „Prä-Konzert“-Biere. Ich folge ihm.

Als ich gerade meine Apfelsaftschorle bestellen will, stellt sich eine Frau in schwarzen Lederklamotten neben uns oder vielmehr neben mich.

„Hey! Farin, nee? War `n super Konzert.“ Nicht nur ihre Worte schmeicheln mir, auch die Sternchen in ihren Augen. „Ich wollte dir `n Bier ausgeben. Oder was Härteres ...“

Ich sehe über ihre Schulter, wie Bela sein Bier nimmt.

„Ähm ...“ Bela stößt sich vom Tresen ab und verschwindet in der Menge. „Also, äh, ick trink keen Alkohol.“

„Ernsthaft?“ Die Sternchen in ihren Augen verblassen.

„Ja, ernsthaft!“ Ich habe so keinen Bock mehr auf diese ganzen Dogmen und dementsprechend scharf habe ich es wohl auch gesagt, denn sie tritt einen Schritt zurück.

Wegen der blöden Diskussion habe ich Bela nun komplett aus den Augen verloren.

„Okay. ... Aber vielleicht könnten wir zwei was anderes ...“

Sie kommt wieder näher, wird dann aber von Bela zurückgedrängt, der auf einmal wieder da ist. „Jan?“ Er zappelt vor mir rum, sieht mir nicht in die Augen. „Also, ick ... Ick bin grad in Suzy reingelaufen und ...“

Suzy. Eine ziemlich schicke, schon ältere Punkette taucht vor meinem inneren Auge auf. „Oh. ... Die aus Bremen, wa?“

„Ähm ...“ Er sieht mir immer noch nicht in die Augen. „Ja, genau die.“

„Und jetzt willste ... ?“ Ich breche ab, weil ich zwar ahne, was er will, aber ich kann es nicht aussprechen.

„Naja, also, ick kenn die ja nu och schon drei Jahre und ... Ähm, eigentlich ham wa immer was miteinander gehabt, wenn wa uns getroffen ham.“ Vorsichtig blickt er zu mir auf.

Ich halte die Luft an, atme dann tief durch. „ ... Okay. ...“ Was soll ich auch sonst sagen? Nein, ich will, dass du bei mir bleibst? Er soll sein Leben wegen mir nicht komplett ändern und diese Suzy gehört halt auf ihre Art wohl dazu. Soweit zumindest die Theorie ...

„Ja?“ Belas unsichere Miene verwandelt sich in ein Strahlen, so als hätte ich ihm das perfekte Geschenk gemacht. Endlich strahlt er wieder – und sein Strahlen tut so gut und deswegen schmerzt es noch mehr. Fuck!

„Ja! Hau ab, du Arsch!“, sage ich schnell, damit der Rest meiner Gedanken mir nicht über die Zunge purzelt. „Und benutzt verdammt nochmal Gummis, okay?“

„Mach ick.“ Bela stellt sich auf die Zehenspitzen und küsst mich – voll auf den Mund, dann saust er davon, hinein in sein Abenteuer mit Suzy aus Bremen und ich stehe mit der Freibier-oder-was-Härteres-Frau wieder alleine da.

„Hey, also ...“, wende ich mich an sie, obwohl ich eigentlich am liebsten abhauen würde, denn meine Augen sind sich noch nicht ganz sicher, ob sie überlaufen wollen oder nicht. Ich drehe mich ein Stück zur Seite und entdecke Hans, der auf uns zukommt.

„Äh, also, ... Ist Dirk gerade gegangen?“

Ich nicke, weil ich auch meiner Stimme nicht traue.

„Aber wir müssen doch noch die Anlage abbauen und im Bus verstauen?“

Verdammte Axt. Das hatte ich ganz vergessen. Und der sex- oder liebestrunkene Bela wohl auch. Am liebsten würde ich gerade Hans den Kopf abreißen, aber sogar in meiner wütenden Traurigkeit verstehe ich, dass das der falsche Kandidat ist.

Also seufze ich nur „Okay.“ und ergebe mich meinem Schicksal. Ich drehe mich wieder zu der Frau um und zucke entschuldigend mit den Schultern, sie wiederholt die Geste. „Na, vielleicht sehen wir uns ja `n anderes Mal, wenn es besser passt, was meinste?“ Ich bedenke sie mit einer wohl eher schwachen Version meines Farin-Grinsens.

„Vielleicht.“ Sie grinst zurück. Vielleicht war es doof, nicht auf ihr Angebot einzugehen, überlege ich, während ich hinter Hans Richtung Bühne schleiche.

„Oh, Mist.“ Ich muss die Anlage nur ansehen und schon machen sich präventiv meine Rückenschmerzen startklar, die ich mir bei solchen Hauruckaktionen jedes Mal hole. Manche Leute scheinen neidisch auf meine Größe zu sein, aber die fordert leider oft auch ihren Tribut. Dieses Mal habe ich Glück. Dank der Hilfe von ein paar Autonomen aus der Korn ist die Anlage innerhalb einer halben Stunde im Bus verfrachtet.

Hans richtet sich auf dem Rest freie Pritsche sein Nachtlager her.

„Ähm, Hans?“

„Mhm?“ Er sieht mir fragend an und ich stelle mal wieder mit Erstaunen fest, wie seltsam es ist, wenn sich Leute direkt mit mir auf Augenhöhe befinden. Viele gibt es nicht – eigentlich nur ihn, Buttgereit und Joachim.

„Ick gloob, ick pack dit heut nich da in der verranzten Turnhalle zu pennen. Meinste, wir könn die Instrumente so umpacken, dass wir da beide uf die Matratze passen?“

„Aber wir haben die doch grade erst ...“

„Schon jut. Ick wollt nur ...“ Kopfschüttelnd schleiche ich in Richtung Turnhalle.

„Hey, Jan, jetzt warte doch.“ Hans läuft hinter mir her und gerade tut es einfach nur gut. „Wir können`s ja mal versuchen.“


Den gleichmäßigen Atemzügen nach schläft Hans schon. Nur ich – ich komme nicht zur Ruhe. Meine Gedanken sind bei Bela (und Suzy). Ich versuche, das Ganze rational zu betrachten. Was, wenn Bela mir verbieten würde, auf Reisen zu gehen? Alles in mir zieht sich zusammen, als würden mir Flügel abgeschnitten, mein Herz in einen Käfig gesteckt.

Trotzdem – zum dreizehnten Mal spielt mir mein inneres 5D-Kino vor, wie Bela diese Suzy küsst und ... Das schlimmste ist, dass mich das Bild von Bela und Suzy zusammen gleichzeitig auch anmacht und nun auch noch für körperliche Unruhe in mir sorgt. Ich kann mir hier mit Hans im Bus ja schlecht einen runterholen.

Oh, Mann. Wäre es besser, wenn ich einfach auch mit jemandem - zum Beispiel mit der Freibier-Frau - mitgegangen wäre?

Die unterschiedlichen Gefühle feuern durch mein Hirn und Herz wie in einem Flipperautomat. Am lautesten sind: Was, wenn wir es nicht hinbekommen? Und - warum genüge ich ihm nicht, verdammt nochmal?


31. März – Parkplatz vor dem UJZ Kornstraße, Hannover

„Morgen!“ Hans streckt sich gähnend neben mir. „Sag mal, hast du überhaupt geschlafen?“

„Ich?“ Meine Stimme überschlägt sich und es klingt so gar nicht unauffällig.

„Ja, du! Du hast dich die halbe Nacht hin und her gewälzt.“

„Oh.“ Hitze steigt mir ins Gesicht. „Sorry, tut mir leid. Ick ...“ Am liebsten würde ich es ihm erklären, aber ...

„Schon okay.“ Ich bin ihm echt dankbar, dass er keinen dummen Spruch macht. Vielleicht weil er es nicht schnallt, vielleicht weil er es versteht.

Wir richten den Bus so her, dass wir ihn unfallfrei bis nach Berlin kriegen. Dann setzen wir uns hinein – und warten. Und warten. Und warten. Und ...

Hans sieht wieder auf seine Uhr. Ich brauche keine, denn meine Innere ist unruhig genug. Dieser zweite von Belas Ausflügen in Affärengefilde fühlt sich explosiv an, wie ein Blindgänger aus dem ersten Weltkrieg.

„Mann, Bela nervt. Bei den Suurbiers-Proben hat er wenigstens versucht, pünktlich zu sein, weil er wusste, dass Micha sonst den ganzen Abend schlechte Laune hat und rumschreit.“

Durch Hans Analyse schmerzt mich Belas zu spät kommen noch mehr. Warum schafft er es jetzt nicht? Checkt er nicht, dass ich mit der ganzen Aktion gestern vielleicht nicht so gut klar komme?

Das fühlt sich alles so verdammt nach Test an, ob ich es hinbekomme, ob wir unser „Wir zwei gegen den Rest der Welt“ wirklich hinbekommen. Ich atme tief durch. Soll ich mich doch Hans anvertrauen mit meinen Sorgen. Wir sind doch viel zu verwoben durch die Band, er viel zu nah dran. Irgendwie wünsche ich mir gerade Gitti her. Mit der könnte ich das besprechen – vielleicht.

Ich steige aus, weil ich viel zu zappelig bin, um ruhig hier im Bus auf Belas Ankunft zu warten. Wortlos sieht mir Hans durch die Windschutzscheibe zu, wie ich im April-Nieselregen auf- und abtigere.

Schließlich steigt er ebenfalls aus und lehnt sich an den Bus. Nach ein paar Minuten seufzt er, stößt sich von der Fahrertür ab und stellt sich vor mich. „Hey, Jan, ich will jetzt echt los.“

Ich suche die Straße nach einem kleinen Punker ab, der müde auf uns zuschlurft, weiß nicht mal, ob ich Angst vor dem Zusammentreffen habe oder es herbeisehne. „Noch zehn Minuten? Bitte.“

„Es nervt mich. Und seine Nachlässigkeit ist einfach scheiße respektlos uns gegenüber.“ Hans macht sich noch größer, als er eh schon ist, als wollte er seinen Punkt nochmal besonders unterstreichen.

„Dit hat doch nüscht mit Respekt zu tun.“ Wirklich? „Bela is eenfach nur verpeilt.“

„Okay, schön. ... Aber ich kann nicht den Erfolg meines Studiums nicht durch Dirks ständige Unpünktlichkeit gefährden. Wie viele Stunden haben wir schon auf ihn gewartet? Langsam geht es in den dreistelligen Bereich.“

Das ist natürlich Quatsch, aber ... „Der kommt bestimmt gleich. Heut Abend is ja och dit Stray-Cats-Konzert im Metropol. Der freut sich seit Wochen drauf und ...“

„Na, dann soll er halt pünktlich sein, wenn ihm das so wichtig ist.“

Ich schlucke. Von wegen wichtig. Wahrscheinlich dreht er mit seiner Suzy gerade noch eine Runde im Bett und ich bemerke, dass ich mir die beiden gerade besser nicht zusammen vorstellen sollte. „Nur noch zehn Minuten, okay?“

„Warum tanzt du eigentlich immer nach seiner Pfeife?“ Hans setzt sich hinter das Lenkrad, knallt die Fahrertür zu.

In mir verknotet sich etwas. Tu ich das? Ich will da lieber gar nicht drüber nachdenken. Stattdessen setze ich meinen erbarmungswürdigsten Welpenblick auf, fällt mir gerade nicht besonders schwer. „Bitte, Hans.“

Er seufzt. „Okay. Bis zehn. Aber keine Minute länger!“

Und natürlich ist Bela auch um zehn nicht da. Die ganze Fahrt zurück durch die DDR ist Belas Abwesenheit wie ein schwarzes Loch in Hans gelbem Postbus, in meinem Herzen. Verdammt, tut das weh.


Autobahnausfahrt Hannover

Ich bin immer noch auf 180. Was für Scheißfreunde - Scheißbandkollegen und in Jans Fall auch noch Liebhaber oder was auch immer wir sind.

Mich einfach so in Hannover stehen zu lassen. Ja, ich war über `ne Stunde zu spät, aber ... Das wissen die doch. Wahrscheinlich sollte das so `ne pädagogische Lehre für mich sein. Arschlöcher.

Eine halbe Stunde laufe ich laut schimpfend an der Ausfallstraße neben brummenden LKWs entlang Richtung Autobahn, stehe dann eine weitere gefühlte Stunde im Nieselregen an der Autobahnauffahrt.

Dort hab ich genug Zeit nachzudenken, ob die Sache mit Suzy diesen ganzen Stress wert war und komme zu dem Ergebnis: Ja. Es ist nicht wirklich schön oder hilfreich oder irgendwas, aber – ich brauch das. Ich brauch Zuneigung und Sex und Frauen und überhaupt unterschiedliche Menschen.

Eine Gruppe Stuttgarter Hippies gabelt mich schließlich mit ihrem VW-Bus auf. Der ganze Wagen riecht bestialisch nach Gras und Patchouli, aber ich bin ihnen so dankbar, dass es mir egal ist.

Als wir an der Transitstrecke an einem Intershop halten, kaufe ich mir einen wunderbar süßen Kirschbrand. Es lebe die DDR! Sofort ist die Fahrt 23 % besser.

Und nochmal 27 % besser mit dem Stray-Cats-Tape, dass ich dem Fahrer aufdränge. Ich schnipse mit den Fingern mit und spiel ein imaginäres Schlagzeug dazu, auch wenn dieser VW-Bus nicht wirklich „Built for Speed“ ist. Mhmmm. Speed. Das wäre auch schick. Aber gerade muss wohl Kirschbrand reichen.

Weil ich so genervt von allem bin und der Kirschbrand nicht nur mir gut schmeckt, befinde ich mich auf halbem Weg nach Berlin auf einmal in den Armen von Star. Unserer beider Lippen schmecken nach Kirschen und ein Teil meiner Probleme löst sich sehr effektiv in ihrem Mund und der rotgoldenen Flüssigkeit auf.

Schöner Name irgendwie – Star – auch wenn ich ihre Batikklamotten echt übel finde. Der Dialekt macht das ganze auch nicht direkt attraktiver, aber ich bin immer noch so geladen von dieser Scheißaktion und Rumknutschen ist die perfekte Ablenkung davon.

Das Brummen des Motors und die Stray-Cats sind mein der Soundtrack zu einer süßen, unschuldigen Knutschsession. Ihr Wollpulli kratzt - auch an meinem schlechten Gewissen – denn für einen kurzen Moment denkt mein angeschickertes Hirn, dass es Jans Pulli ist.

Als ich geschockt die Augen aufreiße, liegt der Blick von einem dieser Locken und Stirnband-Typen, vielleicht ihr Lover, auf mir. Ein paar Minuten später hab ich denn aber schon wieder vergessen, schließlich feiern Hippies doch das Konzept der freien Liebe. Immerhin ein Teil, den ich an ihrer Kultur gut finde.


Niebuhrstraße 38 b

Wahrscheinlich um die verlorene Zeit aufzuholen, ist Hans mit dem vollen Speed, den sein alter Bus hergibt, über die Transitstrecke geheizt.

Als ich die Haustür in der Niebuhrstraße aufsperre, ist mir erstens schlecht wegen des VW-Bus-Geschaukels, zweitens plagt mich ein schlechtes Gewissen wegen Bela und drittens bin ich genervt von dessen Aktionen.

Ich sperre unseren überquellenden Briefkasten auf. Eine Lawine aus Post beschießt mich. Wieder ein gelber Umschlag. Fuck. Diese blöden Mahnungen werden uns am laufenden Band zugestellt, als würden wir sie sammeln wie Panini-Sticker.

Als ich den Briefkasten wieder schließe, sehe ich erst das riesige schwarze Herz darauf. Anscheinend mit Nagellack gemalt. Darin steht in Kirschrot: Bela. Super. Scheint, nicht nur Suzy hat an ihm einen Narren gefressen.

Ich blättere durch den Wust aus Briefen, als mein Herz stolpert und danach meine Beine, so dass ich mit dem Schienbein gegen eine Treppenstufe knalle. Felice!  

Seit über einem Jahr hat sie sich nicht mehr gemeldet. Ich halte es nicht aus bis ich ihm zweiten Stock bin. Ich stelle meinen Rucksack ab, setze mich auf die Treppe und reiße den Brief auf. Er ist auf Deutsch geschrieben, nur ein paar Worte auf Italienisch.

„... mich so lange gemeldet nicht bei dir, weil ich wollte bringen Distanz zwischen uns und meine Gefühle für dich, Jan.

Ich habe viel studiert in den letzten Monaten und bin nun fast fertige Juristin. Aber es ist auch etwas sehr traurig, weil meine Nonna geht es nicht gut seit ein paar Monaten.  Ich habe Angst, dass sie ... Auch deswegen habe ich nicht geantwortet so lange.“


Die Angst tropft aus jeder Zeile, greift nach meinem Herzen, drückt auf meine Kehle, weil ich an Sieseby, die kleine Kate und Omi denken muss.

Ich haste nach oben in den 2. Stock, hechte durch die Tür zum Telefon.  

„Marieke Jensen?“

„Hallo, Omi! Ich bin`s. Jan“, keuche ich total außer Atem in den Hörer.

„Jan! Dat is ja een Överraschung. Wie geiht di dat, mien Jung?“

„Gut.“ Ich versuche, die Lüge wahr klingen zu lassen.

„Dat höört sik aver nich so an.“

Oje.

„Is dat wegen Uta?“

„Äh, ...“ Was? „Ja. Ja, genau.“

„Hat se di dat nu doch erzählt?“

Mein Herz rast und ich bin mir nicht mal sicher, ob ich es wirklich wissen will. „Was meinst du denn genau, Omi?“

„Oh. ... Entschuldige. Ich sollte mich da wohl nich einmischen.“ Auf einmal ist sie im Hochdeutschen gelandet. Kein gutes Zeichen.

„Ähm, okay. ...“ Spielt sie auf diese Herr Kastner-Geschichte an oder ist da noch mehr im Argen?

„Wie geht`s euch beiden denn, Bela und dir?“

Ich schlucke. „Joah, janz jut.“

„Schön. ... Das freut mich.“

Hat sie das geschluckt? Ich kann es mir kaum vorstellen. Omi kennt mich viel zu gut, aber wahrscheinlich weiss sie nicht, wie sie mich auf diese schlechte Lüge meinerseits ansprechen soll.

„Wir ... wir waren gerade auf Tour in Hannover und ... Ähm, ja ... Also, wie geht`s dir denn, Omi?“ Es ist eine gute Ablenkung, aber angesichts der Nachricht über Felices Nonna will ich es wirklich wissen.

„Ach ja. Miene Hüfte doot wedder mehr weh, wiel ik toveel in ’n Gaartn war.“

„Och, Omi. Du weißt doch, das de dich schonen sollst. Der Garten kommt och ohne dich klar.“

„Jo, Jo. Aver wat blifft mi denn noch, wenn ik nich mal mehr mien Gaartn mochen kann.“

Es ist wirklich traurig, wie wir einander etwas vorspielen.

Nach dem Telefonat gehe ich in mein Zimmer, greife zur Gitarre und summe ein Lied von Adriano Celentano vor mich hin, dass Felice mir damals beigebracht hat.

Meine Gedanken fliegen hinaus zum Fenster in den düsteren Berliner Nachmittag – wandern über die Alpen – hinüber ins Nachbarland. Italien.

Ich spiele auf der Gitarre vor mich hin. Felice ... Sie ist echt ein wenig aus meinen Gedanken verschwunden gewesen. Nicht nur wegen Bela, sondern vor allem, weil sie mir so lange nicht geantwortet hat. Jetzt den Grund dafür zu erfahren, wühlt einiges wieder hoch. Sehnsucht flutet mich - nach Bela, der Version, mit der ich auf einer Wellenlänge bin. Und nach Felice. Auf einmal vermisse ich sie mit ihrem frechen Lachen und den langen glänzenden Haaren, die nach Meer und Jasmin riechen.

Hier in Berlin wird der nicht sehr frühlingshafte Tag draußen immer grauer. 15 Uhr und immer noch keine Spur von Bela. In mir ist es auch grau. Wir hätten warten sollen. Genervt-gereizt-traurig lausche ich auf das Klappen unserer Wohnungstür, das nicht erklingt.

Um 20 Uhr fängt das Konzert an. Das Klingen des Telefons reißt mich aus meinen düsteren Gedanken. Bela ...

„Jan Vetter?“

„Schön, dass du wieder da bist, mein Großer.“

„Oh, äh, ja. Hallo. Bin vor einer Stunde zur Tür rein.“

„Schön.“ Es hört sich gar nicht so an. „Sag mal, Jan, ich habe gerade mit Omi telefoniert ... Kannst du ... kannst du vielleicht mal hier vorbei kommen in Frohnau?“

„Äh, ja, also ... Das muss dann wohl heute sein, weil wir übermorgen schon wieder unterwegs sind.“

„Ah. Okay. ... Sag mal, ist das nicht zu anstrengend mit den ganzen Touren?“ Sie klingt ernsthaft besorgt.

„Schon, aber ... Ist ja och irgendwie unser Job, ne? Außerdem brauchen wir die Kohle echt dringend.“ Mehr will ich nicht sagen. Sie hat echt genug für uns getan.

„Also, wenn das okay für dich ist, dann ... Es wäre schön, wenn du es dann einrichten kannst heute.“

Ich überschlage die Zeit. Wenn ich jetzt losfahre, schaffe ich es noch pünktlich ins Metropol. „Ja, klar.“

„Ich ... Also, ich hab dir etwas wirklich Wichtiges mitzuteilen.“ Ihre Stimme ist belegt, als wollte sie es mir eigentlich lieber nicht sagen.


Senheimer Str. 44, Frohnau

„Hi, Mama!“

Sie fällt mir in die Arme kaum, dass sie die Haustür geöffnet hat. „Ach, wie schön, dass du wieder da bist.“

Ihre Umarmung tut gut, aber ist auch ungewöhnlich lang. Meine Kehle wird eng und ich streiche ihr ein wenig hilflos über den Rücken. „Ja, find ich auch.“

Sie lässt mich langsam wieder los und ich sehe heute zum ersten Mal richtig, erschrecke mich wie alt sie aussieht.

Sie scheint meinen prüfenden Blick bemerkt zu haben. Schnell dreht sie sich um. „Komm, ich hab Tee gemacht.“

„Alles okay ... hier?“ Ich sehe mich um, als könnte mir der Flur verraten, was los ist. Gerd ist nicht da. Ich kann es spüren, als würde nicht nur ich aufatmen, sondern das ganze Haus. „Die anderen sind nicht da, oder?“, frage, obwohl es mir schon klar ist. Meine Mutter überlässt bei dem Gespräch, das uns gerade bevorzustehen scheint, nichts dem Zufall.

„Nein. Julia ist bei ...“

„Thomas“, rate ich zielsicher und grinse.

Sie lacht, wirkt schlagartig viel jünger. „Ja, genau.“ Dann wird sie wieder ernst.

In der Küche steht schon eine dampfende Kanne, sie schenkt uns ein, dreht dann ihre Tasse unschlüssig in der Hand. „Wahrscheinlich muss man sowas einfach machen wie beim Zähne ziehen, hm?“

Ich habe keine Ahnung, von was sie redet, aber nicke ihr aufmunternd zu – wahrscheinlich dennoch viel zu zögerlich.

„Okay. ... Also, Gerd und ich werden uns trennen.“

Mein Gesicht weiß nicht, was es machen soll. Wahrscheinlich sollte ich so besorgt dreinblicken wie sie klingt, aber aus alten Abgründen steigt in mir unbändiger Jubel hoch.

„Das ist ... Das ist nicht wirklich ein Grund zur Freude, Jan. Ich ... Ich ...“ Sie wirkt so hilflos und verzweifelt, dass ich mir wünsche, sie würde rauchen, nur damit sie etwas mit ihren Fingern machen kann. Das Umklammern einer Teetasse scheint für diese Offenbarung nicht ausreichend.

„Ich ...“ Sie räuspert sich. „Ich hatte eine ... Affäre – wie du und Bela damals ja vielleicht durch Gerds Geschrei mitbekommen habt.“

Mir bleibt der Mund ein wenig offenstehen. „Es ... Es stimmt also?“ Eigentlich ist es mir klar. Wenn man so einen Typen wie Gerd hat, dann ... Irgendwie hab ich ihr es aber doch nicht wirklich zugetraut.

Sie nickt und ihre starre Fassade bricht ein wenig. Da ist so viel Scham, dass schon wieder der Hass auf Gerd in mir hochsteigt. „Ick hab mich schon jewundert, warum de Gerd mit nach Sieseby geschleppt hast an Weihnachten.“

Sie schnieft. „Ich wollte halt wirklich alles probieren, um das Vertrauen wieder herzustellen. Auch für Julchen. Aber ...“ Ihre Augen wandern durch die ganze Küche, nur mich sehen sie nicht an.

„Was war los?“

„Der Mann war einfach nett zu mir, aufmerksam ...“

„Dit, also, dit meint ick eigentlich nich, sondern halt was mit Gerd war“, stottere ich.

Sie wird rot. Ein kurzer Seitenblick zu mir, dann sind ihre Augen wieder beschäftigt damit mich nicht anzusehen. Und auf einmal weiß ich es.

„Er hat ... Hat er dich geschlagen?“ Mein Blick auf ihr, meine Stimme ist viel zu laut, viel zu laut, aggressiv.

Sie versucht wohl, ihren Augen zu befehlen Nein zu sagen, aber es klappt nicht.

Und ich? Ich werde so wütend, so verdammt roh, gleißend wütend, dass ich nur kurz ihre Schulter drücke, viel zu fest, und herauspresse: „Ick ... Tschuldige. Ich muss kurz ...“ Ich springe von meinem Stuhl hoch, der rauh über die Küchenfliesen kratzt.

Sie steht ebenfalls auf. „Er ist doch nicht da, Jan!“

„Das weiß ich“, will ich brüllen, aber ich will nicht schreien. Das ist ja genau der Punkt, warum ich kurz raus muss – um mich wieder zu beruhigen. Wut, diese unbezähmbare, ungebändigte Wut, steigt mir hoch wie Lava in einem ausbrechenden Vulkan. Es ist, als würde nicht die Wut auf Gerd in mir hochsteigen, sondern ... Es ist, als würde mich eine fremde Macht übernehmen, so wie damals, als ich ...

!!!

Alte Bilder überrollen mich. Es ist keine Erinnerung, sondern ich bin wieder vierzehn und Gerd schlägt mich mit seinem dreckigen Gürtel auf jede Stelle, die er von mir erwischen kann, während ich im Wohnzimmer Schutz hinter der Couch suche, hinter dem Tisch. Als er mich neben dem Fernseher komplett in die Enge gedrängt hat, explodiert etwas in mir.

Ich drehe mich um, bekomme den Gürtel ins Gesicht, aber spüre es nicht mehr. Dann hole ich aus und schlage zurück, schlage ihn mit meinen Händen und Fäusten so lange bis mich meine Mutter und die kleine Julia jeweils an einem Arm von ihm wegzerren.

„Bitte, hör auf!“ Die Schreie meiner Mutter gellen in meinen Ohren. „Jan! Jan, hör auf!“

In meinem Tunnel aus Hass sehe ich, wie ein roter Wasserfall aus Gerds Nase läuft, seine Lippe ist aufgesprungen, meine eigenen Hände – rot von seinem Blut, das auf den Wohnzimmerteppich tropft ...

!!!

„Jan?“ Ihre Stimme ist dumpf und weit weg. „Jan?“ Eine Hand an meiner Schulter. Die Berührung versetzt mich mit einem Schlag wieder in die Gegenwart.

Ich habe ihr nie wirklich verziehen, dass sie ihn nicht aufgehalten hat, wenn er mich vermöbelt hat. Aber ich bin ihr tatsächlich dankbar gewesen, dass sie mich zurückgehalten hat damals. Ich ... ich hätte ihn totgeschlagen, wenn sie nicht ...

Wie im Traum – einem grauenvollen Alptraum – drehe ich mich langsam zu ihr. Sie tritt einen Schritt von mir zurück. Ich weiß nicht, was sie in meinem Gesicht liest. Ihres ist wie ...

Wie sie da so allein mit hängenden Schultern in der Küche steht ... Es bricht mir das Herz, als ich verstehe, dass ihr Lebenstraum in Splittern vor ihr liegt.

„Verdammt!“ Es kommt nur als heiseres Flüstern raus, weil mir das Wasser so brutal in die Augen schießt und das ist fast noch schlimmer als die alles verzehrende Wut – auch auf sie, aber die Tränen reißen sie mit.

Hilflos stehen wir heulend voreinander in der Küche und wieder einmal wünschte ich, es wären nur wir beide geblieben, dann wären wir beide nicht schuldig geworden.

Eines der schlimmsten Bilder des Nachmittags damals ist aber nicht der blutende Gerd, sondern die weit aufgerissenen Augen von Julia auf mir.


Berlin, Metropol

Eigentlich wollte ich gar nicht kommen, so verdammt aufgelöst wie ich nach den ganzen Offenbarungen des heutigen Tages bin, aber die Karten waren nicht billig und ...

Jemand rempelt mich hart an. „Du verficktes Arschloch!“, höre ich eine mir wohlbekannte Stimme über den nächsten Song der Stray Cats keifen.

„Hey, du hast es ja doch noch geschaf...“

„Mich einfach in Westdeutschland stehen zu lassen:“ Bela schubst mich, aber da die Menge so dicht steht, passiert nicht viel, ich rempel nur gegen einen anderen Körper, werde wieder zu ihm zurückgeschleudert.

„Tut mir echt leid, aber ...“

„Du blöder Penner!“ Bela boxt mich hart – wirklich hart - in die Seite. Es tut weh, nicht nur körperlich. Zum ersten Mal verstehe ich wirklich, wie es zu diesen ganzen Schlägereien kommt, in die er wie durch ein Wunder immer wieder verwickelt wird.

„Mann, ey. Ick wollt ja noch warten, aber ...“, schreie ich gegen die geballte Stray-Cats-Kraft an.

Bela packt mich am Kragen meiner Jacke und zieht mich mühelos zu sich hinunter auf Augenhöhe. „Nüscht aber! Man lässt seine Bandkollegen nich hängen.“ Sein Gesicht ist so nah vor meinem. Ich rieche süßen Alkohol in seinem Atem, sehe ihn in seinen Pupillen. „Von wegen Ersatzfamilie“, zischt er und schubst mich dann von sich. Ich knalle wieder gegen den gleichen Typen und dieses Mal rempelt der zurück. Ich lande wieder bei Bela.

„Hast dich jetz wohl mit Hans gegen den Drummer verbündet, weil der hat ja eh nüscht druf un überhaupt ... Wir zwei gegen den Rest der Welt, wa?“, brüllt Bela mich an.

Es tut weh und macht mich gleichzeitig so verdammt wütend. „Was redest du denn für `ne Scheiße?“

„`N mieser Verräter bist du.“ Seine Hände sind wieder auf meinem Brustkorb und er schiebt mich energisch rückwärts in die Menge. Ich bekomme einen Schlag in die Seite und einen gegen meine Schulter.

„Und du bist `n Arschloch, wenn du denkst, dass ick ... “ Mir fehlen die Worte. Wie kann er denken, sagen, dass ich ihn nicht will? „Dit gilt och für dich, Alter. Wo warst`n? Mit Suzy noch schnell `ne Nummer schieben, während Hans und ick allet ufräumen und dann stundenlang auf die Warten dürfen, oder wat?.“

„Du – Du hast gesagt, es is okay.“ Belas Augen blitzen mich an. „Ach, fick dich doch, Vetter!“, brüllt er schließlich über den wummernden Bass, dann dreht er sich um und will in der Menge verschwinden.

„Verdammte Scheiße, Bela!“ Ich packe ihn am Kragen seiner Lederjacke und reiße ihn zu mir herum. „Du kommst jetz ma mit und dann ...“ Ich hab gerade so die Schnauze voll – nicht nur von ihm, sondern von dem ganzen Tag – und ziehe ihn an seiner Jacke hinter mir durch die Menge.

„Verdammter Wichser. Lass mich los.“ Seine Geboxe auf meinen Rücken spüre ich kaum.

Im dunklen Flur neben den Toiletten schubse ich Bela gegen die Wand. Eine kleine Stimme in mir begehrt auf, dass ich zu krass bin, vorsichtiger sein sollte.

Schweratmend stehen wir voreinander. Hier ist es auf einmal sehr viel ruhiger. Der Bass wummert nur noch dumpf im Hintergrund, dafür ist das Adrenalin zwischen uns umso lauter.

Bela stützt seine Hände in die Hüften und funkelt mich provozierend an. Mein Atem ist immer noch viel zu schnell. Wut schießt durch meine Adern wie ein Überfallkommando. Fuck. Ich muss sie bändigen, unter Kontrolle bekommen. Aber auf meiner anderen Schulter sitzt das Teufelchen und flüstert mir zu, dass ich das absolute Recht habe, das hier komplett eskalieren zu lassen.

Ich seufze, trete einen Schritt zurück und verlangsame bewusst meinen Atem. „Also, ick wollt mich entschuldigen“, stoße ich schließlich hervor, sehe Bela ernst an. Dabei entdecke ich etwas, dass meine guten Absichten schlagartig fesselt und knebelt. Durch meine Aktion ist Belas Lederjacke verrutscht. „Echt `n toller Knutschfleck, denn du da hast. Sehr antörnend.“

„Oh.“ Belas wütendes Starren wird zu einem betretenen. Er fährt sich über den Hals. „Dit wa wohl die Hippiebraut aus dem VW-Bus", murmelt er.

„Häh? Was denn nu für `ne Hippiebraut?“

Die Wut lodert wieder in seinen Augen auf. „Na, wat gloobste denn, wie ick wieder auf unsere schöne Insel Westberlin gekommen bin? Mit`m Fahrrad über die Transitstrecke, oder wat?“

„Nein, natürlich nich, denn für Herrn Bela geht das natürlich nur mit willigen Hippiebräuten.“ Ich beiße mir auf die Lippen.

Ich entdecke ein bekanntes Gesicht unter den Leuten, die sich an uns vorbeiquetschen müssen, um zu den Toiletten zu kommen. Und noch eins. Scheiße. Ich hab keinen Bock unsere dreckige Wäsche hier vor der Berliner Szene zu waschen.

„Los! Rein da!“ Ich deute auf die Tür zum Klo.

Bela will mir wohl noch einen Spruch entgegen knallen, aber ich packe ihn einfach wieder an den Schultern und schiebe ihn durch die Tür, in die freie Kabine, knalle die Tür hinter uns zu.

Auf einmal sind wir wieder nah, aneinandergedrängt durch den fehlenden Platz. Daran hatte ich nicht gedacht.

Belas Atem bläst mir gegen den Hals und ich sehe auf ihn hinunter, lasse ihn den ganzen verfickten aufgestauten Ärger sehen. Er starrt genauso böse zurück.

„Du stinkst nach Patchouli.“

„Und du nach Selbstgerechtigkeit.“ Das sitzt. Austeilen kann der Herr Felsenheimer.

Wir stehen uns gegenüber in der Enge der Kabine wie in einem Boxring. Immer wieder geht die Tür auf und trägt Fetzen der Stray-Cat-Songs zu uns hinein. Draußen rülpst jemand laut, während er in die Pissrinne pinkelt.

„Ey, sach ma haste `n bisschen H?“, fragt jemand hektisch.

„Spinnste? Dit Zeuch fass ick nich an“, lautet die Antwort.

Ich sehe in Belas geweitete Pupillen und nicht zum ersten Mal habe ich kalte, heiße Angst um ihn. Keine Ahnung, ob Bela den Typen draußen auch zuhört. Sein Blick liegt einfach unverwandt auf mir.

„Oh, Mann, Jan.“ Auf einmal habe ich seine Hände um meinen Hals und für einen schrecklichen und seltsam erregenden Moment denke ich, dass er mich erwürgen will, dann spüre ich seine Lippen auf meinem Mund. Mehr ein Biss, als ein Kuss. Er schmeckt aus einem unerfindlichen Grund nach Kirschen. Er stellt sich auf die Zehenspitzen und dringt in meinen Mund – hart, fordernd – und es feuert durch mich, dass ich ihm gerade alles geben würde, was er von mir verlangt.

Er zieht sich ein Stück zurück, presst sich dann wieder so fest an mich, als wollte er einen Abdruck auf mir hinterlassen. Sein Schwanz drückt hart gegen meinen Oberschenkel.

„Ick will dich anfassen.“ Es ist mehr Keuchen in meinem Mund als Worte. „Bitte.“

Und ich will sagen: Schön, dass der Herr heute wieder Bock auf mich hat, aber ich stöhne nur ein Ja und Belas Finger sind an meinem Reißverschluss, in meiner Jeans. Er holt meinen Schwanz raus und für einen Moment komme ich mir hier unter der düster flackernden Neonröhre echt nackt vor, aber dann bewegt er seine Finger und in meinem Kopf explodieren das Neonlicht und meine Begierde in leuchtenden Blitzen.

Er zieht seine Finger wieder zurück und ich will seine Hand festhalten, aber er steckt sie in meinen Mund. Ich lecke über sie, höre, wie er den Atem einzieht, aber er scheint dennoch nicht zufrieden.

„Spuck drauf!“ Er hält mir seine Finger vor den Mund. Diese Seite von ihm kenne ich nicht, aber sie fesselt mich – mehr als sie vielleicht sollte. Ich folge seinem Befehl.

Seine Finger ... Verdammt. „Und du?“ Ich lasse meine Hand über seine Lederjacke gleiten, über den Bund seiner Jeans, zwischen seine Beine. Kurz presst er sich an mich, dann ist er wieder weg. „Und was is mit dir?“

„Egal. Ick will grad einfach nur dein Gesicht sehen, wenn du kommst.“ Er fixiert mich mit seinem Blick, während seine feuchten Finger an mir auf und ab gleiten. Seine andere Hand legt sich um meinen Hals und er drückt ein klein wenig zu, gerade so viel, dass ich noch genügend Luft bekomme. Ein heiseres Flüstern an meinem Ohr. „Ist das okay?“

Ich höre mich aus weiter Ferne stöhnen. Mir wird ein wenig schwarz vor Augen. Die Spannung in mir baut sich mit rasender Geschwindigkeit und Intensität auf. Die Muskeln in meinem Bauch spannen sich an. Ich presse mein Gesicht an Belas Stirn, weil mir sein intensiver Blick peinlich ist.

Er reckt sich und für einen kurzen Moment spüre ich seinen Kirschmund auf meinem, dann zwingen mich seine Finger am Hals zurück, verstärken den Griff. Vor mir funkeln Belas Augen hellgrün im Neonlicht – und ich komme, so hart als würde mein Inneres nach Außen gestülpt und irgendwie wird es das auch wirklich, denn ich fühle mich fragil und roh und aus irgendeinem bescheuerten Grund fangen meine Tränen wieder an zu laufen.

„Jan.“ Belas Arme schließen sich so warm und weich um mich. Seine Stimme ist ein sanftes Flüstern in meinen Ohren. „Oh, Jan. Hey, du weeßt, das ick dich liebe, ne?“

Ich nicke und heule weiter und Bela hält mich und er riecht nach Kirschen und Patchouli, aber ich vergrabe mein Gesicht an seinem Hals und trotz des Knutschflecks riecht er dort wie er selbst.

Es dauert einige Zeit, bis ich mich ausgeflennt habe. Es tut gut und trotzdem ist es mir ein wenig peinlich.

„Geht`s wieder, Süßer?“ Bela reicht mir Klopapier zum Schnäuzen, tupft mir das Gesicht ab.

„Mhmmm.“ Meine Nase ist total verstopft. „Und - wäh. Mein janzes Gesicht klebt. Ick wasch mir dit ma mit kaltem Wasser ab.“

Vorsichtig luge ich aus der Kabine, aber gerade ist die Toilette leer. Alle sind draußen bei den Stray Cats. In meinem Atem ist noch so ein komischer Schluckauf, aber als ich in den Spiegel sehe, wirkt es äußerlich nicht ganz so schlimm, wie es sich anfühlt. Bei den roten Augen denken viele wahrscheinlich einfach nur, dass ich gekifft habe – zumindest, wenn sie mich nicht gut kennen. „Wir könn och wieder reingehen. Is ja schade, wenn wa allet verpassen.“

„Sicher?“ Bela betrachtet mich nachdenklich. „Ick kann dich och einfach nach Hause bringen. Dit is echt okay.“

„Nee, nee, schon gut. Ick hätt lieber `n schönen Abend mit dir.“ Ich versuche ein Lächeln, fühlt sich gut an und es scheint anzukommen, denn Bela lächelt zurück.

„Und den Stray Cats, wa? Na, denn. Lass ma schauen, ob wir noch die letzten Songs mitbekommen.“ Er zieht mich zurück Richtung Tanzfläche.

Vor der Bühne ist es noch enger geworden und wir werden die ganze Zeit aneinandergepresst. Ich spüre einen Kuss auf meinem Oberarm. Bela lächelt mich an und das „Ich liebe dich!“ strahlt immer noch in seinen Augen.

Auf einmal zieht er aufgeregt an meinem T-Shirt. „Hey, Jan, weeßte wat? Dit wär doch och wat für uns.“

„Wat wär wat?“

„Na, kiek doch ma.“

„Wat denn?“

„Ick könnt doch och im Stehen trommeln wie Slim Jim Phantom. Matzge meinte doch, dass ick mehr Präsenz zeigen soll auf den Konzerten.“

Ich sehe hinüber zum Schlagzeuger, den meine Aufmerksamkeit gilt neben Bela vor allem Brian Setzers Finger auf der Gitarre. Einmal so spielen können.

Bela strahlt mich so an, dass ich ihn an mich ziehe und auf die Wange küsse, dann schnell einmal auf den Mund. In dem Moment sieht Slim Jim Phantom zu uns und wirft mit einem Zwinkern einen Drumstick in unsere Richtung.

Es braucht nur eine Fast-Prügelei mit einem Teddyboy, der doppelt so breit ist wie Bela, bis er den Stick wirklich sein eigen nennt. Bela so kampfbereit zu sehen, macht nach unserem Toiletten-Erlebnis auf einmal ganz andere Dinge mit mir.


1. April – Niebuhrstraße 38 b

Noch ein Brief. Er lehnt in der Küche an einer der vielen Bierflaschen, die Bela auf allen freien Flächen und nun auch dem Küchentisch ansammelt.

Mein Herz macht einen kleinen Sprung, als ich den Absender sehe. Und etwas ganz tief in mir Verborgenes zündet – wieder.

„Hey Max!

How are you? Claire and I were wondering, if you settled back in well enough in Berlin or if you are still dreaming of London?

We really loved  ...


Bela erscheint in der Küchentür. „Ah ...“ Seine Miene friert ein. Selten, dass ich Bela nicht lesen kann wie ein Buch, dass er seine Gefühle so verbarrikadiert. Langsam kommt er an den Tisch. Blass sieht er aus. Nicht auf die gute Art. „Haste den Brief von diesem John gefunden?“ Etwas schwingt in seiner Stimme mit, dass ich nicht deuten kann.

Ich will ihn schon auf meinen Schoß ziehen, aber Bela setzt sich auf einen Stuhl, einen der weiter entfernt ist als sonst und ich weiß in meinem eigenen Aufruhr gerade nicht, wie ich unsere Verbindung wieder herstellen kann.

„Ähm, ja.“

„Und? Will er, dass du wieder zu ihnen nach London ziehst?“

Die Wahrheit. „So `n bisschen.“

Belas Stuhl scharrt über das Linoleum und schon ist er halb raus aus der Küche.

„Hey!“ Ich hechte ihm hinterher, packe seine Hand und ziehe ihn zu mir herum. „Ick geh nich wieder nach London, okay?“

„... Mhm. ...“ Er mustert mich unschlüssig.

Ich presse ihn an den Kühlschrank und Bilder von der einen Silvesternacht steigen in mir hoch. „Ick mein dit ernst.“ Ich lasse ihn fühlen wie ernst und nun schleicht sich doch ein kleines Grinsen auf Belas Gesicht.

*

Am nächsten Tag sitze ich an meinen Schreibtisch, lese den Brief nochmal, aber mir fällt nicht wirklich eine gute Antwort ein, denn ich habe es wirklich ernst gemeint. Ich will nicht wieder nach London, auch wenn ich immer mal wieder die vibrierende Atmosphäre und vor allem Claire und John ein wenig vermisse. Noch mehr vermisse ich allerdings das, was sie mir gezeigt haben. Sehr sogar. Elektrische Ladung explodieren auf meiner Haut.

Es fehlt mir. Gerade erst entdeckt, soll ich es jetzt schon wieder verloren haben. Wobei – es gibt bestimmt auch in Berlin Menschen, die ...

Ich blätter in der „Tip“. Unter der Rubrik „Harte Welle“ finde ich passende Anzeigen. Ich habe sie früher schon öfter mal überflogen mit einem seltsamen Kribbeln im Bauch, aber habe mich nicht wirklich getraut.

Ich lese „... das Gefühl von Seilen, der eigenen Hilflosigkeit und Hingabe, den Wechsel zwischen Schmerz und Lust ...“ und meine Haut scheint in Flammen zu stehen. Ein Schauer läuft über meinen Rücken, den ich nicht einordnen kann. Irgendetwas aus Respekt und Angst und verdammtes Wollen.

Ich schreibe mir die Telefonnummer ab. Geld habe ich keins, aber ich weiß: Wenn ich das jetzt nicht tue, dann nie. Ich lausche in die WG, obwohl ich eigentlich sicher weiß, dass Bela noch pennt. Dann hole ich mit weichen Knien das Telefon in mein Zimmer. Beim ersten Mal verwähle ich mich, weil meine Hände so zittern.

Freizeichen.

„Hallo! Hier ist Madame Manu ...“


*
*




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LYRICS

Die Ärzte – Uns geht´s prima
Die Ärzte – Mein kleiner Liebling
Adriano Celentano –  I want to know
Stray Cats – Built for Speed
Bonnie Tyler – It`s a Heartache
Stray Cats – Ubangi Stomp
DAF – verschwende deine Jugend


INTERVIEWS

Mein kleiner Liebling

Bela: Mein erster zu glatter Popsong. Vielklang wollte mit dem Song (und ein paar „harmlosen“ anderen auf der „Uns geht’s prima“-EP) die Plattenindustrie von unserer Hit-Tauglichkeit überzeugen. Aus heutiger Sicht eine Aktion, auf die wir nicht sehr stolz sind. Allein genommen ist das Lied aber schon ein Stückchen Zuckergusspop mit einem herrlich naiven Schmunzeltext vom Drogenmonster der Band. - Quelle: Prawda 06


Das Buch Ä, S. 97

Der Song wurde (ebenso wie „Teenager Liebe“) im Zuge der Aufnahmen für die „Uns geht’s prima ...“ Von einem professionellen Studioschlagzeuger eingespielt, den Vielklang ohne Belas Wissen engagiert hatte. Bela war darüber so sauer, dass er damit drohte, die Band zu verlassen.


Slim Jim Phantom

Derjenige, der mich überzeugt hat, im Stehen zu spielen, war der erste Mischer von den Ärzten namens Matzke. Bei unseren ersten Konzerten habe ich von hinten am Schlagzeug sitzend über ein Mikro Ansagen gemacht – was die Leute irritiert hat: Wer spricht denn da? Wer unterhält sich da mit dem Schlagzeuger?

Da kam von Matzke die Idee, dass das Schlagzeug weiter nach vorne solle. »Und wenn du im Stehen spielen würdest, könnte man dich noch viel besser sehen. Das wäre schon nicht schlecht«, meinte er. Das fand ich erst mal komisch, aber dann habe ich 1982 mein erstes Stray-Cats-Konzert gesehen. Da standen alle Musiker in einer Reihe vorne am Bühnenrand, der Schlagzeuger Slim Jim Phantom in der Mitte.

Da bin ich als zugegeben ziemlich besoffener Punkrocker im Publikum ziemlich durchgedreht. Als Slim Jim Phantom dann seine Sticks ins Publikum warf, habe ich mit einem Teddy Boy darum gekämpft, der einen halben Kopf größer war als ich – aber ich muss so manisch ausgesehen haben, dass er mich mit dem Stock hat ziehen lassen.


DOKUS

Kreuzberg & das SO 36 & die Mauer

rbb - Berlin früher: Kreuzberg in drei Jahrzehnten



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Chapter 42: 1984 - Schweinetouren

Chapter Text

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Falls du gerade mit sehr ambivalenten Gefühlen und Gedanken auf dieses neue Kapitel geklickt hast: Das kann ich mehr als gut verstehen.

Was soll ich sagen ...

Dass es mehr als schwer war „einfach so“ weiter an dieser Geschichte zu arbeiten? Tja, selber schuld, wenn man real person fiction schreibt.
Dass ich mir immer noch nicht sicher bin, ob ich wirklich weiter machen kann?
Dass die Gefühlsachterbahn mehr als anstrengend war die letzten Wochen?
Dass es toll war, Bela und Farin vor einem Clubkonzert kurz persönlich zu treffen und zu erleben, wie nett und freundlich sie mit Fans umgehen, nur um ein paar Stunden später in einem Hagel übler „Witze“ zu stehen? Und ja, dass Konzert war trotzdem zu 95 % toll, aber die schlechten 5 % kleben wie Teer.
Das ich mich ärgere über die Zwei (Drei), weil sie anscheinend nicht in der Lage sind ihre Aussagen und Positionen anschließend zu reflektieren, so dass es für mich als eine der betroffenen Zuschauer*innen mitzubekommen ist?
Das ich mich ärgere über mich selbst, weil ich mich nach dem Kopenhagen-Konzert nicht kritisch zu Wort gemeldet habe z.B. im Gästebuch, obwohl ich über einige Aussagen entsetzt war?
Dass ich mich sehr darüber freue, dass es andere getan haben? Danke, Anno / Anouk!
Dass ich mich freue darüber, dass sie damit nicht einfach so durchkommen, weil sich endlich, endlich unsere Gesellschaft weiter entwickelt?
Dass ich mich freue darüber, dass die Diskussionen in den Gästebüchern - bisher – relativ okay sind?

Aber - was ist nochmal das verdammte Problem damit, eine Reflektion zumindest an die direkt betroffenen Konzertbesucher*innen zu formulieren?

Farins und Belas Aussagen auf den Clubbühnen, das extrem laute Schweigen auf ihren Homepages und die merkwürdigen „Nicht mehr alles sagen dürfen“-Statements beim folgenden Festival hinterlassen einen echt üblen Nachgeschmack.

Ich werde sie wohl schwer wieder mit den gleichen Augen sehen können, aber – das ist auch okay, denn ich habe sie noch nie komplett unkritisch betrachtet. Dieser Blick hat sich nur noch ein wenig geschärft und wenn ich die Geschichte weiterschreibe, dann wird sich das darin auch noch stärker niederschlagen.

Ein Kapitel mit dem Arbeitstitel „Groupies“ existiert schon seit ein paar Monaten, aber trägt gerade die Kapitelnummer 52.

Das wir also noch dauern.

Tja, dann gehen wir mal mit dem fiktiven Jan und Bela zusammen 1984 auf Tour.

Alles Liebe an euch, The Windmills



* Teenagers in Love *





1984 – Schweinetouren





28. April - Flughafen Tempelhof, Proberaum

Es kracht.

Und zwar richtig.

Gestern beim „Konzert gegen den Knast“ in der TU Mensa war vor und auf der Bühne noch alles super schick.

Gitti hatte ein Transpi gebastelt auf dem stand: „Alles Gute für eure Europatour! Eure Fans!“ Die Gute steht uns so loyal gegen die ganzen Anfeindungen aus der Szene bei, es hat mir echt fast Tränen in die Augen getrieben.

Aber heute haben wir - mal wieder - ein bandinternes Problem und ich hätte es kommen sehen können, aber – darauf war ich dann doch nicht vorbereitet.

Es beginnt damit, dass Hans bei der Bandprobe Bela und mich an den kleinen wackligen Tisch im Raum ruft.

„Also, ich habe mir überlegt, dass wir jemanden in der Band brauchen, der sich um die finanziellen Belange kümmert. Und durch mein BWL-Studium würde ich sagen, dass ich dafür die besten Qualifikationen habe. Außerdem möchte ich das nicht auch noch dir aufbürden, Jan, auch wenn du das sicher könntest. Du bist immerhin unser exklusiver Songschreiber und machst den absolut größten Teil der kreativen Arbeit mit den Texten und Melodien.

Verblüfftes, nach ein paar Augenblicken, unangenehm lautes Schweigen im Proberaum. Ich warte darauf, dass Hans etwas zu Belas Verdiensten in der Band sagt, aber er sieht mich nur beifallsheischend an.

Belas sonst so muntere Miene ist komplett eingefroren. Er dreht langsam den Kopf in meine Richtung. Seine Augen sind riesig, liegen groß und fragend auf mir. Schmerz zeigt sich in jeder Pore seines Gesichts und ich will ihn am liebsten einfach in den Arm nehmen, aber halt nicht vor Hans.

Was für eine Scheiß-Aussage! Mir ist es peinlich, auch weil es schon ein wenig stimmt mit dem Künstlerischen, aber eben auch nicht.

Eigentlich mag ich den langen Kerl, aber seitdem wir zusammen die Band haben, ist  er mir ehrlicherweise vor allem durch den Besitz und das Fahren seines VW-Busses aufgefallen. Aber ich will gerade nicht ehrlich sein, denn – ich habe Schiss, dass der schon länger schwellende Streit jetzt richtig losbricht, wenn wir anfangen über „Wer trägt was zur Band bei?“ zu diskutieren.

Deswegen sage ich: „Okay.“

„Was heißt `n hier okay?“ Bela schlägt mir leicht gegen den Oberarm und es zieht durch meinen ganzen Körper. Ich versuche, ruhig weiter zu atmen, aber habe das Gefühl, dass Flammen in der Luft zwischen uns dreien im Raum züngeln. Mir wird heiß und ich streiche mir versteckt über die Stelle, auf die Bela geschlagen hat.

Der hat seine Aufmerksamkeit wieder auf unseren Bassisten verlagert. „Was bläst du dich `n überhaupt hier so auf, ha, Hans?“

„Wenn du mal wieder keine konstruktiven Vorschläge hast, Bela, dann sei doch einfach ruhig. Oder ...“ Hans setzt eine rhetorische Kunstpause, die einfach nur eklig ist. „Du steigst einfach aus. Deine Künste am Schlagzeug werden mit Sicherheit leicht zu ersetzen sein. Haben wir ja während der Studio-Aufnahmen gesehen. Außerdem hab ich Wölli schon gefragt, ob er Interesse hätte.“

Ich atme entsetzt ein, Bela wird schneeweiß.

„Was?“ Auf einmal bin ich aufgesprungen.

Bela wirkt kurz, als würde er einfach umkippen. Bei dem wenigen Schlaf und Essen, die er seinem Körper seit Monaten gönnt, wäre das kein Wunder.

„Naja, ich hab halt ... nur mal so.“

Ich sehe auf Hans hinunter, der mich etwas betreten ansieht. Gut so. „Nix, nur mal so.“ Ich lege Bela die Hand auf die Schulter, spüre das Zittern darin, kann nicht lesen ob das Wut ist oder – Angst? Verdammt.

Auf einmal kehrt die Farbe rasant in Belas Gesicht zurück. Er steht ebenfalls auf und beugt sich zu Hans hinunter: „Jetzt pass mal auf, du blasierter Wichser: Jan und ich – wir haben die Ärzte aus der Taufe gehoben und du bist der Typ, der wirklich keinen Funken Talent hat für Musik und trotzdem dabei sein darf. Wie wär`s denn, wenn wir uns mal so auszahlen, wie hier Songs geschrieben und Texte beigesteuert werden? Hm?“

„Ähm, ja, also ... äh ...“

„Genau.“ Bela funkelt ihn so lange böse an, bis Hans wegsieht.

„Ähm, also, ich wollte jetzt auch nicht ... Vielleicht sollten wir besser heute noch proben, oder nicht? Also, wegen der Tour und so“, stammelt er sich durch seine Antwort.

Ich nicke, bin froh der aufgeladene Atmosphäre zu entkommen. „Ja, lass anfangen.“

Während der anschließenden Probe summt mein Kopf wie ein hochgelaufenes Kraftwerk. Die Anspannung bricht als Strom kompletten Irrsinns aus meinem Mund. Ich übertreibe das Gefühl in mir vollkommen, bis es nur noch grotesk ist.

Bela, dessen ganze Haltung zeigen soll, wie scheiße er alles, besonders Hans, aber wohl auch mich findet, vertrommelt sich ständig und es tut mir so leid, weil ich weiß, wie oft er deswegen an sich zweifelt. Er blickt grollend zu mir hinüber. Also lege ich noch eine Schippe verbale Diarrhoe drauf.

Das führt aber nur dazu, dass er mir mit einem seiner Sticks einen extrem langen Mittelfinger zeigt. Nach einigem Überlegen führe ich mein kleines Improlied über die Verteilung unseres Geldes weiter und sehe, wie sich Bela das Grinsen nicht mehr verkneifen kann.

Angefeuert davon übertreibe ich es natürlich vollkommen und schieße mir am Ende mit zwei Fingern symbolisch den Kopf weg und sinke zu Boden. Bela eilt an meine Seite und spielt die weinende Witwe bis ich meinen Tod zu Gunsten eines Lachanfalls aufgeben muss, der durch Belas Kitzelattacke noch maximal erhöht wird und ich keine Luft mehr bekomme. Wir tollen auf dem dreckigen Boden des Proberaums herum, aber gerade könnte mir nichts egaler sein. Bela lacht wieder.

Hans schüttelt über uns nur den Kopf, murmelt schließlich irgendwas von Uni und trollt sich.

Als sich die Tür hinter ihm schließt, kann ich wieder atmen. Bela legt sich neben mich auf den Boden. „War echt - richtig, richtig! – Scheiße heute der Anfang.“

Ich nicke.

„Hans ist echt `n Arsch.“

Ich nicke wieder.

„Und du auch! Warum sachste eigentlich nüscht dazu, wenn er mich so angeht?“

Der Satz „Er meint es nicht so.“ bleibt mir zum Glück im Hals stecken. Den hat meine Mutter immer mal wieder zur Beschreibung von Gerd gebracht, mit der unterschwelligen Handlungsaufforderung an mich „Mach kein Drama draus.“

„Vielleicht weil ick ihn schon seit der 7. Klasse kenne“, formuliere ich schließlich vorsichtig.

„Mhmm“, brummt es neben mir. Mehr kommt nicht.


29. April - Flughafen Tempelhof, Proberaum

Und Bela ist wieder zu spät. Wenn er in der WG gewesen wäre, hätte ich ihn zumindest am Schlaffitchen hierher schleppen können, aber er wollte unbedingt seine letzte Nacht in Berlin bei Gitti verbringen, was irgendwie verständlich ist, denn wir sind nun fast nonstop einen Monat unterwegs.

Als er endlich vor dem Proberaum auftaucht, haben Hans, Matzge und ich schon alles in unserem geliehenen Robben & Wientjes Bus für die Tour verstaut. Nopper hat das Meiste geschleppt, den er ist unser Fahrer-Roadie und mein Rücken tut mal wieder weh.

Immerhin ist Bela dieses Mal nur 30 Minuten zu spät, für seine Verhältnisse also fast pünktlich.

Ich bin merkwürdig nervös, weil ...

„Hey, Bela!“ Ich ziehe ihn bei einer Pinkelpause in Westdeutschland zur Seite.

Er grinst mich an. „Na, Lust auf Knutschen?“

„Nee, dit Gegenteil.“

„Häh?“

„Also, nich dit Gegenteil, aber ... Könn wa auf der Tour ...? Ick will nich, dass die andern – also, dass die andern mitbekommen, dass wir beede ...“

Seine verblüffte Miene verwandelt sich in eine verletzte, dann traurige. Ich würde gerne etwas sagen, damit seine Mundwinkel wieder nach oben wandern, aber es ist mir so eine Herzensangelegenheit, dass ... Und ich weiß ja selbst, dass es scheiße ist, hatte zwei schlaflose Nächte deswegen.

Schließlich nickt Bela – zögerlich, aber er nickt.

„Danke, ey!“ Ich küsse ihn auf die Wange.

„Sicher, dass auf die Wangen küssen; okay ist?“ Er zieht eine Augenbraue hoch.

„Menno, so war dit nu och wieder nich gemeint.“

„Sorry. Konnt ick mir nich verkneifen.“

„Ick hab dich lieb. Dit weißte, oder? Och wenn ick so kompliziert bin manchmal ...“

Das Funkeln kehrt in Belas Augen zurück und das schiefe Grinsen, das ich so liebe. „Mann, sach doch nich solche Sachen, wenn ick dich dann nich küssen darf.“


A9 Richtung München

Wir sind unterwegs im Süden der Republik, der auf mich nach den vielen Reisen mit Ecky nach Italien nicht mehr so exotisch wirkt. Aber Bela lacht am Anfang alle fünf Minuten über den Dialekt. Problematisch wird es allerdings, wenn er den Inhalt dechiffrieren soll.

„Häh?“ Hilfesuchend schaut er zu mir, als Sepp, der Arena-Veranstalter in München loslegt: „Supa, das a jetz do seits. I zeig eich a moi, wo`s eich umziegn kennts.“

Ich übersetze für ihn und Nopper, der ähnlich ratlos aussieht. Irgendwie versteh ich sowohl Dialekte als auch andere Sprachen relativ schnell, vielleicht durch meine Reisen.

Nur das Imitieren muss ich noch ein wenig üben, stelle ich fest, als ich in München das Publikum mit „Griass eich oalle mitanand!“ begrüße und einen ähnlichen „Häh?“-Blick wie von Bela ernte. Dabei war mein sächsisch bei „FDJ Punks“ gar nicht so schlecht – finde zumindest ich.


1. Mai - Arena, München

Unser zweiter Auftritt im Arena. Gerade haben wir den Soundcheck hinter uns gebracht, als ein älterer Herr auf uns zukommt.

„Sag`ns a moi, i versteh des ned, wo konn i ...“

Bela sieht den Mann in der Lodenjacke mit offenem Mund an, dann mich: „Wat hat er gesacht?“

„I suach hoit d`Leit, wo ma a Bluad spendn ko.“ Lodenmantel deutet auf ein Plakat unseres EP-Covers an der Wand.

Ich wende mich zu Bela. „Ick gloob, er will gern Blutspenden.“

„Hä? Wieso `n ditte?“

„Also, um a moi ganz ehrlich zum sei: So ganz schaugn sie ned aus, ois taten sie beim Roden Kreiz arboaden.“

„Der verarscht uns.“ Bela sieht mich sehr verunsichert an. „Oder?“


Um Punkt 20 Uhr, weil ich laut Bela einen Pünktlichkeitsfimmel habe, stehen wir hinter der Bühne und hören unsere, auf Band aufgenommene, Ansage. Noch zwei Minuten. Bela greift unter die Treppe, die wir gleich hochsollen, und zieht eine Flasche Jacky hervor, schraubt sie auf und nimmt erst einen großen, dann noch einen kleineren Schluck.

„Wat guckt ihr denn so? Willste och een?“ Er hält die Flasche Hans hin, bei mir traut er sich wohl nicht. Auch Hans winkt angeekelt ab. „Ach menno, jetz tut halt nich so heilig. Dit is jut für den Adrenalinkick vor dem Auftritt.“

Heute Abend stellt er sich bei „Kamelrallye“ zu Hans vorne ans Mikro und singt mit. Es tut gut die beiden „Streithansel“, wie die in Bayern wohl sagen würden, mal so harmonisch miteinander zu sehen. Das ist die Band, die ich will – und brauche. Touren ist anstrengend genug.


Danach geht es ab nach Österreich und dann in die Schweiz. Ausland. Yeah! Also, fast.

Und vor jedem Auftritt wiederholt sich Belas neues Whisky-Ritual. Nach zehn Abenden gehört es sogar für mich schon fast dazu.

Und dann wieder nach Süddeutschland.

Für ein Konzert.

Und rauf Richtung Hamburg für ein weiteres. Und wieder runter ...

Unser Tourbus hüpft wie ein Flummi über die Landkarte und Autobahnen der drei deutschsprachigen Länder.


5. Mai – Hannover

Wir fahren durch Hodenhagen, was bei Nopper und Bela für große Begeisterungsstürme sorgt. Bela will unbedingt hier mal ein Konzert spielen, aber gerade müssen wir vor allem in die hannoversche Innenstadt, die alternativeren Plattenläden abgrasen, denn heute kommt unsere neue EP raus.

Schließlich werden wir im „Boots“ in der Nähe der Lister Meile fündig.

„Ick fass es nich.“ In Belas Augen spiegeln sich fast so was wie Tränen, als er mir die weiße Hülle mit dem roten Kreuz darauf hinhält.

Und weiter geht es – wieder Richtung Süden.

Irgendwann fällt mir neben Noppers extrem stickenden Füßen - Bela nennt ihn „Käpt`n Käsefuß“ - auf, dass Hans bisher noch nicht einmal seine Klamotten gewechselt hat. Ich seufze und öffne das Fenster. Draußen Bergpanorama. Na, immerhin etwas.

Wir sind wieder in Österreich.


Als wir am Abend unsere Platte auf der Anlage eines Clubs in Salzburg hören, ist unsere gute Laune schnell wieder vorbei.

„Ey ...“ Bela sieht mich mit gerunzelter Stirn an. „Sin dit wirklich wir?“

„Ich fürchte schon.“

„Dit ... dit klingt aber ma janz anders, als ick mir dit vorgestellt hab.“

„Viel zu sauber, wa?“

„Ja. Och, keen Wunder, wenn se so `n dummen Studiotrommler holen, anstatt dit mich selbst machen zu lassen. ... Hey, Matzge!“, brüllt Bela durch den Saal. „Sach ma, wat habt ihr denn da in der Postproduktion mit unsern Songs gemacht?“

„Was sollen wir schon gemacht haben? Wir haben sie halt professionell abgemischt.“

„Ja, aber dit klingt gar nich nach die Ärzte.“

„Wie gesagt, dass ist professionell gemacht. Wenn ihr wirklich irgendwann mal zu einer Plattenfirma wollt, dann könnt ihr ja dort schlecht so`n Geschrammel als Visitenkarte abgeben.“

„Aber so sin wir halt.“ Bela sieht hilfesuchend zu mir.

„Ick kann mich och nich mit dem Sound identifizieren.“ Es ist echt schade, dass unser Baby wirkt wie ein Kuckuck, der uns ins Nest gelegt worden ist.

„So, so.“ Matzge zieht die Augenbrauen hoch und starrt mich lange an. „Also, tut mir leid ihr beiden, wenn ihr nicht zufrieden mit dem Produkt seid, aber wir als eure Produzenten haben da das letzte Wort."

„Echt? Also, ick weeß nich", begehre ich auf, weiß aber nicht, wie sich das jetzt noch ändern lassen soll. "Dit is jetz echt `n lauer Kompromiss. Mit der ziemlich wenig bissigen Liedauswahl bin ich ja noch mitgegangen, aber jetz – dit is schon echt extrem weichgespült.“

„Dann sucht euch halt andere Leute, die an euch glauben.“ Und - zack! – dreht sich Matzge um und ist weg.

Bela und ich sehen uns an.

„Oje. Mit dem muss ick wohl heute extra einen saufen gehen, bis er sich wieder beruhigt!“

„Tut mir leid.“

„Mir nich direkt.“

„Na, dann viel Spaß euch beiden.“ Gerade ist mir auch ein wenig nach mich umdrehen und gehen. Irgendwie scheint sich Bela gerade mehr für Matzge als für mich zu interessieren.


10. Mai - Wien, Österreich

Im altehrwürdigen Wien kommen wir in etwas unter das „Zum Fiaker“ heißt. Es soll wohl dem ganzen einen traditionellen Anstrich geben, aber der Name Absteige wäre ehrlicher gewesen.

Die Zimmer reihen sich wie kleine Pappschachteln aneinander, getragen von einem roten Teppich, der mehr Brandlöcher hat als Substanz. Eine Tür weist in Fußhöhe ein Loch auf.

Zwei Frauen, gehüllt in sehr viel Schminke und auffallend wenig Stoff, quetschen sich im Flur an uns vorbei.

„Is dit `n Stundenhotel hier?“ Nopper zündet sich eine Zigarette an und ich reiße das Fenster im Flur auf. Es bleibt unklar, ob er das kritisch oder begeistert meint.

Belas Grinsen ist dagegen eindeutig. „Meinste?“

Oje. Mit den beiden plus Matzge auf Tour zu sein, ist echt ... Es holt aus Bela die immer dominanter werdende Partyseite noch mehr heraus.

Hans, der auf der Bühne ehrlich gesagt den einfachsten Job hat, sieht immer noch recht fit aus. Aber ich bin nach zwei Wochen non-stop Auftreten ganz schön fertig.

Und Bela sieht aus wie ein Gespenst, denn er geht nach einem Konzert natürlich nicht ins Bett, sondern mit Matzge und Nopper noch auf die Piste, wie sie es nennen.

Im „U4“ kämpfen wir außerdem noch mit einigen Problemen: Belas Kopfhörermikro knallt mehrere Mal mit einem nervenzerreißenden Feedback-Fiepen durch, bis er es sich abreißt und in Richtung des untalentierten Monitormanns wirft. Danach ist die Stimmung zwischen uns und den Veranstaltern nicht direkt besser und das Mikro komplett im Arsch. Solche Rockstargesten wären wohl ertragbarer, wenn wir wenigstens genug Geld für ein neues Mikro hätten.

Beim Soundcheck blendet mich Immer wieder ein Scheinwerfer. Ich brülle in den leeren Saal: „Ey, kann ma jemand dit Scheißlicht ausknipsen.“ Danach haben wir unseren Ruf als Berliner Arschlöcher in dem Club echt weg und natürlich schaltet niemand das nervige Licht aus.

Schließlich stürme ich selbst von der Bühne und gehe rüber zum Lichtdeck. Dort steht eine Frau in vollem Lack- und Leder-Ornat, aber dem kann ich gerade nicht die eigentlich nötige Aufmerksamkeit schenken.

„Hey, ick hab janz klar jesacht, dass ick keen Licht in die Fresse will.“ Die Bierdose, die mich aus genau diesem Grund mal im SO ausgeknockt hat, habe ich noch nicht vergessen. Nochmal einen Auftritt samt Gehirnerschütterung absolvieren, steht nicht mehr auf meiner To-do-Liste.

„Aba du schaugst so guad aus, Kloaner“, säuselt sie. „Do hob I ma dacht, dass du a bissl extra Spot bekommen sollst.“

„Sind Sie ... Bist du die ... Lichtfrau hier?“

„Na. I bin die Resi.“ Sie reckt sich über das Lichtpult und streckt mir ihr ansehnlich verschnürtes Dekolleté entgegen. Für einen Moment kann mein Körper nicht entscheiden, ob er geil oder wütend sein möchte, dann springe ich über die Absperrung nach hinten und drehe wild an den Reglern, bis die gleißende Sonne über der Bühne endlich erlischt. Mann ...

„Kann i da noch was guades tun, mein Hübscher?“ Ihre Finger zupfen an meinen Haaren herum und gleich flipp ich echt aus.

„Hey, Resi?“

„Ja?“

„Wenn de mir wat wirklich Jutes tun willst, ne, dann könnste losziehen und `n paar Eis besorgen. Ick komm hier drin echt um vor Hitze.“

„Aha.“ Sie wirkt nicht direkt begeistert.

„Zitroneneis, okay?“ Ich lasse mein Lächeln erstrahlen wie sie zuvor die Scheinwerfer und auf einmal nickt sie. „Dann spiel`n wir och dit Lied. Extra für dich.“

Leider lässt Resi auch nach unserem Gig nicht locker.

„Kann i no was tun für di?“

Ja, verpissen, denk ich, aber ihre interessante Kleidung lässt mich innehalten. Ich streiche andächtig über den Lack ihrer Handschuhe und Begehren steigt in mir hoch. Ich weiß nicht mal wirklich auf was.

„Ey, da bist du ja.“ Hans steht auf einmal vor mir. „Wir können zurück ins Hotel.“

„Des is wirklich sehr schade“, flüstert mir Resi ins Ohr und ein kleiner Teil von mir stimmt ihr zu, dann ziehe ich mit Hans ab.

Tatsächlich verbringe ich gerade öfter Zeit mit ihm als mit Bela. Während er Fachliteratur für sein BWL-Studium liest, schmökere ich in Biographien von historischen Persönlichkeiten. Gerade bin ich bei Gandhi in Indien.


Nach Wien kommt Linz, dann geht es durch die Berge nochmal rüber in die Schweiz.


Matzge nennt es Promotion für den aufsteigenden Stern am Pophimmel, wir nennen es bandintern: Schweinetour.

Im Bus Richtung Basel legt mir Bela seine Hand auf den Oberschenkel, sehr weit oben auf den Oberschenkel und flüstert mir ins Ohr. „Ich will, dass de heute Nacht mit mir schläfst.“

Seine Worte ziehen durch mich wie ein Blitz und seine Finger wandern noch ein Stück höher. Er weiß genau, was er mit mir macht. Ich muss mich anders hinsetzen und meine Hose zurecht ziehen. Dieser Aspekt, eigentlich unsere ganze Beziehung, ist auf der Tour ganz schön auf der Strecke geblieben. Tja, selber schuld, Vetter. Heute Abend!

Aber als wir in Basel ankommen ...

Matzge, der so ein wenig als unser Tourmanager fungiert, zeigt uns im Hotel die Zimmer.

„Aber da is ja nur ein Bett drin“, sage ich aus einem undurchdachten Impuls heraus.

„Tja, wir haben nur zwei Einzel- und ein Dreier-Zimmer bekommen. Da gab es wohl irgendein Missverständnis.“

„Keen Problem“, sagt Bela. „Jan und ick nehmen einfach zusammen `n Einzelzimmer.“

Ich zucke hart zusammen. Noch offensichtlicher kann man ja wohl nicht klarstellen, was wir beide ...

Und natürlich mustert uns Matzge mit seinem patentierten Falkenblick. „Wie jetzt?“ Er sieht Bela irritiert an, dann mich. „Ich dachte halt: Farin eins, Hans eins und Nopper, du und ich – also die Partyleute – wir gehen ins Dreier.“

„Oh.“ Bela sieht mich betroffen an. In mir tobt ein sehr ambivalenter Gefühlsmix. Ich will Bela. Aber nicht, wenn Matzge weiß, dass wir uns ein schmales Bett teilen.

„Aber wir ...“, fängt Bela an, blickt hilfesuchend zu mir.

„Schon okay“, sage ich schnell. Ich will nicht, dass Matzge und Nopper das von Bela und mir wissen. Oder ist das denen schon längst bekannt? Mir wird heiß – sehr, sehr heiß - bei dem Gedanken. Dann eiskalt.

„Aber ...“ In Belas Blick tanzen riesige Fragezeichen.

Ich will ja auch Zeit mit ihm haben, endlich mal mit ihm allein sein, nicht nur versteckt irgendwie zwischen den Sitzen seine Hand berühren. Doch auf so einer Tour klebt man ja fast 24 Stunden aufeinander. Da bleibt wenig im Verborgenen und noch weniger Privatsphäre. Eigentlich nur auf den Hotelzimmern und das hat - so wie heute – einfach oft nicht geklappt.

Ich kontrolliere meine Miene, kann Bela nicht in die Augen sehen. „Die Tour is ja anstrengend jenuch und ...“ Ich will das nicht vor Matzge mit ihm klären. „Besser jeder hat sein eigenet Bett, oder?“

Bela blickt mich einfach nur verunsichert an, lässt dann den Kopf enttäuscht hängen.
„Wo wollen wir denn heute Abend hin, hier in Basel?“, dröhnt Noppers Stimme den Flur runter und schon hat er Matzge in Beschlag genommen – und Bela mich. Er zieht mich in eine Ecke des Flurs. „Sach ma ... Wat sollte dit denn? Jetz ham wir wieder keen Zimmer zusammen und ick, also, ick würd echt gern endlich mal wieder mit dir ...“


Erschöpft und traurig-genervt schlurfe ich nach einem echt guten Konzert im Basler „Totentanz“ mit Hans zurück ins Hotel und in mein tolles Einzelzimmer. Bela ist natürlich wieder mit der Nopper-Matzge-Saufgang unterwegs.

Ich bin genervt, lese mit grimmig gerunzelter Stirn über Gandhis gewaltlosen Widerstand. Nach einer Stunde schalte ich das Licht aus, aber schlafen funktioniert auch nicht wirklich bis ...

Eine Berührung an meiner Schulter. Ich fahre hoch und stoße mit etwas Hartem zusammen.

„Autsch! Menno!“

„Was ...?“

„Mann, dit war meine Nase“, brummelt es vor mir im Halbdunkel.

„Bela?“

„Ja, du Schnellchecker!“

„Wat heißt `n hier ...?“

Eine Hand über meinem Mund, die nach Rauch riecht, sein Atem in meinem Gesicht intensiv nach irgendeinem Alkohol.

„Shhht! Die Wände sind hier aus Papier“, wispert er. „Man kann allet im Nachbarzimmer hören. Wirklich - allet! – und Hans ist nebenan.“ Seine Hand auf meinen Lippen ist heiß. Ich versuche, anhand des Lall-Levels seinen Gesamtzustand abzuschätzen, wie viel er getrunken hat. Klingt überraschend nüchtern. Oder seine Toleranz ist mal wieder extrem hoch.

Im Halbdunkel sehe ich, wie er einen Finger vor seinen Mund legt. „Leise! ... Okay?“

„Mhmmm.“ Seine Hand auf meinem Mund drückt so fest zu, dass ich gerade noch so Luft bekomme. Dann lässt er unvermittelt los und – ich wünsche mir den Druck zurück, aber weiß nicht, wie ich es Bela sagen soll.

Er trägt nur einen Slip und ein T-Shirt, das er sich nun mit einer schnellen Bewegung über den Kopf zieht. Im flackernden Licht der Hotel-Neonreklame leuchtet sein heller Oberkörper rhythmisch im Dunkel des Raumes auf.

„Ich bin extra früher ins Hotel zurück. Hab Matzge und Nopper gesagt, dass ick Kopfweh hab.“ Er hebt die Bettdecke hoch, schlüpft darunter und kniet sich über mich. „Oh, Jan ... Ick muss dich fühlen.“

Seine Finger gleiten unter den Bund meines T-Shirts. Mit einem Ruck schiebt er den Stoff hoch und beugt sich über mich, leckt über eine Brustwarze, beißt hinein. Ein tiefes Stöhnen entfährt mir und sofort habe ich wieder Belas Hand über meinem Mund. Gut! Mehr!

Er setzt sich auf meinen Schoß und wir seufzen beide auf. Ja, wir brauchen das wirklich beide. Meine Hände landen an seinen Hüften. Wahrscheinlich packe ich viel zu hart zu, weil ich so sehr will, dass er sich auf mir bewegt. Er vergräbt sein Gesicht an meinem Hals, leckt - küsst - beißt und endlich ist seine Hand wieder über meinem Mund, weil es viel zu gut ist und ich wohl viel zu laut.

Bela klettert von mir runter, lässt sich zu mir auf das schmale Bett sinken, zeigt mir, dass ich mich zur Seite drehen soll. Er legt sich hinter mich, seinen Kopf stützt er an meiner Schulter auf, so dass er mich weiter küssen kann. Seine Hand wandert in meine Pyjamahose, mit der anderen hält er mir den Mund zu. Im Rhythmus des Auf und Abs seiner Finger an mir, presst er seine Hüften und seinen Ständer an meinem Po. Es fühlt sich verdammt gut an. Sein Mund grob auf meinem, um mein Stöhnen mit seinen Lippen zu ersticken. Seine Bewegungen werden härter, schneller, dann lehnt er sich ein Stück zurück.

„Jan?“, keucht er an meiner Schulter.

„Hmmm?“

„Ick würd dich gern ficken.“

Es peitscht durch meine Synapsen wie ein Orkan und unwillkürlich presse ich meinen Hintern fest gegen Belas Ständer.

„Ja“, seufzt es hinter mir und Bela beißt mir in den Nacken. Alle Härchen stellen sich dort auf und ein langer, wilder Schauer läuft meinen Rücken hinunter. Belas Hände am Bund meines Pyjamas, er zieht ihn ein Stück hinunter und nun ist nur noch der dünne Stoff seines Slips zwischen uns.

Ich drehe mich zu ihm. „Bela ... Ick ... Ick würd echt gern ja sagen, aber dit is so fremd hier und ...“

Kurz seh ich im Licht der Neonreklame seine Augen enttäuscht aufleuchten, dann nickt er. „Okay. Tschuldige. Dit war echt `ne dumme Idee für das erste Mal, aber ... ick bin einfach grad so rattig und ... Magst du mich ficken? Is och okay.“

„Eigentlich schon, aber ...“

„Och nich so gut hier, wa? Aber, oh, fuck, ich brauch dich ...“

„Ick hab `ne Idee.“

„Ja?“ Hoffnung leuchtet in seinen Augen auf.

Ich rappel mich hoch. „Leg dich hin.“ Es klingt fast wie ein Befehl.

Belas Augenbrauen gehen kurz in die Höhe, dann gehorcht er. Ganz still liegt er vor mir und sieht zu mir hoch. Ich beuge mich über ihn, küsse ihn. Seine Lippen schmecken nach einer langen, konsumfreudigen Nacht, nicht wirklich angenehm. Ich küsse seinen Hals, besser, aber immer noch riecht alles nach Rauch. Ich lecke über seine Brustwarzen, halte ihn nieder, als er mich auf sich ziehen will. Auf den Knien rutsche ich langsam ein Stück zurück, während ich mich seinen Bauch hinunter küsse. Er ist so verdammt dünn. Ich halte geschockt einen Moment inne.

Er setzt sich ein Stück auf und ich kann seine Augen auf mir fühlen. „Alles okay?“ Er sieht mich fast ein bisschen besorgt an. „Was haste `n vor?“

Obwohl ich mir gerade ein wenig unsicher bin, würde ich ihn gern überraschen. Außerdem - wir hatten seit zwei Wochen nichts mehr miteinander. Etwas, das sich anfühlt wie unbändiger Hunger auf ihn, jagt durch mich. Und auf einmal will ich ihn. Will ihn wirklich, will ihn ganz. Ohne Unsicherheiten.

„Abwarten.“ Vorsichtig streiche ich über seine Hüften. Meine Hände wirken riesig auf seiner im Halbdunkel leuchtenden Haut. Ich fahre mit meinen Fingern in den Bund seiner Unterhose und ziehe sie langsam runter.

Oh ja. Er hat wirklich sehr Bock. Und ich ein wenig Herzklopfen, obwohl ich inzwischen seinen Schwanz kenne. Doch so nah, hab ich mich bisher noch nicht herangetraut. Die gewohnten Zweifel übernehmen das Regiment. Er hat so viel Erfahrung. Und ich? Nicht nachdenken, Vetter!

Ich lecke über das V seiner Lenden. Salzig. Hmmm. Ich bin überrascht, wie sehr ich den Geschmack mag. Ich hole tief Luft und lecke über seinen Schwanz.

Bela krümmt sich stöhnend ein Stück zusammen, sein Bauch spannt sich an. „Oh, ja. ... Bitte ...“.

Ich gehe in Gedanken durch, was Bela immer mit mir macht, dass es sich so krass gut anfühlt. Langsam lasse ich meine Lippen über seinen Schwanz sinken.

Ein Grollen dringt aus seiner Kehle und er schiebt mir seine Hüften entgegen, was dazu führt, dass ich einen Moment nicht atmen kann. Nach dem Moment der Panik macht es mich an, verdammt an. Ich mag das würgende Gefühl in meinem Rachen, mag es so unvermittelt zu spüren, wie geil Bela es findet.

Der scheint sich allerdings daran zu erinnern, dass das vielleicht keine gute Idee war. „Sorry, sorry, sorry ...“ Auf einmal kniet er vor mir. „Alles okay? Dit tut mir so leid. Es war einfach soooo jut.“

„Alles okay. Es war ...“ Wie viel will ich ihm sagen? Es fühlt sie sich so vulnerabel an. „Also ... ick ... Wir könn gern weitermachen.“

„Echt?“ Seine Augen leuchten und obwohl er so nach Schnaps, Bier und Rauch riecht, muss ich ihn küssen.

„Mhmmm. Ich kann mich in deinem Mund schmecken“, keucht Bela und klettert auf meinen Schoss, schlingt seine Beine um mich. Anscheinend gefällt ihm das.

„Ick kann gern weitermachen.“

Er grinst und ich hebe ihn hoch, lege ihn wieder vor mich und nehme ihn ganz in den Mund, stöhne um ihn herum, denn ...

„Magste dit?“, höre ich Bela über mir keuchen und mache ein gutturales Geräusch von Zustimmung, weil mehr in dieser Position gerade nicht geht.

Bela wollte wohl noch mehr kommentieren, aber das geht in einem lauten, lauten „Oooh fuck!“ unter, dann hält er sich selbst den Mund zu. „Bitte mach dit nochmal“, flüstert er ein paar hektische Atemzüge später und ich brumme nochmal. „Oooh, wie dit vibriert ...“, seufzt Bela über mir.

Ich scheine mich wirklich nicht dumm anzustellen, denn nach ein paar Augenblicken japst er: „Hey Jan, wenn de nich schlucken willst – dann – dann wär jetz – echt `n guter Zeitpunkt ...“ Ich schüttel nur den Kopf und ziehe die Luft ein. Keine Ahnung, warum jemand das Blasen genannt hat.

„Jaaan ...“ Bela klingt fast ein wenig verzweifelt. Inzwischen kenne ich seine Signale, wenn er kurz davor ist zukommen. Sein Atem wird immer brüchiger, setzt teilweise ganz aus. Seine Hände an meinem Gesicht. Er versucht mich von seinem Ständer wegzuleiten, aber ich lege einfach nur eine Hand auf seine und mache weiter.

„Fuck ...“, höre ich ihn fluchen.

Ein Teil von mir registriert, dass das alles viel zu laut ist, aber dem Rest von mir ist das gerade einfach nur scheißegal.

Bela hat sich auf die Ellbogen gestützt. „Oh, ich darf gar nich hingucken“, stöhnt er versucht leise. „Dit sieht viel zu jut aus. Oh ...“ Seine Hüften stoßen leicht nach oben und ich kann nicht mehr an mich halten. Meine Hand wandert in meine Pyjamahose und ich komme noch vor ihm.

Er explodiert förmlich in meinem Mund. So intensiv habe ich noch nie gespürt, wie er kommt. Auch wenn ich kein Suchtmensch bin, davon ... Ich schlucke, bin nicht mehr erstaunt, dass ich das alles extrem gut finde.

„Oh, Mann.“ Bela sieht mich im Halbdunkel des Zimmers mit großen schmelzenden Augen an.

„Ick gloob, ick hab `n neuet Hobby“, grinse ich ihn an.

„Ick gloob, ick och“, grinst Bela und ich bekomme einen Lachanfall wegen Endorphinen und Orgasmus und Bela und überhaupt und wenn wir unsere Nachbarn bis jetzt noch nicht geweckt haben, dann ...

„Vielleicht besser du gehst jetz zurück in euer Zimmer, bevor die andern zurückkommen.“

„Och, nee. Ick will hier bei dir bleiben, du Künstler des Oralverkehrs.“

Ich muss über die Formulierung schon wieder so lachen, dass ich fast aus unserem schmalen Bett kippe. Verdammt, wir sind viel zu laut.

„Ick hätt dich ja och lieber hier bei mir, aber ... Dit is doch voll auffällig.“

Bela setzt einen „armer, schwarzer Kater“-Blick auf und ich streichle ihm über den Kopf. „Komm, Süßer. Husch! Rüber.“

„Menno ...“, schmollt er, dann gibt er mir noch einen letzten Kuss, der wieder in einer Knutscherei ausartet bis ich mich mit einem Ruck von ihm löse. „Wir müssen och einfach pennen, um für morgen und übermorgen und überübermorgen und überüber...“

„Ja, ja. Schon jut. ... Hey, danke nochmal. Dit war echt ...“ Er grinst und ich auch, weil  – Warum wusste ich nicht schon länger, dass ich das mag?

Bela ist kaum zur Tür raus, als ich eine weitere Tür klappen höre.

„Alles okay bei Jan?“

Hans.

„Äh, ja ... Warum?“

„Ich wollte gerade nach ihm sehen, weil da so komische Geräusche in seinem Zimmer waren, aber ... Warst du bei ihm?“

„Ach ... Also, ja die Geräusche ... Ähm, das war weil ... Ähm, also, der Jan hat manchmal so Alpträume und da ...“

„Das klang aber nicht nach Alpträumen. Habt ihr euch geprügelt?“ Hans klingt ernsthaft besorgt.

„Jan und icke? Neeeeee. Wir doch nich. Quatsch. ... Wir ... Also, wir ham nur ... Ähm ...“

„Also, am Anfang klang es ehrlich gesagt eher so, als hätte er, äh, Damenbesuch. Oder so.“ Ich kann förmlich sehen, wie sich Hans Stirn in Falten legt, weil er so angestrengt nachdenkt.

„Nee, dit war nur icke.“

Ich denke: Halt dein hübsches Mundwerk, Bela! Aber meine Telepathie reicht leider nicht durch die Wand. Ich halte die Luft an und zähle in Gedanken bis zehn. Es kann nur noch eine Frage von Sekunden sein, bis bei Hans der Groschen fällt. Ich komme bis zwanzig.

„Habt ihr also doch was miteinander?“ Hans Stimme klingt irgendwie misstrauisch. Scheiße.

Ich rechne es Bela hoch an, dass er darauf nicht antwortet, aber das Kind ist wohl trotzdem in den Brunnen gefallen.

Am nächsten Tag kann ich Hans nicht in die Augen schauen und meine Sangeskünste fallen etwas heiserer aus, aber - irgendwie war es die Nacht mit ihren Entdeckungen echt wert.


16. Juni – Barcelona

Costa Brava. Sonne und Meer. Es tut so gut, mal wieder in einem anderen Land zu sein. Als ob mein Herz, meine Lungen, alles aufmacht und das Leben willkommen heißt. Was einem der Senat alles so ermöglicht. Nicht schlecht für solche Karpeiken wie uns.

Seltsam ist allerdings ein wenig, dass wir die einzige deutsche Band sind bei diesem Nachwuchsfestival für Bands. Mein Spanisch ist nicht wirklich gut, aber durch meine Italienischkenntnisse verstehe ich ein bisschen was.

Italien. Wie es wohl Felice geht, die sich gerade unerwartet oft in meine Gedanken schmuggelt? Weil ihre Nonna so krank ist und ich Parallelen zu Omi ziehe? Oder vermisse ich einfach ... eine Frau? Ich weiß nicht, was ich von diesem Gedanken halten soll und beschließe, dass ich einfach Felice und ihre Unkompliziertheit vermisse sowie La Dolce Vita und das glitzernde Wasser des Golfs von Neapel.

Immerhin haben sie hier auch einen Strand. Auch wenn der nur noch mehr mein Fernweh, meine Reiselust entfacht. Weiter, einfach immer weiter, die Küste runter, über das Mittelmeer – Afrika. In Gedanken bin ich schon fast dort.

Hier müssen wir jetzt erstmal das Festival spielen. Und ich muss mich an die spanische Punkmusik gewöhnen. Eine Band spielt Stücke, die nicht mal eine Minute lang sind. Hardcore. Okay. Klingt nicht schlecht. Außerdem haben sie eine Frontsängerin, was nicht nur ich toll finde. Belas begehrliche Blicke sind irgendwie süß und irritierend.

Was gar nicht süß ist, dass das Publikum ständig versucht, uns anzuspucken. Widerlich echt. Aber immerhin erreichen sie uns auf der komplett überdimensionierten Bühne nicht. 5.000 Leute wurden erwartet. Ein knappes Viertel ist gekommen. Vermutlich ein finanzielles Desaster, aber das muss uns ja nicht stören.

Wir haben genug mit unseren eigenen Geldproblemen zu kämpfen. Bela hat gerade mal umgerechnet 10 Mark zur Verfügung und so hängen wir statt Barcelonas Sehenswürdigkeiten zu genießen, viel zu oft auf dem Zimmer ab, weil wir uns nicht mal den Bus leisten können. Dabei hätte ich so gerne mal in die Sagrada de Familia von innen gesehen.

„Mann!“ Bela knallt die Tür unseres Zimmers zu, dass gefühlt Putz von der Decke auf mich herunterrieselt. Ich lege mein Buch zur Seite. „Hans ist einfach sooooo dermaßen doof, dass ich wirklich nicht weiß, warum wa uns mit dem abgeben.“

„Was war `n nu wieder los?“

„Ach, ick un Nopper ham halt ...“ Bela grinst auf eine Weise, die nichts Gutes verheißt. „Du weißt doch, wie eifersüchtig Ulla is.“

Ich nicke. „Un vollkommen zurecht, wenn ich sehe, wie oft Hans auf der letzten Tour mit jungen, sehr jungen Fans abgedampft ist.“

„Also, was war nu los?“

„Ach egal. Für Rache ist schon gesorgt.“

„Rache?“

„Ja. Is dringend nötig. Nopper und ick woll`n da so `n Brief schreiben von `ner heißen Spanierin, die sich mit ihm treffen will.“ Er schwenkt euphorisch ein Pornoheftchen.

„Und was hat das damit zu tun?“

„Dit ist nur dazu da, um die passende Stimmung zu erzeugen.“ Und schon ist er wieder zur Tür raus.

Eine Stunde später kracht die Tür wieder auf. „Okay.“ Bela jagt in einer Geschwindigkeit in unser Zimmer, dass ich vor Schreck mein Buch zuklappe. „Ulla hat dit Heft gefunden.“ Bela grinst breiter als sein Gesicht. „Und jetzt schreit sie Hans seit fünf Minuten auf ihrem Zimmer an.“

„Oh, shit. Dit is dieses Gebrüll. Ick dachte, spanisches Temperament oder so. Aber dit is dann wohl eher Berliner. War vielleicht nich so `ne jute Idee von euch. Was wenn Hans jetz aussteigen will, weil er so genervt ist?“

„Pfff. Ick würd den nich vermissen.“

Wieder wird die Tür aufgerissen. Hans ragt darin auf. Er sieht echt krass sauer aus. Ich setze mich in meinem Bett ein Stück auf.

„Sag mal, bei euch hackt`s doch! Wenn ihr ...“ Er geht auf Bela zu und sticht ihm ein paar Mal mit dem Finger gegen die Brust. „Und auch du, Vetter.“ Auf einmal ragt er vor mir auf und ich wünschte, ich wäre aufgestanden.

Er blickt mir sehr direkt in die Augen und ich sehe tatsächlich Tränen darin glitzern, ob aus Wut oder Verzweiflung, weiß ich nicht, nur das er mir gerade echt ein wenig leidtut. Und Angst macht.

„Ich hab nichts gegen, was auch immer ihr miteinander habt – okay! Aber ihr habt euch verdammt nochmal auch nicht in meine Beziehung einzumischen. Verstanden?“

Ich nicke schnell. Er hat ja nicht Unrecht.

„Jetze spiel dich hier ma nich so als Opfer auf“, brüllt Bela zurück. „Du has genuch Kohle stecken von deiner Familie, dass de deiner Freundin einfach so `n Urlaub zahlen kannst.“

„Das hat einfach etwas mit geschäftstüchtig sein zu tun. Hat nicht jeder das Talent für. Und außerdem von wegen Freundin. Ihr habt`s ja gut, ihr beiden. Ihr müsst ja keine Tour eine Freundin mitbringen. Ihr habt ja euch.“

Mir schießt mal wieder das Blut in die Wangen. Ich will nicht darüber sprechen, weil ... Ich hab einfach Schiss, dass mich Leute auf einmal anders sehen, weil ich mit einem Typen zusammen bin.

„Und du hast `ne Menge Groupies“, haut Bela zurück, der wirklich gerade auf Krawall gebürstet ist.

„Wenn ihr nochmal so `ne Scheiße bringt, dann erzähl ich Nopper und Matzge, was bei euch so los ist.“

In mir wird etwas sehr steinern und hart. Ich lasse mir nicht drohen.

Auch Bela verschränkt die Arme vor der Brust. „Mir ist dit egal. Ick lieb, wen ick lieb.“ Es rührt mich, aber dadurch fühle ich mich noch blöder. „Aber Jan will dit halt nich.“

Hans Blick huscht zu mir hinüber.

„Hey, dit lässte ma schön bleiben.“ Ich stähle mich, obwohl mein Gesicht brennt vor Wut und Hilflosigkeit.

Hans sieht zu mir und winkt herablassend ab. „Schon gut. Musst dir nicht gleich in die Hosen scheißen deswegen.“ Er blickt wieder zu Bela. „Aber wenn du noch einmal so ein Ding bringst, Dirk, dann gibt`s Kloppe, verstanden?“

„Pfff.“ Bela streckt ihm die Zunge raus. „Du denkst och, weil de `n halben Meter größer bist als icke, dass de ...“

„Du gehst mir echt so auf den Sack, du kleiner Giftzwerg. Zum Glück muss ich dich jetzt nur noch in dieser Band sehen.“

„Hä? Wie meinst`n dit?“ Bela runzelt die Stirn.

„Na, ick steig bei den Suurbiers aus.“

„Wieso `n ditte?“

„Bringt doch nichts mit Micha!“

„Was soll`n das heißen?“ Bela tritt einen Schritt näher an Hans heran und meine Anspannung steigt wieder.

„Ja, glaubst du ernsthaft, dass das mit ihm und den Suurbiers noch was wird? Er ist ja wirklich ein guter Musiker und Texteschreiber, aber so wie der oft ausflippt. Das kann er echt knicken mit der Karriere.“

„Was denn für `ne Karriere?“

„Na, so eine wie wir mit den Ärzten machen wollen.“

Perplex sieht Bela zu mir und ich zucke mit den Schultern, verstehe auch nicht wirklich, von was Hans da redet. Belas Augen werden schmal. „Du bist einfach ein Scheiß-Schmarotzer, Hans Runge!“

„Oho, ich wußte nicht mal, dass du solche Fremdwörter überhaupt beherrscht, Mister Realschule.“

Mit erhobener Faust marschiert Bela auf Hans zu.

„Nu is jut, ihr beiden.“ Ich hab nicht mal gemerkt, dass ich aufgestanden bin. Augenblicklich stoppt die Szene vor mir. Betretene, aber Immer noch glühende Blick, aber sie sind ruhig – zumindest für einen Moment.

„Ach, lasst mich einfach in Ruhe mit euren pubertären Scherzen.“ Auf einmal sieht Hans wieder mehr verzweifelt und traurig aus als wütend.

„Mann, mach dich locker.“

„Fresse, Felsenheimer! Du steckst doch sowieso als Mastermind hinter dem Scheißbrief. Jan hier hat bestimmt Spannenderes zu tun, als solche dummen Lausbubenstreiche auszuhecken. Und der ist echt zu weit gegangen. Ulla packt gerade ihre Koffer.“

Schon bin ich im Flur. Dass ich nur eine Unterhose anhabe, habe ich in der Aufregung vergessen. Ulla scheint das auch nicht zu bemerken, denn ihre Augen sind wirklich krass verheult.

„Hey, Ulla. Dit war doch nur `n dummer Scherz von Bela.“

Bela ist hinter mir aufgetaucht und reicht ihr ein Taschentuch. „Ehrlich. Sorry, ey. Wir wollten nur Hans eins auswischen. Der war total tre... also, der war dir hier in Spanien wirklich total treu“, biegt Bela gerade nochmal so die Wahrheit hilfreich hin.

Es dauert eine geschlagene Stunde, bis Ulla sich auf das Bett setzt und langsam den Koffer wieder auspackt. Wirklich glauben, tut sie uns wohl trotzdem nicht, dass es die heiße Spanierin nicht gibt. Und zurecht. Wenn ich an Hans One-Night-Stands auf unseren Touren denke ... Schon ein Scheißgefühl ihr das zu verschweigen, aber das ist nicht meine Sache.


Als wir abends im Bett liegen, kuschelt sich Bela an meine Brust, sieht dann zu mir auf. „Hey, Jan? Ick fänd dit schon gut, wenn du och ma wat zu Hans sagen würdest.“

„Wat soll ick denn sagen?“

„Na, dass er nich so rumluschen soll. Also, wo bei dem Typen der Punkrock begraben liegt, weeß och keener. Warum is der noch mal in der Band?“

„Dit bringt doch nüscht, wenn wa anfangen, uns gegenseitig Vorwürfe zu machen. Oder findste dit geil zu hören, dass es nervt, das de immer zu spät kommst?“

Bela wird für einen klitzekleinen Moment ziemlich ruhig. „Du und deine Harmoniesucht“, grollt er dann.

Ich fixiere ihn für eine Minute und es ist ein kleines Machtspiel, dass gefährlich und anzüglich ist.

Nach einer Minute rollt Bela schließlich mit den Augen: „Fein. Dir zuliebe versuch ick, unser „Sahnetörtchen“ zu tolerieren.“

„Jut. Ick find`s nämlich grad einfach schön unterwegs zu sein.“

Belas Augen werden schmal. „Weil ... Du vermisst dit Reisen, oder?“ Er klingt so kleinlaut.

Und ja – ich vermisse das Reisen, also nicht touren, sondern richtig reisen.


24. Juni – Luxor, Köln

Wir starten mit dem Lied, dass der Tour den Namen gegeben hat: „Uns geht`s prima“, singe ich.

Das ganze Konzert über brüllen, gröllen, schreien die Leute „Pogo“. Ich sehe zu Bela, weil ich das Gefühl habe, dass gerade etwas ganz schön schief läuft.

Beim vorletzten Lied „Teenager Liebe“ werden meine Finger taub und mir ein wenig schwarz vor Augen. Ich werfe einen Blick zu Bela und sehe, wie er sich einen Moment an seinem Crash Becken festhält. Er ist noch blasser als sonst. Er schwankt kurz und ich habe schon meine Hände an der Gitarre, um sie abzulegen und ihm zu Hilfe zu eilen.

Unsere Augen treffen sich und Bela grinst etwas schief, wirkt immer noch sehr neben der Spur. Ich deute ihm vorsichtig ein Abbruch-Zeichen an, aber er schüttelt entschieden den Kopf, wirkt sofort wieder etwas klarer.

In der Pause höre ich, wie er hinter mir in der Garderobe eine Line snifft. Inzwischen ist mir dieser Anblick nicht mehr so fremd, auch wenn er es meistens vor mir verheimlicht. Ein bisschen schockt es mich dennoch, denn eigentlich macht er sowas nicht während des Konzerts.

„Alles okay bei dir?“, frage ich unsicher.

Er atmet tief durch, hält sich den Nasenflügel zu, durch den er anscheinend dieses schneeweiße Zeug gezogen hat, dann nickt er vehement. Da die Garderobe die Größe eines Kleiderschranks hat, stehen wir total eng voreinander. Im Licht der funzeligen Glühbirne sehe ich, wie sich in Zeitlupe seine Pupillen weiten, das helle Grün seiner Augen fressen bis ich in bodenlos tiefe, schwarze Löcher starre. Ein kalter Schauer jagt über meine Unterarme.

Nach ein paar Augenblicken geht ein Vibrieren durch Belas Körper, als wäre er an einen Stromkreis angeschlossen worden. Elektrische Spannung strömt aus seinen Poren, springt auf mich über, macht mich nervös. Am liebsten würde ich einen Witz zum Thema Hulk reißen und gemeinsam mit ihm darüber lachen, aber ...

„Hey, lass uns wieder rausgehen.“ Bela zieht an meinem Arm. „Die nächsten Songs kann ick och ansagen, wenn de magst. Keen Problem. Du musst ja eh immer so hart arbeiten, weil de so viele Lieder schreibst, nee.“ Seine Hände sind heiß und schwitzig auf meiner Haut. „Hab ick dir schon mal gesagt, dass ick deine Texte liebe. Also, ick lieb deine Texte. Und dich.“ Er beugt sich vor und küsst mich, drückt mich gegen einen der Spinde. „Vielleicht sollten wa doch noch nich rausgehen, wir könnten och einfach hierbleiben und ...“

Er drängt seine Hüften gegen meine und ich kann nicht widerstehen. Meine Hände landen an seinem Hintern.

Die Tür neben uns geht auf. „Hey, geht gleich wei...“ Matzges Mund bleibt für einen Moment offen, dann passiert etwas in seinen Augen. Der Hunger, der immer noch durch mich zieht, spiegelt sich in seinem Blick, frisst mich und einen langen Moment habe ich echt Angst vor Matzge.

„Alles klar!“ Bela stellt sich zwischen uns. „Wir kommen gleich.“

Matzge sieht noch ein letztes Mal zu mir, dann trollt er sich.

Ich sinke ein Stück in mich zusammen. Der Spind in meinem Rücken fühlt sich kalt an, wahrscheinlich weil ich so schwitze. „Dit ... dit is genau dit, was ick nich wollte“, versuche ich Bela stammelnd zu erklären.

Er zieht mich an sich, stellt sich auf die Zehenspitzen und küsst mich auf die Stirn. „Tut mir echt leid.“

„Wusste Matzge, dass denn vorher schon?“

„Nee. Ick hab da nüscht drüber erzählt, weil ... Du willst uns ja lieber geheimhalten, ne, und da sach ick dann och nüscht.“ Bela zappelt nicht mehr so stark vor mir herum, aber so, wie er es sagt, so leicht unglücklich und ein wenig resigniert, schwappt nun seine Traurigkeit auf mich über. Die ganze Euphorie, die wohl vom Auftritt und dem weißen Pulver durch ihn geschossen ist, scheint wie ausgelöscht.

„Tut mir echt leid, Bela.“

Er zieht mich fester an sich. „Ick weeß.“ Er küsst mich noch einmal auf die Stirn. „Wir müssen echt wieder raus.



26. Juni – Fabrik, Hamburg

Ein bisschen Schiss habe ich vor Hamburg. Nur 40 Karten sind dort weggegangen. Bela meinte, dass die Abendkasse das schon noch rocken wird. Na, hoffentlich. Ich habe nämlich Gerüchte gehört, dass die Tour der Hosen ziemlich gut laufen soll. Unsere ja schon auch, aber wenn wir in Österreich mehr Leute ziehen als in der Punkstadt Hamburg – das wäre echt eine persönliche Niederlage.

In der Garderobe, die eigentlich nur ein kleiner Abstellraum mit Spiegel, Spinden und Waschbecken ist, prangt auf dem Spiegel mit rotem Edding ein Riesenherz: „Grüße an die Knalltüten von den Ärzten! We love you, aber heute ist unser Tag. Wir warn mal wieder vor euch da! DTH“

Es ist vollkommen albern, aber dieser blöde Spruch bringt das Fass zum überlaufen. Es ist echt eine Schweinetour. Ich trete gegen einen Spind, haue mit der Faust dagegen. Gerade überlege ich, ob man den Edding mit Ata abbekommen kann. Oder einfach übermalen. Leider habe ich keinen Stift einstecken.

„Was ist denn hier los?“ Die Tür geht auf und Matzge sieht mich mit gerunzelter Stirn an. „Warst du das?“

„Was war ich?“ Ich klinge so aggressiv, dass ich mich vor mir selber erschrecke. Immerhin hält es Matzge auf Abstand.

„Na, das Gerumpel hier drin.“

„Hab gegen den Spind getreten“, erkläre ich schließlich betreten.

„Alles klar?“

„Ja! ... Weiß nich.“

„Hey, was ist denn los?“

„Bin `n bisschen angestrengt und dann ...“ Ich deute zum Spiegel.

„Idioten! Das machen die doch mit Absicht.“

„Weeß ick ja, aber ... Ey, 60 verkaufte Karten. Dit is ... schon `n Schlag in die Fresse.“

„Is okay, Jan! Wirklich.“ Matzge sieht mich aufmunternd an, klopft mir auf die Schulter. „Hey, ihr müsst halt euer Publikum noch finden. Und wir helfen euch dabei.“ Er reibt mir über den Rücken und irgendwie tut das gerade echt gut. „Ihr geht heute da raus und gebt euer best of Farin und Bela und dann gewinnt ihr die Herzen der 60 im Sturm. Okay?“

Ich kann nicht anders, ich muss grinsen. „Okay.“

Auf einmal steht Bela neben uns. „Wollten wa nich noch üben?“ Er packt mich an der Schulter und führt mich aus dem kleinen Raum.

„Üben? Du willst üben? Wer bist du und was hast du mit Bela gemacht?“

„Haha. Sehr witzig.“

„Okay. Also, ... warum bist du da grad so reingegrätscht?“ Ich sehe Bela neugierig an.

„War dit so auffällig?“

„`n bisschen.“

„Na, ähm, also ... Gestern hat mir Matzge im Suff gestanden, dass er wohl so `n bisschen verknallt ist in dich und da ...“

Oh ...

„Er fand dit wohl auch eher schick, als er uns beide überrascht hat und meinte, ob wir nich ma was zu dritt ...“ Bela bricht ab. „Ick hab gleich gesagt, dass dit nüscht wird.“

„Ähm, ja. ...“ Mir ist ein wenig merkwürdig im Magen. Ich kann nicht einordnen, ob das gute oder schlechte Aufregung in mir auslöst. „Also, danke.“


Kiwitzmoor-Park, Hamburg-Langenhorn

Ich hänge mit Elf und Eddie an den Drei Bänken ab, als Claudia auf uns zugelaufen kommt.

„Mann, Alter.“

„Häh? Was `n los?“

„Ernsthaft, Rod?“ Sie verdreht die Augen. „Ich renn dir extra hinterher und du weißt noch nich mal, was heute Abend is? Mann! Also, willste jetzt mit oder nich? Ich kann auch jemand andrem die Karte geben.“

„Welche Karte denn?“

„Na, für das Konzert heute in der Fabrik. Die Ärzte?“

„Oh!“

„Ja, genau. Also, was is jetzt?“

Ich sehe zu Elf und Eddie, der ein wenig die Augenbrauen hebt. „Willste da echt hingehen?“

„Wieso denn nich?“

„Sie`n halt so Funpunks. Kein Funken Hass in den Gitarrenseiten. Einfach `n bisschen ... komisch.“

„Genau“, erwidert Claudia und starrt Eddie nieder. „Nämlich wirklich witzig. Muss ja nicht immer nur gegen die Bullen gehen, oder?“

„Okay, okay.“ Elf winkt ab.

Ich erheb mich langsam. Wenn meine liebe Schwester so drauf ist, spur ich besser mal. „Tja, also dann ... Tschüss, Jungs.“ Irgendwie bin ich auch neugierig auf Claudias neueste Punkliebe. „Ich hör wohl besser auf mein Schwesterherz.“

Wir laufen zur U-Bahn. „Also, ich hoff mal, es ist wirklich so gut. Du has es ja ganz schön vollmundig angekündigt.“

„Sei froh, dass ich was für deine Punksozialisation tu. Mit deinen süßen 16 wärste ja nich mal in die Fabrik rein gekommen.“

„Pfff. Ich komm überall rein.“ Und es stimmt. Anscheinend seh ich älter aus, als ich bin. Oder das Abhängen mit den mehrere Jahre älteren Punkern hat abgefärbt. Sie sieht mich nur schweigend an. „Okay, dann halt: Danke, danke, danke!“ Ich deute pantomimisch an, dass ich mich auf den Gehsteig werfe und ihr huldige.

„Sehr witzig. Apropos witzig: Das sind die drei, naja, vor allem der Gitarrist und der Schlagzeuger, wirklich. Ah, der sieht so gut aus. So `n bisschen Gruftistyle. Gefällt mir auf jeden Fall.“

„Ist mir noch gar nicht aufgefallen. Auf wie vielen Konzerten warst du jetzt? Fünf?“

„Quatsch. Drei. Aber die sind halt auch echt Zucker. Nich so das übliche Geschrammel, viel abwechslungsreicher als Drei-Akkord-Punk. Wird dir echt gefallen. Die sind auch musikalisch viel kreativer und offener. So wie wir. Weißte noch in der Hafenstraße, als wir mit dem Banjo aufgelaufen sind.“

Ich grinse in nostalgischer Erinnerung. „Das war echt geil.“

„Eben. Und die sin auch so. Nur noch krasser! Diese Texte! Einfach ...“ Sie lacht und ich hab langsam Bock auf den Abend. „Plus der Gitarrist und der Schlagzeuger labern immer `nen Scheiß. Unglaublich.“ Die Vorfreude strahlt ihr aus jeder Pore.

„Du solltest als Managerin für die arbeiten. Oder Werbeagentin. Also, wenn`s nur halb so gut wird, wie du euphorisch bist, sollt`s sich`s lohnen. Immerhin müssen wir dafür bis nach Altona rüber schippern.“

Als wir in der Fabrik ankommen, ist die Stimmung eher so lau. Schade, ich hatte heute Abend wirklich Lust auf Exzess. Ich hol mir ein Bier und taxiere das Publikum. Schräge Mischung an Leuten auf jeden Fall, aber nur so 60 - weit entfernt von ausverkauft.

Vor drei Tagen war ich schon mal mit Hopeman und Little Magombe hier, als die Hosen gespielt haben. Die Stimmung an dem Abend war der Wahnsinn. Die Fabrik hat einfach gebrannt. Ausverkauftes Konzert. Kein Wunder, nach dem die Opelgang-LP steil gegangen ist. Außerdem – sie haben für Gott in London spielen dürfen, John Peel. Von den Hosen wollen wir uns für Massaker noch das ein oder andere abschauen.

„Ey, Gonzalez, welche heiße Mieze hast `n da abgeschleppt?“ Thomas kommt auf mich zu und sieht viel zu interessiert zu Claudia. „Is das nicht die, mit der de in der Hafenstraße Countrysongs zum besten gegeben hast?“

„Das ist meine Schwester. Also – Finger weg, Cyan! Verstanden!“

„Oh la la. Schon gut. Mach dir nicht gleich ins Hemd.“

„Ja, genau, Brüderchen“, springt Claudia gleich mit auf den Zug auf. Sie kann es nicht leiden, wenn ich so einen auf Beschützer mache.

Die Band betritt die Bühne.

„Wir sind die Ärzte – aus Berlin.“

„Auuuuuuus Berlin!“

Himmel, sind die beiden groß – und blond - fast furchteinflößend, besonders wenn der Gitarrist mit seinem Riesenmund grinst. Aber der Kleine mit den wilden, schwarzen Haaren hinter dem Schlagzeug gefällt mir.

Der lange Gitarrist startet mit dem Intro. Klingt nicht direkt nach Punk, aber ziemlich gut. Und dann legen sie los und sofort ist der Rhythmus in meinen Beinen. Yeah – geil. Dann hör ich auf den Text und bleib abrupt stehen.

„Zitroneneis?“ Für für einen Moment steh ich einfach nur geplättet vor der Bühne. „Die sind echt total durchgeknallt“, brüll ich meiner Schwester ins Ohr. Wie kommt man als Punk nur auf so einen Text? „Meinen die das ernst?“

„Na, klar.“ Claudia zwinkert mir zu und auf einmal fällt der Groschen. Was für ein Scheiß! Was für Idioten! Es ist genial.

„Message und Pogo und alles, aber ihr müsst ruhig sein. Weil es gab mal in Hamburg eine Gruppe, das war die berühmteste Punkband Deutschlands.“

„Die Älteren unter euch erinnern sich vielleicht noch dunkel an ihren Namen“, ergänzt der Gitarrist.

Den einen Satz versteh ich nicht, dann sagt der Schlagzeuger: „Und die hatten eine Hymne.“ Er lacht und der Gitarrist beginnt zu spielen.

„Hä? Das ist ja von Slime. Polizei SA SS?“, frage ich Claudia brüllend.

„Na, klar. Was denn sonst?“, grinst sie und singt lauthals mit. „Bullenschweine, Bullenschweine – in der ganzen Welt“.

„Ich dachte, sowas findest zu platt.“

„Aber die machen sich da doch drüber lustig.“

Ich sehe zur Bühne. „Und das klingt auch ganz anders.“

„Eben.“ Claudia lacht und pogt um mich herum. Platz genug ist ja. Schließlich schüttel ich den Kopf und spring fröhlich mit den restlichen 60 Leuten mit.

Elf und Eddie hatten nicht recht. Diese skurrilen Typen da auf der Bühne passen in keine Schublade, selbst wenn da Funpunk drauf steht.

„Bela ist echt heiß, oder?“ Meine liebe Schwester hat ziemlich rote Wangen.

„Wer ist Bela?“

„Na, der Drummer.“

„Ach, so. Ja, schon irgendwie.“

„Aber Farin ist auch toll. Ich mag seine Stimme.“

„Farin ist der Lange, an der Gitarre?“

„Genau. Farin Urlaub.“ Sie sieht mich erwartungsvoll an, aber es dauert geschlagene zehn Sekunden bis der Wortwitz bei mir zündet. Danach lache ich einfach nur noch die restliche Dreiviertelstunde des Sets durch, komme vor lauter Spaß nicht dazu, wirklich alle Feinheiten dieser absurden Texte zu durchblicken.

„Was is `n eigentlich mit dem Bassisten? Trägt der immer dieses Seppl-Outfit?“

„Keine Ahnung. Eigentlich heißt er wohl Hans, nennt sich aber Sahnie.“

„Okay. ... So richtig gut, spielt der aber nich Bass. Ich will mich nich selber loben, aber das könnt ich viel besser.“

„Ich weiß, Bruderherz. Du willst aber hoffentlich nich unser gemeinsames Projekt verlassen, oder?“

„Quatsch. Niemals.“ Ich strecke ihr meine Bierflasche entgegen und sie stößt mit mir an. „Außerdem – die würden mich doch nie nehmen. Bin doch viel zu jung und – überhaupt.“

„Also, genug Erfahrung hast du über für deine jungen Jahre. Du mischt ja überall mit.“ Ein nettes Kompliment und ich lächle sie an.

„Claudia hat `nen Schäferhund ...“, tönt es von der Bühne.

„Ha, ha. Nett, dass sie dir, ihrem Überfan, `nen Song gewidmet haben.“

Meine Schwester verpasst mir einen Schlag auf den Hinterkopf, dann schwärmt sie wieder den hübschen Drummer an.

Es folgen Lieder über Teddybären, lustige Astronauten, Frankenstein und sich liebende Geschwister. Was für eine Mischung. Mir ist ganz schwindelig vor Lachen und Staunen. Die Stunde vergeht viel zu schnell.

„Ham die Platten raus?“, keuche ich, als die drei von der Bühne runter sind.

„Ja, klar. Aber is gar nich so einfach ranzukommen. Zum Glück hab ich kopierte Tapes und – ja, ich leih sie dir.“


Nach dem Konzert stehe ich noch längere Zeit im Hof um die Lagerfeuertonne und grins mit den andren Besucher*innen glückselig vor mich hin. War echt etwas Besonderes dieses Konzert und zum Glück war ich dabei.

Das eine Bier, das ich mir gegönnt hab, macht sich bemerkbar. „Ich muss ma pissen. Bin gleich wieder da.“ Ich haue Claudia auf die Schulter, die nur schnaubt.

Ich entscheide mich für ein Gebüsch, weil das näher und weniger eklig ist. Als ich gerade wieder einpacken will, höre ich seitlich von mir jemand flüstern. Ich seh als Silhouette aber nur den Tourbus von der Berliner Combo.

Auf einmal flammt das Hoflicht auf und mein Blick fällt auf die beiden Typen, die gerade noch auf der Bühne waren. Der schwarzhaarige Grufti-Drummer und einer der beiden großen Blonden, ich glaube, der mit der großen Klappe.

Der Blonde hat seinen Drummer an den Bus gepresst und küsst ihn ziemlich beherzt und eindeutig. Obwohl das eigentlich nicht so mein Gebiet ist, sieht es irgendwie hot aus. So wie die beiden vorher auf der Bühne miteinander geflirtet haben, wundert es mich nicht, was ich da gerade zu sehen bekomme.

Doch die beiden wirken etwas erstarrt, gucken beiden entsetzt in das Licht, dann springen sie ertappt auseinander.

Ein quadratisch gebauter Typ mit einem Verstärker latscht direkt in die Szene hinein, dahinter ein Skin und der andere große Blonde, die eine Bassdrum schleppen.

„Häh? Sach ma, knutscht ihr?“, gröllt der quadratische Typ und starrt die beiden ungläubig an, vielleicht ist er aber auch nur betrunken.

„Na, Gratulation, Nopper!“, meint der Skin nur trocken. „Hast du das jetzt auch endlich gecheckt.“


30. Juni – Vielklang-Büro

Endlich eine Tourpause, aber ...

Jörg hält uns einen amtlich aussehenden Brief entgegen. „Wir müssen das Cover ändern!“

„Was? Wieso denn?“ Ich pflücke den Brief aus Jörgs Hand. Vom Roten Kreuz.
„... auf Grund dieser Verwechslungsgefahr untersagen wir ihnen den weiteren Verkauf der EP mit dem Namen „Uns geht`s prima“ der Band „Die Ärzte“...“


1. Juli – Flughafen Tempelhof – Proberaum

„Streck ma deinen Arm aus.“

„Häh? Wieso denn?“

„Streck einfach ma aus!“

Bela sieht verunsichert zwischen Hans und mir hin und her. „Ihr habt irgendwat komischet vor.“

„Vertrauste uns nich?“, grinse ich.

Bela blickt einen Moment misstrauisch zu Hans. „Geht so.“

Ich fange seinen Blick ein und halte ihn so lange fest, bis er schließlich zögerlich seine Hand in meine Richtung streckt.

„Augen zu machen.“

„Sonst noch wat, der Herr!“

„Augen zu!“

„Maaahaaan!“

Er blinzelt noch ein paar Mal.

„Jetz lass doch ma die Augen zu oder muss ick se dir zu binden?“

„Kannste gerne machen!“ Sein anzügliches Grinsen jagt mir über die Haut und meine Hände zittern ein wenig, als ich ihm das Geschenk von Hans und mir umbinde.

„Okay, kannst gucken.“

Bela öffnet die Augen und starrt auf sein Handgelenk. „Awww. Die is ja geil! Mann, danke, Jan!“ Er fällt mir um den Hals. Dann sieht er zu Hans, zögert.

„Dit is sozusagen `n Andenken, damit de nich immer zu spät kommst“, erkläre ich schnell.

Belas erfreutes Lächeln dimmt um einige Watt herunter. „Ach so.“ Er dreht die grüne Bugs-Bunny-Uhr an seinem Handgelenk und nun grinst er doch wieder. „Also, ick und Bunny hier, wir werden uns ab jetze mehr bemühen, okay?“

Er streckt Hans seine Hand hin und umarmt auch ihn kurz. Wäre echt schön, wenn wir öfter so harmonisch zusammen wären.


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LYRICS

The Slits - I heard it through the grapevine
Familie Hesselbach - Süddeutschland
Die Ärzte - Vorbei ist vorbei (Economy)
UK Subs - Emotional Blackmail
Bauhaus - The passion of Lovers
Último Resorte - Cementerio caliente
KANGRENA - No se que me pasa
The Stray Cats - Let’s Go Faster
Die Toten Hosen – Liebesspieler
Slime – Polizei SA SS
die ärzte – Zitroneneis


BANDS

Family 5

Familie Hesselbach

UK Subs

Kangarena

Ultimo resorte

Slime


Thomas Harms – Cyan
FU Signature Guitar


QUELLE

Meersau ab S. 29 und S. 208



*

 

 

 

 

Chapter 43: 1984 - Bravo

Chapter Text

*




Der Zeitstrahl funktioniert leider in Teilen (DTH, Jochen Hülder, Touren, Song Releases etc.) überhaupt nicht. Apologies. Andererseits – möchte ich auch noch öfter und bewusster den biographischen roten Faden verlassen und vermehrt abbiegen in die Sphäre von Fiktion.




* Teenagers in Love *






1984 – BRAVO






7. Juli – Niebuhrstraße 38 b, Charlottenburg

„Julia zieht für ein paar Tage bei uns ein", überfalle ich Bela, als der endlich aus seiner Gruft gekrochen kommt.

„Ähm, okay ..."

„Sorry, das ick dir dit jetze erst sach, aber ick hab dich die letzten Tage kaum gesehen. Sie müsste eigentlich gleich da sein."

„Keen Problem, echt." Er sieht extrem verschlafen und sehr süß aus mit seinen verstrubbelten Haaren. „Aber ... warum?"

„Weil meine Mutter spontan mit Arschloch-Gerd Urlaub machen möchte. Sie versucht wohl, dieses Wrack von Ehe doch noch vor dem Untergang zu bewahren." Ich seufze. „Voll Kraft voraus Richtung Eisberg. Keine Panik auf der Titanic."

„Wär`s nich besser, wenn dit klappt?" Bela gähnt verhalten, sieht mich dann nachdenklich an.

„Also, wegen mir könnte der ... Aber – ehrlich gesacht: Ick weiß es nich."

Es klingelt und ich reiße die Wohnungstür auf.

„Ick geh noch `ne Runde pennen", gähnt Bela, als ich schon den ersten Treppenabsatz runter stürme.

Ich reiße die Haustür auf und bleibe wie erstarrt stehen.

„Na, du?", frage ich schließlich, denn sie sagt nichts, steht nur mit hängenden Armen neben ihrem kleinen Koffer.

Wir haben uns fast vier Monate nicht mehr gesehen. Ich würde sie so gerne in meine Arme ziehen und hochheben, aber ... Irgendwie ist sie dafür zu groß geworden. Und ihr Gesicht wirkt so ein bisschen anders. Als hätte es sich ein klein wenig verschoben in Richtung erwachsen werden. Schließlich umarme ich sie ein wenig unsicher.

„Hey, Jan!" In dem kleinen Satz steckt ziemlich viel, aber ich kann nicht lesen was. Ich nehme ihren Koffer und höre sie hinter mir die Treppe hochschlurfen.

In der WG deute ich in mein kleines Zimmer. „Du kannst gern meine Matratze haben."

„Und du?"

„Ick penn auf meiner Isomatte."

„Is dit echt okay?"

„Klar. Mach ich im Urlaub doch och immer."

Ihr Miene wird noch verschlossener und ich weiß echt nicht, was ich jetzt schon wieder falsch gemacht habe.

Sie sieht sich in meinem Zimmer um. „Is echt klein hier."

„Für mich reichts."

„Okay. ... Und ... also, ... wat machste so den ganzen Tag?"

Will sie es wirklich wissen oder weiß sie einfach nicht, was sie sonst sagen soll? „Also, grad klimper ick viel rum, weil wir neue Lieder brauchen."

Ein Geist von Lächeln erscheint. „Spielste mir was vor?"

„Klar." Mit neuer Energie greife ich nach meiner Klampfe und setze mich an meinen Schreibtisch, will schon anfangen mit „Claudia hat `nen Schäferhund ...", schwenke dann aber schnell um zu:

Sie hieß Angelika und sie war plötzlich da
Sie zog ins Nachbarhaus, seitdem war alles aus
Ich hab an sie gedacht, sie hat mich angelacht


Ich klopfe mit dem Fuß Belas Schlagzeugtakt mit. Der Fehler dieser Auswahl wird mir in dem Moment klar, als Julia ihre Stirn in Falten legt und auf einmal das typische Vetter-Grinsen erscheint.

„Angelika, hm? Die von gegenüber, wa?"

„Ähm, ..."

„Komisch, mir kam dit nich so vor, als ob die dir damals so viel bedeutet hat. Aber wenn de sogar `n Lied über sie machst ..."

„Dit is doch gar nich gesacht, dass ick damit die Angelika ..."

Julia sieht mich einfach nur an.

„Naja, sie war ..." Ich stocke. „Also, sie war ..."

„Dit Mädchen, mit dem de dit erstmal wat hattest?"

„Keene Ahnung, woher du dit weißt, aber ... äh, ja."

Ein Julchen-Lächeln, ein echtes. „Ick find`s schön, dass de ihr `n Song gewidmet hast."

Ich atme innerlich auf.


Abends im Bett lese ich noch auf meiner Isomatte. Sie ist nicht wirklich bequem, aber irgendwie mag ich die Urlaubsnostalgie davon trotzdem.

Julia wälzt sich auf meiner Matratze hin und her. Eigentlich dachte ich, dass sie schon schläft. Auf einmal dreht sie sich zu mir. „Sach ma, wann hast `n du zum ersten Mal mit jemand geschlafen? Also, ick mein, mit Angelika?"

Ich bin so erstaunt, dass ich mich kurz verschlucke und erstmal ordentlich husten muss, bis ich wieder klarkomme. „... Also, dit is noch gar nich sooo lange her."

„Und wie alt warste da?"

„Ähm, achtzehn."

„Echt? So spät?" Sie klingt fast entsetzt, als wäre ich ein Spätzünder.

„Also, entschuldige ma ..."

„Schon jut. War nich so gemeint."

Stille.

„Wieso ... wieso willste`n dit wissen?"

„Nur so."

„Dit is jetz aber nich direkt `ne Antwort."

„Schon, aber ..." Sie dreht sich wieder um, weg von mir. „Dit verstehste nich."

Ich warte noch ein paar Minuten, aber tatsächlich ist das Gespräch für sie damit beendet.


Beim Frühstück am nächsten Morgen ist sie immer noch super wortkarg, doch immer wieder sieht sie verstohlen zu mir hinüber.

„Komm, spuck`s aus. Wat haste verbockt?"

„Ick? Nüscht!"

„Aber du hast doch irgendwat."

„Naja, also, ähm ..." Sie schiebt mit dem Löffel ihre Cornflakes hin und her. „Mhm, könnt ick mir vielleicht mal dein Zimmer ausborgen, also, wenn de grad nich da bis – wieder auf Tour oder im Urlaub oder so?"

„Für ... Für wat denn?"

„Och, also, hm ... Zuhause is ja grad so `n bisschen schwierig, ne, und bei Thomas is es och nich besser und da dacht ick, dass wir vielleicht ..."

„Wir ist ... Thomas und du?"

Sie nickt.

Ich schlucke, verwandle mich innerhalb von den paar Halbsätzen in unsere Mutter. „Weil ...?" Meine Stimme geht am Ende seltsam nach oben. Das steuert gerade in ganz unsichere Gewässer.

„Na, weil wir vielleicht mal miteinander schlafen wollen."

Ich bin fast ein wenig sprachlos, wie selbstverständlich sie das ausspricht. „Is ... Also, is dit nich `n bisschen früh?"

„Mit vierzehn? Quatsch. Katrin und Ramona ham schon und ..."

„Julchen ... Julia, dit is doch keen Wettbewerb."

„... Nö. ... Aber ..."

„Drängt er dich?", unterbreche ich sie recht unwirsch. „Also, wenn er dich zu irgendwas drängt, dann ..."

„Thomas?" Julia lacht auf. „Nee, gar nich. ... Ick will dit halt mal erleben. Mit ihm. Ick lieb den nämlich."

„Das ... Das ist schön. ... Sach ma, weißte, dit Mama Angst um dich hat?"

„Echt? Deswegen? ... Oh ... Nee, dit wußt ick nich."

„Also, ehrlich jesacht, ick glaub, ick hab sogar mehr Angst als sie."

„Häh?" Julia stemmt ihre Hände in die Hüften. „Mann, Jan, ick bin doch nich blöd."

„Klar, aber ... Sex verändert schon so `n bisschen wat."

„Was denn?"

Ich denke an das Desaster mit Angelika. Und Bine. „Also, vielleicht warteste noch `n bisschen?"

Ihre Augen funkeln mich herausfordernd an und steht vom Tisch auf. „Echt jetzt? Du hast doch och `n Rad ab. Zuerst schreibste so krasse Lieder wie „Geschwisterliebe" ..."

Ich werde wohl ein wenig rot. Mit ihr will ich da wirklich nicht so gerne drüber reden, auch wenn sie mir vor einem Jahr das okay dazu gegeben hat, da sie verstanden hat, dass es mir um den Tabubruch ging und nicht um wirklich ...

„... und dann biste so `n Spießer." Mit einem wüsten Augenrollen dreht sie auf dem Absatz um und als ich ihr folgen will, schmeißt sie mir meine Zimmertür ins Gesicht. Es tut nicht nur weh, weil ich sie voll gegen den Fuß bekomme.

Da ich nun meines eigenen Rückzugsraums beraubt bin, stapfe ich rüber in Belas Zimmer.

Dunkel.

Halb unter der Bettdecke verborgen, sehe ich seine halboffenen Augen glänzen. „So Türn kann man och leise schließn", murmelt er.

„Sach dit ma Julia."

„Allet klar?" Er hört sich etwas wacher an.

Ich setze mich zu ihm auf das Bett.

„Na, du?" Er streicht mir über den Rücken. Eigentlich löst sogar so eine harmlose Berührung meist aus, dass wir uns einen Moment später durch die Laken wälzen, aber gerade ... „Julchen hat `nen Freund."

„Och, süß!" Bela lächelt versonnen vor sich hin.

„Von wegen süß. Sie will mit ihm ... also, sie will mit ihm schlafen."

„Und?"

„Aber dit is doch – schon wat besonderes?"

„Hmmm. Naja ...."

„Fandste dit nich komisch, damals als Diana mit so wat angefangen hat?"

„Nö. Wieso denn?"

„Hmmm ... Vielleicht ist dit ja och wegen dem Altersunterschied?" So ganz verstehe ich meine Reaktion selbst auch nicht.

„Wie alt is Julia denn?"

„Vierzehn!" Ich sage es mit drei Ausrufezeichen dahinter.

„Aber wenn se dit gerne ..."

„Nich du jetz och noch." Ich stütze meinen Kopf in die Hände. „Ach, Mann. Ick schein grad einfach allet falsch zu machen", klag ich Bela dumpf mein Leid. „Es is, als ob jemand mein Julchen geklaut und mit dieser neuen Julia ersetzt hat."

„Pubertät is, wenn der große Bruder anstrengend wird." Ich kann sein Grinsen hören.

„Oh, nee. Meinste echt, das dit das Problem is?"

Er setzt sich ein Stück auf. „Wat denkst du denn?"

„Na, ick dacht halt, sie wär wegen Gerd so oder – ick weeß och nich ..."

„Frag se doch."

„Na, früher hätt ick dit och sofort gemacht, aber grad ... Sie is mir echt so fremd."

„Was habt a denn früher gern zusammen gemacht?"

„Dit is es ja. Wir ham einfach super viel miteinander gequatscht. Und jetzt ..."

Bela zieht mich in seine Arme und das tut einfach gut. Ich spüre seine nackte Brust unter meiner Wange und drehe meinen Kopf, atme ihn ein und küsse ihn, küsse mich an seiner Brust hoch zu seinem Hals und merke wie er beginnt schneller zu atmen.

„Ick würd echt och gern ma mit dir schlafen", flüstert er mir ins Ohr und ein Schauder, ein schöner, beängstigender Schauder, jagt mir über den Rücken.

Ich nicke Richtung meines Zimmers. „Na, grad is `n bisschen ..."

„Schon klar, aber ..." Er drängt sich an mich und da ist so ein kleiner Sog in mir, der ...

„Bald, okay?" Ich krieche zu ihm unter die Decke und schlafe tatsächlich an seinen Rücken geschmiegt nochmal ein.


Am Nachmittag treffe ich Julia in der Küche wieder und bin mir echt unsicher, wie dieser seltsame Streit nun weiter geht.

„Na?"

„Hallo, Jan. ... Ey, tut mir leid, dass ick vorher ..." Sie verzieht kurz den Mund und damit scheint alles von ihrer Seite gesagt zu sein.

„Äh, ja. ... Okay, also ... Ick wollt nur sagen, dass ick da drüber nachdenken muss wegen meinem Zimmer. Okay?"

„Okay." Zum ersten Mal sieht sie mir wirklich in die Augen. „Danke."

„Und ick muss noch Photos abholen. Die liegen seit ein paar Monaten schon im Photoladen, weil ick nie Geld hatte. Da müssten übrigens och welche von dir dabei sein."

„Echt? Cool. Ick komm mit."

Ein Friedensangebot?

Wir laufen durch die Wilmersdorfer zu „Foto Schlüter". Als wir anschließend auf einer Parkbank durch die Bilder blättern, bleibe ich an einem Photo hängen.

Sommer - letztes Jahr.

Ich seh zu Julia. „Da war noch allet, also, nich in Ordnung, aber halt ... Wie geht`s dir eigentlich damit, dass Gerd vielleicht ...?"

„Puuuhhhh." Der Seufzer will gar nich mehr enden. „Ick würd ihn wahrscheinlich schon irgendwie vermissen, einfach weil ... Ick bin es ja nich anders gewohnt. Aber – weißte, Mama war echt so happy vor ein paar Monaten. Dit war echt schön zu sehen." Sie lehnt sich ein Stück weiter zu mir rüber. „Allerdings wußt ick ja nich, dass sie ausgerechnet mit dem Karstens ... Dit war echt mehr als schräg, wenn ich der ins Klassenzimmer kam. Obwohl – `n bisschen versteh ick schon och, wat sie an dem gefunden hat." Ein kleines Lächeln zieht sich über ihr Gesicht. Es schockt mich. Julia scheint aber mein Stirnrunzeln gar nicht mitzubekommen. „Der is echt schick - also für sein Alter – und ... halt ganz anders als Gerd."

„Und ... Du – du würdest dich also freuen, wenn sie jetze mit deinem Geschichtslehrer ...? Und der dann in Frohnau ...?"

„Nee, Quatsch." Sie atmet hörbar aus. „Dit wär echt total schräg, aber so wie momentan geht`s echt och nich weiter. Ey, dit is `ne Stimmung zuhause." Sie seufzt. „Na, du kriegst ja nüscht mit davon, du Glücklicher."

„Tut mir echt leid. Hey, du kannst echt jederzeit in die Niebuhstraße kommen, wenn de es nich in Frohnau aushältst."

„Danke. ... Och, wenn ihr nich da seid?"

Ich denke an Thomas und will schon den Kopf schütteln. „Na, allein kannste da nich sein – so altersmäßig." Was für ein blödes Argument.

„Mhm." Sie verzieht das Gesicht. „Naja, okay. Also, danke nochmal. Vielleicht komm ick ma auf dein Angebot zurück."


Abends denke ich auf meiner Isomatte nochmal über unser Gespräch nach. Es ist schon doof, dass sich für sie alles ändern würde, wenn Gerd weg ist. Für sie war ja mit ihm nicht alles schlecht ...

„Du, Julia? Schläfste schon?", flüstere ich in die Dunkelheit.

„Nö. ... Ick denk grad so `n bisschen nach."

„Oje. Du hast auch das tolle Kopfmenschentum der Vetters geerbt, hm?"

Sie seufzt. „Vielleicht. Weeß och nich." Ihre Stimme klingt auf einmal wieder sehr jung und am liebsten würde ich ihr anbieten, dass sie zu mir kriechen kann, so wie früher, aber ... Die Isomatte. Und überhaupt – irgendwie ist sie für sowas zu alt geworden.

„Weißte, was dit Schlimmste an dem Ganzen is?"

„Nee." Ich wappne mich.

„Mama hat gesagt, dass wir vielleicht umziehen müssen, weil sie das finanziell nich hinbekommt, selbst mit der Kohle, die sie von Gerd bekommen würde."

Ein kalter Blitz schießt durch mich. So sehr ich Gerd gehasst habe, so sehr liebe ich das verwinkelte, alte Haus in Frohnau. Versucht sie deswegen diese Scheißehe zu retten?

„Dit ... Dit wußt ick nich."

„Naja ..." Julia schluckt. „Vielleicht is es ja och besser so. Is ja ganz schön groß das Haus, ne, und wenn Mama und ich da ganz allein ..." Sie schluckt wieder. „Oder ... würdeste vielleicht wieder zurückkommen? ... Also, wenn Gerd weg ist, mein ick."

Ich überlege kurz, ob das eine echte Option wäre, aber ... „Eher nich", sage ich vorsichtig in die Dunkelheit.

„Wohnst lieber mit Bela zusammen, wa?" Es klingt verständnisvoll.

„Ick hab mir halt jetz so mein eigenes Leben ..."

„Ick versteh schon. Wär trotzdem schön gewesen."

„Mhm. Aber ick bin ja nich aus der Welt."

„Nur, wenn de grad mal wieder unterwegs bist ..."

Ich unterdrücke den Widerwillen, der kurz in mir aufflammt. Ich hasse es, wenn Leute mir das Gefühl geben, ich sollte, dürfte nicht reisen.

„Dann ruf ich an. ... Hey, Julchen? Ick vergess dich nich. Niemals, okay? Dit versprech ick."

„... Okay."

Ich meine mein Versprechen so ernst, dass es in mir nachhallt wie ein heiliger Schwur. Und das nicht Vergessen heißt auch, dass ...

Ich - muss – Geld – verdienen. Frohnau darf nicht einfach mit irgendeiner 2-Zimmer-Wohnung ersetzt werden.

So bleibt das hier in meinem Zimmer wohl das einzige Mal dieses Jahr, dass ich auf meiner Isomatte schlafe, denn wegfahren ist dann wohl nicht diesen Sommer.

Es tut mir fast körperlich weh. Vor allem auch, weil Ecky dieses Jahr wieder Zeit hat. Der wird dann wohl allein oder mit Nicole die griechische Inselwelt erkunden. Mein Herz heult der verpassten Reise hinterher, aber manchmal gibt es Wichtigeres.


9. Juli - Vielklang-Studio, Moabit

Sylvie flattert uns entgegen, als wir zu Tür reinkommen und Jan neben mir geht in Deckung, aber ich mag das. Ich kann nicht genau sagen warum, aber ihre Anwesenheit im Studio sorgt bei mir immer für so eine Extraportion Aufregung, wie ein kleines Stromkabel im Bauch. Vielleicht weil sie gefühlt immer so einen Hauch große, weite Welt hinein bringt, vielleicht weil sie gefühlt jedes Mal mit mir flirtet. Und das, obwohl ihr Ehemann im Nebenzimmer ist. Gefährlich. Wahrscheinlich gefällt es mir genau dadurch sogar noch mehr.

Und tatsächlich auch heute nickt sie Hans nur kurz zu, umarmt schnell Jan, und dann gibt sie mir als Einzigem ein Küsschen auf die Wange. „Gut siehst du aus, Bela!"

Mhmm, sie riecht nach einem nicht zu süßen, teuren Parfüm. „Du och, meine Liebe."
Sie kichert geschmeichelt.

Matzge erscheint in der Tür zum Büro. „Na, ihr? Wie sieht`s aus?"

„Jut! Wie immer!"

Sylvie grinst mich an, klatscht dann in die Hände. „Jungs! Ihr werdet`s nicht glauben, aber ich habe eine Anfrage von - tadada! – der BRAVO." Sie strahlt uns an, vor allem aber mich.

„Was?" Jan macht große Augen. „Die Bravo?"

„Genau. Der Ulli ist echt ein ganz Netter. Der ist mit den Undertones in England getourt."

„Den Undertones?", schreien Jan und ich synchron.

„Der Ulli meinte, eure Kapelle würde ihn an die erinnern."

„Hat er das echt gesagt?" Ich strahl Sylvie an, fass es nicht.

„Aber – das ist die BRAVO!" Hans sieht uns zweifelnd an.

„Ja, eben", schreien Jan und ich wieder im Chor. Wir laufen mal wieder perfekt auf einer Wellenlänge.

„Aber – also, wenn die Leute aus der Szene sagen, dass wir Punkverräter sind, dann ... dann haben die doch recht." Unsicher sieht er uns an. „Oder?"

„Dit is mir so wat von schnuppe." Warum checkt Hans das nicht? „Ick hab schon bei unserm ersten Konzert im Eck zu Krätze gesagt, dass seine Schwester mein Bravoplakat über`m Bett hängen hat und jetzt ... Jetz - wird – das – Wirklichkeit!" Ich packe Jan an den Händen, der sich anfangs noch ziert, aber dann dreht er mich in eine Pirouette und ich tanze mit ihm durch das Studio.

Sylvie sieht uns lachend dabei zu.

„Aber ...", fängt Hans wieder an.

Jan bleibt stehen. „Ick dachte, du stehst gar nich so auf dit ganze Punk sein, also warum is dann ausgerechnet dir die Szene uff einmal so wichtig?"

„Ist sie ja nicht, aber – naja, also, ich fände es schon gut, wenn die jetzt nicht direkt meinen Bus abfackeln oder mir die Reifen zerstechen."

„Oh." Jan und ich sehen uns an.

Jan geht einen Schritt auf Hans zu und legt ihm seine Hand auf die Schulter. „Mhm ... Tja, das wär wirklich doof. Aber – ey, dit könn wir uns nich entgehen lassen. Checkste dit nich? Wat Abstruseres als uns in der BRAVO gibt`s doch gar nich."

„Exakt." Ich bin echt froh, dass Jan das sofort kapiert hat.

„Findest du?" Hans sieht immer noch extrem skeptisch drein.

„Na, klar. Das ist so Anti-Punk, dass es einfach Ober-Punk ist." Jan strahlt. „Besser geht`s nich."

„Also, ich weiß nicht."

„Ach, Mann, Hans, dit is doch ..."

„Aber Jungs!", schaltet sich Sylvie in unsere Diskussion ein. „Natürlich macht ihr das." Sie sieht Hans sehr eindringlich an. „Das ist endlich mal echte Publicity für euch. So eine Chance kommt nie wieder. Ich mach gleich mal `nen Schminkplan für euch."

„Einen was?" Jans Strahlen verlischt.

„Na, einen Schminkplan – wie ihr halt aussehen sollt für das Shooting. Ihr könnt da nicht einfach so auflaufen." Sie zeigt missbilligend auf Jans Outfit, der in einem löchrigen weißen T-Shirt steckt, auf das er mit Edding „Gang of Four" geschrieben hat. „Das muss schon ein bisschen mehr hermachen für so ein Blatt und außerdem sollt ihr aus der Masse herausstechen."

Jan sieht an sich herunter, dreht sich so, dass auf seiner Jeans der Kettenölfleck vom Fahrrad weniger gut zu sehen ist. Wahrscheinlich hätten wir gestern doch ein paar Mark für den Waschsalon opfern sollen. Er zieht mich ein Stück zur Seite.

„Schminken?" Er sieht mich verständnislos an.

„Ey, dit machen die so. Tut doch nich weh. Is ja nich der Zahnarzt." Mein schlechter Gag bringt mir ein minimales Schmunzeln von ihm ein. Make-up ist irgendwie nicht so sein Ding.

„Hey, Sylvie!", ruf ich zu ihr rüber. „Wat sacht denn dein Schminkplan? Also ... wie sollen wir geschminkt werden?"

„Nichts Aufregendes. Einfach nur, um eure Charaktere noch so `n bisschen klarer hervorzuheben." Sylvie deutet mit ihrem rotlackierten Zeigefinger auf Jan. „Du bist der blonde, blauäugige Sonnenschein."

„Ick hab keene blauen Augen."

„Und du, Bela, dich stylen wir im Kontrast dazu so `n bisschen vampirmäßig - düster und geheimnisvoll."

„Sehr cool." Schwer meine Euphorie über diese Idee zu unterdrücken.

Sylvie wirft mir einen dankbaren Blick zu. „Und du ..." Sie legt ihren Kopf schräg und mustert Hans. „Ähm, ja, also, bei dir – mhm, vielleicht probieren wir so was New Wave Mäßiges bei dir aus."

Hans tauscht einen unsicheren Blick mit Jan. „O-okay."


10. Juli – Niebuhrstraße 38 b, Charlottenburg

Am Nachmittag platz ich ohne Anklopfen in Jans Zimmer. Er sitzt auf dem Balkon mit seiner Gitarre auf dem Schoß, aber er hält sie nur, spielt nicht und reagiert auch nicht auf mich. Ganz weit weg scheint er zu sein.

Ich beiß mir auf die Lippen und näher mich ihm. Behutsam leg ich ihm meine Hand auf die Schulter. Keine Reaktion. Ich streich ihm über die Schulter, den Nacken. Auf einmal zuckt er zusammen, sieht zu mir auf und schmiegt sich dann gegen meine Hand, schließt die Augen.

„Na, du?"

Er brummt und zieht mich auf seinen Schoß, legt seinen Kopf auf meiner Schulter ab.

„Alles okay bei dir?"

Er nickt.

„Aber du warst grad ...?"

„Och ... Einfach nur in Gedanken."

„Okay. ..."


12. Juli – BRAVO-Redaktion

Jan steht mit einem Kajalstift vorm Spiegel der Garderobe und sieht mich fragend an. „Wie macht man `n das?"

„Gib mal her." Bevor ich auch nur antworten kann, schiebt sich Sylvie zwischen uns.

Jans Augen werden dezent panisch.

„Hey, ich mach das schon. Vertrau mir, Jan." Sie nimmt mir relativ energisch den Kajal aus der Hand und es gefällt mir ein wenig zu gut. Auch wie sie so einen Moment noch vor mir stehen bleibt und mein Make-Up mustert, hier noch ein bisschen korrigiert, da noch ein wenig mehr aufträgt. Ich schiel ein wenig in ihren Ausschnitt, der nur wenige Zentimeter vor meiner Nase hängt. Von mir aus könnte sie mich ewig so weiter schminken.

„Na, wunderbar." Zufrieden sieht sie mich an. Schade.

 

Nun übernimmt wieder diese Kratzbürste von Kerstin, die sich Visagistin oder wie das schimpft, nennt. „Sicher, das das so soll?" Abschätzig betrachtet sie Sylvies Werk.

Ich nicke enthusiastisch und sehe hinüber zu Sylvie, die großzügig Jans Wangen mit lila Rouge bepinselt und violett-glänzenden Lidschatten aufmalt. Abgerundet werden ihre Schminkkünste mit Lippenstift.

Krass. Fasziniert betrachte ich Jans Transformation. So übertrieben das Make-Up auch ist – irgendwie hat es was. Einfach weil es ihn zu einem ganz, ganz anderen Menschen macht. Ist das vielleicht der Kern von Farin, seiner Bühnen Persönlichkeit? So wirklich anders ist die ja nicht, nur irgendwie weniger verkopft. Vielleicht schaltet den das Bühne Adrenalin einfach mal aus. 


Jan sieht sich im Spiegel an und bleibt wie erstarrt davor stehen. „Ey, dit is `n Scherz, oder? Ick fand ja schon die ganze super lahme Arztkittel-Idee echt scheiße, aber jetzt ... Ick seh doch aus wie `n Clown und ..." Er blickt hinüber zu Hans. „Bei ihm is es noch schlimmer. ... Oder soll das so?" Er wirkt echt verunsichert.

„Ja. Das ist doch das Konzept", erklärt Sylvie ihm. "Schließlich wollt ihr den Leserinnen ja im Gedächtnis bleiben, nich wahr?"

Kerstin zieht meine Aufmerksamkeit weg von Jan. „Sicher, dass deine ganzen Klamotten schwarz sein sollen?"

„Was is `n dit für `ne Frage?" Langsam zweifel ich echt an ihrer Kompetenz.

„Na, also, für ein Photo ist das nicht besonders schmeichelhaft. Du siehst dann halt auf der Seite wie ein schwarzer Fleck mit Kopf aus."

„Quatsch. Außerdem is dit mein Stil. Ick zieh nüscht anderet an."

„Na, das werden wir noch sehen. Außerdem ..." Sie betrachtet Sylvies Werk mit einem sehr argwöhnischen Blick. „Da muss was von dem lila Rouge weg."

Mir ist gerade vollkommen egal, was Kerstin will, denn Sylvie lacht gerade mit Jan, hat ihre ganze Aufmerksamkeit auf ihn gelenkt. Normalerweise flirtet sie ja eher mit mir und jetzt ... Gefällt mir irgendwie gar nicht.

Eine andere Frau schneit herein. „Seid ihr endlich soweit?" Sie kommt auf mich zu, streckt mir ihre Hand hin. „Ich bin Sandra. Ich mach heute die Photos." Ihr Händedruck hat die Kraft eines bärbeißigen Piraten und ich bin ein wenig beeindruckt von ihr.

„Ähm, danke. Also, ick glaub, wir ..."

„Ja, ja. Gleich. Mach nich so ein Stress." Kerstin wirkt genervt.

„Na, wunderbar." Schon ist sie wieder zur Tür raus.

Eine halbe Stunde später und viel Make-Up darauf und wieder runter und wieder drauf stehen wir im richtigen Photostudio. Auf einmal bin ich der am wenigsten Geschminkte von uns dreien. 

Sylvie schiebt uns in Richtung des ausgeleuchteten Bereichs,.der mit auf einmal doch ein wenig Respekt einflösst.

Sandra taxiert uns über ihre Kamera hinweg, runzelt die Stirn. „Die Schminke ... Soll das so?"

„Natürlich." Sylvie nickt energisch. „Sonst hätten wir das ja wohl kaum so gemacht. Das ist Fun-Punk!"

„Okay." Sandra zuckt mit den Schultern. „Wenn das mit Ulli so abgesprochen ist. Im Plan steht auch, dass ich die beiden da ..." Sie deutet auf Jan und Hans. „... zusammen photographieren soll und ihn hier ..." Dieses Mal zeigt sie auf mich. „... einzeln."

„Genau!", lächelt Sylvie sie an, aber ich kann genau spüren, dass Sandra wohl besser keine Diskussion mit ihr anfangen sollte.

„Okay." Sandra blickt wieder durch die Linse ihrer großen Kamera. Wirkt echt ein wenig einschüchternd, das Gerät. Plus die ganzen grellen Scheinwerfer.

Jan und Hans scheinen sich auch nicht so richtig wohlzufühlen im Rampenlicht. Das hier ist schon was anderes als die Bühne bei Konzerten und dementsprechen steif stehen die beiden herum, bis Sandra diagnostiziert: „So geht das nicht! Was braucht ihr, damit ihr euch wohlfühlt?"

„Keene Ahnung." Jan sieht hilfesuchend zu mir. „`ne Gitarre? ... Mein Walkman?"

„Also, Musik", schlussfolgert Sandra. „Kein Problem. Habt ihr eure Platte dabei?"

„Äh, nö." Jan klingt kleinlaut und ich kann sehen, wie er sich in Gedanken eine Notiz macht.

„Aber ich habe die natürlich dabei." Sylvie ist mal wieder die Rettung.

„Sommer, Palmen, Sonnenschein – was kann schöner sein ...", klingt durch das Studio und es ist wirklich als würde die Sonne aufgehen, auch in Jans Gesicht. Auf einmal posiert er mit Hans für Sandra und ihre Kamera, als wäre er dafür geboren worden, und ich komme mir vor wie ...

Fühlt sich Hans oft so? Wie das dritte Rad am Wagen?

Einen Moment habe ich fast sowas wie Mitgefühl, dann sehe ich, dass er mein Bauhaus-T-Shirt anhat. Anscheinend hat Jan es ihm geliehen. Ich will nicht, dass er es trägt. Das war für Jan. Ich hab es ihm damals geschenkt, am nächsten Morgen als er bei mir im alten Kinderzimmer übernachten musste, weil der Bus in Spandau weg war.

Überhaupt gefällt es mir nicht, wie die beiden großen Blonden da so stehen und aussehen, als hätten sie echt viel Spaß, aussehen als würden sie zusammen gehören. Die beiden Frontmänner.

Zum ersten Mal finde ich den auffälligen Unterschied zwischen Jan und mir doof. Zum ersten Mal trennt er uns, anstatt das wir wie zwei Hälften eines Ganzen sind. Bekommt diese blöde Photographin denn nicht mit, welche Chemie Jan und ich miteinander haben? Oder macht Sylvie das absichtlich? Vielleicht findet sie die beiden blonden Riesen ja doch besser als mich. Dabei haben eigentlich alle Signale zuvor mir zugemorst, dass da zwischen uns auch mehr gehen würde. Oder sie flirtet einfach mit allen.

Mit mehr als wirren Gefühlen verfolge ich das Photoshooting von der Seitenlinie, bis ich auf einmal von Sandra vor die Kamera gebeten werde. Von mir soll es ja laut Sylvies Plan ein Extrabild geben, weil ich „der Kontrast zu den zwei blonden Sonnenscheinen" sein soll.

Sandra blickt mich über ihre Kamera an, aber drückt nicht auf den Auslöser, obwohl ich schon seit einer gefühlten Ewigkeit meinen düsteren Blick und meine Pose mit den ausgestreckten Fingern halte.

Die scharfen Photographinnen-Augen von Sandra scheinen wie ein Suchscheinwerfer über mich zu gleiten. Mein linker Unterarm wird seltsam heiß. Ich folge ihrem Blick. Oh, fuck. Sie hat die drei Narben entdeckt. Schnell ziehe ich meinen Ärmel ein Stück runter. Trotzdem brennen die Schnitte weiter. Nicht so stark wie damals, aber ...

Auf einmal steht mir die ganze seltsame Belial-Geschichte wieder vor Augen, als wäre ich dorthin zurück gebeamt worden. Hypnotischer Gesang und tanzende Menschen in schwarzen Kutten. Eine Frau auf einem Altar ...

Blonde Haare, aufmerksam-besorgte Augen sehen auf mich hinunter. „Hey, Bela! Allet okay mit dir?"

„Häh?" Das Feuer der Fackeln weicht dem blendenden Licht der Scheinwerfer, die auf mich gerichtet sind. Jan!

„Kannste ... Hey, Sandra! Ich muss ma kurz ..." Ich zieh Jan am Ärmel seiner Jacke aus dem Studio. Vor der Tür werfe ich mich einfach in seine Arme.

„Was`n los?" Verdutzt hält er mich fest.

Ich habe Angst, dass ich anfang zu heulen, weil .... Aber dann tut mir seine Wärme einfach gut. Es ist, als würde ich aus einem Alptraum erwachen. Ich vergrabe mein Gesicht an seinem Hals, atme ihn einfach nur ein.

Er schlingt seine langen, langen Arme um mich und hält mich ganz behutsam, aber trotzdem fest. Sein großer Körper schirmt mich ab, schützt mich wie eine Trutzburg gegen die ganze Scheiße, die die Welt mir manchmal so in den Weg schmeißt.

Schließlich lös ich mich mit einem langen Seufzer von ihm. Er mustert mich besorgt und ich reck mich zu ihm hoch, streich über seine Augenbrauen, weil ich das Rouge und den Lidschatten nicht verwischen will.

„Schön, siehste aus."

Er sieht mich mit einer sehr zweifelnden Miene an, dann grinst er. „Aber dit mach ick jetz nich jeden Tag. Och nich für dich." Auf einmal kehrt seine besorgte Miene zurück. „Was, also, was war`n grad los mit dir?"

„Och ..." Ich fahr mir unbewusst über meinen Unterarm. Sein Blick folgt der Bewegung und er kneift verwirrt die Augen zusammen, dann werden sie auf einmal sehr weit. Er zieht mich nochmal an sich und küsst mich auf die Stirn.

„Tun se noch weh?"

„Nee. Eigentlich nich ... Nur grad ... Sandra hat so geguckt und ... Eigentlich find ick die nich so schlimm, aber zu wissen, dass die vielleicht auf den Photos in der BRAVO ..." Ich reib mir wieder über den Arm. Die Schnitte sind inzwischen wirklich verheilt, Teil meiner selbst geworden und sie fallen mir gar mehr auf, sind eher wie Tattoos.

Nur Jan – Jan streicht ab und zu gedankenversunken über sie und ich trau mich nicht, zu fragen, was dabei in seinem hübschen Schädel vor sich geht.

Danach will die ganze Crew noch bei uns in der Niebuhrstraße einreiten wegen der "Nahbarkeit". Dieses shooting haben wir wirklich lange diskutiert - und dann alles ordentlich aufgeräumt. 

 

19. Juli – Strandbad Wannsee

Es hat fast eine halbe Stunde gedauert, bis Julia und ich Bela überreden konnten mitzukommen und dann noch mal eine halbe Stunde, bis er alle seine Sachen „gegen die böse Sonne" zusammen gepackt hatte, aber jetzt sitzen wir endlich im Strandbad Wannsee.

Es ist echt schön, wenn auch verdammt voll hier. Durch den Geruch nach Sonnencreme und Pommes fühlt es sich fast ein wenig nach Urlaub an. Urlaub, den ich mir dieses Jahr nicht werde leisten können. Immerhin hatte ich noch genug Geld, um den Eintritt für Julia zu bezahlen, aber für die S-Bahn zurück, reicht die Kohle schon nicht mehr. Morgen geht es wohl wieder an eine der Badestellen am Tegeler See oder an der Havel.

Belas Befürchtung, dass er schmelzen würde, haben sich buchstäblich in Luft aufgelöst, denn es weht eine ganz schön steife Brise, so dass richtig Wellen an den Wannseestrand schwappen.

Eine kleine Melodie spukt mir seit heute Morgen im Kopf herum und ich probiere ein paar Worte dazu aus. „Jeden Tag lieg ich am Wannsee", singe ich leise vor mich hin. „Und ich hör den Wellen zu ..."

Ein kleiner Junge schießt mir seinen bunten Wasserball direkt an den Kopf und wird von seiner Mutter getadelt. Eigentlich kein Problem, aber ich habe tatsächlich durch den kleinen Unfall die nächste improvisierte Textzeile vergessen. Meine Muse war auch schon mal zuverlässiger.

Bela neben mir dreht sich auf den Rücken und sieht zu mir hoch. Süß sieht er aus, wie er da so liegt in einer Boxershort, weil er seine Badehose nicht finden konnte,  und gegen die Sonnenstrahlen zu mir hoch blinzelt.

Ich beuge mich ein Stück zu ihm hinüber und streiche ihm über die Haare. „Na, du?"

„Ihr könnt euch ruhig vor mir küssen", verkündet Julia in unsere Richtung, sieht dabei nicht mal von ihrer BRAVO auf. „Is echt okay."

„Woher ...?"

Nun schaut sie doch zu uns hinüber und grinst. „Dein Blick grad is einfach zum Knipsen un an die Wand hängen, Bruderherz. ... Mann, da brauchste nich so zu gucken. Ick bin doch nich doof. So viel wie de damals immer von Dirk erzählt has. Und nu – is doch schön, dass ihr beide so verknallt seid. Dit strahlt euch echt aus jeder Pore."

„Ähm ..." Ich bin mir echt nicht sicher, ob ich diese Feststellung gut finde. „Also, ..."

Bela erlöst mich, in dem er sich zu mir hoch beugt und mir einen Kuss auf die Wange gibt. Zufrieden lächelnd wendet sich Julia wieder von uns ab und blättert weiter in der BRAVO.

Ich spiele mit Belas langen Haaren und summe weiter vor mich hin. „Mann, ick komm mit dem Lied nich weiter." Ich sing wieder die eine Strophe. „Jeden Tag sitz ich am Wannsee und ich hör den Wellen zu-hu-hu ..."

Auf einmal prustet Julia neben uns los. Ihr ganzer Körper bebt und durch den Lachanfall bekommt sie keine Luft mehr. „Wieso ...?" Sie kann nicht sprechen, hält uns stattdessen eine Doppelseite hin. Aber weil sie immer noch so lacht, kann ich vor lauter Zittern kaum etwas erkennen außer – uns.

„Oh, nein ...", stöhnt Bela und verbirgt sein Gesicht an meiner Schulter. „Ick dachte, dit wird erst nächste Woche veröffentlicht."

„Dacht ick och, aber ... Tja, sieht nach Planänderung aus. Gib ma her", bitte ich Julia, aber die hört mich gar nicht.

Nach gefühlten Ewigkeiten wischt sie sich die Lachtränen aus den Augen. „Dit ... dit is nich euer Ern..." Sie bricht in erneutes Gelächter aus und schließlich schnappe ich mir das Heft.

„Wie schlimm is es?", fragt Bela und hält sich die Hand vor das Gesicht.

„BRAVO blickte in ihre Buden", lese ich vor und breche dann ebenfalls vor Lachen zusammen - ich kann einfach nicht anders. Wir sehen sooo bescheuert aus.

Bela wirft erst einen vorsichtigen Blick auf die zwei Seiten, dann einen neugierigen. „Mann, Hans un du seht aus wie`n Pärchen", murrt er anschließend.

„Dit findeste, is an dem Bild dit größte Problem?"

„Na, vor allem stimmt`s ja nich." Fast wirkt er ein wenig eifersüchtig und irgendeinem Teil von mir gefällt das. Er beugt sich näher über die Zeitschrift in meinem Schoß und ich weiß nicht, wie er bei dem Anblick nicht Lachen muss.

„Mhmmm, ick seh eigentlich janz jut aus", ist schließlich sein Fazit.

„Na, danke." Ich haue ihm meinen spitzen Ellbogen in die Seite, so dass er wirklich aufjault.

„Aber der Lippenstift steht dir. Sieht gedruckt och echt jut aus."

„Ja, toll, nur weil ick sonst so dünne Lippen hab und ..."

„Ick mag deine Lippen."

Aus dem Augenwinkel sehe ich Julia grinsen.

Bela lehnt sich an mich und sieht sich den Rest der Bilder extrem genau an. „Dafür is doch deen Struwwelpeter-Photo ganz süß geworden."

„Du bis och süß." Ich küss ihn auf die Wange und für einen langen Moment schweigt das aufgewühlte Chaos in mir. Dann überfällt mich eine sehr weit reichende Erkenntnis: „Dit is ja bundesweit ... Oh, Mann. Ick befürcht, ab jetz wird dit in der Szene echt hart."

Bela sieht mich nachdenklich an. „Wir müssen dit einfach nur weiter voll durchziehen. Die Hosen haben ihre grässlichen Plastikklamotten un wir ham ... ähm, unseren Humor. Hey, dit is eenfach unser Markenzeichen, das wir komplett anarchistisch sin, unberechenbar."

„Mhm." Ich blicke ihn mit einer hochgezogenen Augenbraue an, aber Bela reagiert nicht, schaut weiterhin nachdenklich auf die Doppelseite.

Er runzelt die Stirn. „Aber ick gloob Sylvie hat andre Pläne mit uns. Die will uns anscheinend als „Die zwei blonden Riesen ..."

„... un ihr Grufti" verkoofen, oder wat? Also, ick weeß nich. Is ja schon irgendwie witzig – sieht man ja an Julchens ..."

„Julias!", ertönt es sehr laut von der Seite.

„Julias Reaktion! Aber so auf Dauer? Ey, wir sehen aus wie in `n Tuschkasten gefallen. Als würden wir versuchen, Dragqueens zu imitieren."

„Ey, nüscht gegen Dragqueens. Ades is echt `n guter Freund von mir."

„Hab ick ja och nich, aber ick identifizier mich halt nich damit. Mann, ey. Ick hab echt versucht, an Sylvies Vision zu glauben und ihr zu vertrauen, aber - irgendwie hat die uns echt ganz schön vorgeführt."

„Dit war bestimmt keene Absicht von ihr."

„Meinste? Also, ick war vor Ort schon nich davon überzeugt und  ..."

„Dafür haste aber extrem posiert für die Kamera."

„Mann, ick wollt halt einfach übertreiben, weil dit eh schon allet so doof war. ... Aber jetz fühl ick mich irgendwie, als hätten wa unsere Seele an den Teufel verkauft."

„Na, wohl eher an die Teeniepresse. Teufel wär ja noch interessant gewesen, zu interessant wahrscheinlich." Bela seufzt. Ich seufze.

Dann sehe ich zu Julia, die unser Gespräch interessiert verfolgt. „Wat sachst`n du zu diesem Unfall hier?"

„Also, ..." Ihre Mundwinkel heben sich schon wieder, aber immerhin unterdrückt sie dieses Mal erfolgreich den nächsten Lachanfall. „Na, also damit dürftet ihr nu wirklich ausreichend bekannt sein bei allen."

Ich schlage die Zeitschrift zu und starre verdutzt auf die Titelseite. „Ähm, ... wir sind och auf`m Cover."

„Was?" Bela reißt mir die BRAVO aus der Hand. „Quatsch. Dit is doch James Dean."

„Und die Herrschaften oben links?"

„Oh. ... Krass. Also, ick muss schon sagen, Sylvie hat echt alle Register gezogen. Respekt."

„Ja, dit muss ick ihr echt lassen." Ich wende mich wieder an Julia. „Sach ma, würdeste deinen Freundinnen oder Thomas dit zeigen - und sagen, dass dit dein älterer Bruder is?"

„Mhmmm." Mit gerunzelter Stirn blickt sie auf die Bilder, wiegt den Kopf hin und her und ich habe das Gefühl, dass ich vor Gericht stehe und gleich mein Urteil gefällt wird. „Ja. Doch. Warum nich? Is einfach wat besonderet. Mainstream kann ja jeder."

„O-okay. ... Woher kennste denn solche Worte wie Mainstream?"

„Na, von dir." Sie grinst mich an, so ein bisschen stolz auf ihren großen Bruder und ein bisschen genervt von ihm, fast so wie früher.

„Lies ma vor, wat se geschrieben ham über uns?" Bela deutet auf den Text.

„Leidet ihr an Langeweile, Einfallslosigkeit oder Depressionen? Die drei, die wir euch hier vorstellen, können euch davon befreien. Denn sie behandeln mit Musik. BRAVO hat sich in Deutschlands wildester Arztpraxis umgesehen und der Berliner Kultband „Die Ärzte" kräftig auf den Zahn gefühlt."

„Dit kann ma wo sagen." Bela seufzt tief. „Aber immerhin sin wa `ne „Kult"-Band."

„Nur wenige Meter vom Ku`damm entfernt herrschen in einer engen Zweizimmerwohnung im Hinterhof einer ruhigen Seitenstraße Chaos und Wahnsinn." , lese ich weiter vor.

„Yeah. Dit ham se jut jesacht."

Ich schüttle missbilligend den Kopf. „Dabei hatten wa sogar ufgeräumt. Also ... Hier wohnen Bela B., der finstere Punktrommler ..."

Bela streckt seine dünne Brust stolz heraus.

„... und Farin Urlaub, der Gitarrenmann der durchgedrehten Fun-Punk-Truppe in hektischer Eintracht zusammen."

„Warn wa so hektisch, als die uns besucht ham?" Bela sieht mich fragend an. „Ick hatte nich ma wat geworfen."

„Du bis immer hektisch, Schatz."

„Icke? Du bis genauso hibbelig."

Ich strecke ihm die Zunge raus. „Dit macht ja unsere unwiderstehliche Chemie aus."

Bela lacht und ich widme mich zufrieden wieder dem Artikel. „Seit einem Jahr beherbergen die Räume, die Belas Mutter besorgt hat, die Fanpost-Zentrale „Der Ärzte". Hier wird komponiert, getextet, gegessen und gegruselt."

„Cool, dass sie dit mit dem Gruselding erwähnen."

„Na, nachdem de den Photograph praktisch mit deinem Skelett erschlagen hast ..."

„Der fand dit jut. Der mag och Splatterfilme. Hat mich sogar ins Kino eingeladen, wenn er mal wieder Freikarten bekommt."

Es ist unglaublich, wie gut Bela bei allen ankommt, zumindest wenn sie ihn erstmal besser kennenlernen – vor allem bei Frauen, aber auch bei Typen. Da ist es dann sogar egal, dass er fast eine Stunde zu spät und / oder total verkatert ist.

Schnell lese ich weiter. „Farin ist das intellektuelle Aushängeschild der Berliner. Er hat ordentlich sein Abitur durchgezogen." Irgendwie ist es mir gerade peinlich, weil ...

„Na, toll!" Bela reißt mir die BRAVO aus den Händen und liest eine zeitlang schweigend. „Sach ma, spinnen die? Die ham da echt reingeschrieben, dass ich nach meiner Lehre entlassen worden bin. Ey, das ist doch echt total scheiße, ey."

„Dafür siehste nich wie`n entlaufener Zirkusclown aus", versuche ich abzulenken, da ich merke, wie sehr ihm das unter die Haut geht.

„Sicher, dass Zirkusclown die richtige Beschreibung dafür ist?" Bela kann sich nun doch das Lachen nicht verbeißen, aber wird dann wieder ernst. „Dit is echt doof, dass du jetz der Intellektuelle und icke ... Mann, ick hab halt keen Abitur. Ging nich, weil ich anfangen musste zu arbeiten. Außerdem ..." Gleich schmeißt er die Zeitschrift in den Wannsee. „Ick les och Bücher."

„Ja. Is echt doof. War wohl `n bisschen naiv von uns zu denken, dass ausgerechnet die BRAVO ...   Wahrscheinlich keen Wunder, wenn das da so `n Quatsch über uns bei rum kommt."

Bela seufzt. „Mhm. Aber so schlecht is der Artikel och nich. Is ja schon `n Portrait, wie wir so drauf sind."

„Mhm, voll geschminkt, ne."

„Jetz tu doch nich so abschätzig. Dit is doch okay. Außerdem – wie soll`n dit sonst gehen mit berühmt werden und so."

„Hm ..." Etwas steigt in mir hoch. „Is schon och echt irgendwie witzig – wir in der BRAVO."

Bela und ich sehen uns an und prusten gleichzeitig los.

„Hans und du – ihr seht echt so wat von krass aus", kichert Bela, dann deutet er auf ein Photo unten rechts auf der Doppelseite. „Aber ick find`s gut, dass sie Hans mal enttarnen mit seiner reichen Familie. Der Klodeckel steht ihm wirklich."


S-Bahnhof Wannsee

„Ey, Bela, jetz mach ma hinne." Ich ziehe ihn im letzten Moment durch die sich schließenden Türen der S1.

Wir schmeißen uns in einen freien Vierersitz. „Hey, Julia. Zeig mir nochma den Artikel." Bela macht es sich mit der BRAVO gemütlich. „Geil, oder?" Er strahlt mich an.

Ich seufze. „Mhm. Ick bin mir ehrlich gesagt, nich sicher, ob unsere Idee wirklich so jut war. Aber – na, vielleicht hilft uns dit ja ma, das och ma `n bisschen Kohle rumkommt, neben dem Ganzen berühmt werden."

„Berühmt sein, is doch super."

„Klar. Und damit willste dann morgen die Miete zahlen, oder wat?"

„Och, menno. Du machst immer meine schöne Seifenblase kaputt." Bela zieht einen Flunsch.

„Tut mir echt leid, Herr Wolkenkuckucksheim."

Auf einmal bemerke ich Blicke auf mir. Zwei Jungs, so um die zwölf, dreizehn starren uns an.

Der eine stößt den anderen an und flüstert relativ laut: „Schau mal, das sind die Ärzte."

Der andere mustert uns eingehend, dann schüttelt er den vehement den Kopf. „Bist du verrückt, die fahren doch nich S-Bahn."

Bevor ich mir über die Absurdität dieser Vorstellung Gedanken machen kann, sehe ich hinter den Jungs etwas, dass ernsthafte Schwierigkeiten mit sich bringen könnte. Ich stoße versteckt Bela an. „Kontrolletis."

Der wird total blass.

„Ruhig bleiben." Ich drücke seine Hand.

„Aber die Ausweise ..."

„Du hast doch gesacht, dass Max Freund die astrein gefälscht hat." Ich suche in meinem zerfledderten Portemonnaie nach meinem Semesterausweis. Mein Herzschlag beschleunigt sich.

Neben mir kramt Julia seelenruhig ihre Schülerkarte raus.

„Die Fahrausweise bitte!" Ein bulliger Typ kommt auf uns zu. Er kneift misstrauisch die Augen zusammen, als er uns sieht. Keine gute Ausgangslage für uns.

Er mustert Belas Ausweis. „FU, wa?"

Bela nickt einfach nur.

„Und die lassen solche wie dich in die Uni rein, ja?" Er hebt seine Hand, als wollte er ihn an den Haaren ziehen und ich mache mich noch ein Stück größer.

Bela nickt wieder, seine Schultern hängen runter und fast wünsche ich mir, dass er so ausflippt, wie ich es sonst von ihm in solchen Situationen gewohnt bin.

Anscheinend findet der Kontrolleur Belas Reaktion auch nicht wirklich befriedigend, denn nun wendet er sich mir zu. „Und du, Zottel?"

Hinter seiner Schulter sehe ich, wie nun doch Zorn in Belas Gesicht aufflammt, aber ich schüttel minimal den Kopf. Besser wir schauen, dass wir hier fix rauskommen. Gerade fahren wir in den Bahnhof Zoo ein.

Ich ziehe ein wenig die Schultern nach vorne, um weniger groß zu erscheinen, halte dem Typen meine Karte hin. Hinter ihm öffnen sich die Türen. Auf einer Plakatwand hängt Werbung für die aktuelle Bravo – mit dem Titelbild und unseren Konterfeis drauf.

Der Typ wirft seinem Kollegen einen Blick zu, nickt, reicht mir wortlos meinen Ausweis zurück.

„Komm, nüscht wie raus." Ich schiebe Bela auf den Bahnsteig und er atmet hörbar auf. Ich warte darauf, dass sich endlich die Türen der S-Bahn schließen, denn die zwei Typen starren uns immer noch hinterher, aber nichts passiert.

Julia deutet auf die Werbung am Bahnsteig und grinst.

Bela ist immer noch voll auf die Kontrolleure in der offenen S-Bahn-Tür fixiert. „Mann, dit hätte uns jetz noch gefehlt. 50 Mark weg. Mal zwei."

Ich nehme ihn an der Hand und ziehe ihn hinüber zu der Plakatwand, positioniere ihn passend. „Wink mal."

„Häh? Zu wem denn?"

„Na, zu den Kontrolletis."

„Wieso denn?"

„Mach ma." Ich setze eine Miene auf, die eine klare Herausforderung an ihn beinhaltet. Das klappt eigentlich immer.

„Okay." Er hebt die Hand und synchron winken wir zu den beiden Typen rüber. Die machen große Augen, aber noch größere macht Bela, als er schließlich begreift, was die Aktion sollte.

Er starrt auf die BRAVO-Werbung und sein eigenes Gesicht, neben dem ich ihn gerade positioniert hatte.

„Nee, ne? Wir am. Bahnhof Zoo?" Er springt mir in die Arme und versucht mich herumzuschleudern, was durch seine Euphorie sogar ein wenig klappt. „Wie geil ist das denn bitte?"


Ex `n Pop - Schwäbische Straße, Schöneberg

Am Abend schmeiß ich mich zurück ins Nachtleben. Es gibt eine neue Kneipe in Schöneberg, die erobert werden will. Jan wäre wahrscheinlich sogar mal mitgekommen, aber Julia kann er ja schlecht mitnehmen und aus irgendeinem Grund wollte er sie nicht allein in der WG lassen, obwohl die ja nun wirklich alt genug dafür ist.

Jemand klopft mir am Tresen auf die Schulter. Es ist Ratze. „Hey, Bela, dit hier is Axel. Ihr fahrt doch morgen ma wieder rüber nach Westdeutschland, ne? Könnt ihr den vielleicht mitnehmen?"

Ein Typen in `ner Lederjacke und leichter Halbglatze steht hinter ihm.

„Ähm." Ich versuch, meine Augen scharf zu stellen, aber es will nicht klicken. Schließlich frag ich den Mann: „Sach ma, kenn ick dich nich irgendwo her?"

„Hast du unsere heiße Nacht schon wieder vergessen?" Der Typ zieht die Augenbrauen hoch und Ratze, der Arsch, fängt lauthals an zu lachen. „Ich würd mal sagen, dafür musste mir einen ausgeben."

„Also, ick geb dir `nen aus, weil wir deinen hübschen Arsch morgen über die Grenze schmuggeln sollen, ja?"

„Genau."

„Okay." Ich klopf ihm auf die Schulter. „Du gefällst mir."

Erst am nächsten Tag in Hans VW-Bus platzt die große Bombe.

„Du spielst bei Family 5?" Jan, der Axel am Anfang etwas sehr reserviert begegnet ist, wahrscheinlich hatte er ihn als einen weiteren Saufkumpan von mir abgestempelt, springt so sehr auf seinem Sitz herum, dass er sich den Kopf am Dach stößt. „Ernsthaft?" Seine Augen sprühen Sterne. „Ey, ick lieb Family 5. Echt krass, dass du mit Peter Hein spielst. Fehlfarben, ne, dit war echt ... "

Ich mag die schon auch, aber gegen Jans Euphorie komm ich grad nicht an, denn wenn er die mal hochdreht, dann ist das wie ein Atomkraftwerk, so sehr strahlt er.

Der Rest der Fahrt zieht in allgemeinem Fangequatsche und weiterem Musikgefachsimpel vorüber, eskaliert noch einmal vollkommen am Nachmittag, als sich in der Nähe von Hannover herausstellt, dass Axel auch noch Frank-Zappa-Fan ist und Jans Mund sich so schnell bewegt, dass ich die einzelnen Worte nicht mehr voneinander trennen kann.

Noch zwei Stunden bis Düsseldorf ...


20. Juli – Düsseldorf – Ratinger Hof

Es ist einfach wieder ultralaut, weil alle im Hof rumgrölen, als wäre das hier das Oktoberfest für Punks.

Hosen-Heimat.

Dirk und Jan finden das richtig genial, aber ich bin mir da nicht so sicher. Die Leute im Hof sind zum Teil ganz schön asozial.

Allerdings scheint auch Bela ein bisschen Schiss zu haben und ich gönne es ihm von Herzen. Vor Campis Ausbrüchen hat sogar der kleine Giftzwerg ein wenig Respekt.

Der ganze Auftritt ist sowieso nur zustande gekommen, weil Jochen, der Hosen-Manager, sich bei Matzge gemeldet hat. Ich schätze Menschen mit Geschäftssinn und Initiative. Karrieretechnisch ist es auch eine gute Idee, mit auf diesen Funpunk-Zug der Hosen aufzuspringen. Die haben nämlich sehr viel mehr finanziellen Erfolg im Gegensatz zu uns. Von Hülders Totenkopf-Label könnten sich die bei Vielklang noch einiges abschauen, denn unsere versprochene Karriere dümpelt noch sehr vor sich hin.

Plus dieses ständige Touren – vor allem neben meiner Uni. Das ist echt blöd, weil ich dadurch in manchen Kursen total hinterher hänge oder komplett unausgeschlafen in Vorlesungen auftauche, nachdem ich uns nachts noch durch halb Westdeutschland und die DDR bis nach Berlin zurück chauffiert habe. Die anderen haben es gut, die pennen meistens dann einfach hinten – oder machen sonst was, von dem ich gar nichts wissen will.

Jetzt übernimmt diese elende Fahrerei immerhin auch mal Nopper. Das hilft ein bisschen, auch wenn es immer noch mein Bus ist, mit dem wir das meiste erledigen. Ohne mich wären die beiden Künstler eh nie dort gelandet, wo wir jetzt sind. Schließlich habe ich die ganze Infrastruktur gestellt. Immerhin bedankt sich zumindest Jan ab und zu dafür.

Einen weiteren Karriereschritt haben Matzge und Jörg jetzt wohl immerhin getan, denn es gibt nun endlich Verhandlungen mit einer richtigen Plattenfirma, der EMI. Aber laut der beiden wollen die wohl entweder nur uns oder die Hosen signen. Fast ein bisschen seltsam, dass ausgerechnet jetzt uns Jochen vier Gigs organisiert hat.

Aus der Menge fange ich einen extrem scharfen Blick auf. Campi. Ich winke ihm zu, aber er dreht mürrisch seinen Kopf weg. Keine Ahnung, was der auf einmal für ein Problem mit mir hat. Eigentlich dachte ich, er wäre nur auf Bela sauer, weil der seine Freundin angegraben hat.

Am Tresen entdecke ich Jochen und gehe zu ihm hinüber, strecke ihm meine Hand hin. „Hallo Jochen! Schön dich zu sehen!" Er sieht mich erstaunt an und schlägt dann ein. Ein echter Händedruck. Das zeigt auch von meiner Seite schon mal, dass ich es ernst meine.

„Ist bei euch alles in Ordnung?", frage ich ihn.

„Klar. Hey, ich hab schon mit Matzge und Jörg geredet. Also, wir würden uns wirklich freuen, euch an Bord willkommen zu heißen. Es macht echt Spaß, unter der Totenkopfflagge zu segeln, so viel kann ich versprechen."

„Euer Erfolg ist da das beste Aushängeschild."

„Allerdings. Und die zwei besten deutschen Funpunk-Bands auf einem Boot. Was kann es Besseres geben?"

„Das sehe ich genau wie du, aber ... Andreas hat mich vorher so böse angesehen."

„Ach, der. Mach dir nichts draus. Der ist nur eifersüchtig. Diese Nummer hat er vorher auch schon wegen der Neubauten abgezogen. Aber ich will halt ein erfolgreiches Plattenlabel führen."

Ich klopfe Jochen bestätigend auf die Schulter. „Genau. Endlich mal jemand, der einen ähnlichen Ansatz hat wie ich."

„Na, wunderbar. Dann ..." Er streckt mir seine Hand hin. „Dann lass uns das hier mal informell besiegeln. Den Rest können wir ja dann später ..."

Mein Blick fällt auf Dirk und Jan, die in einer Ecke mal wieder rumtuscheln und dabei viel zu nah beieinander stehen. Wenn Jan nicht möchte, dass das mit ihm und Dirk bekannt wird, sollte er wohl besser mal seinen Körper unter Kontrolle kriegen.

„Also ..." Ich blicke auf Jochens Hand und zögere. „Ähm, ich muss das noch mit den anderen besprechen." Mann. Wenn ich endlich mal unser offizieller Manager wäre, dann wäre das nicht alles so umständlich. Die beiden haben eh keine Ahnung vom Geschäft, aber bestehen immer drauf, dass alles demokratisch besprochen und geregelt wird.

„Okay, aber lasst euch nicht zu lange Zeit. Euer Stern ist gerade am steigen und das muss jetzt auf die richtige Art und Weise gefördert werden. Dann viel Spaß euch noch, aber das muss man euch ja eigentlich gar nicht wünschen, so wie ihr auf der Bühne abgeht."

Ich nicke. Irgendwie nett, dass er uns alle mit einschließt. Die meisten anderen reden immer nur über Bela und Farin.

Tatsächlich sind sie auch alle von den Hosen da und pogen im Publikum fröhlich zu unserer Version von „Twist and Shout" und „Blue Suede Shoes" mit. Jan und Dirk wollten damit wohl hier in Düsseldorf angeben. So richtig klar habe ich die Bassgriffe nicht. Hoffentlich fällt das nicht auf. Wäre gerade vor Jochen echt peinlich. Immerhin macht Jan seine Sache an der Gitarre gut und die Show läuft auch super – zumindest auf der Bühne.

Das Publikum ist wirklich super asozial hier – oder Campino hat es gegen uns aufgehetzt. Am Ende eskaliert es dann doch noch, als Jan so schlau ist, seine Milch über so einen Punker mit Riesen-Iro auszugießen.

Und wer bekommt den Ärger am Ende wieder ab? Natürlich ich! Immerhin haben diese Düsseldorfer Vollidioten von Punkern es anschließend nicht geschafft, meinen Bus anzuzünden. Jans und meine Größe beeindruckt wohl dann doch. Sauer war ich trotzdem. Sogar Felsenheimer hat auf der Rückfahrt mal seine Fresse gehalten.

Zum Glück ist Matzge dieses Mal nicht mitgefahren. Der muss nicht unbedingt mitbekommen, was wir hier planen und nachdem ich mich wieder beruhigt habe, ist jetzt mal genügend Zeit Jan und Dirk Jochens Plan zu unterbreiten.

„Hey, ich hatte heute ein echt gutes Gespräch mit Jochen."

„Welchem Jochen?" Wenn Dirk es nur einmal schaffen würde, nicht so patzig zu klingen, wenn er mit mir redet – ich würde mir den Tag wirklich im Kalender anstreichen. Jan behauptet immer, dass Dirk mit allen so redet, aber der hat ja mit ihm auch keine Probleme.

„Also, Jochen würde uns gerne an Bord seines Totenkopflabels holen."

„Oh wow. Cool", höre ich Jan von hinten. "Aber wissen Matzge nicht nd Jörg Bescheid?"


„Hat Campino da och Bock drauf?", brüllt Dirk zu mir nach vorne.

„Erstens: Ich bin nicht taub. Ich hab dich schon verstanden. Und zweitens: Darum geht es nicht."

„Findste? Also, ick gloob, dit könnte `n Problem werden – so von wegen Konkurrenz und so." Dirk, der genauso eitel ist wie Andreas, kann dessen Gefühle wohl deswegen sofort nachvollziehen.

„Und nein, Matzge und Jörg müssen davon erstmal nichts wissen."

„Aber dit is doch seltsam, wenn wa ...", fängt Jan an, aber ich schneide ihm das Wort ab.

"Es gibt halt so ein, zwei Bedingungen."

„Bedingungen?"

„Also, erstens soll ich unser Manager werden:"

„Häh? Wieso `n ditte?" Bela hört sich sofort misstrauisch an. „Dit haste dir doch ausgedacht."

„Gar nicht. Das würde einiges vereinfachen. Die zweite Bedingung ist: Wir sollen für die nächsten sechs Monate stillhalten."

„Häh, wie stillhalten?" Jan Skepsis wabert geradezu durch den Bus.

„Also, wir sollen halt nicht auftreten und ..."

„Nich auftreten?", brüllen Jan und Dirk in stereo von hinten.

„Sach ma, hat der noch alle Tassen ...", schreit Dirk mir von links ins Ohr.

„Ey, von was soll`n wir denn die Miete bitte bezahlen ohne Auftritte", stöhnt Jan von der anderen Seite. „Dit is unsere einzige Einnahmequelle."

„Nee, vergiss es." Im Rückspiegel kann ich sehen, wie Dirk grimmig die Arme überschlägt. Tja, das war`s dann wohl. Wenn der Giftzwerg nicht mitspielt, dann ist Jan auch nicht dabei. Den hat er da voll im Griff.


22. August – Produktionsbüro Starlight Film, Schöneberg

Endlich sitzen Hans, Bela und ich bei Michael im Büro. Er ist Regisseur und will einen Film über eine Berliner Nachwuchsband drehen. Nachdem ich vor drei Tagen anscheinend das erste Casting bestanden habe, wollte ich mir die Gelegenheit nicht entgehen lassen, meine echten Bandkollegen mit an Bord zu holen.

Monika vom Loft hatte mich empfohlen. Am Anfang fand ich es etwas gewöhnungsbedürftig einfach so aus dem Nichts los zu spielen für eine Kamera. Immerhin konnte ich den Text. Das hat mir wohl auch Pluspunkte eingebracht und ich bin in die engere Auswahl gekommen.

Dass wir heute überhaupt noch rechtzeitig hier angekommen sind, ist echt ein Wunder, denn Hans Bus hat ein paar Querstraßen vorher den Geist aufgegeben und sich auch per Anschieben nicht mehr starten lassen.

Ich versuche, so gut es geht, Zuversicht und gute Laune zu versprühen, obwohl ich mir nicht so richtig sicher bin bei dem ganzen Projekt hier, aber – ich liebe Filme. Und ich bin verdammt neugierig, wie es so hinter den Kulissen aussieht, wie so ein Dreh abläuft. Und das fast wichtigste Argument: Geld. Bela und ich brauchen so dringend Geld.

Deswegen tanzen wir heute auch alle drei hier an.

Außerdem soll das ganze wohl auch eine Liebesgeschichte enthalten. Tini, die Frau, mit der ich die Probeszene vor drei Tagen gedreht habe, war ziemlich cool – und witzig. Mit ihr ist es mir auf einmal ganz leicht gefallen, die Szenen zu improvisieren und ich würde es echt ihr zu schreiben, dass ich überhaupt für die Hauptrolle noch in Erwägung gezogen werde.

„Monika hatte echt nicht Unrecht. Hier guck mal selbst." Michael, der Regisseur zeigt auf einem kleinen Monitor, auf dem die Aufnahmen von meinem ersten Casting laufen. „Also, etwas sehr Telegenes hast du auf jeden Fall schon mal. Deswegen bist du jetzt ja auch in der engeren Auswahl für den Richy."

„Okay, aber wie gesagt: ick mach dit nur, wenn die beiden hier och mitmachen dürfen." Ein bisschen dreist komme ich mir schon vor. Kompletter Laie, aber Forderungen stellen. Wenn das nicht klappt, dann ...

„Übrigens, ich habe eine neue sehr vielversprechende Kandidatin für die Rolle der Anja gefunden."

Oh. „Aha. ... Aber die Tini war doch gut."

„Schon, aber ... Die ist so ein bisschen zu sehr das Berliner Rotzgör und ich hätte gerne eine ... unschuldigere Hauptdarstellerin. Sie sieht auch echt super aus."

„Ähm, okay, also, muss ick, wenn dit echt was wird, wohl ma kennenlernen", presse ich raus und versuche mir nicht die Enttäuschung anmerken zu lassen.

Michael kriegt das aber eh gar nicht mit, denn er richtet hinter seinem Schreibtisch gerade die Kamera für weitere Probeaufnahmen ein. Dieses Mal scheinen wir die Szene einfach hier im Büro zu spielen und nicht mit so vielen Requisiten.

Er deutet auf Hans und mich. „Na, dann zeigt mal, was ihr könnt."

Hans und ich legen mit unserer kleinen Szene los. Ich bemühe mich sehr, wirklich richtig wütend und aggressiv zu sein. Allerdings schubst mich Hans gleich bei der ersten Aufnahme sehr realistisch zurück und ich verliere nicht nur das Gleichgewicht, sondern falle vollkommen aus der Rolle. Weil das alles so seltsam ist, muss ich lachen und die Aufnahme ist versaut.

Danach ist Hans super defensiv, was irgendwie auch nicht so richtig passt.

Michael ist deutlich wahrnehmbar unzufrieden. „Jan, versuch doch nochmal mehr ... Das ist alles zu ungefährlich, was du hier machst. Mach richtig ... Mach ihn richtig an."

„Ich kann ihn doch nich prügeln hier." Ich lache viel zu viel, nur um die seltsame Stimmung aufzufangen. Und auch weil ich so dermaßen aufgeregt bin, aber nicht will, dass er das merkt.

Bei der nächsten Aufnahme vergisst Hans die ganze Zeit seinen Text und ich bin mir echt nicht sicher, was wir hier für ein Bild abgeben. So ein Film ist ja schon ein ernsthaftes Projekt – und kostspielig. Vermutlich sollten wir viel professioneller sein ... Keine Ahnung, warum Michael seinen Film unbedingt mit Laienschauspielern drehen will.

Dann wird auch noch Bela in die Szene mit hineingezogen. Der hat ein anderes Problem als ich, der gefühlt viel zu stark und übertrieben agiert. Er findet irgendwie nicht so richtig in seine Rolle hinein. Ich habe ihn selten so schüchtern und wenig präsent erlebt. Allerdings ist die Filmkamera aber auch ziemlich furchteinflößend. Da war das BRAVO-Shooting echt Kindergarten dagegen.

„Also ihr beide ..." Michael wedelt mit seiner Zigarette zwischen Hans und mir hin und her. Ich hasse den Rauch, aber trau mich nicht, was zu sagen. Außerdem raucht Bela auch, wenn er nicht gerade an seinen Fingernägeln kaut. „... ihr habt auch eine ganz gute Chemie.

„Aber daran ..." Er zeigt zwischen Bela und mir hin und her. „Daran müssen wir noch arbeiten. Immerhin ist Robert dein bester Freund."

„Ähm, könnt ick vielleicht `n andren Namen haben?", fragt Bela in Michaels Anweisungen.

„Wie `n anderen Namen?"

„Naja, also, eher was Cooles. So wie – ähm, vielleicht Igor oder so."

Michael sieht ihn verdutzt an. „Okay. ... Ja, vielleicht, aber jetzt muss das ja erstmal hier mit den Aufnahmen klappen, nicht wahr?"

Sehr wahr. Leider. Bela, der bei so vielen Gelegenheiten voll aufdreht, ist heute viel zu soft. Und Hans ist viel zu sehr – Hans.

Natürlich bemerkt das auch Michael. „Ein bisschen müsst ihr euch dafür schon auch anstrengen. Du wolltest doch, dass deine Freunde und Bandkollegen im Film mitspielen, Jan, oder habe ich das falsch verstanden?" Michael sieht mich verwirrt an und ich seufze innerlich und lächle äußerlich.

„Ja. Ja, klar." Ich setze alles auf eine Karte und grinse ihn an, damit meine Worte nicht so drohend klingen. „Ohne die beeden Karpeiken spiel ick nich mit."

Am seltsamsten ist es, als ich auch noch Bela laut anmaulen soll. Und natürlich falle ich wieder aus der Rolle, weil Bela rausfällt und lacht. Aber ich kann ihn echt gut verstehen: Ich will dieses Geschrei ja auch weglachen.

„Probier, das bitte nochmal ohne Lachen", merkt Michael sofort kritisch an.

Dann lenkt mich Bela noch wegen eines schwarzen Fussels in meinen Haaren ab, Michael will, dass ich Hans im Sitzen anschreie, dann fängt Hans einen kleinen Boxkampf an und ... Es ist echt alles ein wenig zu viel und mein Körper reagiert darauf mit noch mehr Grinsen und Lachen. Ich kann es einfach nicht abstellen. Oje ...

Außerdem bin ich irgendwie nervös, dass es klappen könnte und ich dann wieder mit einem Haufen Menschen zu tun habe, vor denen alles mit Bela verborgen werden muss. Also, laut Bela muss es ja nicht verborgen werden, aber ... Wahrscheinlich wirke ich deswegen mit ihm gerade so merkwürdig angestrengt und fast abweisend, weil ich Schiss habe, dass die anderen was checken.

„Gut." Michael schaltet die Kamera aus und stützt sich auf seinen Schreibtisch. „Also, Jungs, ihr seid wirklich sympathische Kerlchen, aber ich kann euch heute noch nicht zusagen. Wir casten noch weitere Bewerber und Bewerberinnen für die verschiedenen Rollen." Er wendet sich an mich. „Aber eins kann ich sicher sagen: Die Kamera mag dich, Jan. Das habe ich dir ja schon bei unserem ersten Treffen gesagt. Aber – wir müssen halt mal sehen, ob wir echt alle drei von euch nehmen wollen."



*
*




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LYRICS

Die ärzte - Mädchen
Françoise Hardy - tous les garçons et les filles
The Undertones - Male Model
Stiff Little Fingers - Tin Soldiers
Depeche Mode - Everything counts
Die ärzte - Bravopunks
Family 5 - Jochen Hülder gibt `ne Party


ADDITIONAL SONGS

Sahnie - Magen
(Auf eigene Gefahr! Ihr seid vorgewarnt.)

die ärzte - ein bisschen schwierig so
Lyrics

die Ärzte – Bravopunks live – Rock am Ring, 2007
Damn you, Bela! Seriously!!!
die Ärzte – Bravopunks live – die Band, die sie Pferd nannten

VIDEOS

Casting extended mit den potentiellen anderen Richy Schraders und Anjas

 

PHOTOS

Ganz originell im Arztkittel
AR / Gee Gleim - guter Abzug / Punk in Deutschland
BRAVO-Poster Bela

 

LOCATIONS

Ex `n Pop - Schöneberg


PIEPELS

https://de.wikipedia.org/wiki/Axel_Schulz_(Manager)
Jochen Hülder
WZ – als Jochen Hülder eine Party gab



INTERVIEW

Spiegel Online – Wir galten als Teufelszeug

SPIEGEL ONLINE: 1984 waren die Ärzte zum ersten Mal auf einem „Bravo"-Cover abgebildet. Hatten Sie in diesem Moment das Gefühl, Ihr Ziel, Popstars zu werden, erreicht zu haben?

Bela B.: Es war anfangs ein Leben der Widersprüche. Wir stiegen mit gefälschten Schülerausweisen in einen Bus und fuhren an Plakatwänden vorbei, auf denen unser Poster hing. Das war bizarr.

Urlaub: Bela und ich standen mal zusammen in der U-Bahn und belauschten folgenden schönen Dialog zweier Schuljungs: Der eine: „Schau mal, da stehen die Ärzte." Darauf sagt der andere: „Bist du verrückt, die fahren doch nicht U-Bahn."




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Chapter 44: 1984 - Lügengebäude

Chapter Text

*

 

 

Hallo Ihr Lieben!

Also, nachdem ich bei 15.000 + Wörtern war, hab ich mich entschieden, dass Kapitel noch ein Mal zu teilen.

Außerdem sind viele der Handlungsstränge anders verflochten, als der Zeitstrahl in den Biographien, ebenso die Ortsangaben. Es ist einfach sehr viel los 1984.

Zudem verfremde ich endlich mal mehr die Namen der anderen Beteiligten.

Ich hoffe, es macht dennoch weiterhin Freude diese halb-fiktive Geschichte zu lesen.

The Windmills

 

 

 

* Teenagers in Love *






1984 – Lügengebäude






29. Juli – Höxter

„Ooooooh!" Jan wälzt sich im Bett neben mir hin und her.

„Hey, alles okay?"

„Mhmm-mir is nich gut."

Ich schalt das Licht an. Schweißperlen stehen auf seiner Stirn und er ist leichenblass.

„Übel ...", bringt er gerade noch heraus, dann hechtet er hoch und aus dem Zimmer, ich hinterher. Ich finde ihn auf dem Flur. Er hat es leider nicht bis zur Toilette geschafft, aber ich hör ihn schon wieder würgen. Schnell schieb ich ihn durch die Tür der Toilette und klapp den Klodeckel hoch. Immerhin landet dieses Mal das Meiste in der Schüssel.

Jan sinkt vor dem Klo auf die Knie und ich halt ihm die langen Zotteln seines Ponys aus dem Gesicht. Ein erneuter Schwall. Ich streich ihm vorsichtig über den Rücken und versuch so gut es geht, nicht zu atmen.

Er würgt noch ein paar Mal, so dass sich sein ganzer langer Körper krümmt, aber es kommt nichts mehr. Erschöpft lehnt er sich an die Wand unter dem Waschbecken. Ich reich ihm Klopapier und er wischt sich den Mund ab.

„Hab`s nich ganz geschafft", flüstert er. „Tut mir leid"

„Hey, Quatsch. Allet jut – also, bei mir. Meinste, da kommt noch wat?"

„Vielleicht. Ick wart hier lieber noch `n Moment", tönt es leise unter dem Waschbecken hervor. Er sieht wirklich leichenblass aus mit dunkelblauen Ringen unter den Augen.

„Kann ich dich kurz allein lassen?"

Er nickt, stöhnt als er den Kopf dabei bewegt. „Mhm. Is okay."

Schnell beseitige ich alles im Flur. Zum Glück haben die hier Linoleum und keinen Teppich. Ich unterdrück die in mir aussteigende Übelkeit. In diesem Fall ist es eher gut, dass ich noch so `n bisschen Restalkohol im Blut hab. Dadurch seh ich nich alles so glasklar.

Dann lauf ich in unser Zimmer, füll einen Zahnputzbecher mit Wasser und geh zu ihm zurück. Er hat den Kopf auf die Knie gestützt. Nur das leise Stöhnen verrät, dass er nich eingeschlafen ist.

„Hier. Trink dit ma. Aber langsam."

Er drückt dankbar meine Hand und leert in kleinen Schlucken das ganze Glas.

„Mehr?"

Er schüttelt vorsichtig den Kopf. „Mein Bauch tut immer noch weh. Un mir is schwindlig."

Ich helf ihm vorsichtig hoch. Seine Hand zittert in meiner.

„Soll ick dich wieder ins Bett bringen?"

„Mhm ..." Jan schlottert richtig. „Mir is echt kalt."

„Okay."

Ich muss ihn den ganzen Weg zurück stützen, was gar nicht so leicht ist bei unserem Größenunterschied. Sein Körper fühlt sich riesig an auf mir. Und heiß und verschwitzt.

Im Bett zieht er sich die Decke bis unter die Nasenspitze, zittert trotzdem noch. Ich fass an seine Stirn – heiß, viel zu heiß. Mist. So richtig, weiß ich nich weiter.

„Bela?" Er klingt so kläglich.

„Ja?"

„Kannste bei mir bleiben?"

„Ja, klar." Ich setz mich zum ihm auf`s Bett. Natürlich bleib ich bei ihm.

Im nächsten Moment krümmt er sich wieder und ich geh in Deckung.

„Auuu." Ein Jaulen, das mir durch und durch geht, mir wirklich Angst macht. Das ist keine der mir bekannten „Zu viel gesoffen"-Übelkeiten. Er springt hoch und geht schnell zur Tür und ich will schon hinterher, aber er winkt hektisch ab.

„Nee, nee, nee. Bleib du mal hier." Und schon ist er weg.

Nach einer Viertelstunde ist er wieder da, immer noch blass und sein weißes T-Shirt ist fast durchsichtig, so sehr schwitzt er.
„Mhm, jetz och noch Durchfall. Und dit Wasser hab ich och schon wieder ausgekotzt. Ick bin so müde." Erbarmungswürdig sieht er aus. Mit einem Stöhnen legt er sich wieder in sein Bett. Auch auf seiner Stirn stehen Schweißperlen, aber er scheint immer noch zu frieren.

„Du; Jan? ... Ick gloob, wir sollten `n Arzt holen. Also, `n richtigen." Ich wart, dass er grinst, aber da kommt nichts, er nickt nur. Oje ...

Schließlich entschließ ich mich, Matzge zu wecken.

Der braucht bloß einen Blick auf den zitternden Jan zu werfen. „Krankenhaus."

„Meinste?"

Matzge fasst an Jans Stirn. „Ja, der hat richtig Fieber. Könnte `ne Lebensmittelvergiftung sein. Damit ist nicht zu spaßen." Er sieht so ernst aus, dass ich auf einmal richtig Schiss bekomm. „Hat noch jemand von dem Gyros gegessen?"

„Nee. Nur er. Krass."

Wir warten unten in der Lobby, Jan in eine Decke gehüllt und einen Kapuzenpulli.

Nach zehn Minuten fährt ein Krankenwagen mit flackerndem Blaulicht vor. Die beiden Sanitäter helfen Jan hinein, der immer noch vor sich hin schlottert. Ich spring hinterher.

Im Krankenhaus legen sie ihm eine Infusion, um den Flüssigkeitsverlust auszugleichen. Da Jan als nicht ansteckend diagnostiziert wird, kletter ich um 3 Uhr nachts mit in sein Bett. Muss ja mal einen Vorteil haben, dass wir beide so schmale, unterernährte Hemden sind.

Am Morgen sieht er schon viel besser aus, aber total übermüdet. Frühstück bringt er keins runter. Verständlich bei dem Fraß, den sie einem hier servieren. Die Graubrotstulle mit Butter und Käse zieh ich mir stattdessen rein.

Am Vormittag kommt die Visite vorbei.

„Einen Auftritt mit ihrer Band? Heute? Herr Vetter, das kann ich nicht verantworten."

„Aber ick muss dit heut machen. Da hängt och Geld dran."

Der grauhaarige Prof. Dr. seufzt. „Bitte versprechen Sie mir, junger Mann, dass Sie weiterhin genügend trinken und sich schonen vor und nach dem Auftritt. Schwester Irene wird Ihnen eine Elektrolyte-Flüssigkeit mitgeben. Trinken Sie die bitte."

„Ja, klar. Mach ick."

Der Prof. Dr. zieht eine Augenbraue hoch, wahrscheinlich weil er uns Punk-Gesocks nicht traut. Auf mich wirkt es aber, als würde er, Farin imitieren. Auch um Jans Mundwinkel zuckt es und ich weiß, er ist wirklich auf dem Weg der Besserung.


30. Juli – Music Convoy, Höxter

Ich bekomm erstmal einen amtlichen Lachanfall, als Jan und Hans sich in die Römerkostüme quetschen, die der WDR laut unserer Anweisung tatsächlich für uns hergerichtet hat.

Bei mir ist alles schick, aber bei den beiden Großen ...

„Ey – wenn ihr - wenn ihr - wenn ihr ..." Ich krieg keine Luft vor Lachen. „Also, da oben uf`m Truck, ne. Die erste Reihe wird echt `n - `n sehr prächtigen Ausblick ham."

„Mann, Bela, du wieherst wie `n Pferd." Kurz blitzt ein Grinsen auf, dann zieht Jan unglücklich an seinem Röckchen. „Ey, dit geht so nich."

Unser Konzept soll mal wieder einfach nur Irritation und Chaos stiften – einfach um des Spaßes willen, aber dieses Mal ist leider vor allem Jan verwirrt.

„Ick will den Scheiß-Römerhelm nich aufsetzen." Er sieht mich an wie ein trotziger Fünfjähriger. Ich schieb es auf seinen wackligen Zustand, denn anfangs fand er die Idee auch gut.

„Ganz schön eitel, der Herr!" Ich grins ihn herausfordernd an.

„Mann, mir jeht`s echt nich sooo blendend, dass ick och noch ..."

„Schon jut. Keen Problem, Süßer."

Auf einmal steht die Moderatorin unangemeldet in unserer kleinen Garderobe und schwingt ihren langen blonden Pferdeschwanz vor Jan herum, als wollte sie ihn darin einwickeln. Die Tussi steht sowas von eindeutig auf uns beziehungsweise ihn, dass ich echt froh bin, dass Jan gerade nicht auf der Höhe ist.

Stattdessen scharwenzelt Hans nach einiger Zeit um sie herum. Sie scheint es gut zu finden. Anscheinend steht sie auf lange Lulatsche.

Kurz vor unserem Auftritt kommt backstage ein junger Typ auf uns zu. „Hallo, ich bin Markus Linde von der CBS."

„Äh, hallo! ..." Ich will seine ausgestreckte Hand schütteln, aber hab noch die Stulle vom Büffet. Auf Tour versuchen wir so viel gratis Essen abzugreifen wie möglich. „Ick bin Bela. Und dit sin Farin und äh, Hans."

„Ja, ja, ich weiß. Ich habe schon ein paar eurer Konzerte gesehen und bin ziemlich begeistert. Ich weiß, ihr müsst gleich auf die Bühne. Ich wollte nur sagen. Also, ich arbeite bei der CBS, der Plattenfirma CBS, und würde euch gerne dort vorschlagen. Also, falls ihr das wollt?"

„CBS? Krass!" Jan nickt enthusiastisch, verzieht dann das Gesicht und fasst sich an den Kopf.

„Cool. Auf jeden Fall. Ey, danke." Ich kritzel diesem Markus noch unsere Festnetznummer auf einen Zettel. Im nächsten Moment werden wir schon oben auf der Bühne ankündigt.  

„Ich will erstmal ein bisschen erzählen, wo ich die kennengelernt habe", sagt die Pferdeschwanz-Karen, die zwischen Hans und mir steht. „Und zwar bei einem unserer allerersten Convoys. Das war in Wipperfürth mitten im Winter."

Jan fummelt irgendwie die ganze Zeit noch an seiner Gitarre rum. Hoffentlich ist alles in Ordnung. Heute war er echt richtig nervös.

Ich beiß nochmal in meine Stulle, dann nimmt Hans sie mir weg, der Idiot.

„... und seitdem ging es ja mit euch auch ziemlich bergauf", moderiert Karen zwischen uns. Oje, sie hat die BRAVO in der Hand. „So stand jetzt auch mal zu lesen. Ihr geiles Outfit haut satt – voll satt rein."

Auf einmal ist Jan neben mir, drängt mich weg. Er und Hans heben die kleine Moderatorin zwischen sich hoch. Angeber.

Den Auftritt macht Jan wirklich gut in seiner Verfassung, auch wenn er angestrengter, weniger strahlend wirkt als sonst. Die anschließende Fahrt nach Heidelberg verschläft er dann auch komplett.

Obwohl sich Jan zusehends erholt, schwächt nicht nur ihn der Tourstress. Nopper, der ja eigentlich fahren soll, hat `nen Kater. Hans wird noch unausstehlicher. Und Matzge hört gar nicht mehr auf sich nach Jans Zustand zu erkundigen und ihm dabei ständig und sehr lange eine Hand auf den Arm zu legen, obwohl er ja weiß, dass Jan und ich zusammen sind. Puh.

Endlich geht es zurück nach Berlin – sogar für mehrere Tage am Stück.

Unsere WG. Privatsphäre.

Im Bus flüster ich Jan ins Ohr, was ich mit ihm alles machen will, wenn wir endlich wieder allein sind, aber als wir durch die Tür sind, fallen wir einfach nur in mein Bett und schlafen 14 Stunden am Stück durch.


Am nächsten Nachmittag klingelt das Telefon, aber ich lieg in der Badewanne.

„Jan? Jaaa-han!" Der pennt anscheinend immer noch wie `n Stein. Ansonsten hätt er wahrscheinlich auch die übliche Klomusik angemacht. „JAN!!!"

„Ja, ja", hör ich ihn schließlich auf dem Flur jammern. „Is ja jut. `ne alte Frau is doch keen D-Zug. ... Hier bei Vetter und Felsenheimer! ... Ernsthaft???" Schlagartig wirkt er extrem wach. „Natürlich haben wir Bock. Was ist das denn für eine Frage? ... Klar, machen wir. Danke. Schönen Tach noch."

Draußen wird der Hörer aufgeknallt, dann die Badezimmertür aufgerissen und ein riesiger Jan springt mit Anlauf zu mir in die Wanne, dass es nur so spritzt.

„Wir werden Fiiiilmstaaaars!"

Ich wisch mir das Wasser aus dem Gesicht. „Bitte, was?"

Sein T-Shirt klebt sehr hübsch an ihm und auch seine sonst aufgestellten Haare, doch sein Grinsen reicht von einem Ohr zum anderen. „Filmstars. Hollywood hat angerufen!" Er hält sich eine Hand hinters Ohr. „Hörste dit nich?"

„Dit is ... Is dit `n Scherz?"

„Seh ick aus, als würd ick scherzen?" Jan küsst mich so ungestüm, dass er mir dabei fast die Nase bricht.

Schön, dass noch jemand Bock auf uns hat und nachdem ich Jan aus seinen Boxershorts befreit hab, lös ich alle Versprechen ein, die ich ihm im Bus gegeben hab.


2. August – Vielklang-Studio, Moabit  

Matzge holt uns zu einer Besprechung zusammen. Hans kann nicht wegen Uni, also sind nur Jan und ich da.

„Also, das ist echt wichtig", steigt Matzge in das Treffen ein.

„Wo is `n Jörg?" Ich seh mich um.

„Leider ist Jörg gerade auf Geschäftsreise und kann deswegen nicht hier sein, aber, wie gesagt, es ist einfach zu wichtig, als das wir das noch warten lassen könnten, bis er zurück ist." Er sieht auf einen Zettel. „Also, Jungs, wir haben Anfragen von Hansa, Gramophone, Interchord. Am vielsprechendsten ist allerdings die EMI, aber auch am schwierigsten. Bei denen steht ihr ja in direkter Konkurrenz mit den Hosen."

Ich lass demonstrativ meinen Kopf auf den Tisch fallen und seufz dramatisch.

Jan streicht mir über den Rücken. „Is doch nich so schlimm. Immerhin haben sich gleich mehrere Labels gemeldet."

„Ja, schon." Tatsächlich interessier ich mich auch für diese Facette des Geschäfts –  viel mehr, als ich zugeb - oder Hans sich träumen lassen würde. „Na, stell dir mal vor, die Hosen sin wieder die Ersten und kriegn `nen richtigen Plattenvertrag."

Jan zieht eine Grimasse. „Wär schon doof."

„Also, Jungs, dann heißt es jetzt ganz klar: Husch, husch - Songs schreiben. Und zwar Hits – radiotaugliche." Bei dem Satz sieht Matzge nur Jan an. Mich scheint er gar nicht mehr auf dem Zettel zu haben und es gibt mir wirklich einen Stich. Irgendwie gerät gerade unsere schöne Band-Nicht-Hierarchie zwischen Jan und mir durcheinander.

„Ähm, Bela ..." Sylvie erscheint an der Bürotür. „Ich würde mir dir gerne noch etwas durchsprechen."

Ich guck zu Jan. „Haste noch kurz Zeit zu warten?"

„Muss er nicht", antwortet Sylvie und lächelt Jan an. „Es könnte etwas dauern."

Wir sehen uns an, er runzelt die Stirn und nickt dann. „Ähm, okay."

„Meinste, dass sie dit mit diesem Linde von der CBS herausbekommen hat?", flüstert er mir zu, als Sylvie schon wieder in ihrem Büro verschwunden ist.

„Oje. Dit wär nich so jut. Wat soll`n ick da sagen?"

„Naja, also ... Vielleicht das dit nüscht ernstes is oder so. Lass deinen Charme spielen." Jan küsst mich auf die Wange. „Dit kriechste schon hin."


7. August – K`Damm  

Wir sind schon wieder auf dem Weg zur BRAVO-Redaktion. Jan schleift seinen großen Körper so richtig lustlos neben mir über den Bürgersteig.

„Also, wenn de saufen würdest, hätteste `n Kater, aber da de dit ja nich machst ... Was `n los mit dir?"

„Weeß och nich. Berlin is so ... stickig und irgendwie klaustrophobisch."

„Dit heißt so wat wie eingesperrt, oder?"

Er nickt, seufzt viel zu schwer für diesen wunderschönen Sommertag mit lauer Luft, an dem es sogar mitten in Berlin ein bisschen nach reifen Kornfeldern und Blumenwiesen riecht.

Auf einmal fällt es mir wie Gräten von den Augen. Oh ...  

„Pass ma uff, ick kann Gedanken lesen." Ich mach ein paar mystische Bewegungen mit den Händen. „Hmmm, ick kann sehen, dass du gerade an ein fernes Land gedacht hast."

Jan stoppt wie ertappt mitten in der Bewegung und erschrocken bleib ich auch stehen.

Ich fass mir dramatisch an die Schläfen. „Also, das Land liegt an einem Meer."

Unwillkürlich nickt er.

„Und in diesem Land fahren rote Doppeldecker und ..."

Er schüttelt den Kopf.

Komisch. Ich seh ihn an. Wir stehen mitten auf dem K`damm auf dem Bürgersteig – eine Insel im Strom der Passant*innen.

„Ein Land, dass ..." Oje. „...weiter südlich liegt?"

Er nickt zögerlich.

„Und in diesem Land lebt ein Mädchen mit langen dunklen Haaren ..."

„Okay, hör auf." Er dreht sich viel zu schnell von mir weg, so dass ich sein Gesicht nicht mehr sehen kann. „Du bis mir unheimlich."

Verdammt. Ich hatt recht. Als ob ich sein Fernweh riechen könnte. Tut ein bisschen weh, auch wenn ich ihm eine Reise mehr als gönnen würde, denn im Hintergrund flüstert mir das schlechte Gewissen zu, dass es echt gut wär, wenn er unterwegs ist, denn dann ... Und außerdem ...

„Aber wenn de dit doch sehr gerne willst, Casanova, warum fährst denn dann nich? Wegen mir musste echt nicht hierbleiben."

„Wegen dem Scheißgeld", seufzt er und geht weiter.

Über uns fegen die Mauersegler über den blitzblauen Himmel und singen von Sommer und Ferien und auch wenn ich dieses Fernweh nicht teil, mir Berlin mehr als reicht – grad kann ich ihn echt verstehen.

„Hm, Mist. Hat ick fast schon wieder vergessen. Tut mir echt leid." Ich beug mich zu ihm rüber, küss ihn im Gehen auf die Schulter. Er zuckt fast nicht dabei weg.

„Apropos Geld." Ich schau in meiner Hosentasche nach. „Ick hab noch 80 Pfennig. Haste Lust auf `n Eis?"

Das Grinsen kehrt auf sein Gesicht zurück. „Zitrone?" Mit seinem Strahlen könnte man ganz Berlin erleuchten.

„Selbstverständlich." Ich seh auf meine Bugs-Bunny-Uhr. „Aber wir ham gar nich mehr so viel Zeit." Und schon lauf ich los, er hinterher und auf einmal sind wir doch Teil des hellblauen Sommertags und jagen hintereinander her zur Conti-Eisdiele.

Vollkommen verschwitzt, aber zitroneneis-glücklich kommen wir in der BRAVO-Redaktion an.

Ulli hält uns die neueste Aufgabe hin. „So, ihr Popstars. Hier – druckfrisch. Und ..." Er drückt Jan eine Tüte in die Hand. „Das Echo ist überwältigend."

Jan sieht hinein und hält einen Brief hoch. „Wat soll`n ick mit eurer Post?"

„Die ist für euch!"

„Was?"

„Na, Fanbriefe!"


12. August – Stonz

In der unrühmlichen Zeit in Paderborn hab ich die Rockabilly-Truppe Ace Cats kennengelernt, die mit uns bei Jürgen von der Lippe aufgetreten sind. Und die haben mich im Stonz heute auf die Gästeliste gesetzt.

„Hey, Bela, komm mal her." Auf einmal steht Axel Knabben vor mir. „Sagt mal, seid ihr immer noch auf der Suche nach einem neuen Management?"

„Oje, hat sich das so rumgesprochen?"

„Nee. Jan hat das mal erwähnt. Also, vielleicht wüsste ich jemand für euch." Er geht mit mir hinüber zum Tresen. „Das hier ist Beate."

Die Frau mustert mich neugierig.

„Sie ist eine alte Bekannte aus Düsseldorfer Zeiten und hat mich auf euch angesprochen."

Die alte Bekannte ist so Ende zwanzig, würd ich sagen, und sieht aus, als würd sie wert auf Manieren legen, deswegen streck ich ihr brav meine Hand entgegen. „Hallo, ich bin der Bela!"

„Schön dich kennenzulernen, Bela. Ich heiß Beate. Gerade arbeite ich noch bei der EMI in Köln, aber ich will mich endlich selbstständig machen als Managerin im Musikbereich. Ich hab euch schon ein paar Mal live gesehen und ich find euch echt dufte."

„Äh, danke. Freut mich."

„Ist dein großer, blonder Bandkollege auch hier?"

„Jan? Oder Hans?"

„Der hübsche Blonde an der Gitarre. Er heißt irgendwie anders."

„Farin. Farin Urlaub."

„Genau", strahlt sie.

„Nö, der is heut mit `nem alten Freund unterwegs."

„Ach, schade. Aber – toll, dass ich dich hier treffe. Ihr seid wirklich eine prima Truppe. Und die Chemie zwischen dir und Farin ist echt etwas ganz Besonderes. Ich würde euch definitiv ein echtes Potenzial attestieren." Sie gestikuliert mit ihren grellgrünen Fingernägeln herum. So sehr sie nicht ins Stonz passt, so sehr passt sie doch irgendwie zum Musikbusiness.

„Die sehn ja cool aus."

„Was?"

„Tschuldige, ick meinte deine Fingernägel."

Sie sieht auf ihre Hände. „Oh, danke. Also, ich hätte Interesse, euch aufzubauen. Oder habt ihr schon ein Management?"

„Naja ... Irgendwie schon, aber ... Dit läuft nich so jut." Ich denk an Sylvie. Vielleicht läuft es auch zu gut.

„Das können wir ja alles noch besprechen. Schreib mir mal deine Nummer auf." Sie hält mir ein Adressbuch hin. Wow, echt professionell.

Ich kritzel gerade die letzte Zahl, als mir auf einmal jemand auf die Schulter klopft. „Hey, Bela. Gibt Ärger."

Es war wohl nicht wirklich Eddie, der den Streit vom Zaun gebrochen hat, sondern  ein Teddy-Freund von ihm, aber das ist auch egal, denn schon befinden wir uns mitten in der schönsten Keilerei zwischen Teddies und Skins, die das Stonz seit langem gesehen hat.

Normalerweise sind die Sicherheitsleute echt fix, das wieder zu bereinigen, aber die sind heute Abend wohl auch schon zu besoffen.

Da ich auf beiden Seiten Freund*innen hab, helf ich immer der Gruppe, die schwächer aussieht, bis mich eine Bierflasche trifft und mir eine Fleischwunde am Daumen beschert. Es blutet wirklich übel, hört gar nich mehr auf.

Diese Beate ist so nett, mich in die Notaufnahme zu fahren und auch noch einen von den Skins mitzunehmen, der eine Platzwunde an der Stirn hat. Echt toll von ihr, zumal wir ihre Rückbank ziemlich verzieren mit unseren blutenden Wunden.

„Hey, is okay. Die Sitze sind ja aus schwarzem Leder. Da sieht man das nicht so", meint sie nur, während sie uns in die Notaufnahme chauffiert.

Die Ärztin dort will irgendwas wegen einer Impfung klären, aber woher soll ich denn wissen, ob ich gegen Tetanus geimpft bin. Jedenfalls pocht die Wunde sehr unangenehm und die vier Nähte machen es nicht besser. Das nächste Mal können die sich alleine prügeln.

Beate fährt mich sogar noch bis nach Hause in die Niebuhrstraße. Keine Ahnung, was ich für einen Eindruck bei ihr hinterlasse, aber ich bin ihr wirklich sehr dankbar.


13. August - Seegefelder Straße, Spandau

„Sach ma, ihr spielt doch nächste Woche in Köln, oder?"

„Mhmmm." Ich hör Diana gar nicht richtig zu, weil ich unbedingt diesen Scheiß-Impfpass finden muss. Dabei gäb es wohl einiges zu besprechen. Vor zwei Monaten ist sie wieder zurück gezogen in die Seegefelder Straße zu Mutti, weil es mit ihrem Robert nicht geklappt hat. Aber vor Jan will ich das Thema auch nicht anschneiden.

Diana bleibt im Türrahmen stehen, während Jan und ich in den Kartons mit meinen alten Sachen herumwühlen.

„Kann ick ... kann ick vielleicht mitkomm`n?" Sie sieht mich unsicher unter ihrem Pony an.

„Ähm … Brauchste `n bisschen Tapetenwechsel?"

Sie nickt und lächelt, aber es gerät sehr schmal.

Ich überleg, wie das mit dem Platz im Bus klappen soll, dreh mich hilfesuchend zu Jan. „Wenn Diana mitkommt, müssten wa im Endeffekt Nopper ausladen, oder? Dit heißt och, dass wa selber ma wieder die Roadies machen müssen."

„Is doch okay, oder? Und Nopper wird dit schon überleben, wenn er ma nich auf Sauftour mit dir gehen kann."

Irritiert seh ich Jan an und auch Diana wirft ihm einen seltsamen Blick zu, aber er antwortet nur auf seine nonchalante Art: „Also, klar, kannste mitkommen, Diana."

„Ja?" Ein kleines, hoffnungsvolles Lächeln stiehlt sich auf ihr Gesicht und wir werden definitiv Nopper bitten auszusetzen.

Meine Mutter taucht im Türrahmen auf. „Und haste dein Impfpass schon gefunden?"

„Nö."

Sie verzieht sehr mütterlich das Gesicht und seufzt. „Nun ja. Die Show geht jetzt dann los."

„Echt? Cool!"

Da wir kein Geld haben, vor allem aber auch, weil Farin keinen Fernseher in der Niebuhrstraße haben will, sehen wir uns heute die Übertragung von „Showstart" bei meinen Eltern an.

„Wollt ihr ein Bier, Jungs? Diana?", fragt Erich aus der Küche.

„Oh, ja", rufen Diana und ich.

„Nein, danke, Herr Grabow!", sagt Jan.

Mein Stiefvater erscheint in der Küchentür. „Wirklich nicht?"

„Nein, danke. Aber falls sie `n Wasser hätten oder so?"

„Wasser?"

Ich kann die leichte Anspannung in seinem Gesicht sehen.

„Jan trinkt nicht."

„Oh. ... Aha."

„Sehr löblich", schaltet sich meine Mutter ein. „Da könntest du dir auch mal `n Beispiel dran nehmen, Dirk."

Ich seufze und Erich reicht Diana und mir ein Bier.

Wir lassen uns im Wohnzimmer nieder. Ich sitze bequem eingequetscht zwischen Jan und Diana auf unserer alten Couch. Erich und meine Mutter in ihren Fernsehsesseln.

Der Gong beendet die Tagesschau und mit einer Titelmelodie flimmert das Showstart-Set über den Bildschirm.

„Oh, Mann. Dit erinnert mich so übel an Paderborn", jammer ich.

„Wat denn für üble Erinnerungen?" Erich mustert mich kritisch. „Ihr habt da doch fünf Tage allet bezahlt bekommen."

Der kann das natürlich als Kriegsgeneration nich verstehen.

„Ja, aber. Das war so laaaaaaangweiliiiiiig. Da lag echt der Hund begraben – zusammen mit der ganzen Arche Noah. Keine Kneipen, keine Parties, nüscht. Die sin noch katholischer als die Bayern." Ich schmeiß mir ein paar Erdnussflips in den Mund und halte auch Jan die große Schüssel hin.

„Na, `n bisschen weniger trinken, kann dir auch mal nich schaden, mein Sohn." Oje, jetzt übernimmt meine Mutter den Staffelstab.

Ich setz auf die Taktik der Ablenkung und des schnellen Themenwechsels. „Am Sendetag von Showstart ham wa den guten Jürgen in seiner Garderobe eingeschlossen und den Schlüssel versteckt."

„Ihr habt was?" Meine Mutter sieht mich vollkommen entsetzt an.

Jan spukt fast seine Flips aus. Sein ganzer Körper bebt vor unterdrücktem Lachen.

Es war wirklich witzig, wie Jürgen mit hochrotem Kopf erschienen ist, aber zu stolz war, uns zusammen zu pfeifen. „Er hat sich nich beschwert."

Wir sehen wieder auf den Bildschirm, auf dem der gute Jürgen gerade einen seiner einstudierten Witze reißt.

„Dit war echt allet `n bisschen sehr ... überprobt, Frau Felsenheimer", springt mir Jan bei. „Die hatten so gar keene Lust auf Improvisation. Aber dit is halt unser Spezialgebiet."

„So, so. Wenn du meinst, Jan." Sie klingt etwas skeptisch, aber lächelt ihn an. Sie mag Jan und ich hab mir viel zu oft anhören müssen, warum ich nicht mehr wie er ...

„Ach, guck ma." Jan zeigt auf den Fernseher. „Da is ja Irene mit ihrem Schwein. Die fand uns och ganz gut und meinte, dass wir vielleicht mal bei ihr im Tempodrom auftreten könnten."

„Im Tempodrom?" Erichs Kopf schnellt zu ihm herum. „Dit is doch viel zu groß für eure Kapelle."

Jan bekommt rote Wangen und ich spring schnell für ihn in die Bresche. „Mensch, Erich, guck mal – wir laufen grad in der ARD! Am Samstagabend."

„Oh. ... Mhm, da haste och wieder recht. Schon echt seltsam." Er nimmt einen Schluck aus seiner Flasche.

Eine halbe Stunde später ist es dann endlich so weit. Jürgen kündigt „die lustige Truppe aus Berlin" an mit „Der lustige Astronaut".

„Das ist ja total chaotisch!", kommentiert meine Mutter die erste Szene, als wir ständig mit den Balletttänzerinnen in ihren merkwürdigen „Raumschiffen" zusammenstoßen. „Und dafür habt ihr tagelang geprobt?"

„Die Tänzerinnen, och wenn se hübsch warn, hätten wa gar nich gebraucht, aber die wollten dit halt so."

„Na, immerhin sind eure Anzüge schick. Und Hans ist dieses Mal nicht als Mädchen verkleidet wie bei diesem Spielbuden-Ding", sagt meine Mutter in einem missbilligenden Ton.

Ich frag mich eher, warum Hans nicht immer als Mädchen auftritt. Er sah viel besser aus als sonst.

„Aber ihr seid ja trotzdem mal wieder ganz schön heftig geschminkt. Soll das so?", fragt Diana neben mir unsicher.

„Die meinten, dit versendet sich. Naja ... wohl weniger als erwartet", murmel ich.

„Warum hast du denn diese komische Tröte dabei?", fragt meine Mutter weiter. „Damit kann man doch gar nich spielen."

„Dit is doch dit Witzige dran."

„Aha."

„Dit is einfach so `ne Verarschung wegen dem Playback."

„Das ist, wenn die Leute nicht live singen, oder?", fragt Diana interessiert.

„Genau."

„Dit ham wa jetz bei fast allen Shows machen müssen. Ick fin dit echt doof. Als ob wir nich einfach so spielen könnten."

„Und deswegen looft ihr dann so schräg durch die Kulissen, oder wat?" Meine Mutter hört sich sehr skeptisch an.

„Ja, also, dit war wirklich nur so `n Witz, Frau Felsenheimer", versucht Jan zu helfen.

„Witze scheinen ja euer Hauptkonzept zu sein", gibt nun Erich seinen Senf dazu.

Jans ganzer Körper neben mir auf der Couch spannt sich an.

„Aber dit find ick wirklich witzig", lacht Erich einen Moment später, als Farin und Hans am Ende von „Der lustige Astronaut" in die Papierkulissen springen und Jan neben mir entspannt sich wieder.

„Wirklich?" Meine Mutter runzelt die Stirn, dann lacht auch sie. „Naja, es ist – nennen wir es originell."

„Und es kommt im Ersten – zur besten Sendezeit." Erich sieht jetzt richtig stolz aus.

Ich wünschte, mein echter Vater würde ...

„Ist der echt so klein, der von der Lippe?" Meine Mutter sieht Jan an.

„Nee", grinst der. „Hans und ick sin einfach nur so groß."

„Du bis doch nich mehr 19, Dirk!"

„Dit sagn wir nur immer, damit wir noch als Teenieband durchgehen."

„Wie nennt man das? Marketing?"

„Genau, Erich. Marketing."

„Wie nennt man den deutschen Fußball-Walfisch?", fragt Farin im Fernsehen und lässt eine Kunstpause.

Erich legt die Stirn in Falten, wird aber schließlich erlöst von einem Ruf aus dem Publikum, der aber fingiert war. „Jupp, der Wal!"

„Jupp, der Wal? Oh, Jupp Derwall!" Erich bricht in Gelächter aus, dass in so einen schlimmen Raucherhusten übergeht, dass ihm schließlich Diana ein Glas Wasser holt.

„Aber der war wirklich witzig", keucht er nach ein paar Schlucken.

Es folgt Teenagerliebe. Dabei sieht es kurz so aus, als würden Jan und ich uns fast küssen. Dann schwingt mich Jan in seinen Armen herum, putzt fast mit mir den Boden.

Jan ist auf einmal sehr still und sogar mir ist es ein wenig peinlich vor meinen Eltern. Doch Diana zwinkert mir zu. Wie viel weiß die eigentlich über uns?

Meine Mutter wirft mir schließlich einen irritierten Blick über die Schulter zu. „Also, ich versteh ja nicht, warum ihr euch da so prügeln müsst."

„Dit war doch nur Spaß, Mama. Hat allerdings schon ein paar blaue Flecken gegeben." Ehrlich gesagt einige. Jan hat sich inzwischen einige Male dafür entschuldigt, ich fand es eigentlich nicht nur schlecht, wie er da mit mir abgegangen ist. 

„Oh, Mist." Auf einmal richtet sich Jan neben mir ruckartig auf. „Warum haben wir das nicht mitbekommen?" Er starrt mit Horror in den Augen auf den Bildschirm, denn da steht unsere Adresse - in der ARD, für die ganze Nation lesbar. Dumm. Wirklich dumm.


In der S-Bahn zurück in die Stadt seufzt Jan einmal tief und sieht mich dann ernst an. „Wir sollten wirklich schauen, dass wir von Vielklang wegkommen."

„Find ick och." Als ob das der Grund ist, sagt mein schlechtes Gewissen.

„Echt? Du bist einverstanden? Ick dachte, dass ihr total dicke wärt, Matzge und du." Jan sieht mich erstaunt an.

„Ja, aber ... Ey, krieg`n die wirklich wat gebacken für uns? Nö. Ham se `nen Studiomusiker engagiert, der mich ersetzen sollte und dann trotzdem total scheiße war? Ja. Ham sie die Platte total scheiße produziert? Ja. Is Matzge in dich verknallt? Ick kann seine Blicke auf dir echt nich mehr sehen, Jan, ehrlich!"

„... Sieht der mich echt so ... krass an?"

„Na, also, wenn ick mit ihm an der Theke abhäng auf Tour und du springst och noch irgendwo rum in dem Club, dann – sein Blick folgt dir echt wie so `n Leuchtturm. Ick mag dit nich."

Jan schüttelt sich ein wenig. „Ick och nich."

„Außerdem – Beate ist super, auch wenn du sie noch nich kennst. Blöd halt nur, dass sie in Westdeutschland wohnt. Also, West-Westdeutschland. Na, erstma sehen, ob die dit och ernst gemeint hat."

„Aber - wir sind bei Jörg und Matzge unter Vertrag. Die werden uns ja wohl kaum einfach so gehen lassen, nachdem se uns aufgebaut ham."

„Ick ... ick denk, ick kann da wat drehen."

„Echt?" Jan sieht mich viel zu prüfend an und ich nick einfach, das ist am ungefährlichsten.


14. August – Niebuhrstraße 38 b, Charlottenburg

Am nächsten Tag ruft Beate tatsächlich bei uns in der WG an.

„Und wie geht`s deinem Daumen?" Anscheinend hat der turbulente Abend sie nicht komplett abgeschreckt. Gut so. Dann weiß sie wenigstens, woran sie mit uns ist.

„Allet schick. Vielen Dank nochmal."

„Null problemo. Also, ich bin schon mal tätig geworden. Erfolgreich. Die CBS will sich mit mir treffen, um über euch zu sprechen."

„Krass. Du legst ja ein Tempo vor." Beate ist echt `ne andere Nummer als die Vielklangs.

„Schon, aber ... Also, ich dachte, es wäre gut, wenn ihr als Vertreter auch dabei seid. Das ist allerdings in Frankfurt."

„Ähm, okay. Wann denn?"

„In zwei Tagen:"

„Übermorgen? ... Dit is aber `n bisschen sehr spontan."

„Es wäre echt gut, wenn ihr dabei seid. Mit eurem Charme könnt ihr die besser überzeugen als ich."

„Findste?" Ich bin geschmeichelt. „Also, Jan hat da, gloob ick, `n Zahnarzttermin. Is akut, also wird er denn wohl nich absagen. Aber ick – ick wär dabei."

„Super. Natürlich schade mit Jan, denn zusammen wärt ihr natürlich am besten. Aber fantastisch, dass du dabei bist. Gut, dann sehen wir uns übermorgen in Frankfurt."


15. August – CBS-Zentrale, Frankfurt    

Es macht mich alles ein wenig verrückt. Die riesigen Glasgebäude, die Masse an austauschbar aussehenden Geschäftsleuten, wie sie sich aufführen. Blasiert, würde Jan das vermutlich nennen. Liegt das an Westdeutschland? In Berlin sind die Leute einfach nich so.

Immerhin kenn ich schon einen der Typen.

Markus Linde stellt uns vor. „Das ist Bela B., der Schlagzeuger der Berliner Funpunk-Band „Die Ärzte"."

Ich zuck kurz bei dem Funpunk-Ding, schüttel dann aber brav die Hand von zwei Typen in Anzügen, die so ganz lässig keine Krawatte tragen und den ersten Knopf ihres Hemdes offen stehen haben.

„Das sind die A&R-Chefs, Andi Kirnberger und Bernd Hoffmann."

Noch eine Hand. „Ich bin Fitz Braum, der A&R-Scout. A&R steht übrigens für Artists and Repertoire." Der Typ trägt einfach ein T-Shirt. Sympathisch.

„Und das ist der Chef der CBS, Jochen Leuschner."

Ich verbeug mich ein wenig, aber nicht zu sehr, die sollen nich denken, dass ich eingeschüchtert bin, obwohl - sogar Beate wirkt ein wenig aufgeregt und die hat ja einiges an Erfahrung.

„Und? Wie sieht es denn mit Ihrem Repertoire aus?", fragt dieser Leuschner.

„Mit unserem ..." Beinah wär mir ein „Was?" rausgerutscht, aber hier ..." „Also, unser Repertoire ..." Ich seh hilfesuchend zu Beate.

„Wie viele Platten habt ihr denn zum Beispiel schon heraus gebracht?", fragt sie mich und ich nick ihr dankbar zu.

„Zwei EPs."

„Die Namen?"

„„Zu schön um wahr zu sein" und „Uns geht`s prima."

„Bei welchem Label?"

Das Ganze erinnert mich an mein Vorstellungsgespräch bei Hertie in Spandau – nur in x-mal schlimmer. Du kannst das, Felsenheimer, sprech ich mir selber Mut zu und straffe meine Schultern. „Vielklang. Die hießen früher allerdings Schnick-Schnack."

„Schnick-Schnack?" Dieser Leuschner sieht aus, als hätt ich ein unanständiges Wort benutzt.

„Ja, genau. Die Label-Chefs sind Matzge Bröckel und Jörg Fukking."

Seine Augenbrauen gehen hoch. „... Aha. ... Und – was sind Ihre Ziele?"

In meinem Kopf leuchtet schon wieder ein großes Fragezeichen, aber ich ignorier es gekonnt und laber einfach drauf los. „Wir sehen uns als eine eigene Kategorie von Musik zwischen Post-Punk und Neue Deutsche Welle."

„Neue Deutsche Welle. Ah, gut." Da leuchten die DM-Zeichen in Leuschners Augen.

„Genau." Arschloch. „Farin und ich fühlen uns aber auch dem Rock `n n Roll der 50er und 60er Jahre sehr nah. Und wir mögen auch Rockabilly und Surf music."

„Rock `n Roll? Ich dachte, Sie sind eine Punkband. Dafür ist Berlin doch berühmt mit seiner Musikszene."

„Wir sind einfach musikalisch sehr vielfältig."

„Na, das wäre noch zu beweisen." Er sieht zu den anderen Anzügen hinüber. „Die CBS hat extrem viele Musiker unter ihrem Dach und wir legen großen Wert auf handwerkliches Können."

Die anderen CBS-Leute nicken bedächtig und sehr ernst.

Oje. „Selbstverständlich." Ich hol schnell ein paar BRAVOS raus, den über unser musikalisches Können möchte ich lieber nicht reden. Ich hab extra drei mit genommen und verteil sie. „Außerdem hatten wir gerade ein paar Beiträge in der BRAVO. Hier ist die Aktuellste."

Leuschner legt sie unaufgeschlagen zur Seite. „Ja, ja. Das ist uns nicht entgangen. Ansonsten hätten wir sie ja wohl auch kaum eingeladen."

Na, danke. „Außerdem arbeiten wir gerade an einem anderen Projekt, aber darüber dürfen wir noch nicht sprechen. Hat etwas mit Kino zu tun." Blöd, dass Michael uns eingeschärft hat, den Film und unsere Rollen geheim zu halten. Anscheinend macht man das so mit Filmprojekten.

„Na, das ist ja wohl ein wenig zu unkonkret, als dass ich damit etwas anfangen könnte. Tja ... Also, Bela, dann formulieren Sie zumindest mal, was das Besondere an Ihrer Band ist?"

„Wir sind live besonders gut."

„Also, ich weiß nicht."

„Teil unserer Bühnenshow sind Dialoge, die Farin, der Gitarrist und ich hinter`m Schlagzeug spontan entwickeln."

„Dialoge? Ihnen ist schon klar, dass wir Sie vor allem für Musik unter Vertrag nehmen würden? Als Komiker müssen sie sich woanders bewerben."

„Wir folgen halt nicht nur einer musikalischen Mission, sondern erweitern auch während des Konzertes die witzigen Texte unserer Songs, die – naja, so die Absurdität des Alltags aufzeigen."

„Absurdität des Alltags?" Leuschner legt die Stirn in Falten und die beiden A&R-Chefs folgen seinem Beispiel. Ich weiß nicht, ob sie überhaupt mitbekommen, was für erbärmliche Arschkriecher sie sind.

„Ja, genau. Jan, der bei uns die meisten Lieder, also Text und Melodie, schreibt, ist wirklich sehr begabt und hat schon mit 15 Songs komponiert mit Titeln wie „Der lustige Astronaut" oder „Sommer, Sonnenpalmen, Sonnenschein", dass eher so einen Surfsound hat."

„Hört sich wirklich gut an", wirft der Typ im T-Shirt ein und lächelt mir zu. „Und die Band ist live wirklich fantastisch."

Leuschner reagiert gar nicht drauf, denn der ist auf einmal sehr mit seiner teuren Armbanduhr beschäftigt. „Was schon sechzehn Uhr? Ich erwarte einen Anruf aus New York. Entschuldigen Sie mich bitte." Und schon rauscht er davon.

Die beiden übrig gebliebenen Anzugträger sehen sich an, dann sagt einer der beiden: „Also, wir müssen euch mal als ganze Band sehen. Am besten live bei einem Konzert, wenn ihr nach euren Angaben da so toll seid. Wir kontaktieren euch dann deswegen." Er steht auf, schüttelt uns wieder die Hände und unversehens sind Beate und ich wieder vor der Tür des kleinen Konferenzraumes.

Ich seh auf meine Bugs-Bunny-Uhr, die ich unter meinem Hemd versteckt hatte, dann Beate an. „Is dit normal, dass man für so mickrige 15 Minuten bis nach Frankfurt fährt?"

„Ich bin mir auch gerade nicht sicher, was das Ganze sollte ...", fängt Beate an.

„Entschuldige. Bela, nicht wahr?" Der T-Shirt-Scout wendet sich im Flur an mich. „Kann ich du sagen?"

„Na, klar." Ein wenig der unangenehmen Spannung fällt von mir ab.

„Ihr seid doch bestimmt hungrig, oder?"

„Und wie!"

„Na, wunderbar. Dann lad ich euch in die Kantine ein."


Auf dem Rückweg zum Bahnhof versuch ich aus dem ganzen Heckmeck Sinn zu machen. „Der Scout, Fitz, ne, der war echt nett, aber wenn ick dit richtig versteh, dann hat wohl dieser Leuschner alle Karten in der Hand."

Keine Ahnung, wie ich Jan diese merkwürdigen Nicht-Verhandlungen erklären soll. Und Hans. Der spielt sich bestimmt wieder auf, weil es ja um seine heilige BWL geht. `n bisschen Ahnung hat er ja schon auch, aber ich bin trotzdem froh, dass er wegen seiner Prüfungen nicht mit war.

Beate seufzt. „Gut erkannt. Ja, an dem hängt es im Endeffekt und er wirkte nicht so angetan. Aber du hast dich wirklich super geschlagen, Bela."

„Oh, ähm ... Danke."

„Jetzt kommt es wohl auf das Konzert an, das sie sich ansehen wollen."


5. Oktober – A 1  

Und wir sind wieder on the Road. Dieses Mal nur eine Mini-Tour - mehr geht nicht mit den Drehverpflichtungen. Bochum ist abgehakt. Heute spielen wir in Köln. Schweinetour Teil III.

Dieses Mal aber in anderer Besetzung. Denn neben Nopper, ist auch Matzge nicht dabei. Anscheinend hat irgendjemand ihm und Jörg gesteckt, dass ich in Frankfurt war. Das Wort „Vertrauensbruch" fiel relativ oft.

Jedenfalls sind wir deswegen nur Jan, Hans, Diana und ich, was eigentlich ganz gemütlich ist, wenn auch sehr anders, dadurch das meine Sauf-Crew weg ist.

„Also, wegen der BRAVO-Stories sind einige ganz schön abgegangen in Spandau!", grinst mich Diana an.

„Echt? Erzähl mal."

„Na, also, ick treff ja immer wieder `n paar Leute aus unserer Stufe und – die ham wohl ganz schön Bauklötze gestaunt, als se dich in der BRAVO entdeckt ham."

„Geil!" So hab ich mir berühmt sein vorgestellt.

„Jetz fragn mich natürlich alle, ob ick vielleicht ma wegen Karten für `n Konzert oder vielleicht `n Autogramm. Also, Nico hab ick gleich gesacht, dass er dit knicken kann, die olle Petze." Diana grinst mich an und auf einmal ist die alte verschworene Verbundenheit wieder zwischen uns da.

„Genau. Nico kriecht ma gar nüscht. Wer hat denn noch gefragt?"

„Natürlich Moni, die is einfach immer noch in dich verknallt."

„Oh. Ähm ..."

„Is schon okay. Irgendwann muss sie ja ma drüber wegkommen."

Es ist schön, einfach so mit Diana zu tratschen über die alten Spandauer Jugendcliquen. So wie früher ...

„Und Robbie wollte Karten, damit er seine neue Freundin beeindrucken kann." Sie lacht.

„Das heißt, du bist über Robert hinweg?" Ich seh sie von der Seite prüfend an.

„Ja, klar. Ick bin total über den hinweg. Tut auch echt gut, ma aus Berlin rauszukommen."

Nachdem sie an meiner Schulter eingeschlafen ist, flüstert mir Jan auf der anderen Seite ins Ohr. „Ey, ab jetz nehm wir deine Schwester immer mit."

„Wieso?"

„Na, Hans duscht und wechselt öfter seine Klamotten und du ..." Er stockt. „Also, du bis halt öfter nach dem Konzert da, weil de nich mit Matzge und Nopper losziehst."

„Oh ... Mhmm ..." Ich weiß echt nich, was ich dazu sagen soll.

Am Horizont wird der Kölner Dom sichtbar und mein Herzschlag beschleunigt sich. Erinnerungen – viel zu viele Erinnerungen.

Wo er wohl gerade ist?


Luxor, Köln  

Als wir im Luxor ankommen, läuft uns Börni, der Manager entgegen.

„Ihr sollt unbedingt eine Beate zurückrufen. Die hat hier schon dreimal für euch durch geklingelt."

„Oh. Ja, okay."

Das Gespräch mit Beate ist ähnlich hektisch: Die CBS-Leute haben sich für heute Abend spontan angemeldet.

Jan sieht mich an. „Meinste, dass wir für die unser Programm ändern sollen?"

Ich seh die Anzüge vor mir und will fast schon nicken, dann schüttel ich den Kopf. „Nee, spinnste? Wir sind die Ärzte!", grins ich ihn an.

„Ick spinn nich, aber du hast recht." Er wuschelt mir durch die Haare.

„Ey, die sind sorgsam gestylt."

„Mhm. Von der Friseuse der Jacobs Sisters, wa?"

Ich knuff ihn auf den Oberarm und er haut zurück.  


Drei Stunden später trifft Beate ein.

„Na, endlich lernen wir uns auch mal persönlich kennen." Sie lächelt Jan an. „Ich bin Beate. Wie soll ich dich denn nennen? Jan oder Farin?"

„Gerne Jan!" Er schüttelt ihr die Hand und bedenkt sie mit einem seiner strahlenden Grinsen. „Und vielen Dank für deine Arbeit. Dit is echt toll, dass de extra vorbeikommst, denn ...  `n bisschen Schiss hab ick ehrlich gesacht schon."

Sie legt ihm eine Hand auf den Arm. „Das wird schon. Seid einfach – ihr selbst! Eure Show spricht einfach für sich."

Eine weitere lange Gestalt schlurft auf uns zu und ich stelle ihn vor. „Das ist übrigens Hans."

„Ah, ja. Hallo!" Sie schüttelt auch ihm die Hand.

„Und du – du sollst jetzt sowas wie unsere Managerin werden?" Er sieht sie misstrauisch an.

„Naja, da müssen wir natürlich noch drüber reden und sehen, wie wir das genau machen wollen."

„Ja, das denke ich auch. Die Konditionen sollten schon ausgehandelt werden."

„ ... Genau. Aber ich würde sagen, jetzt konzentrieren wir uns erstmal auf heute Abend."


Jan hibbelt in der Garderobe fast noch schlimmer herum als ich auf Speed.

„Hey, Bela." Diana kommt auf mich zu gerannt. Ihr sonst so ordentlich gekämmter Pony steht in alle Richtungen ab. „Sach ma, haste meine Tasche irgendwo gesehn?"  

„Die kleene schwarze Samttasche?"

Sie nickt verzweifelt.

„Nö, sorry."

„Mist. Da is mein Geldbeutel drin."

„Oh." Ich wink Jan zu. „Hey, Dianas Tasche is weg - mit Geld un allem."

„Geklaut?"

„Nee, ick hab die blöderweise irgendwo liegen lassen."

„Okay, ausschwärmen", befehl ich und Jan salutiert.

Normalerweise bin ich derjenige, der mit seinen Sachen so hirnlos um sich schmeißt, dass er ständig was verliert. Ist das ein vererbtes Zwillingsding?

Aus einem Impuls heraus, check ich den VW-Bus. Und tatsächlich – zwischen den Sitzen stoßen meine Fingerspitzen auf Samt. Obwohl die Tasche so klein ist, krieg ich sie nicht raus, kratz mir dafür an so einer blöden Metallschiene die noch nicht ganz verheilte Narbe am Daumen wieder auf und natürlich blutet die jetzt wieder wie nichts Gutes.

Ich seh mich im Bus nach etwas Sterilem um, das als Verbandszeug herhalten kann, aber so wie das hier aussieht, sollte ich beten, dass ich mir nicht direkt eine Blutvergiftung hol.

Vielleicht hat Diana ja etwas in ihrer Tasche. Ich klemm mir das schwarze Täschchen zwischen die Knie und fummel umständlich den Reißverschluss mit einer Hand auf.

Na, also! Eine Packung Tempos. Ich zieh einhändig eins heraus. Mit ihm fällt mir etwas entgegen. Ein durchsichtiges Plastiktütchen - mit kleinen, gefalteten Alubriefchen. Drei Stück. Mein Herz bleibt stehen und ich hab wieder mal das Gefühl meine Schwester gar nich mehr zu kennen.

Vorsichtig hol ich eins der Alubriefchen heraus. Was für ein weißes Pulver lauert wohl darin? Das Zauberzeug, das ich selbst erst gestern Abend in der Nase hatte oder etwas Heftigeres?

Ich öffne das Tütchen behutsam, leck meinen Finger an und stipp ihn in das schneeweiße Pulver. Bitter schmeckt es und meine naive Hoffnung, dass es einfach nur Puderzucker ist ...

Ich seh mir das Armaturenbrett genauer an. Neben dem Lenkrad hat jemand den Dreck und Staub sorgfältig abgewischt – nur danach, danach hat sie es vergessen. Kleine Restkristalle funkeln im Schein der Straßenlaterne.

War sie allein hier? Das Bild schockt mich von den potentiellen Szenarios am meisten. Diana, meine eigene Zwillingsschwester, vertraut mir nicht mehr, vertraut sich mir nicht mehr an.

Ich weiß, dass ich es nicht sollte, aber meine Finger sind schneller als mein schlechtes Gewissen. Ich öffne das kleine schwarze Kästchen, das ich im Beutel finde, atme hart auf, weil – es ist nur Lidschatten in ihren Lieblingstönen, violett und anthrazit.

Als Letztes bleibt ihr Portemonnaie. Mein Herz schlägt viel zu schnell und ich sollte es zurücklegen, ihr einfach das Samttäschchen bringen, aber – ich muss das jetzt wissen. Das Leder ist weich und ein bisschen speckig, so lange hat sie ihre Brieftasche schon. Ich klapp sie auf. Kleingeld im Seitenfach – klar. Geldscheine – 30 Mark hinten drin. Keine Briefchen, keine Rasierklingen oder Ähnliches – gut.

Ich will den Geldbeutel schon wieder zu klappen, als etwas Weißes meine Aufmerksamkeit auf sich lenkt. Ich ziehe daran. Photopapier leuchtet mir entgegen. Ich dreh es um und starr in mein eigenes 5-jähriges Gesicht. Neben mir Diana und zwischen uns – mein, unser Vater. Ich hab vergessen, wie jung er war. Gerade mal acht Jahre älter als ich jetzt.

Es ist das letzte Photo, das gemeinsam von uns existiert, bevor er abgehauen ist nach Köln. Wie lange hab ich nach genau diesem Bild gesucht, denn im Photoalbum war es nicht mehr. Den ganzen Schrank hab ich danach durchwühlt, ob es sich vielleicht in irgendeiner Ritze versteckt hat und jetzt ....

Es macht keinen Sinn, dass ich es ausgerechnet hier finde, bei ihr. Sie ist doch diejenige, die froh war, dass der „Alte" sich komplett verabschiedet hat, untergetaucht ist, als wir 14 waren.

Ich pack alles wieder genauso zurück, wie ich es vorgefunden hab, mach mich zögerlich auf den Rückweg hinein in den Lärm und das Chaos des Luxor, aber vor meinem inneren Auge leuchtet immer noch das Photo, leuchten wir als Familie.

Sie steht mit Jan an der Theke.

„Hey, Diana. Ick hab se gefunden!" Wie glatt mir die Lüge von den Lippen fällt. Keine Anklage, keine Frage wegen ...

„Oh, danke, Bela!" Sie fällt mir um den Hals, drückt mich ein wenig zu fest und jetzt, da ich es weiß, kann ich es auch sehen. Die Pupillen zu weit, das Strahlen zu manisch.

„Keen Problem." Es ist ein Gespräch für einen anderen Tag, vielleicht auch für eine andere Person. Was soll ich, ausgerechnet ich, ihr denn ins Gewissen reden? Außerdem – wir müssen auf die Bühne.

„Ey, viel Spaß beim Konzert."

„Werd ick haben beziehungsweise muss ick wohl mit den Fuzzis." Ich guck zu Jan, der schmal lächelt.

Diana sieht auf die Uhr. „Oh, ick muss jemand ... Bis später dann. Hals- und Beinbruch, Bruderherz." Sie drückt mich nochmal, eilt dann davon. Vielleicht hat sie eine Verabredung oder so. Keine Ahnung. Sie vertraut sich mir ja anscheinend wirklich nicht mehr an.


Als wir vor der der kleinen Treppe zur Bühne stehen, sehen Jan und ich uns an.

„Hey, heut lassen wir`s richtig krachen!", grinst er. Seine Energie strahlt durch mich hindurch wie eine Sonne. Dann umarmt er mich und hält mich lange fest.

„Und du auch. Okay?" Er legt Hans eine Hand auf die Schulter und der salutiert.

„Aye, aye, Captain!"

Sogar ich muss lachen.

Jan hat noch spontan, aber nicht weniger akribisch eine Setlist mit allen Songs aufgestellt, die wir gut spielen können. Wir starten natürlich mit „Uns geht`s prima", schließlich heißt auch die Tour so. Danach spielen wir „Zitroneneis", einfach weil Sommer ist. Und weil das Thema gerade so gut läuft, legen wir mit „Sommer, Palmen, Sonnenschein" nach.

Das Publikum dankt uns mit frenetischem Mitgegrölle und Applaus. Yeah!!! Tut gut zu sehen, dass auch Leute auf uns Bock haben, auf das, was wir machen. Gegenwind haben wir in den letzten Monaten echt mehr als genug bekommen.

„Mädchenband", meinte letztens Heske verachtend. Er hat recht, aber ich versteh nich, warum das ein Schimpfwort sein soll. Ich spiel gern für Mädchen. Die schmeißen circa 50 Prozent weniger Bierdosen. Und es ist nett, von der Bühne ihn ihre glänzenden Augen zu schauen, sie uns zu jubeln. Genau so hab ich mir das Popstarleben vorgestellt.

Bei „Scheißtyp" lass ich meinen Blick durch die Menge wandern, um diese Typen von der CBS zu erspähen.

Ein Gesicht.

Ein mir sehr bekanntes Gesicht.

Vor Schreck komm ich aus dem Takt, vergess den Text.

Jan dreht sich zu mir, sieht mich fragend an.

Ich seh alles nur noch wie in `nem Tunnel und mein Herz schlägt lauter als die Bassdrum.

Jan runzelt die Stirn und kommt ein paar Schritte auf mich zu. „Alles okay?", formt er während einer Gesangspause.

Ich nick schnell und sing dann wieder passgenau den Refrain, aber der ganze Witz mit Hans, bei dem ich ruf: „Hey, Sahnie, Basssolo!" kommt viel zu spät und sein „Ick trau mich nich." ist für den Arsch.

Trotz meiner zitternden Hände bekomm ich immerhin den Song ganz okay zu Ende. Vorsichtig blick ich nochmal an die Stelle, an der ich Papa gesehen hab, aber da ist niemand. Ein paar Meter weiter allerdings, stelle ich entsetzt und traurig und erleichtert fest, steht ein Typ mit Schnurrbart, der ihm ein wenig ähnlich sieht.

Es dauert dennoch weitere vier-fünf Songs, bis ich mich wieder ein wenig beruhigt hab. Das Getrommel hilft auf jeden Fall, das ganze blöde Adrenalin in meinem Körper wieder abzubauen.

Nach zwei Stunden und der dritten Zugabe verlassen wir endlich die Bühne. Mehr Lieder haben wir einfach nicht. Wie ein Befreiungsschlag reiß ich mir mein verschwitztes T-Shirt runter, weil ich das klebende Gefühl nich mehr aushalt.

In unserer Garderobe nimmt mich Jan in den Arm und hält mich ganz fest. Sein Körper liegt heiß auf meiner Haut, dampft fast von der Anstrengung. Wir haben auf der Bühne wirklich alles gegeben heute Abend.

In der Ecke sieht Hans mehr oder weniger dezent von uns beiden weg und ich widme mich wieder Jan. Schweiß steht auf seiner Stirn und sein Atem hat sich immer noch nicht ganz wieder beruhigt.

„Also, ick trau mich nich wirklich was zu prophezeien, aber – ick fand wir war`n gut heut. Oder?" Er grinst ein erschöpftes Farin-Grinsen und ich will ihn einfach hier und jetzt küssen.

Es klopft an der Tür und ich schlüpf schnell in ein trockenes, wenn auch nich wirklich frisches, T-Shirt.

Beate steht draußen. „Ihr wart super", strahlt sie uns an, dann verdüstert sich ihre Miene. „Aber leider haben wir ein Problem."

„Was denn?"

Sie seufzt und hängt sich bei mir ein. „Kommt mal mit."

Sie führt uns drei durch eine kleine Menge von verbliebenen Konzertbesucher*innen.
„Hey, war `ne Megashow!", ruft mir eine Frau in einem „The Undertones"-T-Shirt zu.

Ein Typ klopft Jan neben mir auf die Schultern. „Hat total Spaß gemacht." Er sieht verschwitzter aus als wir.

„Da!" Beate hält an und deutet in Richtung Tresen. „Die führ`n sich voll auf."

„Wer denn?", fragt Hans, aber ich erkenn die Plattenfirma-Fuzzis sofort.

„Dieser Kirnberger und der andere von der CBS sitzen seit Konzertbeginn hier an der Theke und lassen sich volllaufen – wahrscheinlich auf Spesen ihres Konzerns. Und das Zeug, dass die reden wird immer debiler."

„Häh? Was denn?"

Sie zieht mich noch ein Stück näher, Jan und Hans folgen.

„Keine Ahnung, warum wir uns das hier antun. Das sind doch komplette Laien", grölt der breitere der beiden CBS-Männer so laut, dass nicht nur wir ihn verstehen, sondern auch ein guter Teil des noch verbliebenen Publikums. Immerhin ernten sie einige böse Blicke von unseren Fans.

Der andere Typ hebt sein Bier und stößt mit seinem Kollegen an. „Meine Worte. Die könn wir der Firma echt nicht antun." Seine Krawatte hängt schief über der Schulter seines Jacketts und die geöffneten Knöpfe seines Hemds offenbaren eine behaarte Brust. „Der eine Große beherrscht ja nich mal sein Instrument."

Hans sieht kurz zu Jan, aber uns allen ist klar, dass dieser damit wohl nicht gemeint war. Leider haben die Großmäuler nich nur Unrecht.

„Und die wollen zur CBS. Also, als gelernter Musiker muss ich sagen, dass manche Melodien schon ganz vielversprechend sind, aber man hört halt einfach das Autodidaktische, das Laienhafte zu sehr raus."

Jans Blicke schleudern Blitze in ihre Richtung. Auf seinen Wangen zeichnen sich rote Flecken ab. „Das sin echte Industriewichser." Er verschränkt seine Arme.

„Ich versteh diesen Berlin-Hype eh nicht. Nena ist vielleicht ganz okay, aber ansonsten keine Ahnung, warum wir hier unsere Zeit vergeuden. Für Punk geht das Geschrammel von denen bestimmt, aber für die CBS ist das viel zu ungeschliffen. Genau wie die Manieren von diesen Berliner Rotzgören. Na, egal. Prost." Ihre Kölschgläser klirren gegeneinander.

Schlagartig lässt Beate meinen Arm los, stürmt davon und baut sich vor diesem Krenberger und seinem Kumpan auf. „Also, es kann sein, dass diese Band nicht in das übliche Programm der CBS passt." Ihr Tonfall steht an Lautstärke den beiden Typen in nichts nach. „Doch rüpelhafte Manieren kann ich momentan nur Ihnen attestieren. Melden Sie sich, wenn Sie wieder nüchtern sind mit konstruktiverer Kritik. Einen schönen Abend noch die Herren." Sie dreht sich um und kommt entschlossenen Schrittes zu uns zurück.

Eine kleine Gruppe von Fans fängt an zu johlen und dann auch zu klatschen und ich bin echt stolz auf Beate.

„Ey, danke." Jan legt ihr seine Hand auf die Schulter und sieht ernsthaft beeindruckt aus.

„Es war mir ein Vergnügen", grinst sie. „Den Plattenvertrag können wir damit aber wahrscheinlich abschreiben."

„Egal. Für solche Hoschis will ick eh nich arbeiten", sagt Jan mit einem abfälligen Blick auf die beiden Typen, die sich gerade nicht mehr ganz so wohlfühlen unter den vielen Blicken.

Beate nickt grimmig. „Na, dann heißt es wohl weitersuchen. Irgendwen werden wir schon finden für euch, denn ihr seid wirklich gut – und witzig – und macht einfach insgesamt was her."

„Hey, danke, Beate. Echt cool, dass du heute so spontan hierher gekommen bist."

„Kein Problem. Ich konnte einen Termin umlegen. Und für euch doch immer gerne. Das Konzert war großartig, lasst euch bloß nicht von dem debilen Gelaber von den CBS-Typen runter ziehen. Also, wir hören wieder voneinander, ja?"

Ich umarm sie und auch Jan verabschiedet sich mit einer Umarmung von ihr.

„Okay, Kollegen." Ich hau Jan auf die Schulter. „Wir bauen jetzt schnell ab und dann nüscht wie weg." Ich bin echt froh, wenn wir Köln hinter uns lassen.

Als wir nachts noch ein paar Ortschaften weiter in unsere super billige Unterkunft fahren, fass ich mir ein Herz. „Du, Diana?"

„Hmmm?"

„Schade, dass Papa dit heut nich sehen konnte, wa?"

Erstaunt sieht sie mich an. Sie setzt sich gerader hin und holt Luft. In ihren Augen ... Da ist irgendwas, aber dann atmet sie nur aus, lehnt sie sich wieder zurück und nickt.




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LYRICS

Keine Ahnung - Herzschlag

Family 5 Die kapieren nicht

Ace Cats - Linda  

Plan B - Gimme a reason

Falco - The sound of the music  

The Wirtschaftswunder – Mutter und Vater

die ärzte - Scheißtyp  


INTERVIEWS

Number One mit Markus Kavka – über die ersten BRAVO-Erfahrungen  

das Ding – Bela über Mutti


TV AUFTRITTE

Music Convoy, Wipperfürth 1984  
Manchmal ist Playback auch praktisch. Dann kann man zum Gitarrespielen die Handschuhe anbehalten. ;-)

Die Spielbude - 1984  


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Chapter 45: 1984 - Igor

Chapter Text

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* Teenagers in Love *






1984 – Igor






8. September – Niebuhrstraße 38 b, Charlottenburg

„Und dann sagst du in der Rolle von diesem anderen Bewerber ..." Jan deutet auf das Skript zwischen uns. „Ich hab mich schon immer für Getränke interessiert."

Die Hängematte auf dem Balkon ist gerade breit genug für uns beide. Jan hat seinen langen Arm unter meinem Nacken durchgeschoben und liegt eng und heiß an meiner Seite. Obwohl es schon September ist, brennt die Sonne noch ganz schön und ich muss meine Augen mit der Hand gegen sie abschirmen.

„Dit würd doch niemand so sagen. ... Oder?" Skeptisch seh ich zu Jan.

„Ick weeß och nich. ... Naja, lass einfach `ne Richy und Igor-Szene durchgehen."

„Dit is nich I-gor, sondern Ei-gor!"

„Okay, Ei-gor! Also, wat is dein Text?"

„Dit is nich mein Text, sondern wat dieser Drehbuchfuzzi verbrochen hat." Um in dem Skript nicht die Übersicht zu verlieren, hab ich meinen Text komplett mit neon-grünem Marker angestrichen.

„Ja, is echt nich so doll", gibt Jan zu. „Aber egal. Lies!"

„Ähm ..." Ich räusper mich und leg los. „Aber ist doch total wurscht, ob in unserer Musik `n Saxophon `ne Rolle spielt oder nich. Und dann sacht Hans: Dir ist ja auch alles egal, hauptsache du kannst Currywurst essen." Ich runzel die Stirn. Was für ein Blödsinn.

„Dit muss schon mit mehr Pep kommen." Jan hört sich nicht zufrieden an. Nervöse Energie strömt aus jeder Pore, dabei liegen wir doch eigentlich ganz gemütlich hier. „Du kannst da gern `n bisschen mehr Bela reinpacken."

„Okay, Herr Regisseur. Aber dann ist dit doch keene Schauspielerei, sondern eenfach nur icke."

„Na, aber du bist doch toll, einfach so wie de bist."

Das vielleicht ungewollte, aber sehr ehrliche, Kompliment ist schön, aber so ganz recht hat er damit grad nich.

„Ähm ... Also, dann vielleicht ... Dir is auch allet wurscht, hauptsache es is´ Curry dran", sage ich mit mehr Verve in Hans-Rolle.

Jan sieht mich einen Moment sehr perplex an, dann breitet sich ein Grinsen auf seinem Gesicht aus, das mir eine Nahaufnahme auf seine Beißerchen präsentiert. Sein Brustkorb beginnt zu beben und ich halte mich an der Balkonbrüstung fest, denn das sieht verdammt nach einem der berühmt-berüchtigten Vetterschen Lachanfälle aus.

Unsere kleine Hängematteninsel kommt über dem Balkon ganz schön ins Wanken und mir wird fast ein wenig seekrank. Aber ich lieb es einfach auch, wenn Jan so seinen Kopf in den Nacken wirft und vollkommen frei und unbeherrscht los wiehert.

„Siehste." Er wischt sich eine Träne aus dem Auge. „Dit war sooo viel besser."

„Vielleicht hätte Michael uns dit Drehbuch schreiben lassen solln."

Jan konzentriert sich wieder auf das Skript, nickt. „Seh ick auch so, aber hilft ja nix. Wir müssen unsern Text für den ersten Drehtag können."

„Oh, Mann. Wenn der ganze Film so grottig wird wie die Dialoge, na denn gute Nacht!"

„Aber irgendwie is es schon geil, dass wir ausgewählt worden sin", grinst Jan mich an. „Allein die Kohle, ey!" Sein Blick gleitet über das Gebüsch, über die S-Bahngleise in die Ferne, kehrt dann wieder zu mir zurück. „Aber, ja. So ´n bisschen Qualität wär schon jut."

„Klar. Ick will mich och nich voll blamieren, weil ... naja ..."

„Vor der Szene, meinste?" Jan mustert mich. „Also, nach der Clown-Story in der BRAVO is dit och fast egal, oder?"

„Nee. Dit sin ja bewegte Bilder. Mit Ton!"

„Jetz mach mir halt nich noch mehr Angst. Ick bin schon nervös genuch wegen dem ersten Drehtach."

„Oh, `tschuldige. Dit wußt ick nich."

„Ja. Hätt ick ma sagen soll, wa?"

„Du kannst mir so wat immer sagen, Jan. Ehrlich."

Seine Lippen werden für einen Moment dünn, dann lächelt er. „Okay. ... Danke." Er legt seine Stirn an meine Schläfe und bleibt ein paar Augenblicke so ruhig liegen, dann sieht er mich an. „Also, wat sollste sagen, Ei-gor?"

„Currywurst."


11. September – Starlight Productions, Schöneberg

Auf einmal ist der erste Drehtag da. Die ganze Crew ist echt nett. Am meisten haben wir heute mit den zwei Frauen vom Kostüm zu tun, Astrid und Sikka.

„Schön euch endlich mal zu treffen." Sikka sieht mich aufmerksam an. Sie ist ein paar Jahre älter als wir, aber echt ganz süß. „Ich hab ja zuerst echt nicht verstanden, warum Michael nochmal kurz vor der Vertragsunterzeichnung mit Plan B auf euch umgeschwenkt ist."

„Welche Vertragsunterzeichung?"

„Oh, davon wisst ihr gar nichts?"

„Nee."

„Also, eigentlich sollte dieser Johnny Haeusler den Richard Schrader spielen."

„Johnny? Echt? Ick dachte Ben Becker wär im Gespräch gewesen", fragt Jan.

„Auch, aber dann hat sich Michael mal wieder umentschieden." Ein tiefer Seufzer. „Aber jetz, wo ich euch so seh, versteh ich schon warum." Sikka grinst erst Jan, dann mich an.

„So, so." Ich lächel sie an, dimm es dann wieder ein wenig zurück. Ich hab grad mehr als genug Stress wegen ...

„Dann wisst ihr wohl auch nicht ..." Astrid beugt sich näher zu uns. „Also, dass Nena eigentlich die Hauptrolle spielen sollte?"

Jan neben mir zuckt heftig zusammen. „Ne-Nena?"

„Ja, aber das hat wegen der US-Tour wohl nicht geklappt. Zumindest behauptet Michael das."

„Nena?" Jan sieht sie immer noch ganz entgeistert an.

„Ja-ha!"

„Und die hätte dann die Rolle der Anja gespielt?"

„Genau."

Jan wird leicht blass und lehnt sich gegen den Türrahmen. „Ähm, ... also, hm ..."

„Krass!" Die Erkenntnis, was das bedeutet hätte, dringt langsam auch zu mir durch, aber vor allem amüsier ich mich grad über Jans Gestammel.

Anschließend geht es leider weniger witzig und dafür umso stressiger weiter, denn unsere Kostüme passen nicht. Jan ist zu groß, ich bin zu dünn.

„Hm, das ist ja blöd. Aber gut, dass wir das heute feststellen. Tja, ..." Michael sieht hilflos von Astrid zu uns und zurück.

„Wir könn doch unsere eigenen Klamotten nehmen", schlägt Jan nach einer halben Stunde hin und her und zu viel Punk und zu wenig Punk und zu groß und zu klein schließlich Michael vor.

„Aber jetz nich das selbstbemalte T-Shirt hier, oder?" Michael betrachtet kritisch Jans Aufzug. „Also, da müsstet ihr mir verschiedene Outfits anbieten und ich muss die vor dem Dreh, also vor morgen noch, absegnen." Michael versucht sein Stresslevel zu verbergen - nicht sehr erfolgreich.

„Dann müssen wa aber nochmal in unsere WG", seufzt Jan.


Niebuhrstraße 38b, Charlottenburg

Wir stehen vor meinem Klamottenberg, der sich auf einem Sessel türmt. Unsicher seh ich Jan an. „Wat zieht Igor wohl an?"

„Mhm." Er wühlt sich durch ein paar Sachen. „Also, dit schwarze Hemd steht dir auf jeden Fall gut. Aber dit is nich gewaschen, wa?"

„Nich wirklich. Außerdem hätt ick schon gern wat - Ausgefallneres."

Das Telefon klingelt und ich spring in den Flur.

„Hallo! Bei Vetter und Felsenheimer! ... Nee, grad is echt schlecht, weil Jan und icke zurück zu dieser Filmproduktion müssen. ... Ja, is schon cool irgendwie, aber wir kämpfen grad mit dem Problem, dass die keene vernünftigen Klamottten für uns ham und jetz wolln wa unsere Eigenen nehmen. Die Frage ist nur: welche? ... Nee, ick weeß nich. ... Schon, aber immerhin is dit für`n Film und nich einfach so zum Weggehn ... ... ... Echt? Dit würdste machen? ... Ey, dit is echt ... Ick werd dit gute Stück auf jeden Fall in Ehren halten. Aber dann is halt immer noch die Frage, was Jan anziehen soll? ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ...  Ick gebn dir ma selbst."

„Hey, Jan? Hier für dich!" Ich zieh das Telefon hinter mir her in sein Zimmer und drück es ihm ihn die Hand.

Er nimmt es mit einem fragenden Ausdruck. „Hallo?"

Damit ich alles mitbekomm, leg ich mein Ohr mit an den Hörer.

„Mann, Jungs, dit is doch nich so schwer, wat zum Anziehen zu finden."

„Äh, hallo, Gitti!"

„Also, pass ma auf, Jan. Du hast doch diese eine graue Hose und diese T-Shirts von den Sex Pistols. Ick würd beide nehmen, dit gelbe und dit mit der Flagge druff. Außerdem passt die schwarze Jacke gut dazu, also, diese kurze, die nur bis zum Hosenbund geht. Dann noch `n paar von deinen Hemden, deen Käppi uff un fertig."

„Äh, ja, dit hat ick mir och schon gedacht, aber dit zieh ick doch auch so im Alltag an."

„Na, eben. Siehst ja och echt verdammt jut aus da drin."

Jan sieht verdutzt zu mir. „Ähm, danke."

„Keen Problem. Falls se dort beim Film noch jemand für die Garderobe suchen, stets zu Diensten."

Jan lacht. „Dit machste echt jut, aber leider ist da schon alles besetzt."

„Schade. Naja, dann viel Spaß euch. Oder wat sacht man da: Hals- und Beinbruch?"

„Is dit nich beim Theater?", misch ich mich ein.

„Hörste etwa mit, Bela, du kleiner Vampirspion?"

„Na, wird ja wohl noch erlaubt sein. Oder habt ihr beeden Geheimnisse?" Hätt ich besser mal nicht gesagt, denn siedendheiß fällt mir mein eigenes ein. „Also, nochma danke", sag ich deswegen schnell.

„Ja. Danke, Gitti. Dit war echt `ne gute Beratung."

„Gern geschehen, ihr Pappnasen. Und macht der Szene keene Schande mit dem Streifen. Da wollten echt einige gern die Hauptrolle abgreifn, nich nur wegen der Kohle. Aber jetz tun se so, als wärt ihr so Karrierefuzzis."

„Dit hab ick heut och mitbekommen." Jan neben mir klingt echt betroffen.

„Och, die solln sich ma nich so ham. Du warst halt besser. Und jetz holt ma fix hier Gatsby`s Anzug ab. Ick hoff, der passt Bela."

Zwei Stunden später sind wir zurück am Set. Ich trag den grauen engen Anzug von Gatsby, einer der ersten Punks in Berlin, aber leider ertrunken. Es ist echt eine Ehre, dass Gitti mir den geschenkt hat.

Jan steckt in seiner grauen Wollhose, die wie immer seinen Hintern sehr hübsch zur Geltung bringt, und das Sex-Pistol-England-Flaggen-T-Shirt und hat sein Käppi auf.

„Na, da ist er doch der Richy", ruft Sikka und Astrid nickt. „Das funktioniert super."

Astrid sieht mich an. „Ihr seht beide fantastisch aus." Schon fühl ich mich sehr viel zuversichtlicher.  Der Anzug sitzt aber auch wirklich gut, wahrscheinlich weil ich in den letzten Monaten noch mehr abgenommen hab.


12. September – Europa-Center & Kreuzung Cafe Kranzler

Erster Drehtag. Es wird ernst.

„Mann, hoffentlich vergeig ich nich sofort die erste Szene." Jan hibbelt wie ein großes Duracell-Häschen neben mir herum, strömt in einer wilden Mischung abwechselnd Euphorie, Aufregung und Zweifel aus.

„Na, die is ja zum Glück ohne Text."

„Stimmt."

Richy und Igor kaufen heute laut Drehbuch einen Verstärker für ihre Band. Ich hab keine Ahnung, warum es für die Geschichte relevant ist, dass wir im Detail die ganze Strecke vom Elektronikladen bis zum Bus zeigen, aber was weiß ich schon vom Filme machen.

Also schieben, schleppen und zerren Jan und ich den Verstärker durch das Europa-Center, zahlreiche Rolltreppen runter. Es ist sauanstrengend und ich lehn mich auf der Rolltreppe an.

Jan schlägt mir auf die Schulter und grinst. „Mann, ick bin so froh, dass de dabei bist. Alleen oder mit irgendso `nem Schauspieler als besten Freund hätt ick ..."

„Aus!", schreit es aus dem Walkie-Talkie, dass Jan in seiner Jacke versteckt hat.

„Was?" Jan sieht mich fragend an.

Ich zieh die Schultern hoch. „Keene Ahnung."

Wir sehen hinauf zu Michael, der einen Stock höher neben der Kamera an einer Brüstung steht. Er fuchtelt wild mit den Händen herum, nimmt dann das Walkie hoch.

„Ihr könnt doch nicht einfach so nebenbei quatschen. Ihr fahrt einfach wortlos mit dem Verstärker die Rolltreppe runter."

„Dit haste aber nich gesacht", gibt Jan zurück.

„Na, dann wisst ihr es eben jetzt. Es steht ja auch kein Dialog im Drehbuch. Da kommt Musik drunter."

Jan runzelt die Stirn, drückt dann den Sendeknopf. „Aber dit is doch total unnatürlich, wenn wa da so stehn wie die Schaufensterpuppen."

„Na, ihr habt doch genug zu tun. Es soll sich halt alles auf den Verstärker konzentrieren und was das für ein Aufwand ist, denn ihr als Möchtegern-Musiker betreiben müsst."

„Aha." Jan versucht die Genervtheit aus seinem Blick und aus seiner Stimme zu halten, aber ich kann beides kurz aufflammen sehen. „... Okay, jut. Mach`n wa." Er lässt den Knopf wieder los und sieht mich unsicher an. „Dit is doch Quatsch, oder?"

„Ey, keene Ahnung." Ich zuck mit den Schultern.

„Dann nochmal alles zurück auf Anfang", knarzt es aus dem Walkie.

Jan stöhnt unterdrückt.

„Hast dir die Dreharbeiten och glamouröser vorgestellt, wa?"

Er nickt fast nicht wahrnehmbar, grinst mich dann an. „Na, wird ja vielleicht noch. Wir sin ja och voll die Laien."

Unsere nächste Amtshandlung ist laut Drehbuch, den Verstärker in einen Doppeldecker hinein und dann wieder hinaus zu wuchten, weil der Busfahrer uns nich mitnehmen will.

Jan hebt im Bus das Riesending hoch und nach draußen, verzieht kurz beim Runterlassen das Gesicht. „Aaaah."

„Allet okay?", flüster ich, weil ich nich will, dass Michael uns die ganze Szene nochmal drehen lässt.

„Mein Rücken", gibt Jan nur kurz zurück.

Aber dann geht der Stress erst so richtig los.

„Also, ihr traut euch das zu?" Die Stimme aus dem Walkie ist dieses Mal nich Michael, sondern H.G., der Kameramann.

„Joah. Dit kriegn wa schon hin", gibt Jan zurück, aber ich kann die Nervosität in seinen angespannten Gesichtszügen lesen. Ich vermute, er will beweisen, dass er keine Diva ist.  

Wir sehen hinauf zur Filmcrew, die dieses Mal sicher auf einer Dachterrasse gegenüber vom Café Kranzler steht, während Jan und ich vor der sechsspurigen Kreuzung am Tauentzien stehen.

Die Ampel springt auf rot.

„Na, denn los!", sagt Jan leise und wir rennen den Verstärker vor uns herschiebend direkt auf die gerade unbefahrene Kreuzung. Einen Moment später fahren die ersten Autos auf uns zu und ich zieh Jan an der Jacke zurück auf den Gehsteig, von dem wir gestartet sind.

„Hey, was denn los?"

„Ick ... Ick hab Schiss bekommen."

„Quatsch. Dit geht. In Neapel is der Verkehr viel schlimmer als hier."

„Super Argument."

Er sieht mich ernst an. „Wenn de dit nich machen willst, dann lassn wa `s."

Ich betrachte die Blechlawine, die sich an uns vorbei schiebt und horch nochmal in mich hinein. Ach, scheiß drauf. Ich will kein Feigling sein – weder vor der Filmcrew, noch vor Jan.

„Okay."

„Wirklich? Ick will nich, dass de was machst nur wegen mir oder dem Film, okay?"

„Nee, is okay."

„Jut. Dann nochmal so wie eben."

Als für ein paar Sekunden alle Richtungen rot haben, schieben wir den Verstärker wieder mitten auf die Kreuzung. Das erste Auto, das auf uns zufährt, bremst, fährt dann eine Kurve um uns herum. Wir gehen zügig weiter.

Neben uns bremst ein weiteres Auto.

„Euch ham se wohl ins Hirn jeschissen, oder wat? Schaut das ihr von `ner Straße runterkommt, ihr Vögel." Der Autofahrer, obwohl er auf seiner Spur frei Bahn hat, fährt im Schrittempo neben uns her. „So wat wie euch hätt`s früher nich jejeben. Da hat noch Zucht und Ordnung geherrscht. Da hätt man solche wie euch ..."

„Lass mich in Ruhe, du ..." Ich kann hören was Jan auf der Zunge liegt, bin selber kurz davor dem Arschloch den Mittelfinger zu zeigen, aber dann wär die Szene ruiniert und wir sind schon fast am rettenden anderen Ufer angekommen. Nur der Typ blockiert uns noch den Weg. Hinter ihm beginnt ein Hupkonzert und endlich kurbelt er sein Fenster wieder hoch und fährt. Schnell witschen wir durch die Lücke auf den rettenden Gehsteig.

„Und?", fragt Jan ins Walkie und sieht hoffnungsvoll nach oben zu Michael.

„Hey, tut mir leid, Freunde, aber dieser blöde Autofahrer hat`s verdorben. Was wollte der denn von euch?"

„Ich glaub ins KZ stecken", gibt Jan zurück.

„Bitte was?"

„Dit hat er nich sooo klar gesacht, aber ... seine Intention war trotzdem deutlich."

„Aha. Alles okay bei euch beiden?"

„Ja, klar."

„Also, tut mir echt leid, aber wir müssen die Szene nochmal drehen. Traut ihr euch das denn noch einmal zu?"

„Ja, ja." Jan lächelt mich grimmig an und ich nick.

Angenehm zumindest auf dem Rückweg den sicheren Weg mit Ampeln zu benutzen. Als wir wieder auf Position sind, schaut Jan mich ernst an. „Sicher, dass de dit noch mal riskieren willst?"

„Mit Ihnen an meiner Seite doch immer, Mr. Bond."

Jan stutzt und bricht dann in schallendes Gelächter aus. „Wärst `n hübsches Bond-Girl, mein Lieber!" Er sieht mich mit einem zärtlichen Blick an und ich kann in seinen Augen erkenne, dass er mich gern küssen würde.

Es ist schon komisch, aber mit ihm an meiner Seite, halt ich mich gerade wirklich für unverwundbar.

Wie durch ein Wunder klappt nun beim dritten Mal alles und wir fädeln uns fast fließend durch den laufenden Verkehr.

Wirklich professionell ist das Ganze aber vermutlich nich. Insgesamt mangelt es fast allen in der Crew an Erfahrung – und am meisten dem Regisseur, wenn ich das so beobachte.

Anschließend bringen wir den ganzen Film-Kladderatsch ein paar Häuser weiter zu „City Music" für die nächste Szene. Dort treffen Richy und Igor auf Anja.

Es ist die erste gemeinsame Szene von Jan und Kristina. Zur Begrüßung küsst er sie während des Drehs halb auf die Nase statt auf den Mund, aber immerhin wirkt es relativ natürlich.

Ich seh diese Kristina heute zum ersten Mal und muss zugeben, Jan hat recht: Gut aussehen tut sie. Sie hat echte schwarze Haare, die nicht mal viel Haarspray brauchen, um so füllig auszusehen. Außerdem hat sie irgendwie ein klassisches Hollywoodgesicht inklusive Schönheitsfleck, falls sie den nicht aufgeschminkt hat. Nur ihr Schauspiel, das kann da leider wirklich gar nicht mithalten.

Danach müssen wir wieder den Verstärker weiter durch Berlin schleifen. Dieses Mal durch Kreuzberg – für den Lokalkolorit, wie Michael sagt. Immerhin muss Jan jetzt nich auch noch seinen Gitarrenkoffer tragen. Den hat jetzt Kristina.

Immer wieder lächelt diese Kristina Jan in der Szene an. Irgendwie hat sie was leicht Naives und ich frag mich echt, wie ihre Rolle mit der von Richy zusammen passen soll. Ob das als die erste, große Liebe funktioniert, die Michael hier wohl groß inszenieren will?

Mir ist es auf jeden Fall nich recht, dass die coole Richy-Igor-Dynamik nun durchbrochen ist, zumal Jan sich auch noch ordentlich Mühe gibt, verknallt zu wirken. Kurz kocht echte Eifersucht in mir hoch.

Nach fünf Takes ist es 18 Uhr, die Lichtbedingungen reichen nicht mehr aus. Jan und ich sind fix und fertig und das war erst ein Drehtag.

In der U-Bahn zurück nach Hause seh ich Jan müde an. „Sach ma dieser Michael, weiß der wirklich, was er da tut?"

„Ick weeß och nich." Jan wirkt unzufrieden. „Nu ja, war ja nur der erste Drehtach. Dit wird schon noch. Wahrscheinlich müssen wa alle erstmal `ne gute Arbeitsroutine miteinander finden."

Abends im Bett massier ich Jans Rücken.

„Danke, ey." Er stöhnt auf, als ich einen Knubbel neben seiner Wirbelsäule bearbeite. „Ick bin so krass verspannt. Is ganz schön viel Verantwortung mit der Hauptrolle. Hätt ick nich gedacht."

„Och, Süßer." Ich küss ihn in den Nacken und sein schmerzverzerrtes Stöhnen nimmt eine neue Nuance an. Ich küss ihn nochmal. Da er zu müde zum Duschen war, riecht er immer noch verdammt lecker verschwitzt. Ich leck über seinen Nacken.

„Mhmmmm." Er dreht sich zu mir um und zieht mich zu sich hinunter. Sein Kuss ist müde, aber süß. Dann entzieht er sich mir wieder. „Hey, sorry, aber ick glaub nich, dass ick heut noch ... Ick bin so fertig und morgen geht dit ja noch weiter."

„Schade. Aber – is schon okay."


13. September – Metropol, Schöneberg

Jan hatte mehr als Recht. Am nächsten Tag wuchten wir noch mehr schweres Gerät herum, weil das ja nun schon mal gemietet ist. Wir sollen Roadies für Nena mimen. Raus mit den Klamotten, rin mit den Klamotten.  

Das fühlt sich nach drei Drehstunden überhaupt nicht mehr gespielt an. Wir schleppen Verstärker und Boxen aus einem LKW an der Kameralinse vorbei, hieven, zerren, schieben bis uns der Schweiß auf der Stirn steht und Sonali vom Make-up-Departement uns alle fünf Minuten neu abpudern muss.

„Nochmal mit mehr Schwung, Bela." MIchael steht vor mir und zeigt auf den großen LKW. „Die Kiste muss da so richtig runter rutschen."

„Ey, es tut mir echt leid, aber langsam sind meine Energiereserven aufgebraucht."

„Was? Ich dachte, ihr macht euren Aufbau auch meistens selbst."

„Klar, schon. Aber wir haben doch nicht LKW-Ladungen mit Zeug. Bei uns kannste allet in Hans alten VW-Bus stopfen."

„Mhm. Also, als ich noch Musik gemacht habe, da ..."

Ich stell meine Ohren auf Durchzug und nick.

Das Ganze ist wirklich keine Schauspielerei, sondern einfach ein echter Roadiejob und die anderen, die Michael Komparsen nennt, sind auch echte Roadies und denen geht es natürlich viel leichter von der Hand als uns Spargeltarzans.

Jan schiebt eine Kiste an mir vorbei. „Denkt dein Muskelgedächtnis auch, dass wir heut abend hier auftreten?"

„Das denken deine Muskeln? Meine denken, wann dit hier endlich im Kasten ist."


Am Nachmittag kommt Monika vom Loft vorbei. „Na, ihr beiden?"

„Hey!" Jan wischt sich den Schweiß von der Stirn und küsst Monika einmal links und rechts auf die Wange. „Danke, dass de uns die Rollen besorgt hast."

„Aber das ist doch selbstverständlich", winkt sie nur ab. „Freut mich echt, dass es geklappt hat. Ihr wart in meinen Augen einfach die besten Kandidaten dafür." Sie sieht uns prüfend in die verschwitzten Gesichter. „Na, ich hoffe, ihr bereut es nicht."

„Nee, natürlich nich", beteuert Jan schnell und lächelt tapfer.

Als sie wieder gegangen ist, lässt er sich auf einen der Verstärker sinken, springt dann abrupt wieder auf. „Autsch!" Entsetzt blickt er auf einen sich ausbreitenden Fleck auf der Kiste. „Welcher Idiot stellt `n seinen heißen Kaffee da ab? Mann!" Er fasst sich hinten an die Hose, die nun ein stattlicher Fleck ziert.

„Habt ihr meinen Kaffee gesehen?" Michael sieht sich suchend um.

„Hier." Jan hält ihm die Tasse entgegen. „Den Kaffee hat allerdings meine Hose getrunken."


„Hat Michael denn jetze ma gesagt, wann wa mit Nena drehen?", frag ich Jan, als wir uns in einer Pause ein paar trockene Käsebrötchen reinziehen.

Es wäre wahrscheinlich insgesamt leichter zu ertragen, wenn Nena, für die wir hier ja angeblich aufbauen, auch wirklich am Set wäre. Immerhin ist diese Kristina nicht dabei.

„Angeblich suchen se noch nach `nem passenden Termin, aber – ick bin mir echt nich sicher, ob das überhaupt stimmt. Michael erzählt ganz schön viel, wenn der Drehtag lang ist." Jan verzieht missbiligend den Mund.

„Dit is mir och schon aufgefallen."


19. September – Naunystraße, Kreuzberg

Am sechsten Drehtag taucht Kristina wieder auf und es geht zurück nach Kreuzberg – in Richys neue Wohnung.

Die „neue" Wohnung liegt in einem Abbruchhaus und sieht tatsächlich schlimmer aus als unsere in der Niebuhrstraße. Eine seltsame Eifersucht steigt in mir hoch, weil ... Dies hier ist das „Liebesnest" von Richy und Anja im Film und laut Drehbuch wird es auch ein paar Szenen geben, in denen die beiden hier zusammen im Bett oder vielmehr auf der Matratze am Boden liegen.

Am Nachmittag platzt in der „Küche" irgendwas in der Wand, so dass eine Wasserfontäne draus hervorschießt und diese in eine Dusche umfunktioniert. Das war so definitiv nicht eingeplant und H.G. bringt schnell seine Kamera in Sicherheit.

Jan dagegen versucht mal wieder die Stimmung am Set mit Humor zu retten und stellt sich mitten in den Wasserstrahl, bis seine Hose komplett nass ist.

„Sieht ganz gut aus, so mit der Fontäne im Gegenlicht", vermeldet H.G. hinter der Kamera. „Das können wir auf jeden Fall reinnehmen. Unterstreicht ja auch den maroden Zustand der Wohnung."

Eine zweite Hose hat Jan natürlich nich dabei, so dass sie eine Szene mit Kristina im Bett vorziehen, bei der er die Hose ausziehen kann. Hinter einem von mir gehaltenen Laken schlüpft er schnell in eine verbeulte Trainingshose, die Sikka irgendwo in ihrem Kostümfundus aufgetrieben hat.

Dann verschwinden Jan und Kristina unter der Bettdecke. Ein leichtes Unwohlsein funkelt in Jans Augen. Er ist Leuten nicht gern so nah, wenn er sie nicht kennt oder nicht mag. Und dann auch noch vor anderen.

Aber kaum sagt Michael „Und bitte!", da legt er seinen geheimen Schalter um und auf einmal befindet sich vor der Kamera eine Mischung aus Farin und Richy.

Richard küsst nach dem Aufwachen verliebt Kristina beziehungweise seine Anja. Das ist auch schon die ganze Szene. Jan schmiegt zärtlich sein Gesicht an ihre Wange, aber sie zuckt weg. Dann versucht er ihr durch die Haare zu streichen, das klappt etwas besser, aber beide wirkt fürchterlich verspannt, obwohl Jan sein ins Gesicht getackertes Lächeln behält.

Die anderen können wahrscheinlich nicht hinter Jans freundliche Maske sehen, aber ich spreche inzwischen genug „Jan", um dessen Mimik für mich übersetzen zu können. Er will da so schnell wie möglich raus. Es fällt mir echt schwer, ihm nicht zu Hilfe zu kommen.

„Das ... das wirkt einfach nicht", meldet sich irgendwann H.G. hinter seiner Kamera zu Wort und ich kann sehen wie eine Last von Jans Schultern fällt.

„Wo hat er diese Kristina denn her?", fragt Sikka hinter mir leise Astrid.

„Ich glaub vom Arbeitsamt!"

„Aha."

„Ihr Vater ist anscheinend ein bekannter arabischer Chirurg."

„Okay."

Meine Aufmerksamkeit gleitet wieder zu Jan, der grad seine Beine unter der Decke rausschwingt. „Ähm ... WIr könnten vielleicht och anders zeigen, dass Richy verliebt is."

„Ja? Wie denn?" Michael sieht ihn genervt, aber auch hilfesuchend an.

„Na, also, ick könnt ihr Frühstück ans Bett bringen."

„Och, wie romantisch", entfährt es Sikka, dann wird sie leicht rot.

Michael sieht sie an und runzelt die Stirn. „Findest du?"

„Absolut. Ich würde mich total freuen, wenn das mal jemand für mich machen würde."

„Okay, gut, dann ... dann drehen wir halt das."

„Besser so", hör ich H.G. seufzen.

Und es funktioniert. Die nicht vorhandene Chemie ist nicht ganz so schlimm und Jan bemüht sich wieder sehr frisch verliebt zu wirken. Süß ist er. Allerdings nur so lange die Kamera läuft.

„Und danke", sagt Michael seine Zauberformel für das Ende einer Szene auf. Dann seufzt er. „Mhm, ja. Also, okay, ihr Beiden. Das war gar nicht schlecht."

Jan rutscht auf der Matratze ein Stück von Kristina weg und lächelt sie entschuldigend an. „Zu warm."

Ich hör wie Michael sich flüsternd mit H.G. berät. „Besser wird das nicht. Immerhin kann sie heute ihren Text." Michael wendet sich wieder den beiden zu. „Also, Kristina, vielen Dank. Dann hast du für heute Drehschluss. Und, Jan, mit dir drehen wir die Szene im Hühnerstall im Hinterhof."

„Super." Und schon springt Jan vom Bett auf.

„Ja, die Kostümmädels haben deine Hose wieder trocken geföhnt."

„Mädels?", hör ich Sikka seufzen. „Was für ein Typ! Echt!"


„Die guckt mich die ganze Zeit so an ...", beschwert sich Jan bei mir, als wir endlich nach Hause fahren dürfen. „Mit so großen Augen." Er macht Kristina sehr trefflich nach und wir müssen beide lachen. Dann gehen seine Augen immer mehr auf Halbmast. Warm und schwer lehnt er an mir, während uns die S-Bahn leicht durchschüttelt auf unserm Weg nach Hause.

„Na, Richy ...", flüster ich ihm ins Ohr.

„Na, Ei-gor ...", flüstert er müde zurück, aber ich kann das Lächeln darin hören.


24. September – Auto-Werkstatt, Westend

„Mann, ich bekomm die ganze Zeit diese Scheißfunken ins Gesicht!" Hans wirkt nicht sehr glücklich über seine Rolle. Handwerk wie Schweißen liegt dem Herrn Akademiker und Sohn reicher Eltern  wohl nicht so.

Aber ehrlich gesagt, zu mehr ist er auch nich im Stande. Der spielt meistens noch schlimmer als diese Kristina, doch wirklich gut sind wir alle drei nich.

„Na, ihr Kanaillen!" Axel knallt seinen Koffer auf den Verstärker. Jan hat es geschafft, auch noch ihm `nen Job am Set zu verschaffen.

„Hey, Axel." Jan umarmt den Saxofonisten lange. Das macht er nur mit Leuten, die er wirklich gerne mag. Der Typ ist ja auch echt cool, aber so ganz weiß ich nich, warum Jan so einen Narren an ihm gefressen hat.

„Super, dass das mit dem Job geklappt hat", erwidert Axel und sagt dann leiser: „Ich kann dat Geld grade echt gut brauchen."

„Hey, klar! Für Freunde doch immer", erwidert Jan und schlägt ihm auf die Schulter.

Irgendwie haben die beiden super schnell so eine Ebene gefunden, auf der ich nich so mitkomm und mich `n bisschen ausgeschlossen fühl, wenn die beiden so rumquatschen.

Dafür knall ich Hans den von ihm bestellten Maulschlüssel ordentlich in den Magen. Kann ich gar nichts für. Das Drehbuch wollte es. So wie ich Hans kenn, zahlt er mir das früher oder später eh zurück.

Der von uns improvisierte Auspuff-Song inklusive Synchron-Choreographie wird aber echt genial. Ich lieb es einfach mit Jan so auf einer Wellenlänge zu surfen, dass wir keine Worte brauchen, weil einfach Telepathie funktioniert.

Sogar Michael findet ausnahmsweise mal lobende Worte für diese Idee von uns. Ansonsten ist er nicht immer so zugänglich für die ganzen Änderungen, die Jan und ich so aushecken.

Bei einer der vielen Kameraeinricht-Pause spielt Axel auf seinem Saxophon eine Bugs-Bunny-looney-tunes-Nummer und Jan bekommt so einen Lachanfall, dass er in dieser dreckigen Werkstatt auf die Knie sinkt und nur noch ein vibrierendes Bündel ist.

Und wenn Jan lacht, dann ...

Sogar H.G. erwischt es und der ist normalerweise hier am Set der Fels in der Brandung.

„Okay. Wir machen eine Viertelstunde Pause", ruft Michael schließlich, weil wirklich gar nichts mehr geht. Aber die Leichtigkeit, die Jan mit seinem Strahlen ans Set bringt, tut echt allen gut, denn die Spannung wegen des ganzen Chaos ist oft mit Händen zu greifen. Danach geht es dafür um so konzentriert weiter.


Am Abend sinkt Jan nur noch in mein Bett. „Mir tut echt jeder einzelne Knochen im Körper weh. Und Michael nervt."

„Ick weeß, aber dit merkt man dir gar nich an beim Drehen." Ich dreh mich vom Spiegel zu Jan. Mir macht es Spaß mal so richtig professionell von Sonali geschminkt zu werden, aber sie hat mir auch gesagt, dass wir das Abends besser abmachen.

„Na, wenn ick dit och noch zeig, dann ist die Stimmung am Set ja voll für `n Arsch und nüscht macht mehr Spaß."

„Na, immerhin ein Profi am Set." Ich geh zu ihm hinüber und fahr ihm durch seine langen, hochgestylten Haare. Er lächelt mich müde an, dann legt er sich den Arm über das Gesicht und ich hab schon Angst, dass er gleich wegpennt.

„Mrrmmm.", tönt es dumpf, gefolgt von einem langen Stöhnen. „Ick hoff echt, der Film is den ganzen Stress wert. Vor Montag graut`s mir so richtig."

„Da sind die Krankenhaus-Szenen mit deinem Vater, oder?"

„Genau." Er nimmt seinen Arm von den Augen und sieht mich vorwurfsvoll an. „Und du bist nich dabei."

„Aber dafür kann ick doch nüscht. Ick komm halt in der Szene nich vor." Ich lass mich neben ihn fallen.

Er küsst mich auf die Stirn und sein Blick wird milder. „Kannste ... Kannste vielleicht trotzdem mitkommen? Michael hat angekündigt, dass dit die heftigste Szene des Films is. Richys absoluter Tiefpunkt: Er denkt sein Vater ist gestorben."

„Krass."

„Ja. Und das eben zusätzlich zum Stress, den Richy mit der Band hat." Er seufzt tief.

„Identifzierst dich schon so `n bisschen mit dem Richy, wa?"

Jan schüttelt den Kopf, nickt, schüttel wieder den Kopf. „Weeß nich. Wenn ick dit Drehbuch geschrieben hätt, dann ... Diese Liebesgeschichte, ey ... Aber nun ist Anja – zumindest - im Film ja weg."

„Na, dafür kannste echt dankbar sein."

„Stimmt. Mann, diese Kristina ist so eine Fehlbesetzung. Oder einfach falsche Berufswahl." Jan dreht sich wieder zu mir auf die Seite. „Ick gloob, Michael is in die verknallt und nur deswegen is se dabei."

„Tragisch. Ehrlich."

„Kann man wohl sagen." Jan stützt sich neben mir auf einen Ellbogen. „Fast noch tragischer is, dass er in sein tolles Drehbuch geschrieben hat, dass sich Richy zwischen dem Auftritt und seinem totkranken Vater entscheiden muss, weeßte ja. Und er entscheidet sich für die Band."

„Stimmt. Also, nich, dass ick dit nich verstehen kann, aber et macht Richard nich direkt sympathisch."

„Find ick och. Und überhaupt dit ganze Thema mit dem Vater. Ick find`s ja irgendwie gut, dass dit vorkommt, grad weil die Liebesgeschichte so ... naja is, aber ..." Jan spielt mit einer meiner Haarsträhnen. „Weeßte, der Schauspieler ist echt gut und auch wirklich nett, aber – irgendwat hat der, dass mich an Gerd erinnert ..."

„Oje." Ich seh vorsichtig zu Jan hoch. „Dit tut mir leid ..." So ganz klar ist mir nicht, was zwischen Jan und seinem Stiefvater alles vorgefallen ist, aber mir wird jedes Mal ein wenig schlecht, wenn ich an Gerd denke. Bei Jan ist das bestimmt noch krasser, wenn ich die Gewitterwolken in seinem Gesicht richtig deute.

Ich zieh ihn an mich. „Biste heute och zu müde für ...?" Ich küsse ihn in den Nacken und auf einmal befinde ich mich auf dem Rücken und habe einen zähnefletschenden Jan über mir.

„Eigentlich schon, aber ... Ey, ick will dich ..."

Verdammt, ich lieb das so, wenn er mich mit seinem großen Mund so hungrig küsst. Und heute schmeckt er mal nicht nach Kristinas Lippenstift.


27. September – Urban-Krankenhaus, Kreuzberg

Tatsächlich komm ich am Montag zur emotionalen Unterstützung mit ans Set, auch wenn ich mir nich wirklich sicher bin, ob ausgerechnet ich eine gute Unterstützung beim Thema Väter bin.

Wir stehen mitten im riesigen Foyer des Urbans und versuchen auf einem Plan zu kapieren, wo Station 4 ist.

„Oh, Mann." Jan sieht sich gequält auf dem Flur um. „Also, ick hab echt nich so jute Erinnerungen an dit Krankenhaus hier."

„Weil?"

Er hebt eine Augenbraue und sieht mich lange, sehr lange, an.

„Äh, wegen Jacques?"

„Ja! Wegen Jacques, du Nulpe."

„Tut mir leid."

„Mhm ..."

In der Szene mit seinem Filmvater spielt Jan heute sehr, sehr zurückgenommen, ganz leise und zerbrechlich, so dass ich richtig Mitleid mit Richy bekomm.

Erst als innerhalb des Dialogs langsam klar wird, dass es seinem Vater wirklich gut geht und der ihm wohl auch verziehen hat, kehrt das Farin-Strahlen auf Richys Gesicht zurück und die Stimmung innerhalb des Krankenzimmers und auch innerhalb der Crew wird wieder leichter.

„Wunderbar!" Horst Pinnow, der Jans Vater spielt, steht von seinem Krankenbett auf und klopft Jan anerkennend auf die Schulter. „Das haste echt gut gemacht."

„Danke." Jetzt ist es der echte Jan, der strahlt. Horst ist neben Ingrid van Bergen, die seine Mutter spielt, einer der wenigen echten Schauspieler am Set.

Leider hab ich mit Ingrid keine Szene, weil ... Ihre Lebensgeschichte fasziniert mich unendlich. Jan sagt immer nur über sie, sie sei „eine Persönlichkeit." und dass es echt fair ist von Michael, ihr eine Chance nach ihrer Haftentlassung zu geben. Immerhin etwas macht er richtig, der Herr Möchtegern-Regisseur.

Während des Krankenhaus-Drehs hab ich mich in einer Ecke so unsichtbar wie möglich gemacht, aber jetzt kommt Jan zu mir hinüber.

„Ey, danke, dass de dabei warst. Ohne dich hätt ick dit heute echt nich hin gekriecht."

„Äh, klar. Aber – ick hab doch gar nüscht Großartiges gemacht."

„Einfach zu wissen, dass de da bist und ab und zu zu dir rüber schauen, dit hat schon gereicht." Er zieht mich kurz in seine langen Arme und küsst mich auf den Kopf.

H.G. sieht überrascht zu uns hinüber, dann schmunzelt er. „Na, denn schönen Feierabend, Jungs. Haste dir echt verdient, Jan. Wir sehen uns morgen."

Jan unterdrückt sein Stöhnen nicht sehr erfolgreich, denn morgen soll laut Michael eine „intime" Szene zwischen Richy und Anja gedreht werden. Hat ja auch super funktioniert beim ersten Mal.


28. September – Flughafen Tegel

Es ist ein Abenddreh. Normalerweise ist meistens so gegen 18 Uhr Drehschluss, weil wir schon um 7 Uhr anfangen.

Eigentlich bin ich da auch gar nicht bei, aber da Petra, die Setdekorateurin, ausgefallen ist, hab ich mich angeboten. So unterschiedlich kann das auch nicht sein zu einem Schaugestalter. Ist es dann aber doch.

Sikka vom Kostüm kommt mit einem leicht gestressten Ausdruck auf mich zu. „Hey, Bela, du musst schon darauf achten, dass der Stuhl vor dem Wohnwagen wieder genau an der gleichen Stelle landet, wenn wir die Szene wiederholen müssen, ansonsten haben wir ein Problem im Schnitt mit der Kontinuität."

„Mit der was?"

„Also, das sieht man einfach im Film, wenn das aneinander geschnitten ist und sich unterscheidet. Das ist dann so, als wäre der Stuhl ein Stück vor oder zurück gezaubert worden."

„Oh. ... Okay. Ick werd da ab jetz mehr drauf achten."

Die nächste Szene vor dem Wohnwagen vergeigt Kristina mit Pauken und Trompeten. Mal wieder.

Jan und sie sollen sich küssen – der Auftakt zu ihrer ersten gemeinsamen Nacht. Sollte eigentlich nich schwer sein. Find zumindest ich. Aber hat ja schon mal nich geklappt und prompt fängt beim ersten Mal Kristina an zu kichern, als sich ihre Lippen berühren. Beim zweiten Mal kichert sie nur noch in dem Maße, dass man es als „Sie ist verknallt." lesen kann, sagt Michael, aber dafür hat sie ihren Text vergessen.

Kein Wunder, denk ich. Den würd ich auch vergessen, wenn ich das erste Mal von Jan geküsst würde.

Beim dritten Mal klappt es zwar mit den Wörtern, aber ihr Vortrag ist grausam hölzern. Keine Ahnung wie Manfred an der Tonangel das aushält. Er bekommt das ja  direkt auf seine Kopfhörer geliefert, inklusive des an sich üblen Textes plus in schlecht vorgetragen.

Michael winkt die Aufnahme trotzdem durch. „Vielleicht können wir da noch was im Schnitt mit der Nahaufnahme des Kusses retten."

Aber der klappt gar nicht. Jedes Mal wenn Kristina sich Jan nähert, beginnt sie wieder haltlos zu kichern, bis auch Jan kein nettes Turteln mehr vortäuschen kann. Seine Wangenmuskeln mahlen. Anscheinend merkt er das auch, aber dadurch verkrampft er sich nur noch mehr.

„Okay, dann versuchen wir halt zumindest die Szene im Wohnwagen. Vielleicht klappt das ja besser."

Gespannt verfolg ich wie sich hinter dem Vorhang ihre Schatten aufeinander zu bewegen. Dann fängt Kristinas Silhouette an zu zittern und sie kichert so laut, dass sogar wir vor dem Wohnwagen es hören können.

„Auuuus! Schluss!", brüllt Michael genervt.

Eine Sekunde später stürzt Jan aus der Tür des Wohnwagens und wischt sich hektisch den Mund ab.

Schnell schließ ich zu ihm auf, der mit seinen langen Beinen mehr oder weniger vom Wohnwagen wegläuft.

„Hey, allet okay mit dir?"

Jan dreht sich zu mir um und bleibt abrupt stehen. „Haste wat zu trinken da?"

„Äh, nur Bier." Nach der zweiten gescheiterten Szene hab ich mir mein Mitgebrachtes aufgemacht. Um zehn Uhr abends und nach dreizehn Stunden Arbeit soll da mal besser keiner drüber meckern.

„Oh, Mann."

Ich kann sehen, dass er kurz davor ist mir die Flasche aus der Hand zu nehmen, aber dann ...

„Haste vielleicht `n Kaugummi?"

Am liebsten würd ich lügen, einfach weil ich neugierig bin und ihn Bier trinken sehen will, aber dann ... „Ja, klar. Hier."

Er kaut wild, wischt sich nochmal über den Mund. „Boah. Wah. Der Kuss war so krass eklig. Dit is wie `n Phantomschmerz oder so. Ick krieg dit Gefühl eenfach nich weg." Er sieht sich vorsichtig auf dem Set nach Kristina um. „Also, ick mein, dit hätt doch schön sein können, och wenn`s nur für die Kamera is. Aber die is so ... Es muss ja gar nich Nena sein, aber warum - verdammt noch mal – haben sie nich Tini genommen? Die war super."

Für einen Moment bin ich Michael sehr dankbar, dass er genau diese Tini nich genommen hat.

„Soll ick ma machen?" Ich grins ihn so dreckig an, dass er mir einfach nur den Mittelfinger zeigt. Aber ich lass nich locker, bau mich vor ihm auf und schließlich zieht er mich hinter den Schminkwagen von Sonali, wo die ganzen Scheinwerfer nich hinkommen.

Tatsächlich schmeck ich ihren Lippenstift auf seinem Mund, aber es macht mich grad sogar `nen Ticken an. Ich dräng Jan gegen die Wand des Wagens und dring in seinen Mund, schmeck die frische Minze des Kaugummis. Ich dräng mich noch mehr an ihn, schieb mein Bein zwischen seine Oberschenkel. Mit einem heiseren Stöhnen biegt sich sein ganzer Rücken durch, sich mir entgegen und ich leck über seinen Hals.

„Oh, Mann, ick würd dir grad so gern einen runterholen", seufz ich.

„Bitte ... bitte nich", keucht er zwischen Entsetzen und deutlich spürbarer Erregung. Ein rotes Signallicht des Flughafens spiegelt sich in seinen großen Pupillen. „Ick brauch noch genuch Energie für diesen üblen Dreh heut."

„Oh, Mann, du siehst so heiß aus, mein lieber Richy."

Jan lacht, aber ich leck über seinen Mund und er geht ein wenig in die Knie, damit ich ihn intensiver küssen kann.

„Besser jetz?", frag ich keuchend nach ein paar Minuten, aber Jan kann nich sofort antworten, weil er so außer Atem ist.

„Was is besser?"

„Na, dit Kuss-Phantomgefühl, das dich so heimgesucht hat."

„Oje, erinner mich nich da dran. Ick will nich zurück ans Set", stöhnt er. „Ick will jetz einfach nur Drehschluss haben und mit dir nach Hause."

„Verständlich", grins ich ihn an, dann drück ich mich wieder an ihn, lass ihn spüren, dass auch ich einen Drehschluss befürworte.

Scheinwerfer. Sehr grelle Scheinwerfer. Etwas Riesiges, Schwarzes dröhnt durch die Nacht. Erschrocken lös ich mich von Jan und halt mir die Ohren zu. Ein Urzeittier schwebt über uns.

Auch Jan blickt mit großen Augen nach oben. Was für ein Lärm, was für eine Kraft.  Fasziniert und erschrocken starr ich auf den riesigen Metallleib, der sich über uns hinweg schiebt. Der Luftzug des landenden Flugzeugs wirbelt Gras und Staub um uns hoch, dann ist der Spuk vorbei.

„Jan? Wo bist du denn?", hören wir Michael rufen und begeben uns schleunigst zurück ans Set. Dort stehen alle um einen kleinen Monitor herum und starren auf den Bildschirm.

„Das sieht einfach nicht aus. Da kann man auch im Schnitt nichts machen", sagt H.G. und wirft Kristina einen vorwurfsvollen Blick zu.

Irgendwie bekomm ich langsam Mitleid mit ihr, denn eigentlich ist sie die falsche Adressatin für die Kritik. Im Casting müssen sie doch gesehen haben, wie grottig sie spielt und haben sie trotzdem genommen.

„Also, ich würde vorschlagen, dass Astrid vom Kostüm die Szene mit Jan macht. Sie hat eine ähnliche Statur wie Kristina und als Schattenriss merkt man die unterschiedlichen Haare gar nicht", sagt H.G. in die Runde, weil Michael so gar keine Lösungen parat hat.

Astrids Augen werden ziemlich groß und in Kristinas sehe ich es verdächtig glänzen, während sie sich eine Hand gegen die Lippen presst. Dann verschwindet sie in der Dunkelheit. Jetzt tut sie mir wirklich leid.

„Ich kümmer mich um sie." Sikka läuft ihr hinterher.

„Ick kann die Szene mit Jan och machen", sag ich schnell in die bedrückte Stille hinein.    

„Du?" Michael mustert mich.

H.G. dagegen schmunzelt. „Das können wir natürlich auch ausprobieren."

Michael strafft sich. „Wie soll ich denn eine Liebesgeschichte erzählen, wenn ..."

„Warum sollt das mit Bela nich gehen?" Auf einmal steht Jan zwischen uns und starrt Michael herausfordernd an. „Der hat auch eine ähnliche Statur wie Kristina und Astrid."

„Na, weil ..." Michael sieht Jan scharf an, was bei ihm nicht wirklich respekteinflößend wirkt. „Also, falls du es noch nicht bemerkt haben solltest: Bela ist ein Mann."

„Ja, und?", erwidert Jan nur kurzangebunden und starrt Michael weiter nieder. Gerade fordert er den „Regisseur" so richtig heraus.

Ein warmes, sehr warmes Gefühl fließt durch meine Brust. Mein Jan ... Ich leg meine Hand auf seinen Arm. „Genau. Ich mach dit!"

Neben mir atmet Astrid auf. „Ja, bitte. Ick weiß echt nich, wie ick das meinem Freund hätte verklickern sollen." Dann sieht sie zu Jan. „Wobei ... Also ..."

Ich will lieber nicht wissen, was genau sie sagen will. „Ick mein dit ernst", sag ich nochmal laut in die Runde.

„Na, wunderbar." H.G.s Wort hat hier am Set am meisten Gewicht, wenn auch inoffiziell.

Sonali versteckt meine langen Haare so in mein Hemd, dass es der Frisur von Kristina ähnelt. Michael winkt nur ab, als sie ihn um sein okay bittet, aber H.G. nickt.

Auf einmal befind ich mich allein mit Jan im Wohnwagen. Schön ist es da drin. Ich könnt mir tatsächlich vorstellen, hier drin mit ihm zu wohnen. Wär `n bisschen eng, aber gemütlich. Bis auf das grelle Licht, das am anderen Ende des Wagens aufgebaut ist, damit unsere Silhouetten wirklich gut zu sehen sind.

Ich lass mich rücklings auf die Matratze fallen und beginn mit meinen Fingern langsam an Jans Oberschenkel hoch zu wandern. So ganz hat mich die Stimmung von vorhin noch nich verlassen.

Er hält meine Finger mit einem warnenden Ausdruck fest, aber ich grins ihn nur an.

„Meinste, die wissen, dass wir beede ...", fang ich an, aber Jan legt mir schnell seine Hand auf den Mund und zeigt mit der anderen pantomimisch eine Tonangel.

Dadurch das grad das ganze Filmteam für uns hier im Wohnwagen unsichtbar ist, hatt ich vergessen, dass Manfred uns ja über die angebrachten Mikros hören kann.

„Also, ich halte das immer noch für Blödsinn, aber ... okay. Seid ihr soweit?", hören wir Michael leicht gedämpft. Er versucht, sehr gefestigt und autoritär zu klingen.

Jan rollt nur mit den Augen, ruft dann zurück: „Ja!"

„Ton?"

„Ton läuft!", bestätigt Manfred.

„Kamera?"

„Kamera läuft", hören wir H.G.

„Klappe! 1.3 25"

„Und – bitte!"

Jan nimmt mein Gesicht zwischen seine riesigen Hände. Ich starr ihm wie hypnotisiert in die Augen. Ganz langsam nähert er sich meinem Mund – und dann ... Ich hab ihn noch nie so gefühlt – fast dominant. Das ist definitiv eine neue Seite an Richy. Oder ist das doch einfach Jan selbst? Ich verlier mich auf jeden Fall komplett in seinem Kuss und hör das „Danke. Aus." gar nich richtig.

„Alles okay, Bela?" Jan sieht mich an.

„Oh ja!"

Jan lacht. „Dit sieht man."

Ich schau auf meinen Schritt und Jan lacht noch mehr. „Da och, aber ick meinte mehr in deinen Augen."

„Ach so."

Als wir aus dem Wohnwagen stolpern, versucht Jan den Blickkontakt mit allen so gut es geht zu vermeiden.

„Habt ihr gut gemacht, Jungs", lobt uns H.G.

„Naja. Bis auf den Ton. Den kann man vergessen", grinst Manfred. „Das Gestöhne klingt dann doch etwas zu männlich für die Anja."

Jan blickt zu Boden, dann grinst er kurz zu mir rüber.

„Aber die Bilder sind ganz wunderbar geworden. Endlich ist da mal ein bisschen Leidenschaft drin in der Liebesgeschichte." H.G. sieht mit einem glücklichen Lächeln auf den Monitor. „Danke, ihr beiden." War da ein Zwinkern? „Na, dann können wir jetzt auch endlich alle nach Hause."

„Soll`n wa noch beim Abbauen helfen", fragt Jan H.G.

„Ihr seit echt okay, Jungs. Sowas fragen Schauspieler eigentlich nie. Aber, nee, fahrt ihr mal nach Hause."

„Okay. Dann ... " Bela nimmt meine Hand und zieht mich in Richtung S-Bahn. „Bis morgen."


1. Oktober - Fredo Eisen, Kreuzberg

„Nich schon wieder so `ne olle Halle." Jan starrt seufzend in den Staub und Schmutz. „Ick kriech dit überhaupt nich mehr aus `n Poren raus."

„Och, wir könn zu Hause gern zusammen duschen." Ich lass meine Hand versteckt über seinen Hintern wandern. Diese graue Stoffhose ist einfach zu hübsch an ihm.

„Mhm. Hört sich gut an." Er dreht sich grinsend zu mir um. „Vor allem ist heut Freitag. Endlich Wochenende. Ich bin echt fertig. So `ne 5-Tage-Woche ist ja fast härter als die Schweintouren."

„Und man kann am Abend nich ma saufen, weil wa um 7 schon wieder am Set stehen müssen", jammer ich.

„Na, immerhin dürfen wa heut einfach mal spielen", frohlockt Jan, der immer versucht, etwas Gute an den Dreharbeiten zu finden. „Is ja schließlich `n Bandfilm. Außerdem ..."

„Na, ihr!"

„Hey, Axel!", strahlt Jan den Saxophonisten an und zieht ihn in eine Umarmung.

„Also, dann wollen wir mal wieder." Michael klatscht in die Hände, wie so `ne Kindergärtnerin. „Dann baut doch mal eure Instrumente auf."

„Oh, Mann", seufzt Jan. „Wie konnt ick dit vergessen?"

Und weil wir eben doch auch professionelle Roadies sind, steht nach einer Dreiviertelstunde alles und wir legen los mit „Teenagerliebe". Ich spiel dieses Lied einfach so gern mit Jan. Es erinnert mich an so vieles, was ich mit ihm ...

„Hey! ... Stop!", brüllt Axel auf einmal mitten in die Szene hinein. Eigentlich stand das nicht im Drehbuch und auch Jan zuckt zusammen.

Ich will schon fragen, was nu wieder los ist, aber H.G. folgt hinter der Kamera Axel auf seinem Weg hinüber zu Hans.

„Dat geht so nich. Du hängst total hinterher." Axel hört sich dezent angepisst an und dementsprechend duckt Hans sich auch weg. „Das zieht sich wie Gummi."

Hans scheint gar nicht zu schnallen, dass das eigentlich nicht in die Szene gehört und bleibt in seiner Rolle. Wobei – der ist immer irgendwie Hans, egal ob als Richy-Guitar-Hans oder der „normale".

„Das kann gar nich sein", gibt er auf seine typisch defensive Art zurück. „Ich hab mich total an Rich orientiert."

„Na, der war gerade ausnahmsweise mal richtig."

Ich muss lachen, weil Axel definitiv nich mit Kritik spart. Vielleicht wär es ja doch gut, einen echten Musiker in unserer Combo dabei zu haben.

Auf jeden Fall ist Axel als Hans-Beschimpfer oscarreif, echt erste Sahne. Den Tag streich ich mir im Kalender an.

„Also, auch wenn das improvisiert war", mischt sich H.G. ein, „Ich finde, das sollte als Szene in den Film rein, weil ... Das ist ein perfektes Beispiel dafür, welche Probleme es innerhalb einer Band geben kann. Und sehr realistisch. Gerade in eurer Dreierkonstellation wirkt es oft, als würdest du Hans etwas – Also, ich mein das nicht böse oder so, aber als wärst du so ein bisschen außen vor."

„Quatsch. Wir haben gar keinen Stress miteinander", sagt Hans schnell.

Ich verkneif mir das Augenrollen und auch H.G. reagiert nicht auf seinen Einwurf.

„Also, ich würde vorschlagen, wir drehen eine Einstellung wie du, Bela, also Igor, lacht und so etwas zu Hans, also Film-Hans, sagt wie: „Üben!"

„Cool." Ich grins H.G. an und nick.

H.G. wartet gar nich, bis Michael zustimmt und schon ist die Szene mit mir im Kasten.

Feierabend. Wochenende. Endlich!


Niebuhrstraße 38 b, Charlottenburg

Ich stolper in unsere WG. Eigentlich wollt ich nach dem Einkaufen noch weggehen und endlich mal wieder ein paar Freund*innen treffen, aber ich bin viel zu müde. Arbeiten ist wirklich doof, selbst wenn es sowas Cooles wie Filme drehen, ist.

Mit letzten Kräften wuchte ich die Einkäufe auf die Anrichte neben dem Kühlschrank. Immerhin haben wir durch den kleinen Vorschuss endlich mal genug Kohle uns etwas besser zu ernähren.

„Autsch. Aaah", ertönt es aus dem Bad.

„Alles klar bei dir?"

„Geht so. Zum Glück müssen wa morgen nich vor die Kamera."

„Haste dich geschnitten?"

„Ja. Dit zeckt. Rasieren ist echt voll für `n Arsch. Vor allem, wenn man eh eigentlich keen Bart hat." Das ist irgendwie seine Archillesferse.

Mir ist das egal. Vampire haben keinen Bart. Doch ihn hat letztes Mal im Risiko so ein besoffener alter Punk „Milchgesicht" genannt. Danach war Jans Miene wie Marmor – bleich und hart.

„Soll ick ma gucken?"

„Nee, passt schon. ... Übrigens hat Sylvie für dich angerufen", ruft Jan aus dem Bad zu mir rüber.

Mein Herz beschleunigt sich, aber nicht mehr auf die gute Art und Weise, wie am Anfang.

„Was ... was wollte se denn?"

„Sich wohl irgendwie mit dir treffen. Wegen ... Hat sie gar nich gesacht. Ick hab dit insgesamt nich so ganz geblickt, was se wollte. Ruf se am besten einfach zurück."

„Ja, klar. Mach ich." Meine Stimme ist viel zu hoch.

„Tadaaa!" Jan kommt zu mir in die Küche. Auf seinem Kinn, seiner Wange und über dem linken Mundwinkel kleben rot-weiße Klopapierfetzen. „Super, wa?"

„Siehst trotzdem schön aus." Und es stimmt. Ich küss ihn auf den anderen Mundwinkel und umarm ihn ganz fest.

„Mhmm." Er zieht mich an sich und unter meiner Wange hör ich ein „Mhmmm" durch seinen Brustkorb brummen, dann seinen Magen knurren.

„Oh, ick muss echt wat essen. Ick koch uns was, okay?"


Als er später Spaghetti mit echten, frischen Tomaten in sich reinschaufelt, kann ich fast nichts essen, weil ... Ich muss endlich das Thema ansprechen, vor dem ich nun seit Wochen Schiss hab.

„Vielleicht sollten wir dit mit Vielklang echt beenden."

„Was `n los?" Jan sieht von seinen Nudeln auf. An seinem Mund klebt Sauce und er sieht so süß aus, dass ich meinen waghalsigen Plan sofort wieder verwerfen möchte.

„Also, dit is wegen ..." Blut steigt mir in die Wangen, weil mein Herz so rast. „Ich hol tief Luft. „Hey, Jan, ick ... ick gloob, ick muss dir wat gestehen."  

Er legt seine Gabel zur Seite, mustert mich mit gerunzelter Stirn und schlingt dann seine Arme um den Oberkörper, so als wäre ihm an diesem warmen Septemberabend auf einmal kalt. „Was ... was denn?"

Ich guck betreten auf meinen Teller. „Vielleicht sollten wa spazieren gehen dafür. ... Oder so?"

„Dit klingt nich so, als würd ick deine Offenbarungen gern in der Öffentlichkeit hören."

„Dann ... Dann setzen wir uns vielleicht auf`n Balkon?"

„Damit die olle Pachulke dit anstehende Drama mitbekommt? Is doch wat schlimmet, oder nich?", fragt er und sein Blick ist so argwöhnisch.

„Ick fürcht schon", seufz ich schließlich.

„Oh, Mann!" Er reibt sich über das Gesicht, sieht mich dann prüfend an. „Wat haste denn nu wieder angestellt?"

Der kleine Stich seinerseits hilft, weil ich sauer werde, dann sinkt mein Herz wieder.

„Es is wegen Sylvie ..."

Stille.

„Vor ein paar Wochen, da ..." Ich brech ab, weil ich nich weiß, wie ich das sagen soll.

„Es is dit, was ick denk, oder?" Jans Gesicht verzieht sich und da ist einfach nur purer Schmerz, bevor er seine Miene wieder unter Kontrolle bekommt und mir eine Jan-Statue gegenüber sitzt.

Ich nick. „Biste ... Biste wütend deswegen?"

„Ick weiß nich." Tonlos. Seine sonst so melodiöse Stimme ist einfach ... Einen Moment seh ich Verwirrung in seinen Augen, dann werden sie wieder hart. „Warum – warum haste denn ...? Ausgerechnet mit ihr ..."

„Sie war einfach so ... Die hat einfach so krass mit mir geflirtet und da hatt ick Lust ..."

„Mann, Bela!" Kurz schimmert wieder Wut durch und ich wünsch mir so, dass er wütend wird. „Seit wann?"

„Seit ... Mhm, also seit Anfang August. Ick hab`s jetzt aber vor zwei Wochen beendet", ergänz ich schnell.

„Zwei Monate also? Alles hinter meinem Rücken?"

„Ähm, ... ja", antwort ich kleinlaut.

Er schluckt, schluckt noch einmal. „Und ick, Idiot, denk noch, wie toll es is, dass de dich so um dit Geschäft kümmerst, weil de dich öfter mit ihr getroffen hast."

„Es tut mir echt ..." Ich will meine Hand auf seinen Arm legen, aber er zieht ihn schnell weg, als hätt ich ihn verbrannt und wird total bleich.

„Hey, Jan? Alles okay. Du bis echt ganz schön blass."

„Mir is grad so `n bisschen ... schlecht." Es klingt, als müsste er würgen. „Warum haste `n dit ...? Haste dit gemacht, weil ich mich nich von dir ficken lass?" Seine Stimme bricht und ich kann die Tränen hören. Verdammt.

„Quatsch. Du weißt doch, dass ick och auf Frauen steh und ..." Ich will es eigentlich ganz faktisch sagen, immerhin haben wir auch `ne Abmachung, dass ich was mit anderen Leuten haben darf, aber auf einmal klingt es wie betteln.

„Tu ich doch och, aber ..." Ein ganz leises Schniefen, dann steht er auf und geht.

„Jan!" Ich steh auch auf, geh einen Schritt hinter ihm her. „Bitte ..."

Ein Klicken. Seine Zimmertür. Er schließt sie eigentlich selten ganz.

Zwei Stunden hibbel ich von der Küche in mein Zimmer ins Bad und zurück und trau mich nicht zu klopfen, weiß, dass es eh sinnlos wär ihn jetzt ...

In Stunde drei hör ich leise Gitarrenklänge aus seinem Zimmer. Traurig – ganz schlimm traurige Melodien und ich setz mich auf den Boden und lehn mich an die Wand, die unsere Zimmer verbindet, und endlich kann ich heulen.

Das Gitarrenspiel verstummt wieder und das ist noch schlimmer.

Eine halbe Stunde später geht seine Tür auf und ich kann mich nicht beherrschen und stürz in den Flur.

Er blickt mich eine Sekunde aus roten Augen an, seine Jacke in der Hand, dann wendet er sich wieder ab.

„Wo ... wo gehst`n du hin?"

„Weeß noch nich." Seine Stimme ist hart, aber ich kann hören, dass er sich bemühen muss, sie so klingen zu lassen.

Also besteht noch Hoffnung?

„Jan?"

Keine Antwort, aber er bleibt mit dem Rücken zu mir stehen.

„Ick wollt mich entschuldigen. Ick wollt dir nich weh tun."

Er dreht sich zu mir um. Einen Moment öffnet er sich, sieht mich wirklich an. „Okay."

„Und – dit hatte wirklich nichts mit dir und unserer Beziehung zu tun." Ich kling schon wieder viel zu verzweifelt. „Ich lieb dich. Wirklich."

„... Okay." Er schlüpft in seine Jacke. „Ick ... geh dann ma."

Ich muss meinen eigenen Arm festhalten, damit ich nicht nach Jan fass und ihn feshalt.

„Kommste heut denn wieder?"

Er hat keinen Rucksack dabei. „Weeß ick noch nich." Er klingt müde.


3. Oktober – Niebuhrstraße 38 b, Charlottenburg  

„Was ist denn los mit euch?" Beate sieht fragend von Jan zu mir, dann wieder zurück.

Zwei Tage hab ich Jan nicht gesehen seit Freitag. Ich bin die ganze Zeit in der Wohnung geblieben, weil ich gehofft hab, dass er zurück kommt, aber ...

Ich bin erstaunt, dass er überhaupt aufgetaucht ist zu diesem sonntäglichen Termin in der Niebuhrstraße, aber wahrscheinlich will er wegen Beate zuverlässig sein.

Er trägt ein mir unbekanntes schwarzes T-Shirt, sieht extrem blass und übernächtigt aus, wahrscheinlich wirken wir wie Zwillinge.

Beate, die extra für einen Besprechungstermin nach Berlin gekommen ist, sieht von mir zu Jan und zurück, dann zu Hans, aber der glotzt nur dumm mit seinen Kuhaugen und hebt kopfschüttelnd die Schultern.

„Mhm. Also, ich kenn euch ja noch nicht so gut, aber ... Irgendwas liegt hier in der Luft. Ihr seid doch sonst nicht so ..."

„Also, ick hab Mist gebaut", nuschel ich. Eigentlich will ich nicht vor Hans die Geschichte erzählen, aber – ich will Jan zeigen, dass ich damit jetzt endlich ehrlich umgeh.

Jan schüttelt vehement hinter Beates Schulter den Kopf.

„Was genau bedeutet das?" Beates Ton klingt professionell und gerade tut mir das gut.

„Also, ick hatte so `ne kleine Affäre mit ... Sylvie. Sylvie Fukking." Der Name passt grad so schlecht. Ist gar nich mehr witzig.

„Ist das nicht die Frau von diesem Jörg?"

„Äh, ja. War echt doof von mir und ..." Ich bereu nich die Affäre mit Sylvie, auch wenn sie nich wirklich nötig war, aber dass ich Jan nichts erzählt hab, dass ...

„Das ist ja echt die Höhe." Beate stützt sich auf unseren Küchentisch und wirkt auf einmal sehr viel größer und beeindruckender.

Ich zieh die Schultern hoch und roll mich auf meinem Stuhl zusammen.

„Wie alt ist die denn bitte?"

Ich seh vorsichtig hinüber zu Beate. „Sylvie? Naja, so Ende zwanzig, vielleicht och schon `n bisschen älter."

Sie schlägt mit der Hand auf den Tisch und ich zuck zusammen. „Also, das geht wirklich nicht."

„Es tut mir ja och leid und ick werd echt versuchen ..."

„Versuchen?, prustet Jan.

In meinen Ohren klingt es höhnisch, aber in dem Moment bricht ein Wortschwall aus Beate. „Höchst unprofessionell. Sie kann doch nicht einfach so schamlos ihre Stellung ausnutzen. Ihr seid doch sowas wie Schutzbefohlene von ihr. Das ist ja nicht nur vom Alter her eine hierarchische Beziehung."

Verdutzt kriech ich aus meiner Deckung. „Häh?" Ich versteh wirklich nicht, was sie meint.

„Hast du noch nie was von Besetzungscouchen gehört?"

„Öh, nö!"

„Ich hätte nicht gedacht, dass auch in so kleinen Firmen ... Aber vielleicht sind das ja die Schlimmsten, weil dort die Abhängigkeitsverhältnisse noch heftiger sind."

„Aber sie hat doch gar nichts gemacht, was ich nich wollte."

Jan wird noch blasser und nimmt seine Jacke von der Stuhllehne, bleibt dann aber doch sitzen.

„Ihr müsst da echt weg. Was die mit euch da abziehen ..."

„Okay, dit fänd ick echt gut. ... Aber – ick will echt noch mal betonen: dit war nich nur Sylvie. Da war ick schon och - schuld."

Jan sieht mich einfach nur an. „Ja, da war Bela och schuld." Dann steht er auf und geht.


4. Oktober – Fredo Eisen, Kreuzberg

Montag Morgen. Grau. Regnerisch. Das Wetter außen. Und in mir.

Obwohl ich das ganze Wochenende in der WG war, bin ich total unausgeschlafen. Kopfweh.

Am Freitag war hier in der Halle noch alles in Ordnung und eitel Sonnenschein. Teenagerliebe ... Aber ausgerechnet heute müssen wir lauter Streitszenen spielen.

Da ich am Freitag das abgeschnittene T-Shirt getragen habe zur Bandprobe, soll ich es auch heute wieder tragen, sagt Michael. Übel. Die zugige Halle ist eisig. Aber nicht nur deswegen ist mir kalt.

Seit ich am Wochenende die Bombe hab platzen lassen, ist mein schlechtes Gewissen weg – und ersetzt mit einem Schmerz, der bis in alle Knochen zieht.

Keine Ahnung wie ich diesen verdammten Drehtag zu Ende bekommen soll?

Zu Hans ist Jan okay, fast wie immer. Aber zu Kristina ist er auf einmal auffallend freundlich. Nur mich, mich sieht er mit `m Arsch nicht an. Es ist zum Kotzen.

Ansonsten sieht Jan den ganzen Tag einfach nur verloren aus hier in der großen Halle, hebt sich sein strahlendes Selbst nur noch dafür auf, wenn das Drehbuch es erfordert oder die Kamera rollt.

Die nächste Szene steht an. Der Konflikt über den fehlenden Verstärker. Zum Glück haben wir einen Teil davon schon am Freitag gedreht.

„Und bitte", sagt Michael.

„Wann kommt denn deine Anlage?", grollt Hans Richy an.  

„Die wird schon noch kommen", erwidert Jan und schreitet auf mich zu anstatt wie laut Drehbuch auf Hans. Ich dreh mich weg, aber kann körperlich spüren, wie er sich mir nähert.

„Ja, fällt vom Himmel", würg ich meinen Igor-Satz raus, spür Jan wie ein Raubtier in meinem Rücken. Nah, viel zu nah. Schnell dreh ich mich zurück.

Er steht so dicht vor mir, dass sein kalter Blick auf mir verschwimmt.

„Was soll jetzt der blöde Spruch?", schleudert er mir seinen Text entgegen, tritt noch einen Schritt näher, so dass ich zurückweichen muss.

Dann packt er mich am Kragen meines T-Shirts und schiebt mich durch die Halle bis an die dreckige Wand, drückt mich mit seinem ganzen Körper dagegen.

„Auuus!!!", brüllt Michael, aber keiner von uns beiden reagiert.

Jan starrt einfach weiter auf mich hinunter und sein Blick ist so eisig. Aber sein Herz, das rast an meinem Brustkorb.

Schritte kommen auf uns zu.

„Also, so geht das nicht." Michael taucht in meinem Blickfeld auf. „Das steht so nicht im Drehbuch, Jan! Das wirkt ja so, als hättest du ein Riesenproblem mit Igor. dabei ist das doch dein bester Freund. Du kannst nicht einfach jede Szene ..."

Ich hab Jan erst ein paar Mal so gesehen, in den drei Jahren, die wir uns kennen, aber wenn er so drauf ist, dann ...

„Ich mein das ernst", fährt Michael wütend fort. „Du kannst hier nicht einfach die Regie übernehmen und ..."

Jan wendet endlich seinen Blick von mir ab und sich Michael zu. Als Jans Blick ihn trifft, bricht er einfach mitten im Satz ab, tritt ein paar Schritte zurück, fährt sich durch die Haare und ruft dann: „15 Minuten Pause."

Danach drehen wir schnell den Rest der Szene runter. Kristina läuft weg, Richy hinterher. Film-Hans ist sauer – und ich? Ich bleib einfach zurück und hab mal wieder so `nen richtig dummen Text, aber das ist grad total egal.

Immerhin hab ich danach Drehpause, aber eigentlich ist das noch schlimmer, denn nun lunger ich ohne Aufgabe am Set rum, kann nur zu sehen, wie Jan durch die Brache hinter Kristina herläuft.


Am Nachmittag geht es an die Yorckbrücken. Und dort wird es noch schlimmer, da Hans und Kristina nicht mehr dabei sind, als Puffer zwischen Richy und Igor.

Die Kamera ist bei der ersten Einstellung auf Jan. Ich seh von ihm nur seine hochgezogenen Schultern, seinen kerzengraden, abweisenden Rücken, wie er gefühlt vor mir - nicht vor Igor – davon läuft. Es ist so fürchterlich real, dass ich ständig meinen Text vergess.

Sieben Mal muss ich hinter Jan – Richy – herlaufen, der mir die kalte Schulter zeigt.

„Und danke. Besser wird`s wohl nicht", sagt Michael nach der achten von mir verkackten Szene. Ich atme auf und geh schnell über die Brücke hinüber zu den anderen.

Aber Jan, Jan geht einfach nur weiter, weiter von mir weg. Schließlich fängt in H.G. ihn ein, ansonsten wäre er wohl einfach auf den alten Gleisen vom Set spaziert.

Schnell schließ ich zu den beiden auf.

„Wunderbar!" H.G. klopft Jan grad auf die Schulter. „Das haste echt gut gespielt." Er mustert Jan prüfend und irgendwie hab ich das Gefühl, dass es ihm nicht um schauspieltechnische Details geht.

„Danke", kommt es leise von Jan. „Dann braucht ihr mich ja für `ne Weile nich, oder?" Die Art, wie er es sagt ist so traurig, dass ich einen Schritt weiter auf ihn zu geh, aber sein Radar hat ihn wohl vor mir gewarnt. „Okay, bis später." Und schon ist er weg Richtung Sikkas und Astrids Trailer.

Als Jan später seine euphorische Reaktion auf Nena mit mir drehen soll, klappt gar nichts. Seine Augen sind einfach nur tot. Oder wütend. Oder liegen komplett traurig auf mir.

„Hey, Jungs. Ich weiß nicht, was heute los ist, aber – das funktioniert, grade nicht. Jan, sollen wir jemand anderen als Bela als Anspielpartner für dich nehmen?" H.G. sagt es ganz vorsichtig.

„Ja, bitte", platzt es aus Jan heraus, dann schlägt er sich die Hand auf den Mund und dreht sich weg.

Es ist, als hätte er auf mich geschossen. Ich will auf das dürre Gras hier auf der Brache fallen und sterben. Ohne ein weiteres Wort schleiche, schleppe ich mich davon. Eigentlich will ich komplett abhauen, werd hier ja eh nicht mehr gebraucht, aber – jeder Moment, den ich Jan sehen darf, tut so gut, tut so weh.

Ich zieh mich im anschließenden Park zurück unter ein paar dichte Bäume und beobachte von dort das Geschehen am Set.

Jan ersetzt mich mit - Sikka.

Sogar aus der Entfernung kann ich sehen wie er seine Maske aufsetzt, seine Augen aufreißt, höre sein begeistertes „Nena!" Rufen, dann fällt er wieder in sich zusammen.

Eigentlich will ich abhauen, mich besaufen, irgendwas, aber ich kann mich nicht losreißen, nicht wenn Jan noch hier ist.

Ich beschließe mal im Catering nachzufragen, ob mir dort vielleicht jemand ein Feierabend-Bier gibt, schließlich ist für mich schon Drehschluss.

„Ach, da bist du ja, Bela!" Auf einmal stehen H.G. und Michael hinter mir und ich fahr erschrocken herum. „Ich hab mich schon gewundert, wo du so schnell hin bist", sagt Michael.

H.G. fragt stattdessen: „Alles okay?"

Ich nick – viel zu schnell.

Michael scheint gar nichts mitzubekommen, aber H.G.s Blick liegt immer noch auf mir, dann wendet er sich wieder Michael zu. „Ich würde gerne noch eine Szene mit Richy drehen, wie er einfach allein auf den Brücken sitzt."

„Ach ja?"

„Ja. Du sagst doch die ganze Zeit, dass wir auf dem Weg zu Richys absoluten Tiefpunkt sind, weil er sich von allen verraten und verlassen fühlt. Das sollte man im Film vielleicht auch illustrieren."

Ich beiß auf meine Lippen bis ich Blut schmeck und nehm dann schnell einen Schluck aus der Flasche. Lauwarm, aber egal. Hauptsache Bier. Ich zieh mich wieder zurück unter die umstehenden Bäume.

Es dauert bis H.G. die Kameraeinstellung eingerichtet hat.  

Währenddessen sitzt Jan ganz allein in der Mitte der Brücke. Er schwebt über dem Feierabendverkehr - wie ein Engel, ein gebrochener Engel. Seine blonden Haare leuchten gegen die blaue Dämmerung an, die sich immer mehr verdüstert und er starrt blicklos auf den Verkehr, als wäre er gar nicht Teil dieser Welt.

Ich wüsst gern, was in seinem Kopf vor sich geht. Auf einmal lehnt er sich rückwärts ein Stück zurück und ich seh ihn fallen, aber ich kann nicht schreien.

Ich blinzel und da sitzt er wieder. Nichts passiert. Er ist heil und lebendig, aber ich darf nicht zu ihm gehen, um zu sagen, wie schlimm es wäre, wenn er ...

H.G. hat recht. Es ist wirklich ein Sinnbild.

Ich muss mich abwenden, weil es so schmerzt.

Eine halbe Stunde später steigt Jan zu Sikka in ihre kleine, grüne Ente.

Er sieht noch einmal in meine Richtung. Wütend, glaub ich. Mir war nicht klar, dass er mich anscheinend die ganze Zeit gesehen hat. Die Autotür knallt zu und es ist, als ob mein Herz darin eingequetscht wird. Dann brausen die beiden davon.




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LYRICS

Harpo - Moviestar  

Nena - Kino  

The Buggles – Video killed the Radio Star  

Stray Cats – My one desire  

The Killers - Mr. Brightside  

Sonic Youth - Kill Yr idols  

Selig – Ohne dich  

 

FANART

Instagram - Wolfdragon_tv
Vielen, vielen Dank für deine tollen Zeichnungen. Und die grandiose Liedauswahl. Das habe ich für eine Szene dann im nächsten Kapitel benutzt.



RICHY GUITAR

Wikipedia

Shot in Berlin

NJsWelt – Belas tollste Momente in Richy Guitar

ItisMadness – The many faces of Igor (RICHY GUITAR, die ärzte)

sexy Junk -  Ein-Personen-Aufstand  



Alternative Richys und Anjas

Tini Plate (my favorite Anja)  

Weitere Richys
Was für ein widerlicher Typ! Das wäre echt mal ein ganz anderer Film geworden mit dem. :-(
Der Typ danach ist wiederum Jans Richy sehr ähnlich.


INTERVIEW

Volume – Bela über Onenightstands

Ein wichtiges Thema in diesem Zusammenhang: Sex. Wenn ein Musiker seinen Song den Namen „Onenightstand" gibt, wollen wir natürlich wissen, wie viele er auf seinem Konto verbuchen kann.

Ich bin nicht Gene Simmons, der sich einen darauf runterholt, wie viel Frauen er schon flach gelegt hat. Mit Anfang 20 habe ich mal nachgezählt, fand das damals geil sich die Frage zu stellen, ob man schon zu den großen Casanovas gehört. Aber was bringt diese Fickrekordsuche – letztendlich geht es doch darum: hattest du etwas davon oder nicht? Fürs bloße Abspritzen kannst du auch in den Puff gehen. Viel Spaß! Was mich interessiert, sind echte Begegnungen – von mir aus auch im Bett – nur finde ich One-Night-Stands dafür ungeeignet und langfristig unbefriedigend.


AR / Gee Gleim - guter Abzug / Punk in Deutschland



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Chapter 46: 1984 - Richy

Chapter Text

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* Teenagers in Love *






1984 – Richy






5. Oktober – Krumme Lanke, Zehlendorf

Eigentlich ist das Set hier am See ganz schön. Trotzdem sind heute alle besonders nervös. Kein Wunder bei den Stuntszenen, die im Drehplan stehen.

Jan geht hinüber zu Hans. „Lass uns ma kurz die Szene üben.“ Seine Miene strahlt aus, dass alles in Ordnung ist, seine ganze Körperhaltung ist hölzern, als wollte er lieber woander sein, nicht hier. Diese verdammte Maske. Ich frag mich echt, wer hier der Lügner ist.

Er zieht Hans noch ein Stück weiter von mir weg, als wär ich ein störender Fremdkörper zwischen ihnen. Aber nich so weit, dass ich sie nich mehr hören könnte.

Jan baut sich vor Hans auf. „Okay, dann sag ich zu dir „Du fieser Verräter!“ und dann haust du mir eine rein.“

Hans holt aus und schlägt in Richtung von Jans Gesicht, erwischt ihn halb und ich will Hans eine knallen. Oder Jan. Oder mir.

„Das sieht doch ganz echt aus“, vermeldet Michael nach der dritten Aufnahme, in der Hans Jan niederschlägt. „Wunderbar. Okay, dann ist jetzt wohl der große Moment da.“ Er klatscht in die Hände. Hinter ihm steht der große LKW an der Onkel-Tom-Straße. „Und du traust dir wirklich zu, den zu fahren, Hans?“

„Klar. Ich fahr ja ansonsten auch immer den Bus.“

Automatisch wandert mein Blick zu Jan. Zum ersten Mal heute sieht auch er mich an, dann schnell wieder weg, denn – wir reden ja nich miteinander. Denken tun wir aber wohl das Gleiche. Wir vertrauen Hans hier gerade in diesem 7-Tonner unser Leben an.

Ehrlich gesagt, hab ich Schiss vor diesem Dreh. Ich bin verdammt nochmal kein Stuntman. Und Jan auch nicht. Ob er auch Angst hat? Wahrscheinlich, wenn ich seine steife Körperhaltung so betrachte. Oder ist das immer noch wegen mir und meiner „Verfehlung“? Ich würd ihn das alles so gern fragen, aber - er dreht mir mal wieder den Rücken zu. Inzwischen kenn ich den besser als sein Gesicht.

Trotz seiner abweisenden Art erwisch ich ihn den ganzen Tag über, wie er mich immer wieder anstarrt. Obwohl – es wirkt nich mal so, als hätt ich ihn erwischt, denn er starrt mich einfach für einen weiteren ewigen Augenblick nieder und dann – dann dreht er sich von mir weg, zeigt mir die kalte Schulter.

„Gut. Dann hopp, hopp, Jungs“, befiehlt Michael uns.

Jan und ich klettern hinten auf die Ladefläche. Er hängt sich seine Gitarre um, ich stell mich hinter mein am Boden verschraubtes Schlagzeug. Dann stehen wir wie Schaufensterpuppen starr und einsam nebeneinander. Bis Hans mit einem Ruck losfährt. Ich hab mich nicht genügend festgehalten und kollidier voll in Jan rein.

Reflexhaft zieht er mich an sich, verhindert damit, dass ich mit voller Wucht gegen die LKW-Wand knalle. Sein Atem fegt hektisch in mein Ohr und ich seh zu ihm hoch. Einen Moment sind sich unsere Gesichter ganz nah und in seinem lese ich so viel ... Alles.

„Pass doch auf.“ Schnell schubst er mich von sich und ich kann grad noch eine der Metallstangen packen, damit ich nicht über mein Schlagzeug fall. Arsch.

Der Motor heult auf und Hans gibt Vollgas, da das hier ja eine Verfolgungsjagd mit den Bullen darstellt. Das Kamerateam fährt mit einem Bus auf einer Parallelstraße, um uns zu filmen.

Fahrtwind heult mir ins Gesicht wie Ohrfeigen.

Dem Drehbuch folgend löst sich Jan mit bleichem Gesicht vom Gestell des Anhängers und schiebt sich auf einem schmalen Steg nach vorne zum Führerhäuschen. Er rutscht mit einem Fuß ab und mein Herz bleibt stehen, aber er hat sich schon wieder gefangen. Sogar über das Geboller des LKWs und den Wind kann ich hören wie er Hans bei voller Fahrt wüst durch`s Fenster beschimpft. Es ist extrem authentisch, aber heut hab ich keine Freude daran. Es wirkt eher so als würde Jan alles rauslassen – und das hat mit Hans gar nichts zu tun.

Wir brettern auf einen Waldweg, durch ein Gebüsch und werden auf der Ladefläche knochenbrecherisch durchgeschüttelt. Was für eine lebensgefährliche Scheiße! Ich hab schon auf viele Arten mein Leben potentiell auf`s Spiel gesetzt, aber das hier ... Ohne Alkohol- und Drogennebel hab ich realistische, ernsthafte Angst. Und es hilft kein Stück heute, dass Jan bei mir ist.

Ich, wir sollten Michael anzeigen dafür, dass wir für seinen Film fast sterben, aber letztendlich haben wir dieser Szene ja zugestimmt. Immerhin muss die coole Saxophonistin diese Tortur nich mit uns durchstehen.

Hans bremst hart und ich flieg außen am LKW einmal um die Stange herum und fast gegen Jan, aber der ist mir natürlich elegant ausgewichen, dabei - es wär gut gewesen nochmal so richtig in ihn reinzukrachen, ihn zu fühlen, ihn spüren zu lassen, dass ich da bin, egal wie sehr er mich grad zu ignorieren versucht.

Anschließend müssen wir beide hinten im Lastwagen warten, bis die Kamera eingerichtet ist. Licht hat Michael keines mitgenommen. Die Sonne muss reichen, meinte er. Sein Sparpolitik hilft der Qualität des Films bestimmt enorm.

Jan hat seine langen Arme überschlagen, sich halb von mir weggedreht. Er will wohl cool oder vielmehr kühl sein, aber seine Kiefermuskel spannen sich unablässig an. Er spürt wohl meinen Blick auf seinem Gesicht, denn auf einmal wühlt er in seiner Hosentasche und schiebt sich einen Kaugummi rein.

Zusammen.

Allein.

Nach endlosen zehn Minuten kommt von Michael endlich das erlösende: „Und bitte!“

Wie ein Springteufel katapultiert Jan seinen großen Körper von der Ladefläche. „Wat war`n ditte du, mieser Mistkerl?“, brüllt er und ich hab das Gefühl, er meint damit nich Hans.

Vor meinem inneren Auge seh ich wie Jan die Tür aufreißt, durch das Führerhäuschen hinter Hans hertobt, so wie sie es vorher geprobt haben.

„Du feiger Verräter“, schreit Jan.

„Und danke! Wunderbar, ihr beiden“, beendet Michael ihr Treiben.

Mein Zeichen endlich vom LKW springen zu dürfen.

Michael klopft erst Jan auf die Schulter, dann Hans. „In einem Rutsch, obwohl das so eine schwierige Szene war. Echt gut gemacht, Jungs. Jetzt drehen wir die Nahe von der Schlägerei.“

Ich geh ein Stück weg, weil ich keinen Bock mehr habe der unsichtbare Dritte zu sein.  

„Du dreckiger Desateur!“ Jan packt Hans am Kragen und drückt ihn gegen die Motorhaube und ich wünschte, das wäre unsere Szene.

Was Hans sagt ist mir egal, aber Jans „Du bist `ne feige Ratte“, hallt in mir wieder, als wäre ich gemeint. Nach Michaels „Danke!“ fällt sein Blick direkt auf mich wie ein tödliches Laserschwert.

Ach, verdammt. Dennoch so ganz check ich nich, was genau sein Problem ist. Mit Gitti und Pony und Suzy aus Bremen und Manu und all den anderen – das hat er zwar nicht euphorisch begrüßt, aber irgendwie ist er damit klar gekommen.

„Du feige Ratte“, reißt mich Jan mit der zweiten Aufnahme aus meinen wirren Gedanken. Mein Blick wird wieder klar, fokussiert sich genau in dem Moment, in dem Hans zu schlägt und Jan fällt dieses Mal echt hart nach hinten.

„Oh, entschuldige, Jan. Das wollt ich nicht“, höre ich Hans.

Meine Beine reagieren schneller als mein Verstand und ich knie neben Jan ohne zu wissen, wie ich da hingekommen bin oder was ich dort will.

In seinen Augen spiegelt sich Erstaunen, als ich so auf ihn runter blick, meine Hand an seiner Schulter. Aus seiner Nase sickert ein kleiner Blutfaden.

„Alles okay?“, frag ich, weil ich nich will, dass es noch merkwürdiger zwischen uns wird.

Er blinzelt. „Nein“, sagt er schließlich. „Aber dit weißte ja.“ Er wischt sich über das Gesicht, sieht auf das Blut auf seinem Handrücken. Dann schüttelt er meine Hand ab und rollt sich elegant aus dem Staub zum Stehen, ragt vor mir auf wie ein Leuchtturm.

Abrupt dreht er sich um, klopft Hans auf die Schulter. „Haste echt super gemacht.“ Ein Lachen. Es klingt überzeugend echt. „Is halb so schlimm wie`s aussieht. Tut gar nich weh.“

In Gedanken geh ich meine Tasche durch. Ist da noch irgendwo vielleicht was zum Gefühle wegmachen? Eigentlich nehm ich so Zeug eher zum Gefühle verdoppeln, aber heute ... Saufen kann ich hier ja schlecht. Riecht man zu sehr und macht noch heuleriger. Und grad vor Jan will hier hier nicht unprofessionell sein oder die Fassung verlieren.

Ein paar Minuten später ruft Michael: „Drehschluss für heute. Das Licht reicht nicht mehr aus.“ Mir fällt eine Last von den Schultern. Gleichzeitig bedeutet es, dass ich Jan für ein paar Stunden nicht sehen kann.


6. Oktober – AVUS

Das Adrenalin ist heute noch höher gepegelt, denn wir drehen die Verfolgungsjagd mit den Bullen auf der AVUS.

Wieder mal bin ich Stunden allein mit Jan hinten auf der Ladefläche. Der tollen Saxophonistin haben sie den Großteil dieser Tortur erspart.

Als Hans einmal überraschend bremsen muss, knallt Jan mit Schwung gegen eine der Metallstangen.

„Haste dir weh getan?“

Er reibt sich die Schulter. „Im Vergleich zu dem, was du gemacht hast, is dit echt Kindergarten.“

Ich schluck, kann es dann dieses Mal doch nicht so stehen lassen. „Aber dit war doch nich, um dir weh zu tun.“

„Warum musste das denn dann sein, hah? Ausgerechnet mit Sylvie.“ Der LKW fährt mit einem Ruck wieder an und Jan kommt kurz aus dem Gleichgewicht. „Erklär mir dit mal!“, brüllt er mir gegen den erneut einsetzenden Fahrtwind entgegen und blitzt mich an, dass ich echt Angst bekomm. Gerade trägt er keine Maske mehr und ein wenig wünsch ich mir sie zurück.

Kurz knick ich unter seinem Blick ein, aber dann strömt auch in mir etwas Wildes an die Oberfläche, das sich nicht einsperren lassen will. Ich feuer einen Blick zurück.

„Wie wär`s denn, Herr Vetter, wenn ick Ihnen vorwerfe, warum sie unbedingt zweimal nach London abhauen mussten?“, schrei ich zu ihm hinüber.

„Dit war keen Abhauen. Ick bin verreist.“

„Okay. Aber – einmal hätt ja och gereicht, oder? „Normale“ Leute fahrn im Jahr och nur einmal in Urlaub, Herr Urlaub. Und überhaupt, warum wollen Se dann och noch nach Italien und ...“

Jans Augen werden schmal, seine Haltung, die grad noch voll nach vorne und gegen mich gegangen ist, fällt in sich zusammen. Er tritt einen winzigen Schritt zurück, stößt gegen die Verkleidung des LKWs.

„Was hat`n dit mit deinen Lügen zu tun – Herr Felsenheimer?“ Er führt meinen Namen wie ein Schwert gegen mich. „Und ick hab dir dit nich verschwiegen ...“ Er stockt, erinnert sich wohl selbst daran, dass das nich ganz stimmt. „Zumindest meistens“, fügt er mürrisch hinzu über das Rumpeln des LKWs.

Ich bin müde. Ich bin müde, mir Vorwürfe zu machen, ihm Vorwürfe zu machen. Ich will seine kalten Augen nicht mehr sehen und seinen Rücken und seine wütenden Blicke auf mir.

„Hey, Jan!“ Ich lass die Schultern fallen, tret vorsichtig gegen das Schwanken des LKWs einen Schritt näher an ihn heran.

Er zuckt ein Stück zurück, aber da ist die Wand.

Ich bleib stehen. „Wir ham damals ausgemacht, dass wa uns nich gegenseitig einschränken.“

Sein Mund wird schmaler, seine Miene noch härter, dann dreht er sich weg und ich erwarte, dass er abhaut, aber hier auf dem dahin donnernden LWK kann er ja nich weg.

Mit einem Seufzer, der so tief ist, dass ich ihn sogar über das Motorengebrumme hör, lässt er die Schultern fallen. Einen Moment später ist da was in seinen Augen und die kleine dumme Hoffnung in mir kriecht wieder aus ihrem Versteck.

„Was mir echt leid tut, Jan, is, dass ick dir dit verschwiegen hab“, schrei ich ihm zu. „Deswegn hab ick dit ja och ... offengelegt.“

Eine kleine Bewegung. Als hätte er genickt, mit seinem ganzen Körper. Beim zweiten Hinsehen treff ich aber nur wieder auf sein starres Schweigen.

Dann schweigt er doch nich mehr. „Dit hättste dir früher überlegen müssen“, brüllt er. „Außerdem ... Woher soll ick denn wissen, ob da nich noch mehr Affärenleichen von dir ausgebuddelt werden?“

Du hast nie gesagt, dass du alles wissen willst, liegt mir auf der Zunge, aber da ertönt die Polizeisirene und Michaels Kommando „Drehfertig machen!“ aus dem Walkie.

Nach dreimal hin und her und Katz und Maus spielen mit dem Polizeiauto haben wir die Verfolgungsjagd irgendwie körperlich und einigermaßen auch seelisch überlebt, aber schon geht es weiter an die Krumme Lanke für die nächste Einstellung.

Ich muss zuerst zu Hans sagen „Also war auch Liebe im Spiel?“ Ein extrem unpassender Satz für die Umstände. Nein, will ich zu Jan sagen, aber dem darf ich nur hinterher rufen „Hey, Richard?“

„Richard“ reagiert gar nich wie vorgesehen auf Igor, sondern geht einfach weiter, spuckt dabei zur Seite aus, obwohl das keine Regieanweisung war. Es verfehlt seine Wirkung nich. Anscheinend entwickelt Jan immer mehr ein Gespür für dramatische Effekte in der Schauspielerei.

„Wunderbar.“ Michael ist heute mal voll des Lobes. „Das war echt gut, wie du spielst, dass du auf Igor sauer bist."

H.G. hingegen sieht erst Jan, dann mich sehr nachdenklich über seine Kamera hinweg an.

Und Jan reagiert wieder nich, geht stattdessen mit viel zu langsamen Schritten davon und verschwindet in Sikkas und Astrids Kostümtrailer.

Ich bleib mal wieder zurück und wünsch mir, er wär doch bei seinem Schweigen geblieben. Und ich bei meinem am Freitag. Was für `ne Scheißidee ehrlich zu sein. Zum x-ten Mal frag ich mich, ob ich das mit Sylvie bereu, aber die Antwort lautet – wenn auch verzögert – immer noch: Nein, verdammt noch mal.

Wenn ich mir vorstell, dass ich mit Jan so verbunden bin, dass ich nichts anderes mehr tun darf, dann bekomm ich keine Luft und ein kleiner Teil von mir fängt an, nicht nur das Beziehungsgefängnis zu hassen, sondern auch den Wärter.

Und trotzdem vermiss ich seine Stimme, seinen drahtig-schlacksigen Körper, unser Hin und Herwerfen von Satzfetzen, die nur wir sofort kapieren und niemand sonst, unseren Humor, unser Leuchten, als wär mir etwas amputiert worden.

Sind wir nun wirklich Geschichte, weil ich es nicht schaffe ihn so zu lieben, wie er es bräuchte?

Jan wird wieder aus seinem Versteck zitiert, weil Richys close-up mit blutiger Nase ansteht. Dessen Gesichtsausdruck ist so verletzt, so wütend, dass es mir sogar auf die zwanzig Meter, die ich Abstand gesucht hab, kalt den Rücken runter läuft. Ist Richy seine neue Maske geworden?

Nach dem Close-up muss Richy mit seiner blutiger Nase nochmal beleidigt zwischen ein paar Ästen hervorblicken. Auch das bekommt Jan perfekt hin.

Dann muss ich vor die Linse. Ebenfalls in Nahaufnahme, obwohl ich mich eigentlich viel lieber verstecken möchte.

H.G.s Kamera fängt meine Emotionen wahrscheinlich viel zu gut ein. Schnell zwing ich mich zu der fröhlichen Miene, die Igor beim Anblick der Frau im Amphibienfahrzeug zum Besten gibt.

„Ick glaub, ick spinne“, sag ich laut Drehbuchanweisung.

„Das du das auch mal endlich merkst“, antwortet mir Hans mit seiner Skriptzeile. Charmant - wie im echten Leben.

Nach unserer gemeinsamen Szene geh ich auf Hans zu. Wahrscheinlich ist es doof von mir, aber was Jan kann, kann ich schon lange.

„Hey, haste echt gut gemacht.“

„Was meinst du?“ Hans sieht mich misstrauisch an.

„Na, unsere Szene.“

„Oh.“ Ein leichtes Lächeln, dass sein Gesicht echt ein bisschen hübscher macht. „Danke.“

„Gern geschehen. Na, dann sind wir beide wohl morgen wieder zusammen dran, wa? Der große Nachtdreh mit der Party.“

„Ja. Jan hat`s gut. Ich hätte auch nichts gegen einen drehfreien Tag.“ Auch er sieht müde aus.

Ich nicke. Die Dreharbeiten gehen echt an die Substanz. Aber – wenn sie vorbei sind, dann ... Seh ich Jan dann überhaupt noch?

„Vielleicht wird die Party ja ganz lustig“, holt mich Hans aus meinen Gedanken.

Ohne Jan? Ich will gar nich an morgen denken.

Wir drehen bis es dunkel wird. Ungewohnter Weise ist Michael heute mal sehr zufrieden mit all unseren schauspielerischen Leistungen.

„Na, dann bis morgen“, verabschied ich mich per Handschlag von Hans und zwing mich nich zu Jan rüber zuschauen.

Der steigt auch heute wieder zu Sikka in die kleine, grüne Ente. Und auch heute wirft er mir zum Abschied einen wütenden Blick zu. Oder doch einen nachdenklich?, fragt die Hoffnung.


7. Oktober – Krumme Lanke, Zehlendorf

Der nächste Tag am Set ist dann unerwartet gut. Ich kann freier atmen, denn ich muss mich nich jeden Augenblick für einen von Jans giftigen Blicken wappnen.

Und die Party ist tatsächlich ganz lustig. Vor allem als ich mich bei dem General der US Army einhake. Ich liebe es das Drehbuch zu sprengen.

John, der Schauspieler rutscht ein Stück von mir weg

„Und aus! Was machst du denn schon wieder, Bela?“, fragt mich Michael irritiert. Allerdings verlässt er sich inzwischen sogar immer öfter auf die ganzen Improvisationen, die Jan und ich ihm liefern. Wahrscheinlich weil er gemerkt hat, dass die besser sind als sein Drehbuch.

„Na, ick flirt mit dem Herrn General.“ Ich grins John an und der wirkt einen Moment sogar ein klein wenig hypnotisiert von meinem Blick.

„Aber warum denn?“

„Na, in meinem Kopf is Igor schwul.“

„Igor ist ...?“

„Schwul.“

„A...ha.“ Mehr sagt er nich. Ich kann sehen, wie es in seinem Hirn rattert. „Dann ... dann müsstest du John halt entsprechend reagieren“, wendet er sich schließlich an meinen General. Applaus für Michael. Ein wenig flexibler ist er tatsächlich geworden in den letzten Wochen.

„O-okay. Aber – was soll ick denn sagen?“ Ich mag Johns amerikanischen Akzent. Er klingt wie J.F. Kennedy.

„Na, ob wir zu dir oder mir gehen wollen“, grins ich ihn an.

„Was?“ Hilfesuchend schaut er zu Michael. „Aber ick bin doch nich schwul.“

„Was würdest du denn sagen?“, fragt der ihn.

„Na, dass ick verheiratet bin.“ Der amerikanische Akzent ist echt süß. Ansonsten is er nich so mein Typ, denn die sind groß und blond und Punk und komponieren dennoch wunderschöne Melodien.  

Wir drehen die Szene mit dem verheiratet-Satz und ich hab richtig Spaß dabei. Schön, wie leicht sich heut mal alles anfühlt. Fast so wie am Anfang der Dreharbeiten. Vielleicht helfen aber auch die Getränke. Alles was ich im Film zu mir nehme, enthält mit meinem Zutun nämlich einen guten Schuss echten Alkohol.

„Sag mal, Bela ...“ Nach Drehschluss kommt H.G. viel zu vorsichtig auf mich zu. „Also, ich weiß nicht, ob ich das fragen kann ...“

„Ja?“ Meine Betrunkenheits-Enstpannung weicht viel zu starkem Herzklopfen, als hätt ich `ne Nase Speed überdosiert.

„Also, Jan hat recht komisch reagiert, als ich ihn gestern drauf angesprochen hab, aber ... Irgendwas stimmt nicht zwischen euch, oder?“

„Wie kommst du denn da drauf?“, frag ich mit viel zu hoher Stimme.

„Naja, zuerst war ich mir nicht sicher, aber ... Weißt du, durch die Linse der Kamera, da ... entdeckt man manchmal Sachen ...“

„Ähm, also ... Was hat Jan denn gesagt?“

„Nichts. Aber sein Gesicht ... Also, wenn ich euch irgendwie helfen kann, dann ... Es schlägt sich halt grade auch so ein bisschen auf den Film nieder. Es wirkt die ganze Zeit, als wären Richy und Igor zerstritten.“

„Oh. Das ... das tut mir leid.“

„Mir auch. Also, vor allem auch für euch beide, weil ... Es war schön zu sehen in den ersten Wochen, wie ihr beide ... Aber das geht mich ja auch nicht alles was an.“


8. Oktober – Schöneberg

Wieder Wochenende. Wieder Freitag. Seit sieben Tagen sehen wir uns nur am Set und ich hause allein in der Niebuhrstraße. Die Stille dort ist unerträglich. Deswegen fahr ich nach Drehschluss zu Manu.

Als ich vor ihrer Wohnungstür steh, zieht sie mich einfach hinein, obwohl wir eigentlich nicht verabredet sind und es verdammt ungehörig ist, einfach so bei seiner Herrin aufzutauchen.

„Das ... Das tut mir wirklich leid, Bela.“ Sie versorgt mich in ihrer kleinen Küche mit Tee. „Kann ich fragen, wie sehr du ihn liebst?"

„Am meisten – von allen. Er is - dit klingt jetz echt kitschig - aber er is wirklich meine andere Hälfte."

Sie sieht mich lange an, nickt dann.

„Also liebst du ihn bedingungslos?"

Ich denk nach – lange, nehm einen Schluck vom Tee und verbrenn mir prompt den Mund. „Nein, nich bedingungslos. Dit wär echt naiv. Und dit sin wa beide nich. Das verbindet uns ja sogar, aber ... Es gibt och so viel, was uns trennt. Vielleicht zu viel?"

Sie nimmt meinen Kopf zwischen ihre Hände und sieht mich an. „Okay, Bela. Was möchtest du heute?"

„Wenn das für dich okay is ...“ Fast hab ich ein wenig Angst vor ihrer Antwort. „Also, ick würd heut gern einfach nur kuscheln. Ick bin so ..." Ich seufz einmal tief.

Sie streicht mir über den Kopf, lacht. „Na, das passt ja wunderbar. Ich hatte auch eine sehr volle, anstrengende Woche. Ich schlüpf mal in was Bequemeres."

Ein paar Minuten später erscheint sie in einem verwaschenen rosa Schlafanzug mit gelben Teddybären drauf. Zudem hat sie sich abgeschminkt, was sie nicht nur weniger streng, sondern auch Jahre jünger wirken lässt.

„So dürfen mich definitiv nicht viele sehen." Auf einmal ist ihr Blick doch wieder sehr dominant. „Ich hoffe, du weißt diese Ehre zu schätzen und bringst ihr den nötigen Respekt entgegen."

„Aber selbstverständlich, Herrin!" Ich verbeug mich vor ihr und küss ihre Hand.

„Fantastisch. Dann mach ich uns jetzt Popcorn und wir schauen uns „Wetten, dass ...?" an."


13. Oktober – Vielklang, Moabit

Es knallt. Und zwar richtig.

„Mann, Matzge, ick will keene lauwarmen Kompromisse mehr“, schimpft Jan. „Wir sind als Band angetreten, um unseren ganz eigenen Sound zu machen. Und jetzt ist es wieder wie mit Soilent Grün, nur das ihr wollt, dass wir so weichgespülte Popmucke machen. Dit sind wa nich und wenn ihr dit nich versteht, dann klappt dit mit uns einfach nich." Jan lehnt sich auf seinem Stuhl zurück, überschlägt seine Arme und fixiert Matzge.

Der sieht hilfesuchend zu mir.

„Jan hat vollkommen recht. Ihr habt uns einfach echt nich genuch zugehört, was wa wolln. Die EP is viel zu weich geworden. Da fehlt dit Raue, Ungeschliffene, das uns ausmacht.“

Jan sieht zu mir und nickt grimmig, aber als mein Blick seinen trifft, sieht er schnell wieder weg.

Jörg betritt das Büro und ich rutsch auf meinem Stuhl halb unter den Tisch. Er begrüßt uns, auch mich, distanziert und ich weiß nicht, ob das jetzt wegen der Unterzeichung des Auflösungsvertrags ist oder weil ... Nee, der weiß wahrscheinlich nichts. Sonst wäre mein Kopf vermutlich nicht mehr auf meinen Schultern. Oder er würde aussehen wie Jan, der ... Mann, ist der blass.

„Entschuldigt, dass ich zu spät bin. Ich hatte noch etwas mit Sylvie zu klären.“ Er nimmt Platz und mustert uns einzeln mit sehr ernster Miene. „Also, das Ganze mit der Trennung kommt für uns echt ganz schön unerwartet. Da müsst ihr uns schon was als Gegenleistung anbieten, damit wir euch einfach so ziehen lassen. Immerhin haben wir euch aufgebaut.“

Er strafft sich und sieht mich lange an. „Ohne uns wärt ihr nicht dort, wo ihr jetzt steht. Also, wie viel würdet ihr denn für diesen Vertragsbruch als Ablösesumme zahlen?“

Ich seh ihm gleichen Moment zu Jan, wie er zu mir und dieses Mal sieht er nicht weg, sondern zuckt für die anderen vermutlich nicht erkennbar mit den Schultern.


14. Oktober – Café Swing, Nollendorfplatz

Für die zweite Verhandlungsrunde treffen wir uns auf neutralem Boden – für alle Beteiligten.

Wir sind eine ganz schön große Runde, wie wir da so um einen runden Tisch sitzen. Matzge und Jörg für Vielklang.

Axel ist auch dabei und er hat noch einen Axel im Schlepptau. Axel Schwarzberg, ein befreundeter Anwalt, der einen Vertragsvorschlag ausgearbeitet hat. Ablösesumme 20.000 DM.

Auch Beate ist da. Ich bin echt froh sie zu sehen, auch wenn sie für unsere Unterstützung extra von Köln nach Berlin kommen musste.

Alle hängen über dem ausformulierten Vertrag und streichen wild darin herum. Ich versteh leider nicht alles, was sich Axel 2 und Jörg an den Kopf werfen, sehe zu Beate, die mir immer mal wieder ein paar Details übersetzt.

Jan steht irgendwann auf und geht in Richtung Toiletten. Bevor ich es mir überlegt hab, lauf ich ihm unauffällig hinterher. Behutsam öffne ich die Tür.

Er steht an einem der Pissoirs. Ich stell mich an eins der Waschbecken und tu so, als würd ich mir die Hände waschen, beobachte seinen Rücken im Spiegel.

„Wat willste?“, fragt er ohne sich umzudrehen.

„Ick wollt fragen, ob ... Also, ... willste dit alles denn überhaupt noch?“

„Was?“ Ich hör wie er den Reißverschluss hochzieht, die Spülung.

„Weiter machen mit ... den Ärzten?“

Er verharrt mit dem Rücken zu mir, dann dreht er sich so schlagartig um, dass ich zurückfahre und unsanft gegen das Waschbecken stoß.

„Warum denn nich?“

„Weil ... Falls es dir noch nich aufgefallen is, wir reden nich mehr miteinander.“

„Machen wa ja jetz“, patz er mir hin.

In mir sprudelt das Adrenalin hoch, aber ich reiß mich zusammen, seh ihn einfach nur lange an.

Er beginnt auf seinen Lippen herumzukauen, bemerkt es, presst sie schnell wieder zu einem schmalen Strich. Er zuckt mit den Schultern, knetet seine Hände. „Axel, also Axel Knabben, meint, dass wa es zumindest probieren sollten.“ Sein Blick ist überall nur nich bei mir.

„Aha. Axel sagt das.“ Es sticht, obwohl es die bestmögliche Antwort ist.

Er blickt von seinen Händen hoch. „Und Hans hat auch Bock, also ...“

„Also, deswegen machen wa weiter ...“

„Probieren wir weiter zu machen“, verbessert er mich.

„Die 20.000 Mark sind aber schon `ne ganz schöne Hausnummer für ein „probieren“.“

Er seufzt. „Ick lass mir dit nich och noch kaputt machen“, presst er schließlich heraus, verschwindet dann ohne ein weiteres Wort.


16. Oktober - Schöneberg

Sehr passend zu dem Gespräch gestern drehen wir heut Szenen in einer Musikagentur. Vielleicht wirken wir momentan sogar einen Ticken mehr wie das Team, dass wir darstellen sollen. Sogar die Drehbuchzeilen sind ganz annehmbar.

„Wie heißt der Typ nochma?“, fragt Richy Igor vor der Sekretärin.

„Irgendso `n Fisch oder so.“

Vielleicht sind wir aber gerade auch nur gefühlt so eine Einheit, weil wir uns beide vor der Frau zusammen reißen, die die Sekretärin spielt und die wir gerade erst vor zwei Stunden kennengelernt haben.

„Ach, das ist der Herr, der dort drüben telefoniert", erwidert sie. „Hecht heißt er.“


Nach Drehschluss geh ich schnell zu Jan hinüber, bevor der zu Sikka in die Ente steigen kann.

„Hey, Jan!“

„Was willst du?“

Ich tret automatisch einen Schritt zurück. „Ähm, du weißt ja, dass Beate grad in Berlin is?“

Er rollt mit den Augen, als wär ich doof.

Ich seufz leise und hol dann Luft. „Sie würde gerne ein paar Tage bleiben. Deswegen wollt ick fragn, ob `s für dich okay is, wenn sie in deinem Zimmer schläft, weil du ... ja nich da bist.“

In seinem Blick wabert etwas, dass ich nich entziffern kann, dann zuckt er mit den Schultern. „Ja, klar. Musste halt die Bettwäsche waschen. Wirste ja wohl hinbekommen.“ Dann faltet er sich in die Ente, Sikka gibt Gas und weg sind die Beiden.

Hat er wirklich aus Trotz etwas mit ihr angefangen? Oder - noch schlimmer – weil er sie wirklich mag?

Ich blicke der grünen Ente hinterher, wie sie ihn von mir fortträgt. Cool, witzig und hübsch ist Sikka – und gute fünf Jahre älter als er, aber das ist ja kein Hindernis, wie man an Sylvie sieht. Die Rücklichter der Ente verschwinden um eine Kurve.  


Tatsächlich ist es die nächsten Tage irgendwie tröstlich, dass die Niebuhrstraße nicht mehr wie eine Gruft wirkt. Durch Beate ist es nicht ganz so gespenstisch und beredet still, aber so angenehm ihre Anwesenheit auch ist – sie ist der falsche Mensch, so sehr ich sie mag.  


19. Oktober – Schöneberg

Wieder Wochenende. Wieder Freitag.

Ich verbring den Freitag wieder bei Manu. Den Samstag auch. Aber am Sonntag nachmittag halt ich es nich mehr aus. Mein Kopf ist viel zu klar und dreht sich die ganze Zeit um den Fehler, den ich gemacht hab. Und im Endeffekt ist Manu ja ein weiterer, denn von ihr weiß Jan auch nichts. Aber damit jetzt herausrücken ...

Ich weiß ja noch nicht mal, was genau sein Problem war – ist. Wir hatten doch ausgemacht, dass ich ...

In mir tobt nervöse Unruhe und meine Beine zappeln nur noch hin und her, wollen raus und weg und ... Verdammt! Ich - will – nich - mehr - nachdenken.

„Hey, Manu! Danke. Für alles. Echt." Ich küss sie auf die Wange.

Unschlüssig wander ich ziellos durch die Straßen von Schöneberg, lande schließlich in der Eckkneipe, in der ich damals Belial getroffen hab. Hoffentlich is der nich da. Heut Abend will ich niemand kennen. Keine schnelle Speednacht, keine Ablenkung, keine Unterhaltung, sondern zielgerichtetes, bodenloses Fallen in die warme, betäubende Umarmung von Jacky. Oder Johnny. Egal, Hauptsache Whisky und ...


„BELAAAAA!"

Meine Wange brennt. Und meine Lungen. Und meine Augen.

„Hey!" Es ist nur ein Krächzen.

Jemand neben mir atmet erleichtert auf.

„OhGottOhGott. Danke. OhGott. Ich dachte echt, du wärst tot ..."

„Beate?", will ich sagen, aber mein Hals ist so rau. Ich tast über etwas Weiches. Ist das mein Bett?

„Ich ruf `nen Krankenwagen."

„Was?" Übler Hustenanfall. Schwindlig – böse, sehr böse schwindlig. Und die Lungen ... Sie brennen wie Feuer und ich kann kaum Luft holen.

Und kalt. Ich seh verschwommen über mir etwas Bekanntes. Mein Fenster. Offen. Dann ist das wohl wirklich mein Bett. Ich zieh meine Decke höher.

„Mach ma dit Fenster zu", würg ich hervor, wisch mir über die Augen, denn die tränen total. Keine Ahnung, was hier los ist.

„Das geht nicht. Das muss erstmal auslüften. Mann, Bela! Du ..." Beate setzt sich auf mein Bett. Blass sieht sie aus. „Ich bin immer noch dafür, dass ich dich ins Krankenhaus bringe."

Krankenhaus? Ich versteh echt nich, was mit ihr los ist. Ich hab zwar tierisch Kopfweh, aber das kommt wahrscheinlich vom Saufen. Zumindest vermute ich, dass ich Saufen war.

Beate reicht mir ein Glas Wasser. Gute Idee.

„Mir is kalt.“

„Ja, tut mir leid, aber ... Weißt du denn gar nichts mehr?“

Ich schüttel den Kopf und kotz fast vor lauter Kopfschmerz.

„Du hast den Kohleofen angemacht und ... Mann, wenn ich nicht jetzt nach Hause gekommen wäre, dann ... Alles war voller Qualm und Rauch.“ Sie wischt sich über die Augen. „Du wärst einfach erstickt, Bela."

„Erstickt?" Genau so klingt meine Stimme. „Aber wieso?"

„Du hast die Lüftungsklappe nicht aufgemacht und der ganze Qualm ist ins Zimmer gezogen."

„Aha." Mhm, es riecht irgendwie komisch hier, aber ich dachte der Rauch wäre vom – wo auch immer ich heute saufen war.

„Bist du dir sicher, dass es dir gut geht?" Beate sieht mich sehr besorgt an. „Ich hab echt gedacht, ich krieg dich nicht mehr wach."

„Nee, guck ...", hust ich. „Alles gut."

„Verdammt, das war echt soo knapp." Auf einmal bricht sie in Tränen aus und ich muss mitheulen, weil die Erinnerung an die letzten Tage wieder in mir hochsteigt und die Leere und der Verlust. Ich weiß nicht mal, ob ich darüber wein, dass es anscheinend so knapp war oder dass ...


20. Oktober - Schöneberg

Am Montag bin ich den ganzen Drehtag nicht dabei, weil Richy, also ich, nicht gebraucht wird, sondern nur Bela und Hans für die Gartenparty. Richy versteckt sich währenddessen laut Drehbuch verletzt und beleidigt im Wald. Was für eine poetische Parabel auf mein Leben ...

Am Vormittag hole ich einen Rucksack voller Klamotten aus der Niebuhrstraße. Erleichtert stelle ich fest, dass auch Beate nicht da ist. Keine Ahnung, was Bela ihr erzählt hat, warum ich nicht da bin. Irgendwie weiß ich, dass er ihr nicht die ganze Wahrheit anvertraut hat, aber ich möchte ihr nicht eine andere Version als seine auftischen.

Anschließend hänge ich den ganzen Tag in Sikkas Wohnung auf der Couch herum, die sie mir netterweise als Schlafplatz zur Verfügung gestellt hat. Sie denkt, dass ich mich mit Bela als meinem besten Freund zerstritten habe – was ja auch irgendwie stimmt.

Auf Sikkas Couch lese ich bis die Schrift vor meinen Augen verschwimmt und ich verschwunden bin, umgezogen auf die Forschungstation auf dem Planeten Solaris, mit seinem vielfarbigen Ozean und seinen Halluzinationen in Menschengestalt.

Was anderes bekomme ich nicht hin. Essen zum Beispiel. Noch hat niemand deswegen einen Kommentar abgegeben, aber langsam befürchte ich, dass man es sieht, obwohl ich ja immer recht dünn war. Es hilft vielleicht, dass ich abwechselnd bei Sikka, Ecky und in Frohnau übernachte.


Am nächsten Tag toupiert mir Sonali die Haare auf die typische Richy-Art, die aber ja eigentlich auch nur Jan ist. Seltsam, wenn ich das nicht selbst mache. Ich mag Sonali, aber eigentlich werde ich nicht so gerne von anderen Leuten angefasst.

„Bela denkt, dass du bei Sikka pennst, weil ihr am Abend immer zusammen das Set verlasst“, platzt es auf einmal aus ihr heraus.

„Ja, und?“ Ich versuche es weniger patzig klingen zu lassen, als ich es fühle. Ich kann es einfach nicht leiden, wenn Leute sich in mein Privatleben einmischen.

„Naja, ich dachte, dass du das vielleicht gerne wüsstest, weil ihr beiden ja ...“

Ich blicke sie kritisch durch den Schminkspiegel an, während sie versucht mit einem grobzinkigen Kamm meine Haare zu entwirren. „Hat er dir sein Herz ausgeschüttet?“ Wieviel hat Bela ihr erzählt?

„Ja, ein bisschen“, sagt sie vorsichtiger. „Aber der braucht von mir kein Mitleid erwarten.“ Sie rupft etwas sehr energisch an einer Strähne. „Einfach fremdgehen.“

Ich zucke zusammen. So viel hat er also erzählt. Von wegen ihm Vertrauen.

„Das macht man einfach nicht“, fährt Sonali fort. „Man hat nur einen Partner und dem bleibt man treu – egal, was ist.“

Ich suche in meinem Herzen nach einer Bestätigung dafür, dass ich das auch denke, aber – da ist keine. Ich fühl das so nicht. Ich will Loyalität, aber keine Treu-doofe, Absolute.

Anscheinend glaube auch ich nicht an so monogames Pärchenglück, aber gerade ist trotzdem einfach alles ... Schmerz.  

Am Set rede ich seit fünf Tagen nur das Allerallernötigste mit Bela, schneide ihn bewusst, aber vielleicht schneide ich mich auch einfach nur selbst damit. So verletzt, übernehmen meine Scheißseiten das Regiment und die sind giftig und kalt, nicht nur mit ihm, auch irgendwie mit mir selbst. Trotzdem bricht es mir fast das Herz, wenn er mir so einen „geschlagener Hundewelpe"-Blick zuwirft, wenn sich unsere Augen mal treffen.

So seltsam waren wir noch nie miteinander. Der Kontakt tut weh. Der Nicht-Kontakt auch. Aber ich kann nicht aufhören, nicht mit ihm zu reden.

Aber heute ist er ja auch gar nicht da. Stattdessen wuchte ich staubige Zementsäcke hin und her. Der Dreck beißt in meiner Lunge, in meinen Augen. Das ist echt der beschissenste Teil der Dreharbeiten bisher. Hätte ich bessere Laune, dann würde ich eventuell sogar darüber lachen können, dass die Dinger ausgerechnet Anneliese heißen. Aber wenn ich die letzten Tage eines nicht bin, dann gut drauf.


Am nächsten Tag ist Bela wieder am Set. Deswegen hänge ich viel mit Hans ab, aber das ist auch nicht besonders erheiternd, denn obwohl der nicht mal weiß, was wirklich passiert ist, quatscht er dummes Zeug über Belas „Zuverlässigkeit" und „Loyalität", das mir auch nicht weiter hilft.

Dementsprechend fies haue ich ihm auch meinen Richy-Satz entgegen: „Miese Bassisten gibt es wie Sand am Meer!"

Anscheinend war ich ein wenig zu überzeugend in der Rolle, denn den Rest des Tages verbringt Hans mit Bela. Keine Ahnung, warum die beiden ausgerechnet jetzt feststellen müssen, dass sie sich doch irgendwie mögen.


21. Oktober – Frohnau

Es tut auf seltsame Art gut, auch ein paar Nächte in meinem alten Zimmer zu verbringen. Als wäre ich noch jünger und die ganze Liebe noch nicht passiert – und auch nicht der ganze Schmerz.

Ganz entspannen kann ich mich dennoch noch nicht. Mein Körper scheint nicht zu verstehen, dass der Faktor Gerd fehlt.

„Muss das denn sein, dass de so krass auf stur schaltest?" Julia sieht mich sehr prüfend an und ich kann genau hören, wie scheiße sie mein Verhalten findet. „Du schmeißt grad etwas echt besonderes weg, Jan!"

„Mann, dit is zu spät. Der hat dit einfach vor mir verheimlicht. Wochenlang! Wie solln ick dem jetze noch traun?"

„Ja, dit is ja och scheiße, aber ... Dit is halt Bela. Dit war doch zu erwarten."

„Sach ma!" Ich bin fast entsetzt über ihre Weitsicht. „Dit kannst du doch gar nich wissen ..."

„Oh, Mann. Du gloobst och, dass ick immer noch dit kleene, unschuldige Engelchen bin, oder wat?"

Ich will fast schon nicken, aber beherrsche mich gerade noch.

„Dit war ick übrigens nie wirklich. `n sieben Jahre älterer Bruder hilft da enorm."

„Jetz bin also ick schuld, dass de ..." Ich schüttel überfordert den Kopf. Eigentlich sollte Frohnau meine Zuflucht sein und jetzt konfrontiert mich meine kleine Schwester mit dem ganzen Scheiß.

Meiner Mutter habe ich gesagt, dass ich es so näher zum Set hätte, aber Julia hatte mich mit einem Blick durchschaut. Eventuell meine Mutter auch, aber die war so nett nicht mehr dazu zu sagen. Vielleicht auch weil es ihr peinlich ist mit ihrer eigenen Affäre, wobei – die ist ja nun gar keine mehr, seitdem Gerd vor zwei Monaten endlich – endlich! – ausgezogen ist. Jetzt ist Julias Geschichtslehrer ihr offizieller Freund. Kennengelernt hab ich ihn allerdings noch nicht.

Bisher kommt er wohl auch nicht hier ins Haus, aber Julia hat überall ihre Spion*innen und die sagen, dass die vielen Abende, an denen sich Muttern nun mit Freundinnen trifft, dies nicht immer der Fall ist. Dabei sind die beiden wohl schon so vorsichtig nicht in Frohnau zusammen essen zu gehen. Aber in der S-Bahn sitzen sie dann auf der Rückfahrt halt doch zusammen, anscheinend unverkennbar eng.

Eigentlich gönne ich es ihr. Mehr als das. Aber gerade ist das mit Liebe und Affären einfach nur ...

 

22. Oktober – Kreuzberg

Herr Lawrence, den ich Bert nennen soll und der im Film Herr Wagner heißt, und ich sitzen in einer echten Polizeiwanne. Obwohl wir nur wenige Szenen im Film zusammen haben, ist mir der alte Herr in den letzten Wochen echt ans Herz gewachsen.

Meine beiden Opas sind im „Krieg geblieben“, wie das so schön heißt, als würden sie an einem geheimen Ort immer noch kämpfen. Den Vater von Gerd wollt ich nie kennenlernen. Wenn sein Sohn so ein Arsch geworden ist, muss das ja irgendwo herkommen.

„Na, Jan? Sie scheinen mir heute aber sehr viel weiter weg mit ihren Gedanken als sonst.“

„Was?“ Ich verstehe Bert erst, als ich mir die letzte Minute nochmal gedanklich vorspiele. „Ähm, nein, nein.“ Ich setze meine Grinsen auf. „Alles gut. Danke der Nachfrage.“

„Das können Sie gerne anderen erzählen. Ich bin für solche Ammenmärchen zu alt.“ Er sagt es mit einem so milden Lächeln im Gesicht, dass mein Adrenalinschub in sich zusammenfällt, bevor er mein loses Mundwerk erreicht hat.

„Ick ... also, ick hab Liebeskummer.“

„Oh. Das ist hart. Ich dachte, dass ich Ihnen vielleicht helfen kann, aber bei Liebeskummer – dagegen ist kein Kraut gewachsen.“

„Na, toll. Und das sagen Sie mit ihrer Lebenserfahrung.“

„Ja, das sage ich mit meiner Lebenserfahrung.“ Er geht gar nicht auf meinen Tonfall ein, sieht mich einfach nur voller Mitgefühl an. „Sie haben vermutlich zwei Optionen: Trennung oder Kompromiss.“

Die Tür des VW-Busses wird aufgeschoben und Bert, Herr Wagner, klettert hinaus und in die Arme einer Polizistin, die ihn in Richtung Seniorenheim begleitet. Es ist wie ein Blick in eine sehr traurige Zukunft – meine Oma, meine Mutter, ich?

Es berührt mich über Gebühr, aber eigentlich tut das alles gerade, wenn ich mich nicht bewusst abschneide von meinen Gefühlen.

Wie ein Gefängnis.

Und dort geht es auch weiter. Ich muss die Szenen auf der Wache drehen. Den mürrischen, verstockten Richy zu geben, fällt mir mehr als leicht, weil ich gar nichts an meinem Gemütszustand ändern muss.

Aber als mich die Polizisten dann einsperren, sich das Gitter schließt, da steigt in mir etwas hoch das ... Es ist das, was ich spüre, wenn ich nicht reisen kann, so wie momentan wegen der Geldprobleme. Ist es das, was Bela fühlt, wenn ...


23. Oktober – Metropol, Schöneberg

„Ich weiß echt nicht, wie du mit diesen verfilzten Haaren leben kannst.“ Seufzend fährt Sonali mit ihren Fingern durch meine Strähnen. Hier im Backstage des Metropols hat sie in einer Garderobe ihre Schminkecke eingerichtet.

Im strahlend beleuchteten Spiegel wirke ich noch ausgemergelter und senke schnell den Blick, grabe in meinem Rucksack nach Lems Buch. Ich schaffe zwei Seiten, als Astrid hereinplatzt.

„Hey! Wisst ihr schon das Neueste?“ Ihr Gesicht leuchtet förmlich.

„Nö.“ Ihre gute Laune dringt nicht wirklich durch meinen Panzer.

„Heute nachmittag kommt ...“ Sie macht eine Kunstpause, die mich nervt. „Na?“

„Weiß ich nich. Hab ick doch schon gesagt.“

„Mann, Jan!“ Sie sieht sich übertrieben auffällig um. „Wer hat eigentlich den netten, lustigen Typen entführt, der in den ersten Wochen hier am Set war?“

„Keener.“ Ich drehe mich zu ihr und schenke ihr das breiteste, künstliche Grinsen, zu dem ich im Stande bin. Meine Muskeln protestieren, ob der ungewohnten Bewegung.

„Fan-tas-tisch. Vielen Dank. ... Also, heute nachmittag kommt Nena.“

Nena! Es wird ernst. Mein Herz rast los.

„Morgen!“ Bela schlurft herein und mein Herz stellt für einen Moment komplett den Betrieb ein.

Als er mich entdeckt, zuckt er zurück und ich kann sehen, wie er überlegt, ob er bleiben soll, bleiben darf. Seit vier Tagen habe ich ihn nicht mehr gesehen. Schlecht sieht er aus – wirklich schlecht. Irgendwie grau im Gesicht. Welche Exzesse haben das denn nun wieder ausgelöst? Welche Drogen und wie viele? Immer wieder dieser Gedanke: Ich will mir keine Sorgen machen. Besonders gerade nicht, verdammt!

„Ick komm dann später wieder, Sonali!“ Und schon ist er wieder weg - wie ein Geist und genau so sah er auch aus.

Unsere gemeinsame Szene spielt im Treppenhaus des Metropol. Bela steht blass und viel zu ruhig unten am Treppenabsatz, ich oben. Von hier aus kann ich nur seinen Rücken sehen.

Auf ein Kommando sollen wir beide losgehen und uns auf der Mitte des Absatzes treffen, auf den die Kamera eingestellt ist. Alles ist furchtbar eng und gedrängt, obwohl das Treppenhaus im Metropol gar nicht mal so klein ist.

„Seid ihr bereit?“, fragt Michael.

Bela nickt ihm zu und ich rufe leise „Ja.“ nach unten. Die dunkle Flüssigkeit im Pappbecher starrt mich an, als sollte ich aus ihrem Kaffeesatz irgendwelche Lebensratschläge ablesen.

„Okay. Dann - eins, zwei, drei. Und bitte!“, höre ich Michael.

Nichts passiert. Ich mach keinen Schritt nach unten. Bela keinen nach oben. Keiner von uns beiden bewegt sich.

„Und bitte!“, sagt Michael nochmal lauter, als wäre das das Problem.

Stille. Keiner rührt sich.

Ich lese immer wieder wie automatisiert an der Wand „Is it a toilet downstairs?“ und versuche - nichts zu fühlen.

„Aus!“, poltert es von unten. „Was ist denn los?“ Michael ist mindestens so angespannt wie ich. „Versteht ihr die Anweisung nicht?“

Bela unten dreht sich zu ihm um. „Ick hab dit schon kapiert.“ Dann sieht er zu mir hoch und ich will nicken, dass Michael echt nervt, dass wir das hinbekommen, dass wir es immer hinbekommen, weil wir doch ein Team sind, in einer Band spielen, zusammenwohnen, Freunde sind und ...

Schnell wende ich meinen Blick wieder von Bela ab und trete ans Treppengeländer. „Tschuldige. War in Gedanken. Zähl uns nochmal an.“

„Okay“, grummelt es von unten. „Also ... Eins. ... Zwei. ... Drei. Und bitte!“

Bela und ich gehen synchron los, Bela einen Ticken langsamer, ich gehetzter und wir treffen uns perfekt auf der markierten Stelle.

„Haste ma `ne Zigarette?“, hau ich ihm vor den Latz.

„Häh? Was willst du denn mit `ner Zigarette?“ Er klingt erschöpft, sieht müde aus.

„Frag nich so viel. Haste eine oder nich?“, bläst Richy sich auf. Ich muss auf Bela gerade riesig wirken, wie ich da so über ihm auf der Treppe throne.

„Nö“, sagt Bela leise und sein müde-trauriger Blick auf mir schmerzt, zerrt an mir.

Ich nutze Richys „Pfff!“, um kein Mitleid zu spüren, dränge mich so knapp an ihm, an  Igor vorbei, dass ich ihm mit der Schulter eine mitgebe und er gegen die Wand fliegt. Richy ist echt ein Arsch. Aber vermutlich bin das wohl eher ich.

„Aus!!! Jan, kannst du das bitte noch einmal machen ohne deinen Freund halb die Treppe runter zu stoßen?“ Michael sagt es sehr langsam und ich schäme mich.

Bela sieht wirklich nicht gut aus. Fahl und blaß und – am liebsten würde ich ihn ins Bett stecken.

Trotzdem tut sie gut, diese kleine schmerzende Stelle an meiner Schulter, an der ich in ihn gerempelt bin. Als könnte ich erst jetzt glauben, dass es ihn wahrhaftig noch gibt. Ich habe ihn einfach so krass mit Ignoranz bestraft. Bestraft werde allerdings auch ich für meine Aggression, denn ich schütte mir bei unserer nächsten Aufnahme den Kaffee über meine Hose, weil ich ihn wieder halb umrenne.

„Was soll das denn?“, pflaumt mich Michael an und sieht von mir zu Bela, der mit hängenden Schultern immer noch mitten auf der Treppe steht.

„Tschuldige. Dit war mein Fehler“, ruft er zu uns hinüber.

Ich sehe ihn fragend an, aber er ignoriert meinen Blick.

„Aha. 15 Minuten Pause zum Hose trocknen“, verkündet Michael.

„Warum biste denn so krass in Bela reingelaufen?“ Sikka sieht mich fragend an, während sie meine Hose mit einem Fön bearbeitet.

„Nur `n kleener Unfall. ... Hab wegen dem Pappbecher `ne Stufe verfehlt“, murmel ich.

„Zweimal? Ich weiß ja, dass ihr gerade zerstritten seid, aber ... das ist schon nicht so cool.“ Sie sieht mich viel zu prüfend an, alle sehen mich momentan viel zu prüfend an.

Ich drehe mich trotzig von ihr weg.

„Hier.“ Sie reicht mir meine Hose. „Wieder repariert dein kleiner Unfall.“

„Danke.“

„Also, wär schön, wenn ihr beiden das dieses Mal hinbekommt ohne das einer fast die Treppe runterfliegt.“ Michael sieht mich streng durch seine große Brille an. „Also! Ton?“

„Ton läuft.“

„Kamera?“

„Kamera läuft.“

„Klappe 13.7, die Vierte!“

„Eins. Zwei. Drei – und bitte!“

Wir gehen wieder aufeinander zu, perfektes Timing wie ein Uhrwerk. Ich beziehungsweise Richy baut sich wieder vor Igor auf, blockiert die ganze Treppe.

„Haste ma `ne Zigarette?“

„Häh? Was willst du denn mit `ner Zigarette?“

„Frag nich so viel. Haste eine oder nich?“

„Nö.“

„Mrrmmm“, rolle ich mit den Augen und trete einen harten Schritt auf Bela zu, der vor mir zur Seite flüchtet, halb über eine Stufe stolpert.

„Und danke! Also, das war jetzt auch nicht wirklich besser, aber ... Das muss reichen. Bela, du hast Drehschluss.“

Ich höre Bela erleichtert aufatmen.

„Jan, wir drehen nachher die Szene wie du durch die Kulissen hinter der Bühne mit dem Kaffee zu Nena rüber gehst. Die müsste so in einer Stunde da sein.“

Ich seufze, ziehe mich mit einem Buch in den kleinen miefigen Raum zurück, in dem Sikka und Astrid hier im Metropol provisorisch ihren Kostümfundus aufgebaut haben.

Ich setze mich in eine Ecke unter den Klamotten, die jetzt über mir an ihren Kleiderbügeln schweben wie eine Horde Gespenster. Sie sind mir gerade die einzige willkommene Gesellschaft, eine Barriere gegen die prüfenden Blicke, Belas traurigen, meinen wütenden zurück. Und gegen alles, was von mir erwartet wird hier am Set. Alle wollen Farin zurück, den witzigen, strahlenden Typ.

Vielleicht holt den ja Nena wieder hervor. Aufgeregt genug bin ich auf jeden Fall.

Momentan aber bin ich noch viel zu sehr Richy. Ich kann es ihm so nachfühlen, wie er sich von allen verlassen fühlt, auch wenn mein rationalerer Teil flüstert, dass ich als Jan da auch einen Anteil dran habe.

Ich konzentriere mich wieder auf Lems Meisterwerk. Eigentlich war ich endlich ganz gut verschwunden in der Geschichte des Weltraumforschers Kris Kelvin, aber irgendwas zieht mich immer wieder zurück in meine einsame Realität zwischen den hängenden Klamotten. Aber nun lese zum dritten Mal das Gespräch zwischen Kelvin und Snaut:

„Also was ist das? – fragte ich, nachdem ich ihn geduldig angehört hatte. – Das, was wir gewollt haben: der Kontakt mit einer anderen Zivilisation. Da haben wir den Kontakt!“


Bilder aus der Niebuhrstraße, von Belas Zimmer steigen in mir auf und ich will die ungebetenen Gäste abschütteln, exorzieren.

Ich drehe den Kopf zur Seite, aber jetzt werden die Bilder noch stärker, als würden sie mich verfolgen. Ich schlage das Buch zu und stütze mich auf, will abhauen aus meinem Versteck, fliehen vor den unerwünschten Eindringlingen.

Meine Finger landen auf weichem, abgenutztem Stoff. Grau-schwarz mit abgeschnittenen Ärmeln. Belas T-Shirt von den Bandproben-Szenen. Vorsichtig streiche ich über den Stoff, als könnte ich mich an seinem T-Shirt schneiden wie an Glasscherben. Die Enge in meiner Kehle sagt, dass das eine Scheißidee ist, aber meine Finger pressen das T-Shirt in meiner Faust gegen meinen Brustkorb und der Geruch wird so stark, umhüllt mich wie eine Wolke. Ich rutsche noch tiefer unter die hängenden Klamotten, kauer mich in die dunkelste Ecke darunter.  

Es klopft an der Tür und ich zucke hart zusammen, verstecke Belas T-Shirt unter meinem, will aufspringen, aber mich eigentlich noch viel tiefer verstecken.

Schnell rutsche ich ein Stück unter den Klamotten hervor. Da muss mich ja nun wirklich niemand finden, aber aufstehen geht nicht.

„Jaaa!“, brülle ich viel zu laut und ungehalten. Ich will niemanden sehen. Außerdem befürchte ich, dass es Bela ist, der reden will, hoffe, dass es Bela ist, der reden will.

Mit der Person, die zur Tür hineinschneit, habe ich aber nun wirklich nicht gerechnet. „Hi Jan!"

Ein Paar Beine in zerlöcherten Netzstrumpfhosen kommt auf mich zu.

„Hat er dich geschickt?"

„Ähm, dir och `n schönen Tach erstma."

„Hallo Gitti! Also, hat er dich geschickt?"

„Nee. Ick hab mich selber geschickt. Außerdem wollt ick ma sehen, wie `n richtiges Filmset so aussieht“, grinst sie, dann mustert sie mich viel zu ernst. „Aber vor allem wollt ick mit dir reden, weil dit echt nich auszuhalten is, dass bei euch der Haussegen schief hängt."

Ich seufze. „Wie viel weißt du?“

„Alles. Aber erst seit gestern.“ Sie setzt sich vor mich im Schneidersitz auf den Boden und mustert mich unverhohlen. „Puh. Du siehst och echt nich jut aus."

„Danke!"

„Ick mein dit ja nich böse, aber – Bela is och total fertig. Noch viel schlimmer."

Ich knipse mein Farin-Grinsen an. „Also, mir geht`s prima."

Sie rollt nur mit den Augen, legt mir dann eine Hand auf die Schulter und ihr Gesicht wird noch ernster. „Am Wochenende ..." Ihre Schultern fangen an zu beben und eine einsame Träne läuft über ihre Wange. Sie wischt sie schnell weg und atmet einmal zittrig durch. „Ick weiß nich, wie ick dir dit sagen soll, Jan. Ick hab dit och erst gestern erfahren ...“

„Was ...?“ Meine Stimme knickt weg. „Was is passiert?“ Szenarien schießen durch meinen Kopf wie Gewitter. Als erstes Alkohol, gefolgt von Drogen, gefolgt von Schnitten. Die Schnitte schneiden sich am meisten in mich.

„Hat er ...?“ Meine Hand schnellt vor und ich fasse Gittis Arm. Sie zuckt kurz zusammen, weil ich wohl viel zu fest zudrücke. Ich muss mich zwingen meine Finger zu lockern. „Hat er ...?“

Irritiert sieht sie mich an. „Was hat er?“

„Er war heut so blaß. Hat er versucht ...?“ Ich krieg es einfach nicht raus. „Was is passiert?“

„Also, Beate hat mich gestern angerufen.“

„Häh? Wieso ruft dich den Beate an? Ihr kennt euch doch gar nich. Oder?“

„Na, weil Bela se drum gebeten hat. Vor allem darum nich dich anzurufen. Ich sollte wahrscheinlich auch gar nich hier sein und dir dit alles erzählen, aber ... Hey, dit musste einfach wissen. Also, Bela war wohl am Sonntag abend auf Sauftour unterwegs, is dann nachts zu euch nach hause, hat den Ofen angemacht und is dann ins Bett gefallen.“

Ich will fragen allein, tu es nicht, weil ... „Ja?“

„Als Beate in die Wohnung kam, war allet voller Qualm und ...“

Ich ziehe Luft mit so viel Wucht in meine Lungen, dass mir schwindlig wird.

„Er war dann gestern für `n Tag im Krankenhaus zur Beobachtung, aber die Rauchvergiftung war nich so schlimm.“

Ich kann sie nur anstarren.

„Es is wirklich nichts schwerwiegendet, haben die Ärzte gesagt. In ein paar Tagen is alles wieder in Ordnung.“

„Okay.“ Meine Gedanken wabern, zittern, um etwas herum. „War dit ...? Hat er versucht ...? Mit Absicht?“

Sie zieht die Stirn in Falten. „Wie mit Absicht?“

„Ob er ...“ Ich hole tief Luft. „Ob er sich damit umbringen wollte?“

„Was?“ Der Schock schwappt auf sie über. „Nee. ... Nee! ... Wie kommst `n du auf sowat?“

Ich weiß nicht, warum ich ihre Hand nehme, aber es tut gut. „Kennste die Schnitte an Belas Arm?“

„... Ja. ... Er hat gesagt, die sin von so `nem Experiment mit so `ner Sekte, die er interessant fand. Damals als er mit dieser seltsamen Kristin `ne Affäre hatte.“

„Okay. Dit hat er dir also och erzählt. Dann ... war dit wohl wirklich so.“

„Haste da dran gezweifelt?“ Sie runzelt die Stirn. „Bela erzählt eigentlich keene Lügen.“

Ein Seufzer steigt tief in meiner Brust auf. „Da bin ick mir nich mehr so sicher.“ Der Seufzer bahnt sich seinen Weg an die Oberfläche und ...

„Oh, Jan. Hey.“ Ein warmer Körper und ich werde in eine feste Umarmung gezogen. Ich wusste gar nicht, wie sehr ich das vermisst habe. Julchen wollte mich umarmen, als ich ihr endlich erzählt hatte, was Sache ist, aber ich konnte es nicht zulassen, weil ich genau gewusst habe, dass ich dann auseinander falle – so wie jetzt.
 
Sie streicht mir ganz sanft über den Kopf und es hilft, aber so, dass ich - ich heule Gitti die ganze Schulter voll und sie ist warm und weich und hält das einfach aus.

Langsam wird es ruhiger in mir, aber jetzt schäme ich mich wirklich, weil ich mich so hab gehen lassen.

„Na, du?“, fragt Gitti vorsichtig und streichelt mir über den Rücken.

„Tschuldige“, schnief ich. „Haste ma `n Taschentuch?“

„Klar.“ Sie holt eines aus der kleinen Tasche, die sie immer mit sich rumschleppt. „Hier.“

Ich schneuze mich und sitze dann etwas verloren einfach nur da.

Gitti sieht mich voller Mitgefühl an und ich fühle mich nicht mehr ganz so doof. „Ick musste grad an die Nacht denken, als das mit dir und Bine war. Da ... ging`s dir och nich so jut.“

Ich warte auf den Blitz, der immer böse durch mich zieht bei diesem Namen, aber – er ist weg, ersetzt mit einem viel Einschneidenderen. „Nee, da ging`s mir echt nich so jut.“ Ich fühle mich unangenehm nackt bei der Erinnerung hier vor ihr und unendlich traurig bei der Erinnerung wie Bela mich in dieser Nacht getröstet hat.

„Mann, tat`s du mir leid damals.“ Auf einmal lacht sie. So unerwartet und irritierend es ist, es tut schrägerweise gut, bricht die Schwere. Langsam wird sie wieder ernst und das Lachen zu einem Lächeln. „Du warst eenfach so `n süßer kleener Punker."

„Wie – wie meinst`n das?", frage ich verwirrt. „Außerdem bin ick nich klein.“

„Ja, is ja jut. Aber - du warst einfach so verknallt damals." Ihr Blick auf mir ist ganz warm.

„In Bela?“

Sie lacht wieder. „In den auch. Deswegen is dit ja grad allet so schlimm. Nich nur für euch Pappnasen. Ick leid da echt richtich mit. Aber ick meinte, dit mit ... Bine.“

„Ach so.“

„Du warst damals so – irgendwie jung und unschuldig und ... Tut mir echt leid, dass dit nich so jut gelaufen is."

Ein kleiner Impuls in mir bildet Worte, aber ich will das eigentlich gar nicht mehr so wirklich wissen. Oder? „Hat sie mich denn eigentlich damals ... auch gemocht?"

Gitti nickt und ich seufze. Etwas in mir klettert aus einem viel zu engen, längst vergessenen Käfig ans Tageslicht.

„Die war ziemlich in dich verknallt. Aber ey, du warst halt auch wirklich so `n bisschen sehr lieb und – naja, du hattest halt nich so viel Erfahrung und ..."

Ich drehe meinen Kopf ein Stück weg, weil mir Hitze unangenehm ins Gesicht steigt.

„Hey, Jan. Dit is nüscht wofür man sich schämen muss.“ Sie legt ganz leicht ihre Hand auf meine Schulter. „Und ick weiß, dass dit schwer zu glauben is, aber sie wollte dir echt nich weh tun. Vor `nem halben Jahr meinte sie sogar ma, dass dit eine der Sachen ist, die sie am meisten bereut von all den blöden Dingen, die sie so gemacht hat. Und gloob mir, dit sind `ne Menge."

Ich will nicht, dass es hilft, aber – irgendwie tut es das.

„Und jetz dit mit Bela, hm?“ Ihre Hand rutscht von meiner Schulter auf meinen Arm. „Ick hoff echt, ihr kriegt dit wieder hin. Also, nein, nich ich hoff, sondern: ihr müsst das wieder hinkriegen!“

Ich nicke, schüttel dann den Kopf. „Ick weeß nich. Ick will und ick will och nich, aber ... Ick lieb den einfach so“, platzt es aus mir heraus. „Zu sehr vielleicht.“ Meine Kehle wird schon wieder viel zu eng  

„Och, Süßer!“ Sie zieht mich in eine kurze Umarmung und küsst mich auf die Wange.

Sie lehnt sich wieder zurück und unsere Blicke treffen sich. Auf einmal ist da so ein merkwürdiges Sirren in der Luft. Sie sieht als Erstes weg, mich dann doch nochmal an und diese merkwürdige Verbindung ist wieder da.

Ich bin mir nicht sicher, was es genau ist. Ob es wirklich um sie geht oder darum, dass sie Bela so nahesteht, so dass ich über sie an diese Verbindung andocken will, aber ...

„Jan, wir sollten nich ..."

Ich nicke. „`tschuldige.“

„Es is nich, weil ich dich nich mag oder so. Äh, ick find ich sogar ziemlich gut.“ Sie lächelt, nun auch fast ein wenig schüchtern. Vielleicht haben wir beide Weihnachten und die Toilette im SO vor Augen. „Aber dit wär grad echt `ne schlechte Idee.“

„Mhm.“ Ich will irgendwie trotzdem nochmal von ihr in den Arm genommen werden.

Stimmengewirr vor dem Raum.

„Hey, Jan!“ Sikka. Schnell rutsche ich ein Stück von Gitti weg.

Die Tür wird aufgestoßen. „Hätte ich mir ja denken können, dass du hier ... Äh, hallo?“ Sie mustert Gitti. „Und du bist?“

„Schon weg“, sagt Gitti schnell, drückt nochmal kurz meine Hand und schon klappt hinter ihr wieder die Tür zu.

„Wer war das denn?“

„Eine Freundin.“

„Aha. So eine richtige Punkerin.“

„Punkette“, verbessere ich sie.

„Ist das eine Ex-Freundin von dir gewesen?“

„Warum willste dit wissen?“

„Ihr habt irgendwie so nah ... Und du siehst irgendwie so ein bisschen ...  ähm, verheult aus.“

Schnell wischen ich mir nochmal über die Augen, als ob das helfen würde. „Sie ist einfach eine gute Freundin", erwidere ich unwirsch.

„Okay. ...“ Ich sehe ihr an, dass sie noch mehr fragen will, aber das geht nicht. Sikka war echt so ein Fels in der Brandung für mich, aber ich befürchte, ich sollte besser nicht mehr in Schöneberg bei ihr übernachten, wenn ich diese Signale richtig lese.

Astrid kommt herein als sehr willkommene Unterbrechung. „Und freuste dich schon auf Nena?“, grinst sie mich an.

Oje. „Ähm, ick ... ick weiß nich.“

„Ich dachte, du und Bela, ihr wollt sie heiraten.“

Bela und ich mit unseren blöden Sprüchen. Nichts liegt mir gerade ferner – außer Bela.

„Dit ... war doch nur Spaß“, sage ich traurig.

„Bei euch weiß man echt nie, was nur Spaß ist und was nicht.“ Astrid verdreht die Augen. „Aber willst du ihr nicht mal wenigstens Guten Tag sagen?“

„Ick – war schon vorher bei ihr.“ Glatt gelogen. Die Wahrheit ist: ich trau mich nicht außerhalb der Szene, die wir zusammen haben mit ihr zu sprechen.

Aber in der Rolle kann ich das ja wohl schlecht vermeiden. Und so stehe ich wie ein kleines Nervenbündel hinter der Bühne des Metropol.

Mein Adrenalinlevel hat eine neue interessante Höhe erreicht. Für meinen angeschlagenen Zustand ist das alles viel zu aufregend. Mein Herz klopft so verdammt hart gegen meine Rippen.

„Und bitte!“ Wenn Michael mir nicht diese Befehl geben würde, hätte ich schon auf dem Absatz umgedreht. Langsam schleiche ich mit meinem Pappbecher auf Nena zu, die schön und cool vor mir an der Wand lehnt. Auf dem Kaffee schlagen kleine Wellen an den Rand des Bechers, weil meine Hand so zittert.

Aus dem Augenwinkel nehme ich auf einmal einen schwarzen Schatten wahr. Bela. Ist der doch noch nicht nachhause. Dabei sollte das kleine, bleiche Gespenst dringend ins Bett. Aber klar – er will sie auch sehen. Und ich bin so froh ihn zu sehen. Gittis Erzählung läuft wie ein Film vor meinem inneren Auge ab, aber – es ist nichts passiert. Da steht er – wie er leibt und lebt.

Unsere Blicke treffen sich durch den langen Bühnenboden. Er wirft mir ein scheues, schiefes Grinsen zu, hebt einen Daumen nach oben und auf einmal wandert mein Mundwinkel hoch. Wir haben es geschafft. Es ist zwar nicht direkt eine Heirat, aber trotzdem – Nena!

Ich dimme das Grinsen, dass gerade nicht mehr richtig verschwinden will runter und gehe auf viel zu wackligen Knien durch die Kulissen auf sie zu.

Sie lehnt an der Wand. Ich hab sie bisher ja nur im Fernsehen gesehen, aber das – das ist sie wirklich. Mann, sieht die gut aus. Es trifft mich wie ein Schlag in den Magen – nur angenehmer, kribbeliger.

Sie sieht mich mit glänzenden Augen an. An ihren Ohren baumeln riesige geschliffene Glasherzen. In ihrer Rolle soll sie ein wenig hibbeliges Lampenfieber spielen. Macht sie echt gut.

Ich bekomme das Grinsen gar nicht mehr geregelt. Wahrscheinlich ist das viel zu viel für Richy, aber egal.  

„Willste `n Kaffee?“

Ich halte ihr den Becher hin. Ich hätte nicht gedacht, dass sie so zierlich ist, bestimmt eineinhalb Köpfe kleiner als ich, aber mit der Energie eines Atomkraftwerks.

„Nein! Haste `ne Zigarette?“, sagt sie recht rau, aber mit einem Lächeln.

„Nee. Ich rauch nich, aber ich hol dir eine.“ Ich kann einfach nicht anders als strahlen, auch wenn das nicht so ganz zu Richy passt.

„Nein. Lass ma.“

„Doch wirklich ich hol dir eine.“

„Is schon gut.“

„Ich hol dir eine.“ Und schon muss ich laut Drehbuch wieder den Rückzug antreten. Schade.

„Nu lass es doch.“

„Wunderbar. Das habt ihr toll gemacht.“ Michael ist vom ersten Take begeistert und ich ärger mich, dass ich den nicht versemmelt habe. Allerdings habe ich damit immerhin keinen laienhaften Eindruck hinterlassen.

Danach bin ich super hibbelig, weiß nicht wohin mit mir. Am liebsten würde ich diese krasse Begegnung mit Bela durchquatschen, aber...

Schließlich gehe ich einfach wieder zurück in den kleinen, miefigen Kostümraum. Niemand da. Gut

Obwohl ich mich wahrscheinlich nicht auf das Lesen konzentrieren kann, setze ich mich auf den Boden und blättere mein Buch auf.

Ein leicht schmuddeliger Zettel fällt heraus. Eine Seite des Drehbuchs. Ich falte sie auf. Bevor ich auch nur eine Zeile gelesen habe, breche ich beim Anblick von Belas geschwungener Handschrift in Tränen aus.

„Hallo Jan!

Ich hab die letzten Tage viel nachgedacht, also, ich denke, die ganzen letzten Wochen schon viel nach, aber es war gerade nochmal mehr.

Ich weiß, dass du verletzt bist, dass ich dich verletzt habe.“


Ich nicke so vehement, dass ich mir den Kopf an der Wand anhaue.

„Ich hab so krass Angst, dass es das wirklich war mit uns. Das wir uns nach dem Ende der Dreharbeiten nur noch einmal treffen, um unsere WG und die Ärzte aufzulösen.“

Ich muss die Augen schließen vor diesem Bild. Mein Kopf sinkt schwer nach unten, das Papier knistert in meiner Hand, so stark spannen sich meine Finger um es. Ich atme tief durch, lenke meinen Blick wieder auf Belas Worte.

„Wenn das unser Ende ist, dann nehm ich die größte Schuld dafür auf mich, hab dann ja ein ganzes Leben lang Zeit das zu bereuen. Aber – ich wollt dich auch vorsichtig daran erinnern, dass wir eine Abmachung hatten: Ich darf Affären haben. (Du übrigens auch, ne!) Und du darfst dafür reisen.“

Ich beiße mir auf die Lippen. Der mehr schlechte, als rechte Kompromiss. Ich möchte nicht, dass er recht hat.

„Das macht wahrscheinlich nichts besser, aber wenn du noch irgendwo einen Funken Hoffnung dafür finden kannst, dass wir zwei das hinbekommen, dann wäre es echt schön, wenn wir zumindest wieder miteinander reden würden.

Ach, Jan, ich vermiss dich. Jeden Tag seh ich dich hier und es ist so schön, bis mir wieder einfällt, dass du mit mir nicht in der Drehpause über Michael lästern wirst, dass wir nicht gemeinsam nach Hause fahren und vor allem, dass wir uns nicht gemeinsam drüber freuen Nena getroffen zu haben.“


Mein Herz rast los und ich weiß schon nicht mehr warum.

„Ich hab dir nach der Scheißaktion von mir schon einmal gesagt, dass dich dich liebe und daran hat sich nichts geändert, nur das es gerade einfach übel wehtut.

Aber ich lieb dich trotzdem.

Dein Bela"



Ich lass den Brief sinken und springe hoch, aber er ist ja schon weg. Michael hat ihn nachdrücklich nach Hause geschickt, weil er so schlecht aussah. Vielleicht ist das gut so, denn wenn er noch hier wäre, dann ... Ich muss nachdenken. Aber eigentlich habe ich die ganzen letzten drei Wochen nachgedacht. Vielleicht wäre es sinnvoll, wenn ich mich mal mehr auf mein Gefühl ...

Die Tür wird aufgerissen. Hier ist wirklich nie Ruhe.

„Endlich Feierabend“, stöhnt Sikka. „Na, wie sieht`s aus? Kommst du heute wieder mit zu mir nach Schöneberg?“ Da ist so eine Hoffnung in ihrer Stimme. Vorgestern wollte sie abends mit mir auf ihrer Couch Wein trinken.

„Ähm, vielen Dank für deine Gastfreundschaft, aber ... ähm, meine Mutter wollte, dass ick ... und meine Schwester.“

Ihr Lächeln dimmt immer mehr runter. „Okay, dann vielleicht morgen?“

Das Letzte, was ich gerade will, ist sie verletzen, aber besser ich ziehe jetzt den Schlusstrich, bevor ...

„Tut mir leid, aber ... vielleicht ist das keine so gute Idee, wenn ich ...“

„Wegen dieser Punkerin?“ Sie sieht traurig auf den Boden.

„Punkette. Nee, ick mein generell. Ick denk, es is besser, wenn wir zwei ...“

„Schon okay, Jan. Ich hab verstanden.“

Toll. Anscheinend ist Herzen brechen nicht nur Belas Spezialgebiet. Ich gehe hinüber zu Sikka und drücke ihre Schulter.

„Hey, danke. Für alles.“

Sie ringt sich ein tapferes Lächeln ab, dass fast schlimmer ist als ihr trauriges Gesicht.

„Weißt du eigentlich, dass ... Bela und ich nicht nur Freunde sind, sondern ...“ Ich beiße mir auf die Lippen. „Wir sind eigentlich zusammen.“

„Oh. ... Das wusste ich nicht.“ Tatsächlich scheint die Erkenntnis, dass ich in ihrem Buch wohl nun schwul bin ihr etwas über meine Abfuhr hinweg zu helfen. „Hey, das – das ist schön. Ich hoffe echt, dass ... dass alles wieder gut wird zwischen euch, denn du bist echt toll. Und Bela auch.“

„Danke. Ick ... Das hoff ick och.“ Und zum ersten Mal hoffe ich es wirklich.


24. Oktober – Metropol, Schöneberg

Nenas Auftritt. Am Set herrscht echte Konzertaufregung.

Ich stehe zuerst als Richy an einem Zugang zur Bühne mit der Kamera auf mir, dann nur noch als Fan. Was hat diese Frau für eine Energie.

Ein Bewegung neben mir. Mein Herz weiß anscheinend vor mir, wer das ist.

„Hallo, Jan!“, sagt er sehr leise, aber in Bezug auf Bela und seine Stimme sind meine Ohren ganz fein auf ihn abgestimmt, können ihn sogar aus dem Getöse eines Konzert herausfiltern. Er sieht ein bisschen besser aus als gestern, registriere ich erleichtert.

„Hey.“ Ich rutsche unbewusst ein Stück zur Seite, mache Platz für ihn. „Du hast doch heute gar keinen Drehtag“, sage ich ebenfalls so leise, dass ich mir nicht sicher bin, ob das über die treibende Musik zu verstehen ist, aber er steht so nah, dass ...

Er nickt. „Aber ick wollt se och so gerne nochmal sehen.“

„Krass, oder? Nena ... ... ... Hey, Bela.“

Vorsichtig blickt er zu mir.

„Ick ... ick hab deinen Brief gefunden.“

Er sagt kein Wort, bewegt sich nicht, wartet.

„... Danke.“ Ich drehe mich weiter zu ihm.

Ein minimales Heben seiner Mundwinkel, vielleicht ein Lächeln, dann ist wieder Stille zwischen uns, gefüllt von Nenas Gesang.


„Liebe wird aus Mut gemacht, denk nicht lange nach ...“

Ich strecke meinen Arm vorsichtig in seine Richtung, berühre ganz behutsam mit meinen Fingerspitzen seine Hand. Ein Zucken, aber er zieht sie nicht weg. Langsam streiche ich mit meiner Hand weiter über seine, lasse sie in seine Handfläche gleiten bis sich unsere Hände ganz berühren. So vertraut. So verdammt beängstigend-wunderschön vertraut. Ich drücke vorsichtig zu und hoffe, er versteht, was ich ihm damit alles sagen will.

Er atmet neben mir tief ein, dreht sich zu mir und öffnet den Mund, aber dann ... Da ist Wasser in seinen hellen Kajalaugen, aber sein schiefes Lächeln überstrahlt es.

Langsam ziehe ich ihn an mich, lege mein Gesicht behutsam an seine Wange. „Müssen wa reden?“, flüster ich an seinem Ohr.

„Nur wenn de willst“, flüstert er zurück.

Ich schüttel den Kopf. „Nich jetz.“ Ich ziehe ihn fester an mich, atme ihn ein. Sein Herz schlägt gegen meinen Brustkorb, sein Atem dringt warm durch mein T-Shirt.

Etwas blubbert in mir hoch, etwas unzähmbar Lebendiges. „Willste tanzen?“

Er drückt sich ein Stück von mir ab, sieht mich irritiert an. „Was?“

„Ob du tanzen willst?“ Ich drehe ihn in eine kleine Pirouette und er verliert fast das Gleichgewicht. Schnell fang ich ihn auf, grins in sein erstauntes Gesicht und zum ersten Mal, zum ersten Mal seit 21 Tagen kann ich wieder atmen.

Sein Erstaunen weicht einem Lächeln, einem Grinsen und dann einem echten Lachen. Er fasst meine Hand, nimmt dann mit übertrieben ernster Miene Haltung an. Es wirkt überraschend professionell.  

„Haben Sie etwa mal einen Tanzkurs besucht, Herr Seegefelder?“

„Aber selbstverständlich, Herr Senheimer.“

Und dann führt Bela mich so gekonnt, dass selbst ich das Gefühl habe, ich könnte tanzen.

Er findet für uns einen Takt, der fast zu ernsthaft ist für die ausgelassene Musik, aber genauso langsam finden wir währenddessen zurück in unseren ureigenen Rhythmus.  

Als Nena fertig gesungen hat, braust Applaus auf. Wir klatschen auch bis uns auffällt, dass die Hälfte des Filmteams zu uns beiden hinüber sieht.

Bela grinst breit, ich verlegen und schliesslich verbeugen wir uns Hand in Hand synchron.


Nachdem die Konzertszene im Kasten ist, kommt H.G. zu uns hinüber.

„Ich weiß nicht, was passiert ist, aber ...“  H.G. wischt sich kurz über die Augen. „Es ist schön euch beide wieder zusammen zu sehen.“


Niebuhrstraße 38 b, Charlottenburg

„Sind sie jetzt doch wieder eingezogen?“ Ausgerechnet an der Haustür treffen wir auf die olle Pachulke. Sie mustert meinen großen Rucksack. „Und ich dachte schon, jetzt wären bei ihnen endlich mal normale Zustände eingekehrt mit dieser Frau. Auch wenn die ein bisschen alt ist für Sie“, weist sie Bela zurecht.

„Nee, Frau Pachulke, normale Zustände jibt et bei uns nich“, sage ich und küsse Bela – mitten auf den Mund. „Ich lieb den nämlich ziemlich.“ Und damit lassen wir sie stehen und springen die Treppen rauf in unsere Wohnung.



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LYRICS


Bad Brains – At the Movies  

Depeche Mode - Policy of truth  

die ärzte theme

Lotte Kestner - Motion Picture Soundtrack  

Hanoi Rocks - Boulevard of Broken Dreams  

Notorische Reflexe - Je veux partir

Bela B – Bist du nicht müde?  

Die Haut & Blixa Bargeld - Johnny Guitar  

Depeche Mode - Never let me down again  
Cover von Greg Laswell ft. Molly Jensen
Cover von Jessica Mazin – Sountrack „The Last of Us“

Nena – Irgendwie, irgendwo, irgendwann  


ADDITIONAL SONGS

die ärzte – Richy Guitar – Single  

Die Ärzte – Alte Spinatwachtel (Pachulke)  

NENA - Irgendwie Irgendwo Irgendwann (Bananas) (Remastered)  

NENA – Official Video  
Seht ihr hier auch Buffy, the Vampire Slayer-Ähnlichkeiten???


INTERVIEWS

Buch Ä – S. 112 Bela, Claudia Kaloff und der Kohlenofen – leichte Rauchvergiftung und drei Tage Kopfweh

Bela B: "Es war Winter und superkalt. Ich bin betrunken nach Hause gekommen und habe im besoffenen Kopf noch den Kohleofen gefüllt und angezündet und bin dann gleich eingeschlafen. Ich hab nicht mitgekriegt, dass die Lüftungsklappe des Ofens nicht auf war. Die Rauchentwicklung hab ich komplett verpennt udn bin dann erst durch kräftige Ohrfeigen von Claudia hustend zu mir gekommen. Mit leichter Rauchvergiftung und drei Tage Kopfschmerzen kam ich glimpflich davon, aber wäre sie ein paar Stunden später gekommen, wäre es das gewesen."


BILDER

Axel

The Damned elusive pimpernel – Richy Gif  


FAN – VIDEOS

NJS Welt

Bela & Farin (1983-1988) Teil 1  
Farin Urlaub früher  
Farin U. in „Richy Guitar“  
Sahnie  in „Richy Guitar"  


Daemadness / Itismadness – SPECIAL

Youtube Channel  
Highly recommended!

Tumblr  
Highly recommended!

Deviantart Gallery

Meme 1  

Meme 2  

Meme 3  

Meme 4  


BUCH

Stanislaw Lem - Solaris  

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Chapter 47: 1984 - Portrait

Chapter Text

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Für Wolfgang / Wolfdragon_tv,

Vielen, vielen Dank für die tollen Zeichnungen, die du für diese Geschichte machst. Dein kleiner Comic hat im nächsten Kapitel seinen Auftritt.




 

* Teenagers in Love *






1984 – Portrait







24. Oktober – Niebuhrstraße 38 b, Charlottenburg

Frau Pachulke starrt uns mit leicht erstarrter Miene nach, während wir im Treppenhaus nach oben toben und direkt in Beate hinein, die im Flur am Telefon ist.

Sie hebt erstaunt die Augenbrauen, als sie mich sieht, dann legt sie einen Finger vor den Mund und sieht uns warnend an.

„Ja, ich finde auch, dass sie eine wirklich sehr eigene Handschrift haben." Sie lauscht angestrengt. „Sie sind wirklich vielversprechend, aber irgendwie wollen ihnen die großen Firmen keine Chance geben."

Bela und ich sehen uns an.

„... Ja, genau. Bei der CBS ... Dieser Kirnberger! So was von debil. Und übel anstrengend. ... Das wäre wirklich fantastisch, Jim. Auf dich hören die noch am ehesten."

„Wer war `n das?", fragt Bela nach dem Beate aufgelegt hat.

„Jim Rakete."

„Is dit nich der von Nena?", fragt Bela.

„Genau. Und von der Nina-Hagen-Band und Spliff."

„Echt? ... Krass."

„Seine Sekretärinnen hören sich wohl den ganzen Tag eure „Uns geht`s prima" rauf und runter und finden die echt dufte."

„Vielleicht hat ja Nena och `n gutes Wort bei ihm eingelegt", überlege ich viel zu laut.

Bela lächelt. „Dit würd dir gefallen, wa?"

„Naja, ... so `n klein bisschen."

„Ich muss mir mal kurz Notizen über das Gespräch machen." Beate verschwindet in meinem Zimmer und ich ziehe Bela in die Küche.

„Ähm, also, ick hab mir dit schon ... ähm, ausgemalt, was allet noch hätte passieren können mit Nena", flüster ich ihm zu. „Also, ... wenn ick `n bisschen mutiger gewesen wär."

„So, so!", grinst Bela.

„Naja, sie hat mich schon sehr angestrahlt bei unserer Szene."

„Hat sie das, ja?" Belas Grinsen reicht jetzt echt von einem Ohr zum anderen. „Dit kann ick och." Aber sein Gesicht wird viel ernster. „Hey, Jan", sagt er leise. Er küsst mich ganz leicht auf den Mund, springt dann zurück, als er Schritte im Flur hört, vermutlich, weil er denkt, dass ich das nicht vor Beate will ... Und ich will es auch nicht.

Sie kommt zu uns in die Küche. „Sagt mal, Jungs, also, wie ... wie machen wir denn das, wenn du jetzt wieder da bist?" Sie sieht mich ratlos an. Ich habe auch keine Lösung, aber finde es gut von ihr, dass sie nicht nachfragt, warum ich wieder da bin und ob zwischen Bela und mir wieder alles gut ist, denn so genau weiß ich das selbst noch nicht.

„Naja, also, hm ..." Bela sieht mich nachdenklich an. „Könntn wa nich vielleicht einfach ... Also, du bist ja unsere Managerin, aber wir könn dich nich so richtich bezahlen, nee? Also, wenn du, Jan, zu mir ins Zimmer ziehst und Beate ... wohnt dann in deinem?" Er sieht mich fragend an.

Für einen Moment ist es, als würde mir der Boden unter den Füßen weggezogen. Meinen Rückzugsort aufgeben? Aber wenn ich ehrlich bin, habe ich tatsächlich das letzte Jahr fast immer bei Bela mit im Bett gepennt und - ich mag es, hab es wirklich vermisst die letzten drei Wochen.

Ich nicke zögerlich.

„Wär das denn echt für euch okay?" Beate setzt sich an den Küchentisch und schaut zu mir hoch, dann zu Bela.

„Also, dit is doch `ne sehr ressourcensparende Lösung für uns alle, oder?" Bela sieht mich noch mal fragend an.

„Ressourcensparend?"

„Ja." Gerade wirkt er richtig geschäftsmännisch und ich finde es ein wenig schick.

„Okay", nicke ich schließlich und setze mich zu Beate an den Tisch. „Oder is dir dit zu klein hier?"

„Das ist schon okay. Außerdem ist es echt praktisch für zum Beispiel schnelle Absprachen." Sie dreht sich um und lässt den Blick über unser kleines Meer an Pfandflaschen schweifen. Die meisten sind von Bela und vermutlich könnte man damit die Miete für einen Monat bezahlen, wenn wir sie denn mal zurückbringen würden.

„Was halt schon geil wäre – so `n bisschen mehr Ordnung und Hygiene, wenn das hier nicht nur mein neues Zuhause, sondern auch mein Büro werden soll."

„Aye-aye, Kapitänin", sagt Bela schnell.

„Dann sollte dem doch nichts mehr im Wege stehen", grinst mich Beate an.

„Cool." Bela reibt sich die Hände. „Dann ist die Niebuhrstraße jetzt unser offizielles Ärzte-Hauptquartier." Er holt sich ein Bier aus dem Kühlschrank, reicht auch Beate eins, mir ein Glas Milch. „Na, denn Prost! Auf dich und Jim!"

Wir stoßen fast feierlich zusammen an.

Ob Beate wohl Klomusik mag?


26. Oktober – Moabit

Mit quietschenden Reifen hält Hans in einem weißen Cabrio. Darin wirkt er gleich sehr viel schicker als der Hans, der immer in der Werkstatt rumgeschraubt und den ollen LKW gelenkt hat. Aber – seine ganze Charakterentwicklung, wo Hans dieses schicke Auto auf einmal her hat, warum Igor und er wissen, dass ich vor dieser Schule auf Anja warte – nichts ergibt wirklich Sinn in dieser Katastrophe von Filmende.

Am Anfang wollte Michael wohl die Intro-Szene des Films mit einem weißen  Cabrio drehen, in dem Richy mit einem Grace Kelly Lookalike durch das Hinterland von Monaco düst. Da wäre ich sofort dabei gewesen. In die echte Grace Kelly war ich mit elf so dermaßen wahnsinnig verknallt.

Aber der Traum ist verpufft – wie das Budget. Außerdem ist das mit Grace und Autos ja nicht so gut ausgegangen.

Doch als ich zu Bela in das Cabrio springe, fühlt es sich nach einem Happy End an.

Die Kamera ist vorne auf dem Cabrio installiert und kann uns ohne das störende Autodach perfekt ablichten, während ich glücklich grinsen soll. Zum Glück geht das wieder. Ein paar Tage vorher hätten sie mir das im Gesicht festtackern müssen.

„Und danke!", sagt Michael und ich denke: THE END.

Das war`s. Die Dreharbeiten sind mit 15 Tagen Verspätung nun aus und vorbei. Ich bin mir unsicher, ob ich traurig oder froh bin.

Vor allem bin ich müde und würde einfach gerne mit Bela nach Hause in die Niebuhrstraße.

Aber heute muss gefeiert werden. Nicht nur das Ende der Dreharbeiten, sondern auch ...

Mitternacht!

Michael drückt mir ein Glas Sekt in die Hand, entweder weil er nie verstanden hat, dass ich nicht trinke, oder weil es ihm egal ist oder was auch immer. Ich reiche es unverzüglich an Hans weiter.

„Happy Birthday, Jan!" Sikka umarmt mich von der Seite und einen Ticken zu lang, aber es ist okay.

„Danke dir."

H.G. klopft mir auf die Schulter. „21. Früher ist man da erst volljährig geworden."

Gerade fühle ich mich älter als 21, vielleicht weil dieses Jahr so krass voll gestopft war mit Hochs – und leider auch ein paar Tiefs. Das Letzte sitzt mir immer noch in den Knochen und auch Belas Wärme, als er mich umarmt, kann es nicht ganz wieder zum Schmelzen bringen.



27. Oktober – Senheimer Str. 44, Frohnau

Ich schließe die Haustür auf. Niemand da, weil Herbstferien sind und Muttern mit Julchen in Sieseby ist.

„Schön, dass wa in Frohnau sein dürfen." Bela zieht seine Schuhe aus. „Obwohl - deine Omi hätt ick och gern ma wieder gesehen. Krass, dass das fast schon wieder `n Jahr her is."

„Wär echt schön gewesen. Aber dit wär och echt `n bisschen eng geworden da zu fünft." Ich lasse mich in der Küche auf einen Stuhl fallen, strecke meine Beine lang von mir.

„Von wegen eng ..." Bela füllt sich an der Spüle ein Glas Wasser und plumpst neben mich. „Boah, dit tut echt gut so `n ganzes Haus – nur für dich und mich, mein Schatz. So sehr ick Beate schätz ..."

„Weil sie dir zum Beispiel das Leben rettet?", platzt es ungeplant aus mir heraus.

Belas gerade noch entspannte Miene verzieht sich schmerzlich. „Mann, Jan. Du gloobst doch nich ernsthaft, dass dit Absicht war?"

Ich kann es mir nicht verkneifen ihn einen Moment zu mustern. „Sag du es mir." Die Sorge nagt seit drei Tagen an mir, aber es war nie Zeit mal in Ruhe ... Außerdem habe ich Angst vor der Antwort.

„War`s nich, okay?" Bela stellt sein Glas mit einem Knall auf dem Küchentisch ab und sieht mich so lange an, bis es unangenehm wird und ich den Blick abwenden muss.

„Okay", sage ich schließlich und tatsächlich fällt ein Bruchteil der Last von meinem Herzen.

„Is echt gut ma aus der Stadt rauszukommen." Bela streckt sich, als wäre nichts gewesen. „Ey, das Beate und Rakete dit mit der CBS gerockt haben ... Sein Wort hat echt Wums! in der Branche."

„Allerdings." Das vorherige Thema hallt noch in mir nach. Bilder von Feuer und Rauch.

„Puh. Schon wieder Streß." Bela wuschelt sich durch seine wilde Mähne. „Aber is okay." Er lächelt mich an und ich beantworte es, wenn auch ein wenig zaghaft. Ich kann alles anscheinend nicht so einfach abschütteln wie er. Oder spielt er das auch nur?

„Ick kann`s echt immer noch nich fassen, dass wir jetzt echt bei der CBS sind, den Vollidioten", lacht er.

„Genau deswegen will ich`s denen auch zeigen." Grimmig beiße ich die Zähne aufeinander. „Wir brauchen unbedingt noch so drei, vier Lieder bis zu den Aufnahmen."

„Zusammen kriegen wir dit schon hin." Bela steht auf und setzt sich rittlings auf meinen Schoß. „So, mein Lieber. Endlich ma Zeit für uns beide."

Warm und schwer, aber gleichzeitig viel zu leicht, sitzt er auf meinen Beinen. So ganz habe ich mich nach den drei Wochen Funkstille gemischt mit absolutem Gefühlschaos noch nicht wieder dran gewöhnt, dass wir das jetzt wieder miteinander machen, dass alles wieder zwischen uns gut sein soll.

Seine Hände beginnen recht eindeutig an meinem Hemd herumzunesteln und ich zucke ein wenig zusammen.

„Hey, Jan? Ick weeß, das dit dich immer noch beschäftigt, aber ... Könn wa trotzdem so ... `n bisschen?" Er küsst mich – unerwartet sanft. „Ick hab dich einfach sooo vermisst."

„Mhm." Ich will auch, aber ...

Er lehnt sich ein Stück zurück und sieht mich mit einem undeutbaren Blick an. „Manchma wünscht ick, wir wärn wieder so wie am Anfang."

Ich runzel die Stirn. Will er, dass wir einfach nur wieder Freunde sind? Der Gedanke zerrt fies an mir.

„Meinste, als wa noch nich zusammen warn?"

„Ja." Er sieht wohl mein geschocktes Gesicht. „Nee, so mein ick dit nich."

Ich atme vorsichtig aus.

„Also, ick hab manchma so Phantasien." Er sieht mich fast ein wenig schüchtern unter seinen schwarzen Wimpern an.

„Was denn für welche?" Mein Herz klopft ein wenig schneller. Bei Bela kann das in jede nur vorstellbare Richtung gehen.

„Naja, also dass ick bei dir bin hier in deinem Kinderzimmer und wir sind beide noch jung und unerfahren ..."

„Warste das jemals?"

Empört starrt mich Bela an und überschlägt seine Arme. „Aber selbstverständlich."

Ich muss gegen meinen Willen grinsen.  

„Mann! Ick find halt einfach den Gedanken aufregend, dass das alles noch so `n bisschen unklar und neu ist zwischen uns. Und ick mag dit halt potentiell erwischt zu werden."

„So wie damals im Schwimmbad?"

„Exakt." Bela nickt enthusiastisch.

„Oder auf der Toilette vom Metropol."

„Oh, ja." Sein Grinsen wird noch breiter, seine Augen funkeln. „Aber – also, so wat besonderes is dit ja in so `nem Club och nich. Früher, also als Teenager, da hat sich dit allet noch so `n bisschen mehr ... also, verstohlener angefühlt. Ick mag so verbotene Sachen einfach und ..."

„Mhm – ick weeß", unterbreche ich ihn und seine Schultern sinken, das Leuchten in seinen Augen dimmt herunter.

„Du findest`s doof, oder?" Er wirkt wirklich betrübt und mir tut mein bissiger Satz leid.
„Ick hab dit einfach noch nich so richtich verstanden."

„Wie war denn das bei dir, wenn de hier Freundinnen zu Hause angeschleppt hast?"

„Hab ick nich."

„Was?" Bela sieht mich echt geschockt an.

„Nee, ernsthaft. Ick wollt nich, dass sie Gerd kennenlernen. Oder Gerd sie. Der hätte dann einfach jede Gelegenheit genutzt mich damit fertig zu machen. Oder ihnen irgendwelchen Scheiß über mich zu erzählen." Über meinem Kopf taucht eine dunkle Gewitterwolke auf. Die Erinnerung überspült, dass er nicht mehr hier ist.

„Oh. ..."

„Außerdem – gab och nich so viele. In Frohnau waren mir die Mädchen zu spießig und gutbürgerlich. Die meisten hab ick im Falkenlager kennengelernt. Oder auf den Reisen mit Ecky. Dit warn mehr so Sommerliebschaften. Und bei Angelika ... da – war`n wir bei ihr." Ich erinner mich echt nicht so gern an mein erstes Mal.

„Okay, versteh."

„Wie war`n dit bei dir?"

„Och nich janz einfach", seufzt er. „Am Anfang hab ick ja vor allem mit Typen herumgeknutscht und gefummelt. Also, theoretisch wär dit einfacher gewesen, weil meine naive Mutter da nich dran gedacht hat, aber ... Ick hatte ja lange `n Zimmer mit Diana wegen meiner Oma. Aber irgendwie mocht ick dit och. Also das eben alles so `n bisschen heimlich passieren muss, weil jederzeit ... " Bela streicht an meinem Schlüsselbein entlang und die kleine Berührung zieht wie eine große Welle durch mich.

„Mhm", seufze ich unwillkürlich.

Seine Augen sind hungrig. Ist das wegen mir oder hat er die letzten drei Wochen echt mal nichts bei anderen gesucht?

„Die Vorstellung macht mich einfach an, dass wir beide ...", schnurrt er und sein Blick. Er streicht über meine Brust und meine Brustwarzen stellen sich auf. „Also, zumindest in der Phantasie. Wirklich sexy wär dit nich jewesen, wenn mich Erich zum Beispiel mit René erwischt hätte. Aber ick stell mir dit halt immer noch manchma so vor. Also, dass ick mir gemeinsam mit `nem Freund - zum Beispiel dir – einen runterhol. Ick hab dit ja früher gemacht, aber halt nich mit Typen, in die ich heimlich echt verknallt war."

Diese Augen. Dieser Blick. Wie kann man nur so krass flirten? Wahrscheinlich steht mein Mund ein wenig offen. Dieses helle Glitzern in seinen Augen hat mich früher echt irritiert, weil es so flirrend und gleichzeitig viel zu bedeutsam durch mich geschossen ist. Jetzt macht es mir auch ein wenig Angst, weil das ja auch andere so anziehend finden.

„Ick wünscht echt ..."

Was wird sein unkeusches Hirn nun wieder ausspucken?

„Das ick mich getraut hätt, mit dir früher schon ma so wat ..."

„Fandst mich damals schon heiß, wa?" Ich setze mein Grinsen auf.

„Sach ma, können wir so `n Spiel machen?" Er beugt sich zu mir hinunter und küsst mich. Etwas weniger sanft als zuvor, zieht sich dann wieder zurück, aber er hat sein Ziel bei mir schon erreicht.

„Was denn für eins?"

„Ick würd gern mit dir spielen, dass noch 1980 is. Wir ham uns gerade erst kennengelernt und ick bin dit erste Mal bei dir zuhause und wir wissen beide, dass wir den anderen gut finden, aber es is noch nich so ganz klar zwischen uns ausgesprochen und ..." Seine Fingerspitzen streichen über meinen Bauch.

Ich packe Bela um die Hüften und stehe auf. Vorsichtig setze ich ihn auf dem Boden ab, schiebe ihn an den Schultern aus der Küche, öffne die Haustüre und stelle ihn auf die Treppe davor  – in Strumpfsocken.

Mit einem unterdrückten Grinsen schließe ich die Tür wieder. Sein Gesicht war so genial verblüfft, dass ich mir immer noch das Lachen verbeißen muss, als ich die Tür nach ein paar Augenblicken wieder öffne.

„Hey, Dirk! Cool, dass de Zeit hattest ... "

Bela sieht mich mit riesigen Augen an. Es dauert einen Moment dann strahlen seine Augen, bis er ein wenig ernster wird. Seine Gesichtszüge verändern sich, als ob die letzten vier Jahr von ihm abfallen, er jünger wird, unschuldiger. Seine ganze Haltung wird wirklich zu – Dirk.

„Ähm ... Hi, Jan. Also, danke für die Einladung."

„Klar. Komm rin. Magste was zu trinken?"

„Gern. Vielleicht `n Wasser."

Ich verschwinde in der Küche, kehre mit Belas Glas zurück. Er steht noch genauso im Flur, wie ich ihn zurückgelassen habe.

„Sind deine Eltern ..." Ich zucke zusammen. „Ähm, ist deine Mutter eigentlich zu Hause?"

„Noch nich. Die ist noch in der Arbeit, aber eigentlich müsste sie bald hier sein. Lass uns lieber in mein Zimmer gehen. Da kann ick dir och die Platte vorspielen, von der ick dir erzählt hab." Er nickt und ich führe ihn die Treppe hoch.

Langsam, fast verhalten, tritt Be... Dirk in mein Zimmer. „Oh, gemütlich." Er lächelt mich ein wenig schüchtern an, sieht sich dann interessiert um.

Ich lege „Teenager in Love" auf, die Bob Marley & the Wailers Version. Zum Glück hab ich tatsächlich noch ein paar alte Platten hier in Frohnau.

„Dit Lied is echt cool." Dirk lässt sich auf meinem Schreibtischstuhl nieder und sieht sich vorsichtig in meinem Zimmer um. Er wirkt wie durch einen Zauber wirklich vier Jahre jünger. Die Verwandlung ist eindrücklich, zieht mich auch mit.

Er seufzt. „Wenn Hussi ma `n bisschen aufgeschlossner wär, dann könnten wa och mit Soilent Grün mehr experimentiern. Aber dit wird mit den Flitzpiepen wohl nie passiern." Er stutzt und deutet auf etwas über meinem alten Schreibtisch. Eine Skizze - ausgerechnet von einem roten Londoner Doppeldecker, als ich mit Ecky zum ersten Mal dort war. Damals war ich wirklich 16.

Bela stockt einen Moment, sein Lächeln ist nicht mehr ganz so strahlend. „Wow. Dit is echt dufte." Er knipst sein Strahlen wieder an und ich atme wieder leichter. „Ick wusst gar nich, dass du och zeichnest."

Mir wird heiß, so als würde Dirk meine Zeichnungen wirklich zum ersten Mal sehen.

„Ja. Ick überleg grad, ob ick mich an der Hochschule der Künste bewerben soll."

„Cool. Talent haste auf jeden Fall."

„Nur nich so bei Portraits."

„Dit kannste doch lernen. Musst halt wahrscheinlich `n bisschen üben."

„Mhm." Unser kleines Spiel hat eine Dynamik entwickelt, in der ich nur noch agiere, nicht mehr nachdenke. „Kann ick ... Kann ick vielleicht dich zeichnen?"

„Mich?" Oh, Mann. Sein schüchternes Lächeln trifft mich am ganzen Körper. „... Okay."

Ich hole aus einer Schublade meinen alten Block heraus, spitze einen Bleistift und setze mich auf mein Bett. Ich habe das wirklich schon lange nicht mehr gemacht, aber es geht erstaunlich schnell, dass ich in diesen Modus umschalte, Dirk mit meinem Zeichenauge sehe.

Wow. Verdammt ist der Kerl hübsch. Objektiv hübsch. Und wenn er dann noch seine Flirtfähigkeiten anknipst – kein Wunder, dass andere ... Ich schiebe den Gedanken vehement beiseite. Außerdem habe ich es ja gerade nicht mit Bela, sondern mit Dirk zu tun. Obwohl der war damals auch schon ...

Schnell beginne ich ein paar Striche auf das Blatt zu skizzieren.

„Soll ick mich irgendwie besonders hinsetzen?", fragt Dirk leise.

„Mhm, du kannst ... Setz dich mal rücklings auf den Stuhl." Er dreht ihn und der Stuhl scharrt über meinen Dielenboden. „So?" Sein Ausdruck wirkt schüchtern und auf einmal ist die Illusion merkwürdig perfekt, trotz der viel zu langen Haare.

„Oh ..." Ich schlucke.

„Is .. äh, is dit so okay?"

„Ja." Ich schlucke nochmal. „Ja, sehr."

Mann, wir hätten das wirklich alles schon viel früher haben können miteinander. Damals als es Bela noch nicht ganz so sehr um weißes Pulver und Sex mit hunderten von Leuten gegangen ist.

Um mich von der Tragik abzulenken, beginne ich zu zeichnen, versinke in seinem Gesicht wie in einer Landschaft, in den Strichen auf dem Papier. Der junge Dirk erwacht darauf zum Leben. Die Zahnlücke fällt mir nochmal besonders auf, als er mich breit, aber ein wenig verlegen anlächelt. Dann ist sie wieder weg und er kreuzt die Arme vor seiner Brust, wird jünger, schüchterner, so wie er früher manchmal war, als wir uns kennengelernt haben.

Sein kantiges Kinn, seine schwarz umrandeten Augen und seine große Nase, die ihm ein leicht verwegenes Aussehen verleiht. Wenn er mich nich so ernst, fast ein wenig traurig oder melancholisch ansehen würde, dann könnte ich sein schiefes Lächeln einfangen, dass ich so liebe. Durch seine Ernsthaftigkeit kann ich nicht mehr einschätzen, was hier Spiel und was echt ist, verliere mich selbst im Zeichnen und der Zeit.

Ich führe den letzten Strich an seiner Augenbraue zu Ende. „So." Ich setze mich aufrechter hin, als würde ich aus einer Trance erwachen. Dirk sieht mich vom Block her an und neugierig vom Stuhl vor mir.

„Fertig?" Er streckt sich mit einem kleinen Seufzer, steht langsam auf und kommt zu mir hinüber. „Zeig mal." Zögernd setzt er sich zu mir auf`s Bett und lehnt sich vorsichtig ein Stück näher zu mir. Seine Wärme vibriert wie elektrische Spannung über meine Haut.

„Oh." Mit einem andächtigen Blick kriecht er ganz zu mir auf`s Bett und lehnt sich neben mich an die Wand. „Dit bin ja wirklich ich."

Unsere Arme berühren sich ganz leicht und obwohl das ja alles nur ein Spiel ist, jagt dieser minimale Kontakt durch mich wie ein leichtes Fieber. Mir wird richtig heiß, vor allem mein Gesicht. Das kenne ich so intensiv nur aus der Pubertät.

„Wow." Verzückt sieht er auf meine Skizze. „Cool." Er beugt sich noch ein Stück näher, als würde er die Zeichnung begutachten und seine Hand landet auf meinem Oberschenkel. Ganz leicht nur.

Ich ziehe leise die Luft ein, aber er hat es dennoch gehört. Er dreht den Kopf. „Dit is echt gut gewordn."

„Mhm."

„Allet okay mit dir? Du bist auf einmal so still ..."

Ich lege vorsichtig meine Hände über meinen Schoß, um zu verdecken, was seine Berührung mit mir macht, aber genau das lenkt Dirks Blick auf diese Stelle.

„Oh ... Is dit ... wegen mir?" Dieses scheue Lächeln. Es wandelt sich, als er vorsichtig mit seinen Fingerspitzen über meinen Oberschenkel fährt. „Magste dit?" Zum ersten Mal hier in meinem Zimmer wird sein Blick auf mir etwas intensiver.

Ich nicke und mein Gesicht fühlt sich immer noch nach Feuer an.

„Hey, dit is nüscht, wofür de dich schämen musst. Is doch wat janz natürliches", sagt er leise und leckt sich über die Lippen. „Hey, Jan? Haste ... Haste dir schon mal mit jemand einen runter geholt?"

Allein wie er es fragt, zieht durch mich wie eine Feuerschneise. Ich schüttel langsam den Kopf. In mir kämpft die Schüchternheit des 16-jährigen Jans mit dem sehr realen Begehren des 20-jährigen.

„Willste?"

Ich schlucke, nicke langsam.

„Sicher, Jan?" Kurz blinkt Bela mich an, dann sitzt wieder Dirk neben mir. Seine Pupillen sind riesig, sein Blick auf mir ist scheu und intensiv zugleich. „Is dit echt okay?"

„Mhm", antworte ich. „Ja. Ick finds ziemlich ..."

„Heiß?" Ohne den Blickkontakt zu brechen, fährt Dirk über seine Jeans. „Ick och", seufzt er mit einem kleinen Stöhnen.

Mein ganzer Körper brennt, gleichzeitig kann ich mich nicht bewegen, halte die Luft an, als er über seinen Reißverschluss streicht unter dem sich sehr deutlich sein Ständer abzeichnet. Er löst mit einem metallischen Klappern seinen Gürtel, den obersten Knopf seiner Jeans und ... Er fährt mit seiner Hand hinein. Ein leises Seufzen und sein Kopf sinkt gegen die Wand hinter ihm, dann ganz leicht an meine Schulter. Er schließt für einen Moment die Augen.

Ich bin unsicher, wo ich hinsehen darf. Alles macht mich an, wie er sich auf die Lippen beißt, die Bewegungen seiner Hand in seiner Hose. Er öffnet wieder die Augen.

„Willste gar nich? ... Also, du kannst och einfach nur gucken, wenn de magst. Is och okay." Wieder dieses schüchterne Lächeln, aber aus so glänzenden Augen, dass ich ihn verdammt nochmal küssen will, aber irgendwie gehört das gerade nicht zu unserem Spiel.

Ich knöpfe langsam meine Jeans auf, gleite in meine Hose und ... „Mhmmm!" Ich muss mir auf die Lippen beißen, um nicht laut aufzustöhnen. Verdammt, ist das gut. Gleichzeitig seltsam. Ich hab mich noch nie selbst vor ihm angefasst. Ich spüre seine Augen auf mir und meine Wangen glühen.

Er dreht seinen Kopf noch ein Stück, vielleicht um besser sehen zu können. So unschuldig sein Blick. Und so angetörnt. So kann echt nur Bela, Dirk aussehen.

Sein Blick sucht meinen. „Is es gut?" Sein Atem fegt schneller gegen mein Schlüsselbein.

„Ja", stöhne ich. Das Spiel ist ... keins mehr.

Dirks Augen streichen über mein Gesicht, er drückt seine Nase gegen meinen Oberarm und sein Atem dringt in schnellen Stößen heiß durch mein T-Shirt, auf meine Haut.

„Jan ...." Schlagartig hält er inne. „Ick glaub, ick hab unten `ne Tür gehört", flüstert er an meinem Ohr. Er sagt es so glaubhaft, dass ich auch meine etwas zu hören. „Ja, dit war ganz klar die Tür. Aber, hey, ick ... ick will nich aufhören."

Ich lausche. Nichts. Er sollte Schauspieler werden.

„Ick och nich", stöhne ich und meine es ernst – trotz des Schrecks. Oder gerade deswegen?

Er mustert mich mit glitzernd-erregten Augen, dreht sich noch ein Stück zu mir. „Okay, besser wir sind leise." Er legt mir seine Hand über den Mund. Sehr kontraproduktiv. Ich stöhne hart auf und er verstärkt den Druck, verstärkt auch den Druck seines Körpers an meinem. Ich fühle die Bewegungen seines Arms an meinem,  seinen Rhythmus. Es zieht so tief in meinem Bauch.

Seine volle Aufmerksamkeit liegt auf mir, er verfolgt jede Bewegung, saugt jeden Laut auf, den ich von mir gebe. Seine Finger rutschen über meine Jeans, auf meine Hand, die ich in der Hose habe.

„Ick will dich fühlen. Einfach nur so. Is das okay?"

„Ja." Mein Kopf sinkt an seinen. Ich drehe mich ein Stück, atme seinen Duft ein. Mein ganzer Körper spannt sich an und ich knirsche mit den Zähnen vor lauter zurückgehaltenem Stöhnen.

Er nimmt seine Hand von meinem Mund, beugt sich an mein Ohr und flüstert. „Oh, Jan ..." Mir entkommt ein hilfloses Wimmern und ich presse meinen Kopf härter gegen seinen, dränge mich gegen seine Schulter, seine Hand auf meiner.

Ich atme nur noch flach. Die Spannung in meinem Körper nimmt unaufhaltsam zu. Es ist nicht mal die Bewegung, denn die ist durch die Jeans ziemlich eingeschränkt. Es ist das Spiel zwischen uns, sein Atem an meinem Hals. Ich drehe mein Gesicht und seines ist so nah, dass seine Augen nur ein hellgrünes Glänzen sind und ich will ihn küssen, aber es bleibt bei den stürmischen Atemstößen gegen meine Lippen.  

Ich lege meine freie Hand über seine, presse sie runter auf meine Hand in der Hose, höre sein zustimmend gekeuchtes „Ja". Vor meinen Augen verschwindet mein Zimmer. Ich höre mein eigenes Stöhnen, spüre, wie Dirk seine Hand wieder über meinen Mund presst, so gut. Ich beiße hinein und höre ihn hart aufkeuchen.

Mein ganzer Körper bäumt sich auf, dann bricht die Anspannung in mir zusammen und pulsiert in Wellen durch meine Muskeln. Atmen. Einfach nur atmen.

Feucht. Und klebrig. Aber gerade schaffe ich es nicht, genervt zu sein über diesen Fluch. Mit einem tiefen Ausatmen sinke ich zurück gegen die Wand, gegen Bela, ziehe meine Hand aus der Hose und wische sie daran ab.

Nach ein paar Augenblicken öffne ich vorsichtig die Augen, blinzel zu Dirk hinüber. „Bist du ...?"

Er schüttelt den Kopf. „Grad nich so wichtig. Wichtig is nur ..." Er sieht mich fast andächtig an. „Verdammt, bist du schön, Jan", flüstert er und ich kann mich nicht mehr zusammen reißen.

Ich rolle mich aus meiner Position hoch und knie mich über seine Beine, seinen Schoß. Sein Gesicht ist auf einmal wieder ganz nah vor meinem – immer noch so jung und unschuldig und offen. „Kann ick dir dabei zu sehen?"

„Dit war so die grundlegende Idee", grinst er, ein bisschen mehr Bela als Dirk. „Sollte nich lange dauern. Du has mich fast mit rüber gezogen." Nur peripher bekomme ich mit, dass sich seine Hand in der Jeans wieder bewegt, seine andere hat er in mein T-Shirt geklammert und zieht mich näher an sich.

Ich sehe auf ihn hinunter, verfolge jedes Stöhnen, wie seine Bewegungen schneller werden. Seine Augen sind halb geschlossen, aber fixieren mich dennoch mit seinem hellgrünen Katzenblick. Ich halte seinem intensiven Blick stand.

„Dirk? Kann ich dich küssen?"

„Ja." Es ist mehr ein Stöhnen als Worte. „Bitte, bitte, küss mich."

Ich senke meinen Mund auf seinen, spüre seinen schnellen Atem auf meinen Lippen. Sein Mund ist heiß an meinem. Ich lecke über seine Lippen, küsse ihn ungestüm und ein wenig ungelenk, als wäre dies wirklich unser erster Kuss, weil es zum Spiel gehört, aber auch weil es wirklich unser erster richtiger Kuss ist, seit ...

Kurz zieht es böse durch mich, warum ich ihn so lange nicht gefühlt habe, aber dann ist da nur noch er und ich und wir beide. Ich öffne seinen Mund mit meinen Lippen, meiner Zunge ... so verdammt vertraut.

„Bela ..." Meine Hände landen in seinen Haaren und ich ziehe ihn an mich, so fest, als wollte ich eins mit ihm werden.

Er bäumt sich unter mir auf, seine Hände an meinen Hüften, er zieht mich auf seinen Schoss. Sein Atem setzt aus, kommt umso schneller zurück. „Jan ... Oh ... Oh ...", stöhnt er in den Kuss. Seine Hände klammern sich an meiner Hüfte fest und er zieht mich fast schon gewaltvoll gegen sich, saugt sich an meinem Hals fest. Wenn ich nicht schon gekommen wäre, dann ....

„Verdammt, hab ich dich vermisst", seufzt er, immer noch vollkommen außer Atem.

„Hallo?" Aus dem Treppenhaus dringt dumpf eine Stimme zu uns hinein. „Ist da jemand?"

Wir starren uns mit riesigen Augen an.

„Ick dacht, deine Mutter is im Urlaub", wispert Bela.

„Is se ja och", flüstere ich zurück. „Ick gloob, dit is Frau Schmehling, unsere Nachbarin, die die Blumen gießt."

Ich kann sehen, wie das Gelächter in Bela hochsteigt und das ist ganz, ganz ungünstig, denn nun prickelt es auch in mir hoch wie in einer zu heftig geschüttelten Seltersflasche.

Verzweifelt lege ich einen Finger an meine Lippen. Wir lauschen hinaus in den Flur und schließlich hören wir ein Gemurmel, das klingt wie „Hab mich wohl verhört" und Schritte – die Treppe hinunter.

Langsam entkrampft sich mein Körper vor Angst und unterdrücktem Lachanfall. Ich sehe zu Bela: „Ich liebe dich!" Mir war nicht mal klar, dass diese Worte herauskommen würden, aber ...

In Belas Augen glänzt es. Er wirkt wirklich gerührt und ich muss auch schlucken, weil meine Kehle auf einmal so eng wird.

„Ich dich auch. Sehr." Er küsst mich auf die Stirn, dann lässt er sich zur Seite fallen, zieht mich mit und kuschelt sich an mich. Ganz weich liegt er in meinen Armen. Keine Spur vom Bela, der nie genug bekommen kann.

„Ick hab dit so vermisst, du Idiot", murmel ich an seiner Brust. „Aber ... Ick befürchte, ick war och `n ziemlicher Arsch, wa?"

Ein zaghaftes Nicken. „Kannst echt ganz schön kalt sein, mein Lieber."

„Wenn ick verletzt bin, dann ..." Ich halte die Luft an, weil das alles echt sehr intim ist, sogar mit ihm.

„Mhmmm. ... Jan? ... Dit ... Also, dit wird wahrscheinlich wieder passiern."

„Ick weeß", seufze ich tief.

„Ick hab dich so vermisst und es tut mir so leid, dass ick ..." Er streicht mir über die Wange. „Ick lieb dich. Ick befürchte, ick werd dich immer lieben." Er sagt es ganz leise, wie ein Geständnis.

Ich wünschte, ich könnte das auch sagen, das mit dem immer.



*
*





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LYRICS

die ärzte – Hurra  

Bugs Bunny – Das Publikum war heute wieder wundervoll  

The Suicide Machines - I Never Promised You a Rose Garden  

Bob Marley and the Wailers - Teenagers in Love  

The Feelies – Forces at work  


FANART

Portrait – Artwork von wolfdragon_tv  
Vielen Dank. Es ist echt so toll geworden!


ADDITIONAL SONGS

Lynn Anderson - I Beg Your Pardon, I Never Promised You A Rose Garden  

Glenn Campell – (I Never Promised You A) Rose Garden  

die ärzte – nur geträumt  



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Chapter 48: 1984 - Debil

Chapter Text

*




Einmal "Blue Monday" für die wunderbare Desi aka Rockybeachgirl!
Vielen Dank - für alles!





* Teenagers in Love *






1984 – Debil






30. Oktober – Niebuhrstraße 38 b, Charlottenburg

Beate hat einen Anrufbeantworter mitgebracht, der sofort unser Herz erobert – als neues Spielzeug.

Belas erste Ansage lautet. „Hallo? Ja, entschuldigen Sie, aber Sie müssen lauter sprechen. Ich – kann – Sie – leider – sonst – nicht – verstehen! ... Au! So laut nun auch wieder nicht."

Die Nächste spielen wir richtig mit Gitarre und Schlagzeug ein: „Wir – sind – die – Roboter. Düm-dü-dü-düm!"

Den übernächsten Tag eröffnet Bela mit: „Polizeiinspektion Niebuhrstraße. Sie sprechen mit Oberwachtmeister Felsenheimer."

Am vierten Tag frage ich: „Was ist klein, schwarz, viereckig und macht ‚Piep‘? Richtig! Ein Anrufbeantworter ...“

Am fünften Tag spiel ich dem Anrufbeantworter eins von unseren Liedern vor.

Leider, leider ist genau das der Tag, an dem Beate bei uns Zuhause anruft, aber blöderweise keiner von uns beiden da ist.


„Jungs, so geht das nicht.“

Bela und ich stehen bedripst wie zwei Schuljungen vor ihr im Flur.

„Außerdem – ausgerechnet das Lied? Euch ist schon klar, dass - falls ihr denn in einer höheren Liga spielen wollt – ihr auch ein gewisses Mass an Professionalität abliefern müsst?“

„Aber dit is ja och auf der neuen Platte und außerdem - so sin wa halt“, stammelt Bela und ich füge hinzu: „Dit is einfach unsere Stärke.“

„Es macht durchaus euren Charme aus – ja.“ Beate lächelt mich an. „Aber mal ehrlich, was wenn hier einer der CBS-Mitarbeiter*innen anruft? Bei denen habt ihr eh schon euer Label weg.“

„Genau“, grinst Bela. „Endlich ham wa mal ´n Label weg.“

Ich weiß genau, dass ich jetzt nicht zu ihm rüber sehen darf, denn sonst ... Unsere Blicke treffen sich und wir prusten beide los.

„Ihr nehmt wirklich nichts ernst, oder?“ Auch Beate muss schmunzeln.

„Doch“, sage ich und meine es auch so. „Die Musik.“

„Und zwar sehr“, fügt Bela hinzu und wir nicken beide.

„Okay, ihr Zwei. Das seh ich ähnlich und deswegen will ich euch ja zum Erfolg verhelfen. Aber – ab jetzt Finger weg vom Anrufbeantworter.“ Sie sieht uns beide sehr lange an. „Verstanden?“

Wir nicken wieder beide, werfen uns aber hinter ihrem Rücken einen Blick zu, als sie sich umdreht und in mein – ihr Zimmer geht.

Schade. Wirklich schade. Wir hatten noch nicht mal mit unserem Markenzeichen begonnen – den Walwitzen.

Beate dreht sich nochmal um und wir versuchen beide unschuldige Mienen aufzusetzen. „Ach, Jim will übrigens die Photos für euer neues Album machen und auch noch ein paar Promo-Photos von euch.“

Bela sieht mich an. „Krass.“

„Ja. Es tat ihm irgendwie leid, dass er nicht mehr für euch tun konnte. Eigentlich hätte er wohl gerne euer Management übernommen, aber ... Er ist einfach mit Nena, Spliff und den anderen Bands schon voll ausgelastet. Also, das ganze steigt am Mittwoch im Zoo.“

„Im ... Zoo?“ Ungläubig sehen Bela und ich uns an.

„Genau. Um Punkt 12 Uhr.“


Berliner Zoo, Hardenbergplatz

„Dann stellt euch mal so nebeneinander“, gibt Jim uns Anweisung. „Super. Das Licht ist grade echt total gut. ... Und schaut mal so, wie ihr euch auf der Bühne als Charakter wahrnehmt. ... Hans, ja, das sieht gut aus, wenn du das Gesicht so in Falten ziehst. Wunderbar.“

Ich höre Jims Kamera mehrmals hintereinander klicken. „Super, Bela. Wirkt etwas unnahbar der Blick, aber das passt auch zu dir.“

Ich bin etwas erstaunt, dass das zu Bela passen soll, dem nahbarsten, extrovertiersten Menschen, den ich kenne. Bin nicht eigentlich ich eher der Unnahbare, selbst dann wenn ich es eigentlich gar nicht möchte?

Gerade bin ich vor allem aber auch unnahbar, weil – ich habe Kopfweh und das nicht zu knapp. Aber laut Beate sollen wir uns ja professioneller geben. Also reiße ich mich zusammen.

„... ... Jan? ...“ Jim kommt hinter seiner riesigen Kamera hervor und sieht mich prüfend an. „Farin?“

„Ähm, du kannst gerne Jan sagen.“ Ich mag ihn. Allein schon sein Name, klingt irgendwie nach weiter Welt und Hollywood: Jim Rakete.

Gerade aber mustern mich seine wachen Augen etwas kritisch. Er scheint nicht zufrieden zu sein mit dem, was er sieht. „Kannst du vielleicht ein bisschen mehr ...?“ Er versucht mein Grinsen nachzuahmen, aber an ihm wirkt es etwas bizarr, weil er ansonsten Seriösität aus jeder Pore ausstrahlt.

Ich versuche mein Markenzeichen abzurufen, aber scheitere grandios. Mein Mund will nicht, mein Körper will nicht, ich will nicht.

„Äh, du bist doch der Strahlemann der Band? Oder habe ich das falsch verstanden?“

„Mhm. Keene Ahnung.“ Ich schaffe es nicht mich zu kontrollieren, bin deswegen noch genervter, was alles noch schlimmer macht, gerade weil Jim künstlerischer Portrait-Photograph ist und zwar ein professioneller. Nicht wie diese Clowns von der Bravo. „Vielleicht.“

Jim kommt zu mir hinüber und legt mir leicht eine Hand auf die Schulter. „Alles okay mit dir?“

„Ja, schon. Ick ...“ Mein Magen grummelt so laut, dass sein Blick auf meinen Bauch wandert.

„Tschuldigung. Dit ... Ick hab heut noch nüscht gegessen.“

„Wie nichts gegessen?“

„Na, also, ick hab halt nich gefrühstückt ... oder so.“ Bela und ich haben mal wieder kein Geld. In unserem Kühlschrank sind nur Beates Sachen drin, aber an die gehen wir nicht ran. Wenn wenigstens endlich mal das Honorar für Richy Guitar überwiesen würde.  

„Das ... das tut mir leid.“ Jim sieht richtig betroffen aus und nun knipse ich aus lauter Peinlichkeit schnell meine Notreserve an. „Schon okay“, grinse ich. „Kein Problem, ich hol mir einfach nachher was.“ Von welchem Geld auch immer.

„Passt mal auf, Jungs, wir ziehen das hier jetzt schnell durch und dann lad ich euch zum Essen ein.“

„Aber das ...“ Es ist mir unangenehm. Als ob ich schnorren würde. Was für ein dummes Punker-Klischee.

„Keine Widerrede“, sagt Jim mit sehr leiser Autorität. „So, und nun will ein ein echtes Jan-Grinsen sehen.“ Er lächelt mich an, ich lächel zurück und er drückt ab.

„Na, also.“ Es tut gut, wenn er mich so ansieht, als wäre er stolz auf mich.


Hotel Schweizer Hof, Budapester Str. 25

„Herr Rakete! Wie schön, dass sie uns mal wieder beehren.“ Der Kellner in seiner weißen Livree-Uniform ist kurz davor einen Diener zu machen. Dann fällt sein Blick auf Bela in seiner geliebten Lederjacke, der sich belustigt umsieht, dann auf mich. Ich bin kurz versucht mein Nietenarmband unter dem Pulli zu verstecken, dann straffe ich mich.

Unter den prüfenden, geschockten, entsetzten, angeekelten, empörten, eindringlichen Blicken aller Gäste werden wir zu einem Tisch geführt. Ich sehe Bela an, dass auch er sich nicht so richtig wohlfühlt. Einer älteren Frau mit lilagrauen Haaren zwinkert er trotzdem zu. Sie bekommt bei unserem Anblick den Mund nicht mehr zu und nun macht es auch mir etwas mehr Spaß hier zu sein.

Nur Hans scheint keine Probleme zu haben. Wahrscheinlich denkt er, dass ihm das alles absolut zusteht. Oder ist das von seiner reichen Familie gewohnt. Ungelenk wirkt er dennoch zwischen dem feinen Porzellan, aber das liegt wahrscheinlich an seiner Größe. Geht mir oft auch nicht anders.

„Bitte schön.“ Jim weist zu einem Büffet, dass die Bezeichung Schlaraffenland verdient hat.

Bei meinem ersten Gang dorthin bin ich noch so unsicher, dass ich mir den Teller nur halb voll mache mit Rührei, Käse und einem frischen Brötchen.

„Die ham Currywurst!“ Bela betrachtet andächtig, als stünde er vor einem Schrein, einen Warmhaltecontainer unter dem ein kleiner Spiritusbrenner steht. „Geil.“

Als ich im erneuten Slalom der Blicke zu Jim zurückkehre, wirft der nur einen Blick auf meinen Teller und schüttelt den Kopf: „Du darfst da echt zu langen, Jan.“ Er zeigt unauffällig auf eine ältere Dame, die eine Pyramide aus Essen zu ihrem Tisch balanciert. „Hau rein, okay? Und das mein ich ernst.“

„Okay“, nicke ich und versuche das Rührei nicht zu schlingen, sondern langsam zu essen, damit mein Magen nicht noch mehr weht tut. Das warme Essen ist phänomenal und meine Anspannung lässt ein wenig nach.

„Erzählt mir mal `n bisschen was über euch.“ Jim sieht uns neugierig an. „Meine Sekretärinnen haben mir mit eurem „Sommer, Palmen, Sonnenschein“ echt so einen Ohrwurm verpasst vor einem Jahr.“

Ich grinse ihn an und sehe dann schnell zu Bela, weil mich das Kompliment von Jim fast ein wenig schüchtern macht.

„Na, ick hab in Spandau in `ner Punkband gespielt un als wa unsern Gitarristen verloren ham, is mir der Karpeike hier über ‘n Weg gelaufen.“ Belas Blick auf mir ist so liebevoll, dass ich für einen Moment das viel zu schicke Hotel mit seinen glotzenden Leuten, sogar Jim vergesse.

Bela beugt sich zu mir rüber. „Mann, sahst du an dem Abend gut aus“, flüstert er mir ins Ohr. „Tuste immer noch!“

Mir wird nicht nur vom Essen warm. Ich spüre unter dem Tisch versteckt seine Hand an meiner. Er streicht leicht über meine Finger bis ich meine Hand für ihn öffne. Belas ist viel breiter, dennoch verschwindet sie fast in meiner. Vertraut. An seiner Seite bin ich auf eine Art geborgen, die wir als Freunde auch hatten, aber nicht in der Intensität. Bela drückt einmal fest zu und auf einmal bin ich mir wieder bewusst, dass wir gerade nicht allein sind, sondern in der weißen Welt des Schweizer Hofs Jim gegenüber sitzen..

„Ich muss gestehen, dass ich mich in eure Texte erstmal reinhören musste. Das ist zum Teil schon echt sehr abstrus. Bei „Anneliese Schmidt“ war ich aber direkt von eurem Harmoniegesang verzaubert, nur dann … Wer hat von euch beiden nochmal den Text geschrieben?“

„Äh, dit war icke.“

„Warum isst der Ich-Erzähler nochmal genau das kleine Mädchen auf?“

„Also, ick mag dit halt, wenn’s so `nen absurden Schluss gibt. Mich langweilt dit einfach voll, wenn allet so berechenbar is.“

Jim mustert mich mit seinem wachen Blick. Schließlich nickt er. „Ja, das könnt ihr echt gut. Inzwischen schätze ich das auch an euren Liedern. Hab sie ja oft genug gehört in meiner Fabrik. Live sollt ihr sogar noch besser sein.“ Jim sieht uns neugierig an.

„Naja, Farin, also Jan ...“ Bela muss erstmal fertig kauen, um weiter reden zu können. Unter dem Tisch drückt er meine Hand. „Jan un dick spielen uns auf der Bühne halt so die Bälle zu. Manchma quatschen wa echt `n bisschen viel. Einer meinte mal, dass er dachte, dass er in `nem bizarren Kabarett mit Musik gelandet ist“, kichert er.

„Und du?“ Jim blickt zu Hans, der bisher noch nicht allzu viel gesagt hat.

„Na, ich spiel Bass und kümmere mich so ein bisschen um die Geschäfte.“

„Ach ja? Ich dachte, dass macht Beate für euch.“ Jim sieht ihn fragend an.

„Ja, nein, schon, aber ich studiere BWL und hab da schon auch Ahnung von.“

Mein Magen meldet sich. Und dieses Mal nicht wegen Hunger oder weil Hans etwas sehr dick aufträgt, aber – ein Studium. Mache ich wirklich gerade alles richtig?

„Bist du deswegen so selten bei den Aufnahmen zur neuen Platte im Studio?“ Jim sieht ihn aufmerksam an. „Also, das hat Beate mal so nebenbei angemerkt.“

Hans seufzt. „Ähm… Ja. Ja, genau.“

„Ja, genau?“ Bela mustert ihn scharf. „Dit is doch `ne voll miese Ausrede.“

Mir liegt auch einiges auf der Zunge, aber ich mag diese Streits nicht und gerade vor Jim, der uns gerade erst kennenlernt, will ich das nicht.

„Ähm, Jim? Sag mal, du hast doch Nena entdeckt?“, wechsele ich das Thema.

„Wie man’s nimmt. Eigentlich hat sie sich mehr selbst entdeckt. Ich war nur Steigbügelhalter. Ihr habt übrigens eine ähnlich gute Energie.“

„Äh, danke.“

Extrem vollgestopft wanken wir aus dem Schweizer Hof. So satt war ich nicht mehr, seitdem ich von zuhause ausgezogen bin. Aber angesichts meines Kontostands muss das wohl auch für ein paar Tage ausreichen.


28. Oktober – Niebuhrstraße 38 b, Charlottenburg

Ich klingel Sturm, hämmer gegen die Tür, damit Jan oder Beate schnell aufmachen, weil ich tierisch pissen muss. Dummerweise hab ich meinen Schlüssel vorgestern bei der Abschlussfeier vom Film verloren.

Als die Tür dann aufgeht, schnell ich einen halben Meter zurück, weil ... „Öh ... Ähm, ziemliche Stilveränderung, würd ick sagn.“

Jan sieht wirklich sehr anders aus mit blauen Haaren und ich komm mir vor wie so `ne überbehütende Mutter, die es schrecklich findet, dass sich ihr Sohn die Haare gefärbt hat.

Irgendwie sieht es ja auch gut aus – Er wird für mich immer gut aussehen. – aber gerade ist er nicht mehr mein Farin, mein Jan und es tut echt ein bisschen weh.

„Und ... äh, warum?“ Ich deute auf seinen Kopf.

„Mir ...“ Er seufzt. „Mir war irgendwie nach wat richtig Drastischem, wegen ...“ Er spricht nicht weiter. Auch wenn er es nicht sagt, so ahne ich, dass es um die letzten Wochen geht. „Aber ick wollt se och nich abschneiden. Also ...“

„Abschneiden? Arrgh.“ Ich fass mir an die Kehle. „Sag doch sowas nich.“ Vorsichtig streck ich meine Hand aus und fahr durch seine verfilzten, blauen, Strähnen, als wär die Farbe giftig. „Kannste bitte einfach nie deine wunderschönen Haare abschneiden? Außer hinten.“ Ich fahr über seinen ausrasierten Nacken. „Dit mag ich echt gern, weil dit so schön in der Handfläche kitzelt.“

„Ick kitzel dich och gleich.“

Ich spring unelegant zur Seite. „Kannst dit bitte machen nachdem ick pissen war, sonst ...“ Ich flüchte an ihm vorbei Richtung Klo.


Als Beate nach Hause kommt, ist der Aufruhr ein wenig größer. „Also, das war jetzt echt mal keine gute Idee, Jan!“

Ich kann zwar Beate nur zustimmen, aber so tadelnd, wie sie ihn ansieht, tut er mir gerade eher leid. Komisch. Ich dachte, er wäre ihr besonderer Liebling von uns Dreien.

„Immerhin waren die blonden Haare dein Markenzeichen. Gerade nach Richy Guitar. Du darfst den Wiedererkennungswert von so etwas nicht unterschätzen. Die Fans identifizieren daran nicht nur dich, sondern auch sich selbst damit.“

„Mit meinen Haaren?“ Jan legt den Kopf schräg und sieht Beate unschuldig an, aber darunter ...

„Komm, jetzt tu nicht so, Jan. Du bist doch nicht auf den Kopf gefallen. Ihr verkauft nicht nur eure Musik an sie, sondern auch euch selbst wie – eine Art Produkt.“

Die Spannung in Jans Schultern nimmt zu. Er kann es gar nicht haben, wenn Leute ihm sagen wollen, was er zu tun hat.

„Wir sollten eine Stylingkonferenz machen“, schlägt Beate vor.

„Eine was?“ Jan und ich sehen uns an.

„Na, eine Stylingkonferenz, wo wir festlegen, was euer Look ist.“

„Aha“, macht Jan.

„Ich hab heute in der Stadt so einen blauen Brokatstoff gesehen. Aus dem könnten wir passende Jacken machen lassen für euch drei.“

„Aha.“ Jan mustert sie.

„Natürlich nur wenn ihr wollt.“

„Okay.“ Jan entspannt sich merklich wieder neben mir.

„Und ich hätte noch eine Bitte an dich, Jan!“

Sofort fährt die Anspannung wieder in seinen Körper.

„Könntest du bitte – Bitte! – ein anderes Lied als „Blue Monday“ auflegen? Ich habe es in den letzten Tagen ungefähr 57 Mal gehört.“


3. November – Audio-Studios, Ostpreußendamm 137-138, Lichterfelde

„Ey, was für üble Säcke und feige Verräter“, brülle ich, kaum dass ich die Tür zu den Audio-Studios aufgerissen habe.

„Oh, der Herr Graf ist auch schon wach“, kommentiert Härtl, der spießige Tonigeneur. „Was für ein seltener Anblick.“

„Brennt`s irgendwo oder was is los?", fragt Hans.

„Nee, noch nich! Aber gleich! Ick fahr jetz rüber nach Düsseldorf und zünd denen die Bude an!“

„Was?" Auch Jan steht auf`m Schlauch.

„Beate hat mir vorhin gesagt, dass die EMI die Hosen gesignt hat."

„Oh.“ Jans Augenbrauen gehen hoch. „Ernsthaft?"

„Seh ick aus, als ob ick Scherze mach?"

„Äh, nee. ... Scheiße, ey."

„Und zwar schon vor verdammten drei Monaten. Dit war allet `n abgekartetes Spiel. Von wegen ick verhelf euch zu `nem Plattendeal. Wenn ick diesen Hülder irgendwo seh oder den Scheiß-Campino, dann gibt`s Kloppe. Aber so richtig."

„Hey, Bela. Eines Tages, da werd`n wir uns an den Düsseldorfern rächen.“ Jan nickt mir grimmig zu und ich liebe seinen Kampfgeist. „Och wenn die zuerst den Plattenvertrag hatten – wir war`n zuerst in der Bravo.“ Jan grinst.

Genau. Rache ist süß. Erfolgreiche Popstars zu werden, wär schon echt geil. Einfach auch um der Scheißszene den Mittelfinger zu zeigen und vor allem den Arschgeigen von den Hosen.

„So!“, hängt sich seine Gitarre mit dem roten Kreuz drauf um. „Wir machen jetzt verdammt noch mal diese Platte auf und dann fegen wa die Düsseldorfer im Weihnachtsgeschäft einfach bei Seite.“

„Exakt!“ Ich setze mich hinter mein Schlagzeug. Nett, dass ich nicht wieder durch einen Studiomusiker ersetzt worden bin. Allerdings wenn Hans sich weiterhin so rar macht, dann muss jemand anderes den Bass spielen. Mann, ey. Der Typ nervt mich einfach viel zu oft.

Ich seh hinüber zu Jan, weil der auf einmal so still ist. Auf dessen Stirn zeigt sich so eine steile Denkfalte. „Ey, weißte was, Bela? Wir ham ja noch Zeit. Da könn wa einfach noch `n paar richtig coole Jingles aufnehmen. Und zwar für jeden Radiosender individuell.“

Der Toningenieur tippt natürlich sofort auf seine dämliche Armbanduhr und brummelt: „Ihr ihmmer mit euren Extras.“ Der Typ ist echt ein absoluter Korinthenkacker. Jan macht ihn jedes Mal hinter seinem Rücken nach, wenn er wieder auf seine Uhr deutet: Feierabend. Um Punkt 18 Uhr. Wer stellt so jemandem im Rock `n Roll-Business ein?

„Wir sin halt effektiv“, grinst Jan ihn an, aber es wirkt eher als würde er die Zähne fletschen.

„Un kreativ“, füge ich hinzu. „Mehr als die Bands, die Se hier sonst so zu Gesicht bekommen.“

Unwillig nickt dieser Härtl. „Hm, tatsächlich hat noch keiner einfach so statt der angekündigten 3 Songs 12 eingespielt. Okay, Jungs, aber eure Jingles müssen noch vor 18 Uhr aufgenommen sein.“

Wenn uns jemand so kommt, dann funktionieren Jan und ich noch besser. Als Team sind wir einfach unschlagbar. Eine Stunde später sind alle Jingles auf Band gebannt und sogar Monsieur Härtl hat ein wenig geschmunzelt an seinem Pult.

Genau als wir fertig sind, kommt Hans ins Studio geschlurft.

„Zu spät!“, sagen Jan und ich wie aus der Pistole geschossen und klatschen dann ab.

„Obwohl – nich ganz“, fällt mir ein. „Beate hat gesagt, wir müss`n uns heut och noch `n Titel für die Platte überlegen. Also, ick find dit „Dreckig, feige und gemein“ aus El Cattivo super für uns als Trio.”

Hans grinst mich etwas zu schlau an. „Dann bist du wohl gemein, oder?“

„Und du dreckig“, schieß ich zurück. „Ey, wenn ick mich nur an den Duft deiner Schweißfüße im Tourbus erinner, muss ick kotzen.“

„Sag ich doch: gemein!“ Hans sieht Jan triumphierend an, aber der runzelt nur die Stirn.

„Und ick bin dann feige, oder wat?“ Er wirkt ernsthaft getroffen.

„Dit is ja nur so – na, so wie in dem Western „Das dreckige Dutzend” oder so.“ Ich leg ihm meine Hand auf die Schulter und seh ihn mit meinem „Büdde, büdde!“-Blick an.

„Aha. … Hmmm. ... Is schon irgendwie witzig, aber ...“ Schade. Jan springt nicht wie sonst voller Euphorie auf meinen Vorschlag an. „Also, ick weeß nich.. Hört sich irgendwie so `n bisschen ...“ Er grinst. „Beate würde sagen debil an.“


Eine Woche später ist klar, dass wir uns unseren Titel in die Haare schmieren können, denn „Geier Sturzflug“ haben jetzt ihre neue Platte angekündigt namens „Gemein, hinterlistig und verlogen“ und interessanter Weise haben sie auch Härtl, die olle Petze, als Toningenieur.

Was echt verlogen ist, ist diese Scheißplatten-Industrie. Aber an ihr vorbei kommen wir auch nicht. Vor allem nicht, wenn wir den Scheiß-Hosen den Marsch blasen wollen.


14. November – Tempodrom, Potsdamer Platz

„Ick hoff ma, dass Inge dit Honorar gleich zahlt.” Ich seufze. Dieses Hinterherjagen nach Kohle nervt einfach so tierisch ab. Gerade doppelt, denn wir brauchen auch welche zum im Ofen verfeuern. Wir haben schon zwei Winter oft im Kalten gehaust, aber Beate können wir das ja schlecht zumuten.

Jan stimmt in meinen Seufz-Chor ein. „Warum dauert `n dit bloß so lang mit der Richy-Guitar-Kohle?”

„Na, weil Michael `n unprofessioneller Stümper is.” Ich lass meinen Blick über die Mauer, die Brache schweifen. Das Zirkuszelt darauf wirkt surreal, als wäre es aus einer anderen Dimension hierher gebeamt worden.

„Oh, Mann.” Vermutlich unbewusst streicht sich Jan über den Bauch. Wahrscheinlich plagt ihn schon wieder der Hunger. Im Gegensatz zu mir, versucht er regelmässig was zu essen. Manchmal fährt er dafür extra nach Frohnau raus – natürlich ohne Uta seine Beweggründe zu erläutern.

Mir ist das nicht so wichtig, aber es ist dennoch scheiße, dass - während uns alle für reich halten – wir einfach nix auf`m Konto haben. Die CBS zahlt erst nach Abschluss der Studioarbeit. Umso mehr freuen wir uns über den Tempodrom-Job.

Irene tritt vor das Zirkuszelt und erblickt uns. „Na, meine Paderborner-Leidensgenossen?” Sie umarmt uns. Anscheinend fand sie unsere Playback-Show bei Jürgen von der Lippe so gut, dass wir nun eine Woche allabendliche Auftritte ihn ihrem Zirkuszelt haben.


Auf der Bühne sind gerade Michael, Michael und Ernst von „Der kleinen Tierschau“ aus dem Schwabenländle.

„Dit trauste dich nich.“

„DU traust dich nich.“

Jan und ich blitzen uns hinter dem Bühnenvorhang an.

„Dit wolln wa ja mal sehn.“ Jan schiebt den Vorhang beiseite, tritt unter den erstaunten Blicken von Michael 1 auf die Bühne und funkelt mich herausfordernd an. Seine Hand wandert an den obersten Knopf seiner Jeans. Seine Augenbraue geht spitz und spöttisch in meine Richtung nach oben.

Das kann ich nicht aut mir sitzen lassen. Genug getrunken hab ich zwar noch nich wirklich für diesen Scheiß, aber egal – Jan darf auf keinen Fall gewinnen.

Mit einem Satz bin ich ebenfalls auf der Bühne und nun beginnen wir in Windeseile uns unsere Klamotten vom Leib zu reißen und zum anderen hinüber zu werfen, wie bei einer wilden Jonglage.

Gar nicht mal so einfach Aus- und Anziehen zu koordinieren. Ich hab schon Jans Hemd an, dass bei mir eher wie ein Kleid wirkt. Nun bin ich bei meinem letzten Kleidungsstück angekommen – meiner Unterhose. Ich zöger, seh zu Jan, der ebenfalls kurz innehält.

Michael beginnt nun auf seiner Gitarre eine leicht verruchte Melodie für uns zu spielen und – es muss jetzt einfach. Ich schlüpf aus meiner Unterhose, hör das Publikum zwar johlen, aber seh nur Jan an, der etwas verschämt grinst. Schnell werf ich ihm meine Unterhose zu, er zieht seine aus, meine an. Die sitzt auf jeden Fall sehr knackig. Durch den Größenunterschied sind meine Hüften einfach doch `n Stück schmaler.

Er verzieht das Gesicht und ich muss grinsen. Wir verbeugen uns und verschwinden wieder hinter dem Vorhang.

„Au. Ich muss sofort wieder aus deinen Klamotten raus.“ Jan knöpft in Windeseile meine Hose auf. „Dit zwickt und zwackt echt an nich so angenehmen Stellen.“

Ich bin wegen Adrenalin und Lachen noch nicht wieder einsatzfähig. Deswegen beginnt Jan mich auszuziehen. Als er gerade meine oder vielmehr seine Hose öffnet, kommt einer der Beleuchter vorbei – und schüttelt nur den Kopf.

Anscheinend haben wir auch hier schon unseren Ruf weg.


26. November – Niebuhrstraße 38 b, Charlottenburg

Es klingelt.
Endlich.
Eigentlich sind wir Vetters notorisch pünktlich.

Bis zum SFB-Dreh sind es nur noch 45 Minuten und jetzt bin ich doch ein wenig aufgeregt. Beim letzten Mal für das „Teenagerliebe“-Video im Europa-Center hat Julch... Julia ihren Job mit dem kleinen Interview echt gut gemacht und der SFB wollte sie wieder dabei haben. Perfekt.

Manchmal macht es mir Angst, dass das mit den Ärzten sich so blöd auseinander leben könnte wie mit Soilent Grün, denn für mich ist die Band sowas wie Familienersatz. Es ist nicht nur der Traum vom berühmt werden, sondern es zusammen mit Bela zu machen, mit Musik und Texten, die wir beide lieben.

„Sorry, dass ick zu spät bin“, reißt Julia mich aus meinen Gedanken.

„Wo warste denn?“

„Oh, wow. Was is `n mit deinen Haaren passiert?“ Ihre Miene erzählt mir viel zu genau, was sie von meiner Wahl hält. „Naja, wäscht sich ja wieder raus.“

Es ärgert mich, dass alle den blonden Jan zurück wollen. Obwohl - ein bisschen vermisse ich ihn auch.

„Ick war bei Thomas und wir ... ham irgendwie die Zeit vergessen.“

Obwohl ich es eigentlich nicht will, sehe ich sie viel zu prüfend an, sie sieht auf ihre Uhr. „Also, wat is jetz? Ick dachte, wir müssen los.“

„Bela?“ Ich klopfe an die Badtür. Keine Reaktion. „Beeelaaa!“ Ich klopfe ein wenig lauter.

Meine Zimmertür geht auf und eine völlig verpennte Beate mit rotunterlaufenen Augen schaut heraus. „Was schreist du denn so rum?“

„Tschuldige. Ick wollte dich nich wecken, aber wir müssen echt los wegen dem Videodreh.“

„Oh, is der heute?“ Sie sieht mich erschrocken an.

„Äh ... Ja.“

„Oje. ... Ich weiß nicht, ob ich das schaffe. Ich war gestern ein wenig ... länger unterwegs.“

„Is doch keen Problem. Du musst da och nich mitkomm.“

Sie betrachtet mich. „Echt schade. Ich hätte schon gerne gesehen, wie euch die Jacken stehen – und so.“

„Na, dit kannste doch dann im Video sehen. Mensch, Bela! Wat is nu?“

Die Badezimmertür geht auf und Bela starrt mich hektisch an. Ein Teil seiner Haare steht wild vom Kopf ab, der Rest hängt zwanzig Zentimeter tiefer. „Mann, dit dauert noch, okay?“

„Lass dit doch die Profis vor Ort machen.“

„Gloobst du, ick fahr mit `nem halb toupierten Kopf durch Berlin?“ Er starrt mich entsetzt-empört an.

Hinter mir höre ich Julia kichern, was nicht besonders hilfreich ist.

„Ja, in dem Fall schon.“

Die ganze Fahrt über beschwert sich Bela, dass ich ihn menschenunwürdig behandle. Ängstlich sieht er sich in der U-Bahn um. „Ey, wenn mich jemand so erkennt, nee. Ick schwör dir – Rache ist süß.“

„Mhmm.“ Ich grinse ihn an.

Julia neben mir wühlt in ihrem Rucksack. „Ick hab übrigens sieben BRAVOS dabei, die ihr unterschreiben müsst.“

„Wat müssen wa?“ Bela sieht sie verwirrt an.

„Na, Autogramme geben.“ Sie wirft Bela eine milde Version ihres neuen „Bist du blöde?“-Blicks zu, den er erstaunt zur Kenntnis nimmt. „In Frohnau wissen doch alle, dass ick Farin Urlaubs kleene Schwester bin.“

„Aha“, macht er nur.

„Und  ..“ Ich habe fast ein wenig Angst, diese Frage zu stellen, aber ... „Wat ham denn deine Freundinnen zu unsern Fernsehauftritten gesagt?“

„Och, die fanden die ganz witzig.“

„Na, dann hatte dit doch wat jutet mit diesem Horror-Paderborn.“ Bela sieht auf einmal wieder sehr viel zufriedener aus.

Schade, dass ich seine verbesserte Laune gleich wieder senken muss. „Ähm ... wir müssen beim Dreh gleich nach dem vereinbarten Honorar fragen.“

„Echt?“ Schon ist das Lächeln wieder weg. „Dit is aber schon so `n bisschen .... uncool irgendwie.“

„Kannst ja ma bei der Wohnungsgesellschaft von deiner Mutter fragen, ob sie „cool“ och als Bezahlung für die Miete nehmen. Außerdem wovon willste denn Essen kaufen?“

„Und trinken! Und – äh, anders.“ Seine Augen werden groß. „Oje.“

„Na, lieber `n bisschen mehr essen als trinken und so, stünde dir besser zu Gesicht“, platzt es aus mir raus. Einen Moment später tut es mir auch schon wieder leid, aber – während unseres kleinen kalten Krieges hat er noch mehr abgenommen.

„`n Bier hat genau so viel Nährwert wie `ne Currywurst.“

Ich sehe zu Julia. „Bitte folge lieber den Ernährungsratgebern in den Dingern.“ Ich deute auf den Stapel Bravo in ihren Händen. „Als denen von Dr. B hier.“


Linientreu

Es ist wirklich eine wilde Menge Mädchen, die vor dem Linientreu auf uns wartet und mitten in dieser Menge erspähe ich ... Es ist wie ein Schlag ins Gesicht.

Ich habe sie seit über einem Jahr nicht mehr gesehen, aber ihr Gesicht ist immer noch so eingebrannt in mich, dass ... Wie kommt sie auf die Idee, dass sie hier erwünscht ist?

Ich lasse meinen Blick zu Gitti neben ihr schweifen, die mir ein zerknirschtes Lächeln zu wirft. Ich gehe einfach an Bine vorbei und schüttle nur den Kopf.

„Jan!“ Ihre Stimme schneidet auch nach der langen Zeit Wunden, Narben auf.

Bela scheint leider gar nicht mitzubekommen, was gerade mein Problem ist und begrüßt alle der anwesenden jungen Frauen mit Küsschen links und rechts.

„Was `n los, Jan?“ Julia hat sehr wohl mitgeschnitten, dass etwas nicht stimmt.

„Ach, es ... Eins von den Mädchen, ähm, Frauen hier ... Sie ...“ Scheiße. Ich will nicht, dass es mich so berührt, obwohl es eher Wuttränen sind.

Julia sieht mich auf einmal ganz mitfühlend an. „Is etwa Angelika hier? Ick hab se gar nich gesehn.“

„Nee. Die nich, aber ...“ Unwillkürlich schaue ich doch hinüber zu ihr. Gitti redet gerade energisch auf sie ein.

Julia folgt meinem Blick. „Ist das diese Bine, die ...?“

Ich beiße mir auf die Lippen und nicke.

„Dit tut mir echt leid, Jan.“ Julia stellt sich auf die Zehenspitzen und umarmt mich.

„Danke. Ick ... hoff echt, dass dir so wat erspart bleibt, aber ...“

„Bleibt wohl nich aus, wa?“ Sie sieht mich traurig an und ich mag es nicht, dass sie schon weiß, dass so etwas zum Leben dazu gehört, denn ... Obwohl man es ahnt, überrollt es einen dennoch wie eine eiskalte, tonnenschwere Lawine.

„Nein, bleibt es wohl nich“, sage ich schließlich zu Julia.

Ich sehe hinüber zu Bela, der nun gemeinsam mit Gitti auf mich zukommt. Bine geht in die andere Richtung. Ihr Rücken wirkt viel zu gebeugt. Weint sie? Ich weiß nicht, ob ich mich darüber freuen will.

„Ey, dit tut mir so leid, aber ...“ Gitti atmet verzweifelt aus. „Ick wusst echt nich, was ick machen soll. Bine is halt immer noch meine beste Freundin, nee, und ... Ick hab ihr genau erklärt, dass du keen Bock hast auf sie hast, aber sie meinte, wenn du se erstma siehst, dann ...“

„Schon ... okay“, quäle ich mir ein Lächeln ab. Gerade ist mir so gar nicht nach Video drehen. Ich lege Julia eine Hand auf die Schulter. „Dit hier ist übrigens meine Schwester Julia.“

Gitti grinst sie an. „Du bist doch dit Mädchen aus dem „Teenagerliebe“-Video, oder?“

Julia nickt stolz, sieht Gitti mit ihren wilden Haaren und den knappen schwarzen Klamotten fast ein wenig erfürchtig an.

„Mensch, bist du gewachsen“, lacht Gitti sie an.

Julia wird fast ein bisschen rot und grinst dann zurück. Keine Ahnung, warum sie ausgerechnet vor Gitti auf einmal so Respekt hat.

„Cool. Ick gloob, du hast mehr Videoerfahrung als wir alle.“ Sie deutet auf die anderen Punketten, dann blickt zu mir. „Sehen übrigens jut aus deine blauen Haare, Jan.“

„Oh. ... Danke.“ Endlich mal ein Kompliment. Gerade erkenne ich mich selbst kaum im Spiegel wieder und so ganz sicher bin ich mir auch nicht mehr, ob ich den Wechsel gut finde.

„Und ansonsten?“ Sie grinst Bela und mich an. „Wie is es so umworbener Popstar zu sein?“

„Gar nich so glamourös. Bela und icke sin mal wieder total blank, weil die Filmkohle noch nich überwiesen is.“

Sie nickt. „Scheiße, wa? In der Szene scheinen viele zu glauben, dass ihr mit der BRAVO voll den Reibach gemacht habt.“

„Pfff. Die ham jar nüscht bezahlt für die Clown-Outfits, die se uns da angedreht ham.”

Gitti grinst kurz, aber als sie mein betretenes Gesicht sieht, fasst sie nach meinem Arm und drückt ihn aufmunternd. „Hey, dit war wirklich witzig. So wie ihr halt.”

„Mhm. … Okay. Aber bezahlt ham se trotzdem nüscht. Da kann sich die Szene noch so dit Maul zerreißen. Für dit Video heute gibts 200 Mark - für uns alle drei, dann könn wa uns zumindest wieder wat zu essen kaufen.” Mein Magen knurrt schon wieder. Langsam wird das echt peinlich.

„Hey, ick hol euch ma `n paar Brötchen, Jungs. Okay?“ Und schon ist Gitti los.

Der Regisseur klatscht in die Hände.

Julia thront aufrecht inmitten der ganzen Punketten. Die meisten sind in unserem Alter, aber Julia sticht eher wegen ihrer normalen Haare und Klamotten raus.

Als für eine Szene ein paar der Mädchen zu uns in die Sitzecke rüberlaufen sollen, melden sich fast alle für Bela und nur ein paar für mich, zwei für Hans. Es gibt mir kurz einen Stich, obwohl ich gar nicht will, dass sich ein mir halbbekanntes Mädchen mir in die Arme wirft.

Schließlich frage ich Julia, ob das für sie okay ist. Bei ihr ist das am stimmigsten, weil ich sie wirklich mag. Von gespielter Zuneigung für eine Kamera habe ich seit Richy Guitar echt die Schnauze voll.

Julia läuft zu mir und wirft sich mir mit Schwung in die Arme, fast so wie früher, als wäre die dumme Pubertät nie passiert und wir beide sind wieder ein Team.  


10. Dezember – FAR Studios, Frankfurt / Main

„Ey, im Studio von Frank Farian ...“ Bela grinst mich an und tatsächlich wird der Witz irgendwie nicht alt. „Schon krass. Aber so geil, dass wir vor Weihnachten sogar noch die Zu spät-Maxi rausbringen.“

„Okay.“ Frank sieht Hans an, der wundersamer Weise dabei ist. „Dann ist jetzt dein Basslauf dran.“

„Ähm, ja ... Okay.“ Hans hängt sich den Bass um und spielt eiskalt „Doesn`t make it alright“ von den Stiff Little Fingers - wie immer. Aber das hier ist Frank Farian. Der produziert Boney M. So sehr habe ich mich echt noch nie für ihn geschämt.

Der sieht ihn auch nur an und meint: „Du hast eine Stunde dir selber etwas passendes auszudenken. Was geklautes packe ich nicht auf die Scheibe.“

Eine Stunde später holt Frank einen richtig guten Studiobassisten und der bietet uns sogar drei verschiedene Sachen an, aus denen Bela und ich auswählen dürfen. Wahnsinn.

Außerdem probieren wir noch verschiedene Sounds aus, denn ich will die Maxi so wie „Blue Monday“ aufbauen mit verschiedenen Teilen. Leider dürfen wir das Winchester-Gewehr nicht benutzen. Stattdessen wird es der Ausgabeschacht des Getränkeautomaten.


Am Abend im Hotel packt Bela im Lift Hans am Kragen. „Also, dass es das Album noch vor Weihnachten in die Läden schaffen wird, da hatteste ja echt mal so gar keen Anteil dran.“

„Aber ich hatte halt nicht so viel Zeit.“ Hans sieht uns beide halb defensiv, halb angriffslustig an.

„Ey, wir waren schon 10 Tage im Studio für die Platte plus den Soundtrack und da warst du - wenn’s hoch kommt - gerade mal an zwei Tagen ein paar Stunden dabei.“

„Ihr beide studiert ja auch nicht.“

Ich zucke zusammen, aber jetzt werde ich auch sauer. „Genau. Weil ihm Gegensatz zu dir machen wir die ganze Bandarbeit.“ Ich sehe zu Bela. „Wenn de einverstanden bist, dann würde ick sagen,  wir melden ab jetze unsere Songs bei der GEMA an.“

Bela stutzt und kneift die Augen zusammen. „Aha. Und wieso?“

„Weil dann die Arbeit, die wir da rinstecken, auch entsprechend entlohnt wird.“ Ich habe tatsächlich schon ab und zu mal daran gedacht, dass wir künstlerisch doch sehr unterschiedliche Anteile abliefern, aber habe mich nicht so recht getraut das Thema auf den Tisch zu bringen. Ich finde es auch jetzt nicht einfach. Mein Herzschlag galoppiert und meine Hände ... Schnell stecke ich sie in meine Jeanstaschen. „Bela und ich waren - im Gegensatz zu dir – schon immer die Hauptsonglieferanten.“

„Genau.“ Bela sieht Hans nun wirklich grimmig an. Das Thema ist einfach so was von überfällig zwischen uns. „Du bringst ja nich ma `n passenden Basslauf hin.“ Er lässt seinen Kragen so plötzlich wieder los, dass Hans nach hinten gegen das Schaltbrett fällt.

Hans Miene verhärtet sich nun auch. „Schön, dass ihr beide jetzt wieder auf einer Wellenlänge seid nach eurem Kalten Krieg. Dann bin ich ab jetzt wohl wieder nur der Fussabtreter für euch beide und das mit dem Freund und Bandkollege ist wohl wieder vorbei.“ Hans sieht von mir zu Bela. Die Lifttür öffnet sich und er geht mit energischen Schritten zu seinem Zimmer.

Es stimmt schon. Er ist wirklich immer das dritte Rad am Wagen. Fast tut er mir ein bisschen leid.


12. Dezember – Niebuhrstraße

Gegenüber von unserer WG ist die Schwulenberatung. Ich weiß das ich in den ersten Monaten immer auf der anderen Straßenseite geblieben bin, weil ... Mein Kopf wollte zu sehr über bestimmte Dinge nachdenken, wenn ...

Seit einem Jahr nehme ich sie aber gar nicht mehr richtig wahr. Erst wieder seit Bela gesagt hat, dass er gerne mal mit mir schlafen würde, seitdem hat sie eine ganz neue Präsenz bekommen.

Und seitdem habe ich auch begonnen einen Plan zu spinnen. Was mir fehlt, damit ich mich echt sicher fühle, ist – Wissen. Und irgendwie traue ich mich Bela noch weniger zu fragen, als einen Fremden, weil ... Er kommt mir eh schon immer so viel erfahrener vor als ich.

Doof ist nur, dass wir genau gegenüber wohne, denn ich will nicht, dass ich den Leuten dort nochmal begegne. Aber die Staatsbibliothekrecherche hat echt nicht besonders viel nützliches ergeben. Nicht mal in der Bravo haben sie vernünftige Anleitungen.

Vorsichtig schleiche ich zur Tür hinein.

Ein Plakat starrt mich im Eingangsbereich an. »Eine neue Krankheit verbreitet Angst und Schrecken! Sie bedroht auch Dich ...«

AIDS. Ich habe ein paar Artikel darüber gelesen, eher zufällig. So richtig Thema ist es nicht und ich habe auch noch nie wirklich mit jemandem darüber geredet.

An einer Tür hängt ein handgeschriebener Zettel: „Anmeldung“. Im Raum dahinter sitzt ein junger Mann mit langen Haaren und einem rotblonden Bart.

„Hallo! Was kann ich für dich tun?“ Er lächelt mich freundlich an und meine Nervosität legt sich ein wenig.

„Ich ... Also, ick wollte ...“

„Vielleicht dich beraten lassen?“, fragt er.

„Ja. ... Ja, genau.“

„Nimm doch Platz. Und um was geht es denn bei dir?“

Ich atme tief durch. „Also, ick wollte ... Mein Freund und ick ...“ Die Verunsicherung nimmt Überhand. „Also, wir haben Sex, aber ick ...“

Als ich nach einer halben Stunde mit sehr viel anschaulichem Wissen und ein paar Kondomen wieder herauskomme, treffe ich an der Eingangstür auf ein bekanntes Gesicht.

Einen Moment bin ich mir doch nicht sicher, denn er sieht irgendwie verändert aus, aber wahrscheinlich liegt es daran, dass damals Silvester war und alle in Partystimmung. Zwei Jahre ist das schon wieder her.

„Hallo!“ Er scheint mich auch erkannt zu haben. „Jan, oder?“

„Ja, genau. Hallo, René! Ich wollte nur ... Also, ich bin schon wieder auf dem Weg nach draußen.“

„Okay.“ Er lächelt mich zaghaft an. „Vielleicht ...“ Er deutet in Richtung Ausgang und über die Straße. „Vielleicht komme ich euch mal wieder besuchen.“

„Ja, ähm, klar.“ Ich versuche ein einladendes Lächeln, aber so ganz gefällt mir der Gedanke nicht. „Dann ... Mach`s gut.“

Sein Lächeln wird für einen Moment sehr traurig, dann strafft er sich und winkt mir zum Abschied zu.


14. Dezember – Niebuhrstraße 38b, Charlottenburg

Nachmittags, als Bela endlich aufgewacht ist, zitiert uns Beate in die Küche. Bela sieht sie völlig verpennt an. Die Feier gestern im Risiko war echt exzessiv, hat sogar mir Spaß gemacht, als ich mich auf das Niveau der Betrunkenen eingelassen habe.

„Lieber Bela, lieber Jan, es war ein wenig knapp, aber ...“ Beate zieht etwas hinter ihrem Rücken hervor. Unsere eigenen Antlitze strahlen uns entgegen. „Happy Birthday, Bela!“

„Nein. Echt?“ Bela wirkt sofort 100 % wacher, starrt andächtig das Plattencover an, so dass ich nur die Rückseite der Platte sehe.

„Wow. Cool. Das sieht super aus. Jim macht echt interessante Bilder.“

Bela dreht die Platte um und grinst mich an. „Wahrscheinlich weil ick mein Hemd so schick offen hab, wa?“

„Vielleicht“, grins ich zurück.

„Und dit mit der Jungs- und Mädchenseite ist einfach so `ne geile Idee. Yeah!“ Bela sieht so happy aus, dass mich pures Glück durchströmt. Kein Gedanke mehr an Geld und Studium und überhaupt – einfach nur Bela und ich und unser Baby.

„Komm. Leg die ma auf!“ Ich schieb ihn in Richtung von Beates Büro, wie ich mein Zimmer nun nenne. Dort steht mein Plattenspieler, der mit den Boxen im Bad verbunden ist.

Bela legt den Tonarm auf und wir laufen rüber ins Bad. Es knistert in den Lautsprechern. Dann ertönt Hans verzerrte Stimme: „Ey, du Blödmann. Du hast die falsche Seite aufgelegt.“

Bela und ich lachen geschlagene zwei Minuten. Tränen laufen uns die Wangen runter. Beate sieht sich das Spektakel aus dem Türrahmen des Bads an, kann sich ein breites Grinsen aber auch nicht verkneifen.

Sie hält uns den Musikexpress entgegen. „Und – was fast noch besser ist: schaut mal hier rein.“

Bela schnappt ihn sich, geht damit in die Küche und blättert darin herum. „Hier. Oh, wow. Wir sind „Platte des Monats“. Krass! ... Hier ist die Rezension. Also: War „Uns geht`s prima“, das letzte Machwerk der Berliner Ärzte noch rezeptfrei, ist Debil verschreibungspflichtig.“ Bela zieht eine Augenbraue hoch. „Aha! Mögen die Reime noch so holprig sein ...

„Holprig? Ick hab da Tage dran gesessen“, platzt mir der Kragen. „Naja, manchma och nur `ne Stunde. Aber trotzdem.“

„Ich liebe deine Reime.“ Bela küsst mich auf die Wange. „Und dich“, flüstert er mir ins Ohr, dann liest er einfach weiter, als hätte er mir nicht so etwas Wichtiges gesagt. „Also ... Mögen die Reime noch so holprig sein, die technischen Fähigkeiten noch so schlicht ... Er wirft Beate einen fragenden Blick zu. „Wat soll nochma an dieser Kritik jut sein?“

„Lies mal weiter.“

... ihr umwerfender Charme macht die Ärzte unschlagbar. Na, wo se recht ham, ham se recht, wa?“, grinst Bela mich an.

Ich nehme ihm den ME aus der Hand und blättere darin herum. „Guck ma. Wir sin mit Frank Zappa in einer Zeitung.“ Zappa! Mann. Ich blättere weiter. „Und Depeche Mode. Krass. Und Julian Lennon.“ Als Beatles-Fan fährt mir sein Anblick ziemlich in die Knochen. „Puh, der sieht seinem Vater ganz schön ähnlich.“

„Mhm.“ Bela scheint nur halb zugehört zu haben, deutet auf eine Doppelseite. „Guck ma. Hier sin die ganzen Berliner Größen drauf. Oh, Gudrun.“ Sein Gesicht wird einen Moment traurig, dann gibt er mir einen Kuss. „Ey, Platte des Monats. Hammer.“

„So, ihr Lieben, dann feiert schön.“ Beate zieht sich ihren Mantel an. „Ich bin mit jemandem verabredet.“

„Uh! Etwa ein Date?“, fragt Bela.

„Vielleicht“, grinst Beate mich an. „Jedenfalls müsst ihr nicht auf mich warten.“

„Na, denn viel Glück.“


Als Beate zur Tür raus ist, befehle ich Bela: „Setz dich mal auf`s Klo!“

„Biiitte?“ Bela sieht mich perplex an.

„Na, du sollst dich einfach ma auf`s Klo setzen.“

„... Häh? Wieso denn?“

Ich nehme ihm seine zweite Tasse Kaffee aus der Hand und stelle sie ab, dann schiebe ich ihn sanft aus der Küchentür in Richtung Badezimmer.

„Aber wieso ...?“

Ich schalte das Licht nicht an und platziere ihn im dunklen Bad auf dem Klodeckel. Langsam schließe ich die Tür hinter mir. In meinem Zimmer verbinde ich den Kassettenrekorder mit den Lautsprechern im Bad.

Ich bin so nervös, weil ich nicht weiß, ob mein Geschenk voll daneben ist oder voll gut passt - etwas dazwischen gibt es irgendwie nicht. Vor allem ist das Lied nicht fertig geworden, was mich wirklich ärgert.

Die ersten Zeilen ertönen.

In Ramnicul in Transsilvanien sah ich ein Plakat
Drauf stand, dass der Graf Dracula zum Fest geladen hat
Eingeladen war ein jeder, auch Doktor Frankenstein
Einzige Bedingung war: Es muss ein Monster sein

(Das wird die Monster-) Monsterparty, ay ay ay


höre ich mich selber durch die geschlossene Tür singen, dann öffne ich sie. Im Lichtschein des Flurs sehe ich Bela, der mich mit großen, glänzenden Augen ansieht. Langsam schleiche ich auf ihn zu.

Tatsächlich bleibt er einfach sitzen. Dann beginnt er haltlos zu lachen. „Du bist verrückt. ... Aber es ist so – genial.“

Eine Stunde später haben wir Bauchschmerzen vor Lachen, alle Strophen stehen und wir nehmen das Lied mit meinem alten Kassettenrecorder auf.

„Hey, Jan?“ Bela sieht mich so liebevoll an. „Das ist das geilste Geburtstagsgeschenk, dass ick je bekommen hab. Und weißte, was ick am schönsten fand? Das dit Lied noch nich fertig war und es jetz unseres is.“




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LYRICS

Bärchen und die Milchbubis – Manager

die ärzte – Claudia hat `nen Schäferhund  

New Order – Blue Monday

die ärzte – El Cattivo

die ärzte – Mädchen

die ärzte - zu spät  

Joy Division – The only mistake

die ärzte - Monsterparty


ADDITIONAL SONGS

die ärzte – Twist und Ruf live
Wirklich tolles Bootleg.

die ärzte - El Cattivo - Bad-Boy-Mix


Zu spät

Schülerexpress, 1984

die ärzte ... sehen fern - Zu Spät & Mädchen (Neues aus... März 1985 BR)

Musik Convoy, 1985

Hit Summer Mix, 1988

Nach uns die Sintflut live, 1988
Content warning: Huge N-Word-problem and performance in here! Puh! Leider nicht gut gealtert!

Hamburg, 2001
Schlechte Qualität, aber ... Farin hat nur einem einzigen Mann das Herz gebrochen.

Bizarre, 2001

Rock `n Roll Realschule, 2002
Ähm, flirtet Rod mit Farin? Oder Farin mit Rod? Oder beide miteinander? Mhmmm ...

Rock am Ring, 2007
Die Anzüge! Und der absolut destroyed Look am Ende!

Rock am Ring 2019
Die Idee mit dem Licht!


Just FYI:
Die Schwulenberatung ist erst seit 2012 gegenüber der Niebuhrstraße 38b, aber das hat einfach zu gut gepasst.


RICHY GUITAR Soundtrack

Wikipedia

Cover


DEBIL

Discogs

Singles Cover



INTERVIEWS

Seitenhirsch

DEBIL
Psychobilly, Rock, Pop, Country und sogar Western Music

Der zweite Silberling steht unter dem Motto „Die Ärzte mit Schliff der Industrie" und ihrem ersten Studioalbum ´Debil´, das 1984 erscheint. DIE ÄRZTE werden aufgrund eines Tipps von Jim Rakete von der CBS Schallplatten GmbH unter Vertrag genommen. Statt einer EP nehmen DIE ÄRZTE mit Stan Regal in dreizehn Tagen gleich ein ganzes Album auf.


ORTE

Tempodrom




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Chapter 49: 1984 - Kloppe

Chapter Text

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Bitte großzügig über Fehler hinwegsehen oder sich gerne melden.
Ich bin gerade nicht so ganz auf der Höhe.

Ansonsten viel Spaß, The Windmills




* Teenagers in Love *






1984 – Kloppe





21. Dezember – CBS-Zentrale, Frankfurt / Main

Wir sind in weiße Dinner-Jacketts gewandet. Beates Idee. Bela sieht darin so verdammt gut aus, dass ich es schwer finde meine Finger von ihm zu lassen und wenn ich seine vielen zufälligen Berührungen zähle, scheint es ihm nicht anders zu gehen.

Vor uns sitzt in einem klischee-weihnachtlich geschmückten Konferenzraum die komplette Belegschaft der CBS und starrt uns an. Betriebs-Weihnachtsfeier! Spießiger kann eine Party nicht sein. Aber nicht mehr lange.

Beate zieht Karten aus ihrer Tasche. „Oh, ihr seht echt goldig aus. Wie Schwiegermamas Lieblinge", grinst sie mich an. Sie legt ihren Arm um mich und mein Körper schaltet auf einen Schritt zur Seite gehen, aber ich tue es nicht, bleibe stehen in dieser leicht unangenehmen Nähe. „Also, dann zeigt den blasierten Typen und pikierten Sekretär*innen mal, wer die ärzte wirklich sind." Endlich lässt sie mich los.

Ich grinse grimmig zu Bela hinüber und wir legen mit einem absoluten Evergreen los, der perfekt zu dieser Veranstaltung passt. Der Wahre Heino wäre stolz auf uns.

„Im Frühtau zu Berge wir ziehen – fallera ..."

Ich mustere die Leute, die mit jedem dargebotenen Schlager angetrunkener zu werden scheinen. Bela leider auch. Das Freibier beziehungsweise der Glühwein ist da nicht besonders hilfreich. Ein paar der Gesichter kommen mir bekannt vor - vor allem die Idioten, die sich in Köln so lautstark über uns echauffiert haben.

Etwas Weißes fliegt durch die Luft und landet auf dem hochtoupierten Haarturm einer der Sekretärinnen. Die quietscht schrill, greift dann nach einem Lebkuchen und wirft ihn in die Richtung, aus der das Tortenstück geflogen kam.

Daraufhin wird am Nachbartisch eine Sektflasche geschüttelt und als Dusche umfunktioniert. Weitere Torten fliegen, gefolgt von Orangen, Walnüssen und Äpfeln und – einem brennenden Adventskranz.

Bela betrachtet neben mir das Chaos mit glänzenden Augen, ist aber so nett unseren Auftritt zu Ende zu bringen und sich nicht in den Trubel zu stürzen. Ich ducke mich unter einem tieffliegenden Vanillepudding, der allerdings dadurch Bela in voller Breitseite trifft. Vielleicht war das mit den weißen Anzügen doch keine so gute Idee.

Nach zwei Stunden Volksliedern und Schlagern fallen wir in unser Hotel. Ich habe selten eine so komplette Eskalation außerhalb der üblichen Läden gesehen und ja, es war witzig, aber ich komme mir dennoch ein wenig beschmutzt vor von dem schrecklichen Liedgut, das wir zum Besten gegeben haben.

Aber unser Doppelzimmer hat wirklich Klasse. Die CBS hat sich nicht lumpen lassen. Keine Brandflecken im Teppich,  keine Sprungfedern, die einem die Wirbelsäule perforieren und keine vergilbten Laken mit undefinierbaren Flecken auf dem riesigen Doppelbett, das nur für uns ist. Ich hoffe mal, Beate hat das diskret gedeichselt. Ich hab keinen Bock, dass sich alle am Montag über uns das Maul zerreißen und wir noch schräger angesehen werden, wenn wir mal wieder hier in Frankfurt zu Besuch sind.

„Mhmmm. Süß." Bela versucht etwas Klebriges von meiner Wange zu lecken.

Ich pflücke einen kleinen Tannenzweig aus seiner toupierten Mähne. „Was hältste davon, wenn wir erstma die große Dusche ausprobieren?"

Ein paar Minuten später steht das Badezimmer komplett unter Wasser, was Bela gar nicht stört. Er springt klatschnass auf das große Bett wie auf ein Trampolin und singt: „Sie trägt `nen roten Minirock." Er hat dagegen relativ wenig an.


22. Dezember – Niebuhrstraße 38 b, Charlottenburg

„So, ihr Beiden. Dann wünsche ich euch schöne Weihnachten." Beate zieht mich in eine Umarmung und küsst mich auf die Wange, was sich ein wenig seltsam anfühlt, aber wahrscheinlich ist das ihre Art sich für längere Zeit zu verabschieden. „Also, dann bis zum 7. Januar."  Ihr Blick wandert zu Bela. „Macht nicht zu viel Unfug. Okay?"

„Aye-Aye, Captain!"


Am Nachmittag klopfe ich vorsichtig an Belas Zimmertür. „Bela?"

„Äh, ja?" Es ist muckelig warm bei ihm. Da wir endlich, endlich einen Teil der Filmgage bekommen haben, können wir nun wieder heizen. Belas Ofen bullert gemütlich vor sich hin, hält die Dezemberkälte endlich in Schach. Er liegt nur in einem T-Shirt auf dem Bett. Ich muss grinsen, als ich die passenden Batman-Boxershort entdecke.

„Seit wann klopfst du denn?" Er blickt irritiert von seinem Batman-Comic zu mir auf.

Draußen bricht gerade die blaue Stunde an und irgendwie will ich den Frieden hier drin gerade nicht mit „meinem Angebot" unterbrechen. Vielleicht auch weil ich mir damit ein wenig seltsam vorkomme.

Ich hole vorsichtig Luft. „Ähm ... Meinste Bruce kann dich grad entbehren?"

Er sieht mich neugierig an und setzt sich ein Stück auf. „Klar! Was `n los?"

„Ähm, also ... Ick wollt nur sagen, dass ..." Langsam lasse ich mich auf seiner Bettkante nieder und zwinge mich aufzuhören meine Hände zu kneten. „Also, wenn de Lust hast, dann ... dann kannste mit mir schlafen."

„Was? Ick kann mit dir ...?" Er runzelt die Stirn. „... Und dit sachste mir jetze einfach so?"

„Ähm, ja."  Ich sehe auf meine Hände, muss schon wieder den Impuls unterdrücken diese zu bewegen, dann wieder zu Bela. „Ick dachte halt, weil Beate nich da is, dass dit dann ...entspannter ist." Mein Gesicht wird ein wenig heiß, weil ... Eigentlich hatte ich das alles gut vorbereitet, aber ...

Bela schmunzelt. „Komm ma her." Er zieht mich zu sich auf das Bett und streckt sich, um mich auf den Kopf zu küssen. „Du bist süß."

„Nich sexy?", murmel ich.

„Dit och. Aber grade biste einfach süß. Wie wär`s wenn wir dit nich davon abhängig machen, ob Beate hier is oder nich?"

„Mhm, also, ick hab dit halt so `n bisschen ... geplant." Ich schmiege mich an ihn, vielleicht um mich vor seinem amüsierten Blick zu verstecken.

Er sieht auf mich hinunter. „Geplant?" Eine Augenbraue geht nach oben.

„Ja, also, ick war bei der Schwulenberatung und ..."

„Du warst wo?"

„Na, gegenüber. Bei der Schwulenberatung." Ich winke in Richtung Niebuhrstraße.

Bela fällt unbewusst oder demonstrativ die Klappe runter. „Du ... Du bist echt ... Krass."

„Ick mag dit halt nich, wenn ick nich weeß, wie und was ..."

„Okay. Aber – so generell weißte doch, wie dit funktioniert."

„Schon, aber ..." Ich weiß nicht, wie ich ihm erklären soll, dass ich keinen Bock mehr auf schlechte Erfahrungen habe.

Er sieht mich vorsichtig an. „Dit is halt Sex. Da gibt`s keene Gebrauchsanleitung."

„Sachst du!"

„Ja. Und ick hab damit echt Erfahrung."

„Super. Nu fühl ick mich viel besser!" Ich entwinde mich seiner Umarmung und strecke ihm die Zunge raus. „Angeber!" Es ärgert mich wirklich. „Außerdem stimmt dit gar nich. Dieser Burkhard war echt nett und meinte, er findet es super, dass ick vorbei komme. Und er hat gesagt ..."

„Burkhard hat gesagt, dass ..." Belas Augen sind sehr groß, dann verzieht sich sein Mund. Er versucht das Kichern zu unterdrücken, aber schließlich platzt es doch aus ihm raus. „Du bist da drüben reingestiefelt und hast erzählt, dass wir miteinander schlafen wollen?"

„Naja, ... So ähnlich. Mann, jetz hör ma uff zu lachen." Ich verstehe ja sogar aus seiner Außenperspektive, warum es in so erheitert, aber innen fühlt es sich halt weniger witzig an. „Wenn du`s genau wissen willst ..."

„Ich bitte darum", grinst er und setzt sich erwartungsvoll hin.

„Also, als ick in der Staatsbibliothek nüscht gefunden hab, da ..."

„Staatsbibliothek?" Seine Augen sind riesig.

„Ja. Also, ick dacht halt, dass ... Na, die da drüben sin doch Experten und deswegen ..."

„Oh, Süßer. Du bist wirklich manchma etwas ... speziell."

Ich haue ihm mit Schmackes auf den Oberarm. „Du meinst wohl besonders. Einzigartig."

„Au. Und ja genau." Bela zieht mich wieder an sich, hält mich wirklich fest und küsst mich. „Oh, verdammt, ick lieb dich echt so."

Alles in mir wird weich, meine angespannten Muskeln geben auf und ich lehne mich an seine Schulter. „Ich dich auch", flüster ich ein wenig rau.

Bela streicht mir über die Stirn, über meine Wange und küsst mich behutsam. „Hey, wat hältste davon, wenn wa einfach hier gemütlich im Bett liegen, Comics lesen und dit nich planen, sondern es einfach machn, wenn`s wirklich für uns beide passt."

„Okay." Ich nicke an seiner Schulter und komme mir nicht mehr ganz so doof vor. „Lieste mir was vor?"

Bela macht das immer besonders leidenschaftlich mit jedem „Boom" und „Pow", manchmal mit den dazugehörigen Faustbewegungen, immer mit passenden Stimmen für Batman und Robin. Ich liebe seine Stimme einfach und es ist schön und gemütlich und ich froh, dass wir unsere WG wieder nur für uns haben.


23. Dezember – Senheimerstraße 44, Frohnau

„Ey, sach ma habt ihr Sachen da für Plätzchen backen?" Bela sieht Julia fragend an.

„Ähm, ja. Schon."

Seine Augen beginnen zu leuchten und ich sehe mich schon in der „Weihnachtsbäckerei". Oje.

„Dit is doch voll spießig."

„Nich, wenn ick dit mach", grinst er mich an.

Oje. Muttern würde das wahrscheinlich unterbinden, weil sie schon ahnt wie die Küche danach aussieht, aber die ist ja bei ihrem Geschichtslehrer. Schön für sie.

Nachdem wir einen Teig nach Rezeptbuch geknetet haben, der gar nicht mal so schlimm aussieht, finde ich es sogar ganz gemütlich hier mit den beiden in der Küche. Bis auf ...

„Müssen die diesen Scheiß zweimal pro Stunde spielen? Wenn ick dit noch ein Mal hören muss, dann zünd ick dit Radio an." Genervt schalte ich es erstmal aus anstatt Benzin und Streichhölzer zu holen. Nicht sehr erfolgreich, denn keine zwei Sekunden später ist er wieder an. Bela und Julia haben sich eindeutig gegen mich verschworen.

„I gave you my heart ...", gröhlt Bela keine zwanzig Minuten später mit und sinkt vor mir auf die Knie. Auf einmal rührt es mich doch, weil – so ein bisschen haben wir letztes Weihnachten einander ja schon unsere Herzen ... Ich seufze und ziehe ihn wieder hoch.

„Du bist doof."

„Nee." Er küsst mich. „Ick bin einfach nur verknallt."

„Uhuuuu", kommt es von Julia. Ihr Beifall geht allerdings in einer Staubwolke aus Mehl auf, dann dreht sie das Radio lauter.

„Also, sorry, aber ick kann dit Gejammer echt nich mehr hören", brülle ich über den Höllenlärm. „Ick mach ma wat sinnvolles und ruf Omi an."

Mir die Ohren zuhaltend verlasse ich fluchtartig die Küche, aus der Bela nun im absoluten Crescendo „I give it to someone special – special!" schmettert.

Es tutet. Ich ruf Omi nicht oft an, ehrlich gesagt viel zu selten, aber jedes Mal, wenn ich es tue, überfällt mich die Angst, dass sie nicht rangehen könnte, weil ...

„Marieke Jensen?"

Ich atme auf. „Hallo, Omi! Ick wollt ma hören, wie`s dir so geht."

„Ah, das ist wirklich lieb, min Jung! Wo bist du denn gerade?"

„Bela und ich sin grad in Frohnau. ... Bela mach ma dit Radio leiser." Tatsächlich wird George Michael abgewürgt.

„Ach, wie schön."

Bela erscheint im Türrahmen. „Sag ihr ma, ganz liebe Grüße von mir." Das Mehl vom Plätzchen backen hat sich wie Schnee auf seiner Wange und seinen Haaren verteilt.
„Er sagt ..."

„Hab ich schon gehört", lacht Omi. „Hört sich so an, als ob es euch gut geht."

„Ja, das tut`s wirklich."

„Das freut mich", sagt sie, hört sich dabei aber ein bisschen traurig an und auch mir wird ein wenig schwer um`s Herz, als ich daran denke, dass sie da ganz allein in Sieseby in ihrer Kate sitzt und es überfordert mich: Eigentlich wäre es gut, wenn ich sie besuchen würde, aber hier in Berlin locken gerade so viele Konzerte und an Silvester müssen wir selber eins spielen.

„Ähm, ja, also dann ... Soll ick dir mal Julia geben?"

„Ja, gerne. Mach`s gut, Jan."

Ich ziehe das Telefon in Richtung Küchentür und halte Julia den Hörer entgegen.

„Hallo Omi! Na, wie geht`s dir denn? ... ... Hmmm. ... Ja. ... Das tut mir leid. ..." Anscheinend schafft Julia es besser, dass Omi sich traut ihr Herz auszuschütten.

Eigentlich bin ich nicht total blöd in Bezug auf zwischenmenschliche Kommunikation, aber manchmal erscheint es mir dann doch, dass da eine rein weibliche Welt existiert, zu der ich keinen Zugang finde – im Gegensatz zu Bela, der sich da mit ziemlichen Verve und Erfolg hineinwerfen kann, wenn er will. Ich gehe mit einem Seufzen zurück in die Küche.

Bela klebt seinem Lebkuchenmann mit Teig etwas an den Kopf.

„Häh? Wieso machst`n dem Katzenohren dran?"

„Mann, du hast heut aber och echt `ne lange Leitung, wa?"

Er nimmt sich die dunkle Lebensmittelfarbe und malt eine schwarze Maske auf. „Dit is Batman, du Schnellchecker!"

Auf einmal ist Julia wieder da. „Puh. Omi hat sich echt einsam angehört ..." Dann entdeckt sie Belas Kunstwerk. „Oh, geil." Natürlich ist sie sofort total davon angefixt. Sie modelliert ihrem Lebkuchenmann eine stattliche Vokuhila-Mähne, in die sie mit einem Messer so Zacken einritzt, die sie mit Lebensmittelfarbe gelb färbt.

„Limahl!", rate ich treffsicher. Seit dem der Film im Sommer rausgekommen ist, habe ich bei jedem Treffen eine euphorische Abhandlungen über den fantastischen Titelsong bekommen und ein wenig schüchterner über den süßen Hauptdarsteller des Atreju. „That`s the spirit! Mama wird begeistert sein." Ich mache mich an eine Lebkuchenfrau, die Nena ähneln soll, aber irgendwie eher die dunkle Zwillingsschwester von Limahl wird.

„Ey, ick werd echt noch so richtig Weihnachtsfan!" Bela hat seiner neuesten Skulptur einen Iro verpasst und kleistert gerade ein grün-rotes Karo auf den Rock.

„Findeste den nich `n bisschen arg Klischee?"

Er betrachtet sein Werk. „Ja! Und nö! Habter vielleicht `n paar Sicherheitsnadeln da?"


30.12. - S-Bahn Westhafen

„Ey, ick hab immer noch so `n Hals auf die doofen Düsseldorfer!" Bela motzt den ganzen Weg zum Ballhaus Tiergarten. „Zum Glück is heute dit letzte Konzert von denen. Die ham Berlin jetz echt lang genuch belagert mit ihrer nervigen Tour."

„Hey, wir müssn da heute och nich hingehn."

„Pfff. Soweit kommts noch. Die Suurbiers sin och meine alte Band und Micha hat uns auf die Gästeliste gesetzt."

„Okay, dann gehn wa hin."

„Genau. Ick lass mir doch nich den Platz von denen streitig machn. Dit is immer noch meine Stadt."

„Willste jetz den ganzen Abend so auf Krawall gebürstet verbringen?"

„Nervt dich das denn gar nich?"

„Doooch. Aber dit mit dem Label war ja wohl vor allem der blöde Hülder. Außerdem – wat willste denn machen? Dich mit Campino kloppen, oder wat?"

„Jute Idee!" Zum ersten Mal an diesem Abend grinst der Kerl wieder.

„Ernsthaft?" Ich mag keine Prügeleien. Erinnert mich zu sehr an… Passiert natürlich trotzdem immer wieder – gerade auf Konzerten, aber man muss es ja nicht auch noch drauf anlegen. Aber so wie Bela strahlt. Oje ...

„Ey, ick bin ja och genervt, aber noch mehr Spaltung zur Szene brauchen wa nu och nich. Wir zeigen`s denen einfach, in dem wa besser und berühmter wern."

„Meinste?" Bela blickt sinnierend in die Nacht hinaus. „Mhm ... Weeß nich. Ma sehn, was der Abend so bringt."


Ballhaus Tiergarten – Perleberger Straße 62, Moabit

Hinter der Bühne beobacht ich, wie noch was am Schlagzeug rumgebastelt wird, als mein Blick auf ihn fällt.

Bloody hell! Da steht – Bela.

„Hey, Campi! Hilf mir mal mit dem blöden ..." Breiti deutet auf ein Kabelgewirr vor seinen Füßen.

„Sorry. Kann grad nich."

Unfassbar, dass dieses Arschloch sich zu unserem Konzert traut. Seit ich bei Andrea seine romantischen und dennoch anzüglichen Briefe gefunden hab, ist der Typ für mich ein rotes Tuch, denn schreiben kann er, der Wichser – nicht nur Liedtexte.

Und da ist natürlich auch schon sein großer Blonder. Wobei – blond ist er nicht mehr. Die Beiden stehen gerade mal in der fünften, sechsten Reihe. Schlecht zu übersehen. Besonders Riesen-Jan mit seinen jetzt blauen Haaren. Ist der jetzt auch auf Speed? So wie der Kaugummi kaut, steht der genauso unter Strom wie der kleine Wichser. Dabei hat er doch nichts zu befürchten. Bela dagegen ...

Farin sagt was zu ihm, Bela dreht sich zur Seite und lachend zurück. Keine Ahnung, was den schon wieder so amüsiert, den Arsch. Im Gegensatz zu ihm wirkt der Lange einfach nur nervös. Oder haben die Stress mit der Szene? Wundern würd`s mich nich, die ollen Punkverräter!

Der Saal ist komplett ausverkauft und dementsprechend drücken und schieben die Leute von hinten. Ein wogendes Meer aus Körpern. Endlich mal ein angemessen großes Publikum. Und das in Berlin. Haha! Ey, fuck you, Bela! Ich spring hinter der Bühne ein paar Mal auf und ab, um mich ein bisschen warm zu machen. Jetzt hab ich wieder Bock auf`s Konzert. Wenn`s halt endlich mal losgehen würde. Stattdessen behalt ich die beiden Bravopunks noch ein wenig im Auge.

Farin beugt sich ganz nah hinunter zu Bela. Wenn ich besoffen bin, kommt es schon auch vor, dass ich mich mal `nem Mann so näher. Aber Farin mit seiner Abstinenzmasche ... Aber wenn ich mir anschau, wie nah die beiden schon wieder miteinander herumstehen. Eine andere Nähe, die nichts mit der Konzertenge zu tun hat. Ob die beiden wirklich was miteinander haben? Wäre eigentlich gut, denn dann lässt Bela hoffentlich endlich mal seine Grabbelpfoten von Andrea. Und wenn nicht, dann gibt`s echt was hinter die Löffel.

Ich such im berstend vollen Saal nach Andrea. Sie steht an der Seite, weit genug von Belas säuselndem Mund und seinen Grabbelfingern. Aber Andis Freundin Steffi steht viel zu nah und da zieht sie auch schon seinen Blick auf sich. Keine Ahnung, ob das ihr Aussehen ist oder ob der Wichser weiß, dass das Andis Freundin ist. Er grinst ihr zu. Der kennt einfach echt kein Pardon.

Andrea hat immerhin geschworen, dass nix war - nur die paar Briefe. Muss ich wohl glauben. Und sie hat versprochen, dass sie sich nicht mehr schreiben, aber ich bin mir gerade echt nicht sicher, ob ...  

„Hey, wat is `n los mit dem Ding?" Andi deutet auf das Schlagzeug, an dem der Typ immer noch rumfummelt.

„Keine Ahnung", antworte ich unwirsch, weil ich mit Bela noch nicht fertig bin.

Der grinst schon wieder dieses schiefe Bad-Boy-Grinsen in Richtung von Steffi. Was bildet sich dieser Wicht eigentlich ein? Der meint wohl, dass er mit seinen sehnsuchtsvollen Kajalaugen jede rumkriegt? Und jeden. Farin flüstert ihm was ins Ohr und einen Moment wirkt es so, als wollte Bela ihn küssen, aber dann passiert doch nichts außer einem ziemlich intensiven Blick zwischen ihnen.

Schick sehen sie ja aus die beiden. Bravo-schick! Pffff!!! Bela ist behängt wie `n Weihnachtsbaum mit kiloweise Silberschmuck und natürlich ganz in mysteriöses Schwarz gewandet plus Kajal, der seine Augen noch heller wirken lässt.

Gerade komm ich mir in unseren billigen Second-Hand-Klamotten ein klein wenig albern vor, auch wenn genau das der Plan ist, aber es sieht halt auch sehr viel weniger weltmännisch aus, als ich das gerade gerne hätte. Schließlich bin ich der Halbengländer hier in der Runde, da kann Farin noch so oft nach London jetten und so tun, als würde er da jobben und wohnen.

Was aber mal so richtig gezeckt hat, war, als mir Wölli gesteckt hat, dass Bela mal was mit Gudrun hatte. Ausgerechnet. Ich hab sie immer nur aus der Ferne angehimmelt auf den paar Touren. bei denen ich mit war. Aber Bela, der schwarz gekleidete, notgeile Romantiker - der muss echt mit allen was anfangen. Nervt! Nervt so richtig! Vor allem da er anscheinend auch immer alle bekommt, die er anbaggert.

Also nicht, dass ich gar keinen Erfolg hab, was Andrea mal besser nicht mitbekommen sollte, aber Bela ist echt ein verdammter Casanova.

„Hey, et jeht los!", brüllt ein Typ neben mir, der wohl zum Ballhaus gehört.

„Los-los-los!", ruf ich und wir stürmen oder vielmehr torkeln auf die Bühne. Die letzten Tage hier in Berlin haben doch ein paar Spuren hinterlassen. Egal. Heut wird noch mal gefeiert – das 4. Mal Berlin und jetzt mit über 1.000 Leute. Gefühlt steht schon die Hälfte mit auf der Bühne und wir alle verlagern Silvester einen Tag vor. Bye-Bye 1984! Was für ein Jahr! Yeaaaaah, Punkrock – also unsere Version davon.

„Ja, ja, so blau-blau-blau blüht der Enzian!", gröhle ich ins Mikro und die Menge tobt. Fuck you, Felsenheimer!

Als Kuddel die berühmten ersten Takte von „Spiel mir das Lied vom Tod" klampft, beug ich mich bewusst immer wieder ins Publikum hinunter, fixier Bela, der von unten aus der tobenden Menge betont gelangweilt zu mir nach oben glotzt und weiter seinen Kaukummi kaut. Nur seine Augen, aus denen blitzt es. Sie verraten, dass er genau weiß, was Sache ist, das Arschloch.

Farins Blick ist ähnlich steinern – ohne Blitzen. Keine Ahnung, was ich ihm getan hab, eigentlich ist das nur ein Ding zwischen Bela und mir. Wahrscheinlich Band-Loyalität. Der Lange kann echt so kalt sein, wenn er will. Und gerade will er. Komischerweise macht mir das mehr Schiss als Belas wütender Blick. Gerade deswegen zeig ich ihm den Mittelfinger. Seine Augen werden kurz schmal, dann wendet er sich demonstrativ von mir ab und brüllt Bela etwas ins Ohr.

Für ein paar Momente geht es zwischen den beiden hin und her, dann pflügt Farin mit seinen zwei Metern durch die Menge und ist verschwunden.  

Andi stößt mich an mit seinem Bass an und Kuddel wirft mir einen fragenden Blick zu.

Mist. Ich hab mich zu sehr auf die beiden Ärzte konzentriert und bin aus dem Takt gekommen.

„Heeeeyyyy, heute ist unser Tag!", brülle ich den Arschgeigen entgegen. „Alles auf Liebesspieler! Hey, heute ist unser Tag, alles auf meinen Sieger!" Der Text bekommt grad einen ganz neuen, aber sehr passenden Sinn.

Ich schwinge meine erhobene Faust Richtung Bela: „Scheiße, dass ist heut nicht dein Tag." Ich deute zuerst mit dem Zeigefinger auf ihn. Jetzt zeigt er mir den Mittelfinger. Fick dich, Bela!

Eine Stunde später steh ich viel zu nüchtern und trotzdem adrenalingeladen Backstage, trockne mir mit meinem ausgezogenen T-Shirt den Schweiß vom Oberkörper. Auf einmal steht der zweite lange blonde Arzt vor mir.

„Hey, Campi!" Sahnie klopft mir auf die Schulter. „Geiles Konzert."

Meint er das ernst? „Äh, ja. ... War cool."

„Hat echt Bock gemacht!"

Wahrscheinlich will er sich wieder über Eishockey unterhalten und eigentlich mag ich das, aber nicht jetzt. „Sag mal, was is `n mit deinen beiden Kumpanen los? Bela hat mich angestarrt, als würd er mich am liebsten lynchen."

„Häh? Echt? Keine Ahnung."

Der Typ ist sowas von laaang-saaaam – der komplette Gegensatz zum erschreckend schnellen Farin, aber vielleicht kann ich ihm ja noch was entlocken.

„Hier!" Ich drück ihm eine Flasche Jackie in die Hand, aber er wehrt ab. Oh! Ich hatte vergessen, dass die beiden Großen ja nich trinken. Was für Lappen! Da bin ich mit Bela mehr auf einer Wellenlänge und das nicht nur beim Saufen.

Ich werfe mich in ein einigermaßen frisches Hemd und lasse das Tütchen Speed in der Brusttasche verschwinden. Keinen Bock grad was zu ziehen. Mit Sahnie als Begleitung ist das irgendwie Verschwendung.

Auf einmal funkt mein sechster Sinn - und da steht er. Mit einer Flasche Wodka. Den Großteil hat er, wenn ich mir seine Augen und seinen Schwankstatus so ansehe, wohl schon intus.

„Na, du Bravopunk!", ätze ich Bela an. „Wo willste denn hin mit deinem Gesöff?"

„Ey, ick bin och nich wirklich jut uff euch zu sprechen, aber Jan meinte, dass dit doch keen Sinn macht, dass ausgerechnet unsere Bands ..."

„Was heißt `n da – unsere Bands?"

Bela kneift die Augen zu und seine Miene wird wieder hitziger. Irgendwie mag ich es ihn zu reizen, denn er geht so wunderbar darauf ein.

„Na, so unterschiedlich wir och sein mögen ..." Der Wichser hat echt die Frechheit auf meine Patchwork-Cordhose zu deuten und allein dafür könnte ich ihm schon eine langen. „Ey, wir ham doch zusammen angefangn dit Scheiß-Punkklischee herauszufordern und ..."

Ich trete einen Schritt auf ihn zu. „Wag es nich euren Punkverrat mit uns zu vergleichen!" Mit Schwung reiß ich ihm die Wodkapulle aus der Hand und lasse mir den Rest die Kehle runterlaufen. Wuhu – das brennt. Yeah! Als die Flasche leer ist, drück ich sie Bela zurück in die Hand.

Seine Augen werfen wieder diese Blitze und ich lieb es zu spüren, wie sehr ich ihn provozieren kann. Die Kampfeslust läuft so heiß durch mich wie der Wodka. „Ich würd mein Maul lieber nicht so weit aufreißen, wenn ich mich in der Bravo prostituiere – äh, ich meine natürlich: posiere."

„Sach ma, spinnst du?" Bela stürzt auf mich zu, packt mich an meinem Hemd.

Auf einmal steht Breiti zwischen uns. „Hey!" Er fasst mich an der Schulter. „Nun is auch gut, ihr Zwei."

Tatsächlich werd ich einen Moment ruhiger.

Breitis andere Hand liegt auf Belas Schulter, aber der schlägt sie weg.

„Ick würd ma lieber die Schnauze nich so vollnehmen, du Clown, du bis hier in Berlin und dit is unser Gebiet."  Bela blickt auffordernd hinüber zu Hans, der aber nur verwirrt zwischen ihm und mir hin und hersieht.

„Hey, wer hatte denn hier als erstes `n Deal mit `nem Kommerz-Label, du Ausverkaufs-Meister, ha? Euer Hülder hat uns ma echt voll verarscht. Haste da auch mit gemacht bei dem Komplott, An-dre-as?"

Es reicht. Ich pack den Möchtegern-Punk an seiner Jacke. Das dünne Hemd hat mir nichts entgegen zu setzen und so zieh ich ihn unter die Dusche und drehe das kalte Wasser an. Er keucht und trieft, dann macht er so einen verfickten Bruce Lee-Move und ich befinde mich auf einmal mit dem Rücken an der Kachelwand. Brühend heißes Wasser schießt auf mich hinunter.

„Du blöder Wichser!" Meine Stimme überschlägt sich, schallt von den Fliesen, dass sie sogar meine Konzerttaubheit unangenehm übertönt.

Breiti zieht uns beide unter der Dusche raus. „Ey, wenn ihr euch unbedingt kloppen wollt, dann macht das draußen." Er öffnet die Hintertür und zeigt hinaus in die Winternacht.

Scheiße, ey. Wo bleibt denn bitte seine Hosen-Loyalität? Der Wodka wärmt mich zwar, aber so klatschnass wie ich bin, hab ich keinen Bock auf die Eiseskälte. Apropos klatschnass. Ich fasse an die Tasche meines Hemds. Shit. Das Speed ist vollkommen durchweicht. Dafür gibt`s jetzt richtig Kloppe. Ich will mich gerade auf diese Ratte stürzen, aber dieses Mal war der kleine Wichser schneller. Er packt mich am Hemdkragen und schon steh ich draußen. Sahnie hat er auch noch hinterhergezogen, der Feigling!

Eigentlich will ich das Mann gegen Mann regeln. Aber nun Sahnie auf einmal seine Band-Loyalität wieder gefunden zu haben. Mist. Ich hab eigentlich keinen Bock, dem eine auf die Schnauze zu geben, immerhin hat er auf dem Trinklieder-Sampler Bass für uns gespielt und ich hab nix gegen den, aber aufgeben werde ich erst recht nicht.

„Zwei Ärzte gegen mich, das ist ungefähr fair", pöbel ich und geh in eine geduckte Haltung, die Verteidigung, aber auch Angriff bedeuten kann.

Keine Ahnung, warum ausgerechnet Sahnie dann den ersten Angriff startet. Er stürzt auf mich zu, ich weich dem langen Lulatsch geschickt aus, leg mich dabei aber beinah voll auf die Fresse. Das fehlt mir gerade noch. Liegt wahrscheinlich am schlitterglatten Eis. Oder zu viel gesoffen. Egal.

Auf einmal steht Andi neben mir. Na, also.

„Was willst du denn?", brüllt Bela Andi an. In der Scheißkälte sieht seine Atemwolke aus wie ein Drache, der seine Flügel entfaltet. Vielleicht ist es auch der Trip, den ich vor `ner halben Stunde geschmissen hab.

„Du bis doch nur Campinos Hündchen, Andi!"

Andi sucht aktiv eigentlich keine Schlägerei, wenn es sich nicht vermeiden lässt, aber jetzt zentriert er Bela so dermaßen eine ins Gesicht, dass es diesem die Beine wegzieht und tritt sogar nochmal nach, als er am Boden liegt.

„Und wehe, du machst dich nochmal an meine Freundin ran. Verstanden?"


Wir hauen ab ins Risiko. Eine Stunde später torkelt ein schwarz toupierter Typ rein. Hat der hier Klone in Berlin rumlaufen, oder was? Und schon wieder hat er eine Flasche Wodka dabei.

„Der letzte Tritt war echt scheiße, ey." Er knallt den Wodka vor Andi auf die Theke.

„Ja, war er. Aber du lässt ab jetzt trotzdem deine Finger von unseren Freundinnen."

„Okay."

Da wir anscheinend alle nicht nachtragend sind, saufen wir die Flasche zusammen, wenn auch relativ schweigend.

Das Auge von Bela wird immer hübscher blau und Blixa gibt ihm ein paar Eiswürfel zum Kühlen, was aber vermutlich zu spät sein dürfte.

Ein bisschen bewunder ich ihn sogar für seine Hartnäckigkeit. Aber Freunde werden wir wohl nicht mehr in diesem Leben. Irgendwie auch schade. Eigentlich mag ich ihn, aber er kann einfach so ...

„Wo is `n dein Lover?"

„Jan?"

Hat ich also doch Recht. Ich nick.

„Der hat irgendwie schon gerochen, dass es heut noch Stress gibt mit uns und – da wollt er nich dabei sein." Er wirkt tatsächlich geknickt.

„Hätt ihn gar nich für so `n Feigling gehalten!"

Auf einmal sind die Blitze zurück und Bela steht viel zu nah vor mir. „Du has doch keene Ahnung, du Großmaul, warum Jan ..." Er winkt ab und nimmt einen extra großen Schluck aus der Pulle.



31. Dezember - Niebuhrstraße 38 b, Charlottenburg

Es klopft an meiner Tür. Dann kommt jemand mit lauten Schritten ins Zimmer getrampelt. Auuuu!!!

„Hey, aufwachen, du Nachteule. Wir ham in zwei Stunden Soundcheck oder haste dit vergessen?"

Licht blendet mich durch meine geschlossenen Augenlider.

„Was `n ditte?" Er klingt verdutzt, dann wird seine Stimme so kalt wie mein Zimmer. Ich will nich aus dem Bett.

„Haste dich jetz echt gestern doch noch prügeln müssen, oder wat?"

Er klingt jetzt näher. Ich versuch meine Augen zu öffnen. Immerhin eins gehorcht, aber das schließ ich schnell wieder.

Jan hat sich vor meinem Bett mit verschränkten Armen aufgebaut. „Du hast echt nich mehr alle Latten am Zaun, Felse!"

Ich versuch mich aufzusetzen und das Stöhnen zu unterdrücken. Scheiße, ist mir schwindelig.

„Felse, hm?" Mehr fällt meinem katerbesetzten Kopf nicht ein. Scheiße. „Mann, die warn halt sauer, weil ..."

„Weil?"

„Naja, weil – vielleicht hab ick Campinos Freundin `n paar Briefe geschickt."

Es dauert einen Moment bis er das verarbeitet hat. „Immer noch? Ick dachte, dass dit ..."

„Nur `n paar."

„Wie sehr kann man eigentlich ...?" Er spricht nicht weiter. Jan scheint weit weg, am anderen Ende eines langen Tunnels zu stehen. Seine Ausstrahlung ist so kühl, dass ich innerlich fröstel.

„Irgendwie haste dir dit echt verdient, dit Veilchen."

„Aber dit war gar nich Campino."

„Sondern?"

„Ähm, ... Andi."

„Weil?"

„Naja, ick gestern so `n bisschen mit so `ner hübschen Frau geflirtet. Aber ick wusst echt nich, dass dit seine Freundin ..."

Ich kann den Satz nich mal beenden, da knallt meine Tür zu und fünf Minuten später unsere Wohnungstür.

Scheiße ... Ich hüpf so schnell ich kann aus dem Bett und unter die Dusche. Besser ich bin pünktlich beim Soundcheck, sonst ...


Pop Inn – Ahornstraße 15, Steglitz

Nach dem Desaster gestern im Ballhaus Tiergarten stehen wir heute selbst auf der Bühne. In einer Art Jugendclub.

Ich sehe zu Bela, der es gerade noch so pünktlich zum Soundcheck geschafft hat. Seit dem haben wir kein Wort mehr miteinander geredet. Nicht nur das Publikum ist nicht so gut drauf, wie gestern bei den Hosen.

Es passen zwar nur knappe 300 Leute da, wodurch die Stimmung sehr viel weniger euphorisch, aber eben auch weniger aufgeheizt ist. Vielleicht liegt es auch daran, dass sie hier keinen Alk ausschenken. Jedenfalls ist der Laden nicht ausverkauft.

Das größere Problem ist aber: Die Chemie zwischen uns stimmt nicht. Gar nicht, um ehrlich zu sein.

Einer von uns Dreien verpasst jedes Mal den Einsatz. Ich bin immer noch so sauer auf Bela, dass ich ihm ständig in die Ansagen quatsche, nur um seine Stimme nicht hören zu müssen. Nach „Scheißtyp" wirft er mir einen echt giftigen Blick zu, danach sieht er gar nicht mehr zu mir, aber jetzt habe ich auf einmal Bock ihn zu provozieren.

„Tja, der Herr Felsenheimer hatte gestern einen ganz legendären Auftritt bei den Hosen. Als Boxsack, wie ihr wohl bemerkt habt." Wenn ich ganz, ganz ehrlich bin, dann finde ich das dumme blaue Augen ein klein bisschen sexy. „Keine Ahnung, wie Campino nach dem Kampf aussieht", fahre ich stattdessen fröhlich fort. „Aber ich würde sagen bei solchen Kloppereien gibt es eigentlich immer nur Verlierer."

Es klappt. Das Publikum lacht wie erwartet und endlich wendet sich auch Bela mir wieder zu. Seine Augen blitzen mich an, aber nicht auf die schöne Art, sondern wie ein verdammtes Gewitter. Danach sage ich drei Lieder gar nichts mehr und es ist so unangenehm still, dass Hans anfängt die Moderation des Abends zu übernehmen.

„Also, äh, da ja heute Silvester ist, spielen wir Monsterparty." Hans grinst eine hübsche blonde Frau in der ersten Reihe an. Die blickt hilfesuchend zu mir, aber ich weiß auch nicht, wie ich das retten soll.

Mein „Gute Nacht, wir sind die ärzte" klingt enorm wacklig, weil mein Körper so wütend ist, dass Bela und ich schon wieder streiten und gleichzeitig so verdammt schwer und traurig.

Bela verschwindet nach dem letzten Ton augenblicklich von der Bühne. Richtung Theke. Zu Eddie. Mit dem verbringt er wohl lieber Zeit als mit mir.

Ich baue extra langsam meinen Verstärker ab, bemerke aus dem Augenwinkel wie jemand die kleine Treppe zur Bühne hochkommt, drehe mich aber bewusst weg, weil ich gerade weder über technische Sachen reden will noch mit einem Fan über das „tolle Konzert". Ich will einfach nur nach Hause. Wobei - gestern war es in der Niebuhrstraße auch nur traurig, als ich da alleine in mein Bett geklettert bin, das nach Beate roch. Puh.  

Eine Hand an meinem Arm. Ich schrecke aus meinen trüben Gedanken hoch.

„Was‘ n bei euch los?" Gitti sieht mich fragend an.

Diese Scheißtränen, die schon den ganzen Abend die Wut beiseite drücken wollen, schieben sich meine Kehle hoch, drücken jetzt mit voller Gewalt, aber ich lasse sie nicht gewinnen, auch wenn das vor Gitti merkwürdig okay gewesen wäre.

Sie sieht mich weiterhin besorgt an.

„Dit musste Bela fragen."

„Der meinte, dass er Mist gebaut hat und dass de so sauer auf ihn warst, dass er sich nich ma entschuldign konnte."

Die Wut übernimmt wieder meinen Körper, ebbt zurück, hinterlässt beschämte, traurige Leere. Ich setze mich an den Bühnenrand, Gitti lässt sich neben mir nieder. Ist schön, dass sie zu mir gekommen ist.

„Ick … Ick weiß manchma nich, ob wir zwei dit hinbekommen können." Ich sehe zu ihr, ob sie versteht, was ich nicht wirklich in Worte gepackt bekomme.

„Ihr seid schon recht … verschieden", sagt sie schließlich vorsichtig. „Aber bisher war dit doch och … Ey, es sin grad ma noch 20 Minuten bis Neujahr. Willste dit nich klären mit ihm?" Sie deutet in Richtung Theke, an der Bela mit Eddie über etwas lacht und dann einen Kurzen kippt.

„Sieht nich so aus, als wäre er da och dran interessiert."

„Quatsch. Dit redeste dir ein. Hey, ihr beide, nee - ihr seid vielleicht nich unkompliziert, aber … Dit klingt jetzt echt kitschig, aber ick find ihr seid einfach seelenverwandt."

Ich stutze, würde es gerne glauben, bleibe aber bei dem „nicht unkompliziert" hängen. Und dann noch dieser Silvester-Countdown, der macht, dass ich fliehen will, so wie gestern.

„Danke dir, aber ick ..." Ich zeige auf das kleine Toilettending, das hier als Backstageraum dient und ziehe sie an mich. Tut gut die Umarmung.

Nur Hans ist in unserer „Umkleide" und ich weiß nicht, ob ich aufatmen soll oder ... Auch er trägt eine kleine Schramme im Gesicht, allerdings nichts im Vergleich zu Belas Veilchen. Wegen Zeitstress und Soundcheck konnte ich ihn noch nicht interviewen.

„Was war `n da nu los gestern?" Ich deute auf sein Gesicht.

„Ach, das war voll dumm. So ein typischer Streit wegen Mädchen und Alkohol und so."

„Aha." Hilft mir gar nicht weiter seine Allgemeinplätze. Ein bisschen was weiß ich ja auch schon. Außerdem möchte ich nicht weiter bohren und damit zeigen wie sehr es mich beschäftigt.

„Ist ... ist alles okay bei euch?"

Anscheinend spürt sogar Hans, dass etwas nicht stimmt.

„Ja. Nee. Ick find`s halt doof und ... Schon okay." Ich wünschte, dass wäre es wirklich. Oder dass ich mit Hans darüber reden könnte, aber – das ist irgendwie schwierig und hat noch nicht mal was mit Hans an sich zu tun.

Bela kommt mehr herein gewankt als gelaufen. Er hat sich sein T-Shirt schon halb über dem Kopf ausgezogen und mich anscheinend noch nicht bemerkt. Er wischt sich den Schweiß von der Brust. Der Bela-Magnet in mir reagiert abstrus. Abgestoßen von unserem Streit, angezogen von seinem Körper, ihm. Warum kann ich nicht einfach über gestern hinwegsehen, einfach mit ihm lachen über irgendeinen Scheiß, den nur wir beide kapieren?

Noch circa fünf Minuten bis Mitternacht verkündet meine innere Uhr. Aber ich bin zu stolz den ersten Schritt zu machen. Als ich gerade den Mund öffne, entdeckt er mich

„Oh." Er zuckt ein Stück zurück. „Ick dachte, du wärst schon los. ... Ähm, also, ick zieh noch ein bisschen mit Eddie weiter. Is ja schließlich Silvester."

Als ob mir das nicht mehr als schmerzhaft bewusst wäre.

Letztes Jahr da …

Und das Jahr davor …

Aber das scheint gerade nicht zu zählen. Es zählt wohl mal wieder nur die Nacht, die ihm Dinge bietet, die ich ihm nicht geben kann.

Men Kiefer spannt sich so stark an, dass ich meine Zähne knirschen höre.

„Na dann, viel Spaß, du Arsch!"

Er zuckt zusammen. Sogar Hans in der Ecke zuckt bei meinem Tonfall zusammen. Obwohl es mir leid tut, schaffe ich es nicht…

Seine Augen werden schmal. „Tja, dann `n gutes Neues, nee." Bela klingt selten sarkastisch, dabei beherrscht er das enorm gut, wie ich jetzt feststelle.

„Du kotzt mich so an, Felsenheimer." Damit stolpere ich aus dem Backstagebereich, aus dem Ballhaus, durch das sich entladende Höllengewitter von Silvesterraketen, in die U-Bahn mit glücklich feiernden Besoffenen und in die verlassen und ausgekühlt daliegende WG in der Niebuhrstraße.

Ich mach mir einen Tee um die Zeit zu überbrücken, bis der Ofen mein Zimmer endlich auf eine erträgliche Temperatur hochgeheizt hat. Dann falle ich körperlich und emotional komplett fertig in mein Bett und ...

Das fast Fieseste des ganzen Abends, und der Abend war wirklich speziell fies, ist, dass ich nicht schlafen kann. Draußen dröhnen die Böller mit den Besoffenen um die Wette. Lichtblitze zucken durch meine geschlossenen Augen und irgendwo im Nachbarhaus tobt eine wilde Party.

Letztes Jahr haben die Explosionen für eine ganz andere Stimmung gesorgt, für noch mehr Nähe zwischen Bela und mir, weil es nur uns beide gab in seinem Zimmer und wir das Chaos nicht zu uns hereingelassen haben.

Bedeutet ihm das denn gar nichts, dass wir damals vor einem Jahr zum ersten Mal miteinander geschlafen haben? Wahrscheinlich nicht. Für ihn mit seinen zahlreichen Affären und Liebschaften war das wohl nichts Besonderes.

Scheiße. Ich hasse heulen. Danach ist einfach immer nur die Nase verstopft und trotzdem nichts besser.

Ich stehe auf, schneuze mich und gehe hinüber in sein Zimmer, krieche in sein, unser Bett, das eiskalt ist, weil ich hier nicht eingeheizt habe. Und kein Bela, der mich wärmt. Nach zehn Minuten Zähne klappern gebe ich auf und gehe wieder hinüber in mein Zimmer.

Ich überlege, ob ich bei ihm einheizen soll, als kleine Versöhnungsgeste, aber ... Ich hab nichts falsch gemacht, also muss ich mich ja wohl auch nicht entschuldigen.

Dann gehe ich doch nochmal rüber, klaue ihm sein Schlaf-T-Shirt und lege es über mein Kissen, damit das nicht mehr so nach Beate riecht. Ich wache jede Stunde aus meinem unruhigen Schlaf auf und lausche in den immer noch anhaltenden Lärm draußen - die Grabesstille hier in der Wohnung - und bin mir sicher, dass er immer noch nicht zurück ist.


1. Januar – Niebuhrstraße 38 b, Charlottenburg

Wuuuuum!!! Ich schrecke hoch und Kopfweh schießt wie ein Blitz durch mich.

Gepolter im Flur. Bitte lass ihn allein sein. Die Dusche springt an. Wieder Gepolter, dann brüllt etwas in seinem Zimmer los, dass ich für "Venom" halte. Ich sehe auf die Uhr. 8 Uhr morgens. Manchmal könnte ich ihm echt den Hals umdrehen.

Ich kann nicht mehr schlafen. Lesen geht wegen dem Kopfweh auch nicht, schließlich entscheide ich mich für spazieren gehen. Immerhin hilft es gegen die dröhnenden Kopfschmerzen, aber der Anblick der silvester-vermüllten Straßen tut es nicht. Ecky und Nicole pennen wahrscheinlich auch noch. Schade, mit Ecky quatschen hätte echt gut getan. Stattdessen fällt mir nun das Silvester vor zwei Jahren ein. Verdammt!

Nach drei Stunden stehe ich auf einmal an der Mauer und realisiere erst da, dass ich bis nach Kreuzberg zu Bines Wohnung gelaufen bin. Silvester vor drei Jahren ... Wenn es die letzten zwei Jahre nicht so schön gewesen wäre, dann könnten sie diese Scheiße von mir aus abschaffen.

Zurück fahr ich mit der U-Bahn, weil ich meine Füße nicht mehr spüre. Draußen gleitet die dunkelblaue Dämmerung an mir vorbei und ähnlich dunkel sieht es in mir aus.

Als ich wieder in der Niebuhrstraße bin, ist es fünf Uhr nachmittags. Ich brauch dringend was warmes in den Magen, das die Kälte vertreibt. Ich schmeiße Spaghetti ins brodelnde Wasser.  Eigentlich will ich nichts essen, bin immer noch sauer wegen vorgestern. Und gestern.

Halb in meinem Kopf, halb wirklich murmel ich in den Wasserdampf des Nudelwassers, dass das neue Jahr ganz schön Scheiße begonnen hat. Ich kann das so nicht, will es nicht mehr. Außerdem habe ich keinen Bock mehr darauf, die wertvollen Stunden zu verschwenden, bevor Beate wieder da ist.

Okay. Also, dann doch eine Versöhnungsgeste. Außerdem muss Bela eindeutig mehr essen. Die Nudelsauce, in der ich rühre wie in einem Zaubertrank, enthält mal wieder nur die Kühlschrankreste, aber immerhin hatten wir noch ein paar Dosentomaten.

Ich klopfe an Belas geschlossener Tür, die wie ein Mahnmal für unseren Zustand ist. Meist sind unsere Türen nur angelehnt.

Ich klopfe nochmal. „Hey, Bela?"

Keine Reaktion.

Schläft er noch oder will er mich nicht sehen? Allein schon, dass wir die letzten zwei Nächte getrennt verbracht haben …

Ich klopfe erneut.

Keine Antwort.

Langsam und mit ungewohntem Herzklopfen öffne ich seine Tür.

Dunkel. Es ist noch kälter als gestern in seiner Gruft. Seine schmale Gestalt zeichnet sich zusammen gerollt unter der Decke ab. Das leise Schnarchen zeigt eindeutig, dass er schläft.

„Hey!" Ich setze mich auf sein Bett, streiche über die Bettdecke. Immer noch keine Reaktion. Ängstlich streiche ich über seine wilden Haare. Es murrt schlaftrunken, wird dann wacher.

„Jan?"

„Mhmm."

Er schmiegt sich vorsichtig gegen meine Hand. „Biste nich mehr sauer?"

„Doch. …" Er versteift sich unter meinen Fingern. „Aber ick will dit nich mehr sein."

„Mhmmm ... Okay." Er dreht sich ganz zu mir. „Is kalt hier drin, wa?... Willste vielleicht mit zu mir unter die Decke?"

„Ick hab uns wat gekocht."

„Echt?" Ich kann das Strahlen seiner Augen sogar im Halbdunkeln fühlen.

„Mhm. ... Haste denn überhaupt Hunger? Du hast doch bestimmt `nen fiesen Kater, oder?"

„Geht. Was haste denn gekocht?"

„Spaghetti."

„... Danke." Er klingt ernsthaft gerührt, hat anscheinend verstanden, was ich damit sagen wollte, ohne es explizit zu sagen.

„Na, los. Dit wird ansonsten nur kalt." Ich zieh ihm die Decke weg, aber zieht sie zurück und wie einen Umhang um sich, geht damit in die Küche.

„Oh." Bela starrt auf den gedeckten Tisch und die Kerze in einer Bierflasche. Er greift nach meiner Hand. „Ich war`n Arsch. ... Aber du ..."

„Auch", ergänze ich schnell, weil es stimmt. „Aber – ey, ick kam mir echt vor wie in diesem beschissenen Wham-Song. Als hättste ..." Ich lasse meine letzte Mauer fallen und sehe ihn einfach nur an.

„Oh. ... " Er schlingt seine Decke nun auch um mich, nimmt meine Hand in seiner hoch und küsst mich auf den Handrücken. „Dit ... dit wollt ick nich, dass de dich so fühlst."

Mein ganzer Körper atmet auf und erst jetzt bemerke ich, wie angespannt ich seit dem Ballhaus Tiergarten war. „Ick hoff ma, dass der Rest von 1985 besser wird als die letzten zwee Tage."

„Dit hoff ick och", flüstert er zurück und drückt meine Hand. „Du ick glaub, dit wird nich wärmer, wenn dit so rumsteht."

„Hunger?" Ich grinse ihn an. Er beantwortet meine Frage, in dem er sich auf seinen Stuhl fallen lässt und den Teller mit einem fast obszön zu nennenden Gestöhne innerhalb von Minuten weginhaliert.

Ich bin im Vergleich echt langsam, weil ich ihn die ganze Zeit beobachte, innerlich über seinen Tomatensaucen-Mund grinsen muss. Immerhin kann ich damit den Gedanken verwerfen, dass Bela absichtilich so wenig isst. Ich hole für ihn im Bad etwas Klopapier und deute auf seinen Mund.

„Oh. Egal. Dit war sooo lecker."

„Freut mich."

Er wischt sich nun doch den Mund ab, gründlich, steht dann auf und kommt zu mir hinüber. „Kann ick?" Er deutet auf meinen Schoß.

„Mhm." Er lässt sich so behutsam auf mir nieder, als wäre das hier ein Test. Ich kann nicht anders. Ich ziehe ihn an mich, rieche Reste der Silvesternacht an ihm von der ich nicht Teil war, aber obwohl es sticht, ist es nicht mehr so wichtig.

„Weißte noch, letztes Jahr?" Er sieht mich mit einem nostalgischen Funkeln an.

„Nö." Ich bin ein schlechter Schauspieler und als er mich vorsichtig in den Nacken küsst, muss ich mich zwingen nicht zu grinsen. „Keene Ahnung, was de meinst."
„Och, jetz komm schon." Bela dreht sich auf meinem Schoß und reibt sich vorsichtig, aber doch sehr eindeutig an mir.

„Na, na, na! Gleich wieder frech werden, der Herr!" Ich packe ihn um die Hüften und stehe mit ihm auf.

„Angeber!", murmelt er und kuschelt sich an mich.

Ein tiefer Seufzer entkommt mir, weil es sich endlich wieder gut und entknotet zwischen uns anfühlt.

Ich setze ihn auf die Anrichte neben der Spüle. Er zieht mich mit seinen Beinen an sich, lässt mich noch mal spüren, was er gerade will. „Na, hilft das deiner Erinnerung vielleicht auf die Sprünge?"

„Nööö."

„Du bis aber och `n harter Brocken. Außerdem von wegen hart ... Dit sieht ja `n Blinder mit Krückstock." Seine Hand wandert über meine nicht mehr ganz so locker sitzende Hose. „Ertappt!"

Jetzt kann ich mir das Grinsen wirklich nicht mehr verkneifen, aber Bela wird auf einmal ganz ernst. „Dit war echt schön mit dir letztes Silvester."

„War? Und nu nich mehr, oder was?"

„Doch." Er lächelt. „Aber du musst meine Erinnerung vielleicht ein bisschen auffrischen daran."

„So? Meinste?"

„Yup. Mein ick."

Die lockere Stimmung zwischen uns verdichtet sich wieder. Ich ziehe ihn vorsichtig an mich um sein blaues Auge zu schonen und hebe ihn wieder hoch.

Er klammert sich mit seinen Beinen an mir fest . Leicht - er ist viel zu leicht, aber gerade will ich mir darum keine Gedanken machen. Ich stolpere mit uns beiden rüber in sein Zimmer, schmeiße ihn dort auf sein Bett und mich hinterher, vergrabe mein Gesicht an seinem Hals.

„Und wir können dit och ma probieren, wat ... Also, ick würd echt gern, dass du mich ..." Ich kann es nicht sagen und der tolle Sexualkunde-Unterricht fällt mir wieder ein. Die sehr lockere 68erin meinte immer zu uns: Wenn ihr nicht darüber reden könnt mit eurem Partner oder Partnerin, dann seid ihr noch nicht bereit.

Tatsächlich sieht mich auch Bela jetzt ein bisschen skeptisch an. „Oh ... Okay. Aber dit willste jetz nich nur, weil Beate nich … und wegen Versöhnung oder so."

„Nee. Es ist einfach weil… Es tut so gut dich wieder so nah zu haben und ... Mir hat dit echt so `n bisschen Angst gemacht."

„Der Streit?"

„Mhm. … Gibt wohl keene Nichtverletzungsgarantie, wa?"

„Ick wünschte, ick könnte dit garantieren, aber ..." Betroffen sieht er zur Seite. „Aber du weeßt doch, wie ick bin. Ick kann dit nich mit treu sein und so."

Auch nicht für mich, denke ich traurig, aber so ist es wohl.

Draußen blitzt es auf einmal, dann ein riesiger Knall. Ich zucke heftig zusammen. Und noch einmal und noch mal. Es erinnert mich viel zu sehr an gestern Nacht.

„Bela?"

„Mhm?"

„Gehörn ... diese verdammten Scheißschmerzen eigentlich immer mit zur Liebe?" In meinen Ohren klinge ich fürchterlich naiv, aber es sind mehr als ernst gemeinte Fragen. „Und der Streit? Und die Kompromisse?"

„Vielleicht. ..." Er sieht mich sehr vorsichtig an. „Vielleicht is es so schlimm, weil `s davor so unglaublich schön is."

Ein roter Lichtschein schießt am Fenster vorbei, erleuchtet Belas Gesicht auf dem sich sowas wie Nostalgie und ein bisschen Trotz spiegelt. „Es ... es tut mir echt leid, dass ick nich besser für dich bin", murmelt er.

„Mhm. ... Ick hoff, ick werd`s überleben."

„Dit hoff ick och." Er lächelt und ich bin froh, dass die viel zu ernste Stimmung wieder vorbei ist. Er stützt sich hoch und setzt sich auf meinen Schoß, nimmt mein Gesicht zwischen seine Hände. Sein Blick auf mir ist so liebevoll, dass ich wieder Hoffnung schöpfe. Vielleicht haben wir zwei ja doch eine Chance miteinander.

Behutsam fährt er durch meine blonden Zotteln, streift mir meinen Pullover ab. Er zieht mir mein T-Shirt aus, öffnet dann meine Hose und wartet.

Ich nicke, beobachte ihn atemlos, sein Blick auf mir ist so intensiv in seiner Weichheit. Er nähert sich mir und unser erster Kuss nach über zwei Tagen hat was von dem blöden Silvester-Feuerwerk. Ich lege mich zurück, ziehe ihn auf mich und versinke in seiner Nähe, seinen Händen auf mir, seinem Mund.

BUMMM – BUMM – BUMM.

Bela schrickt hoch und setzt sich ein Stück auf. „Ham die jetz im Treppenhaus `n paar Böller gezündet, die Chaoten, oder was?"

„Dit hört sich eher so an, als würd jemand versuchen unsere Wohnungstür einzukloppen."

„Die Pachulke?" Fragend sieht Bela mich an. „Aber so laut warn war doch gar nich?"

BUMM – BUMM – BUMM. Eindeutig die Wohnungstür.

„Vielleicht guck ich doch mal nach, hm?"

„Oooch ..."

„Nu, schmoll nich. Bin ja gleich wieder da. ... ... ... Oooh! ... Ick mach gleich auf", höre ich ihn im Flur rufen. „Einen Moment." Schon steht er wieder im Zimmer. „Zieh dir wat an."

„Hä?"

Er wirft mir vom Boden mein T-Shirt zu. „Wir ham Besuch."

„Wen denn?" Keine Antwort, denn er ist schon wieder im Flur verschwunden. Ich schlüpfe in mein T-Shirt.

Die Wohnungstür klappt auf und ein herzzerreißendes Schluchzen dringt durch den Flur.

„Och, Süße!", vernehme ich Belas Stimme, dann führt er eine vollkommen aufgelöste Gitti ins Zimmer.  

„... sagt sogar noch, dass er vielleicht zu mir nach Berlin zieht ..." Ein weiterer Schluchzer schüttelt sie durch. „... nur damit ick dann gesteckt bekomm, dass der schon seit Ja-Jahren ..." Sie kann nicht weiter sprechen. Bela streicht ihr über den Rücken. „... mit `ner andren Frau in Ha-Hamburg Kinder hat."

Bela fängt meinen Blick ein und formt den Namen „Buddel" mit seinen Lippen. Sagt mir sogar was, obwohl ich kein Gesicht vor Augen habe. Vor allem Gittis unerbitterlicher Tränenstrom erzählt die Geschichte.

Bela führt sie zum Bett und sie setzt sich automatisch, Bela neben sie. Langsam kommt sie ein wenig zur Ruhe. Ein schmales Lächeln taucht auf, als sie mich zum ersten Mal bewusst wahrnimmt. „Oh, hey, Jan. ..."

„Soll ick ...?" Ich deute auf Belas Zimmertür.

„Nee, ick wollt euch echt nich stör`n. Also, sorry, ey, das ick hier so ..." Ich kann sehen, dass es ihr ein wenig peinlich ist, aber der Schmerz überwiegt einfach.

Vorsichtig taste ich nach ihrer Hand. Eiskalt. Ich rutsche ein Stück zu ihr hinüber und nehme ihre andere, wärme sie.

„Oh, dit tut jut", seufzt sie. „Danke."

„Ick kann dir och `n Tee machen."

„Vielleicht nachher. Echt `n großartiger Start ins neue Jahr. Ick hab die janze Nacht nich geschlafen." Sehnsüchtig schaut sie auf das Bett und ich schlage mit der Hand neben mich.

Sie mustert meinen Aufzug, deutet auf mein T-Shirt.  Ein Grinsen, dass nur ein Schatten ihres sonstigen ist.

„Oh." Die Nähte sind außen und hinten ist vorne.

„Tut mir echt leid." An ihren Wangen rollen immer noch Tränen hinab. „Ick hab euch wohl bei wat unterbroch..."

„Nee, schon okay." Ich streiche ihr über die Schulter und nehme wieder ihre Hand, die langsam ein bisschen wärmer wird.

Ihre Augen fallen für einen Moment zu. „Mhm. Danke. ... Dit tut echt jut." Sie rutscht noch ein Stück weiter in meine Richtung, lehnt sich neben mich an die Wand, Bela kriecht hinterher und so sitzen wir nun alle drei in seinem Bett, während die Zündelfreaks unten im Hof weiterhin so tun, als wäre heute schon wieder Silvester.

Sie legt ihren Kopf auf Belas Schulter ab und er streicht ihr durch die Haare. „Ey, dit tut mir echt leid. Was für `ne Scheiße." Er küsst sie auf die Wange.

„Mhm", schnieft Gitti neben mir und ich drücke ihre Hand.

„Ick wusst nich so richtich wohin und ..." Sie bricht ab und sieht zu mir. „Ey, echt sorry, dass ick hier so rinjeplatzt komm."

„Allet jut." Ich weiß nicht, warum ich es tue, aber ich hebe ihre Hand in meiner hoch und küsse ihren Handrücken.

Sie lächelt und ich weiß, dass es gut war diesem seltsamen Impuls zu folgen. Sie lehnt sich leicht an meine Seite. Ein angenehm blumiger Geruch steigt in meine Nase und ein warmes Gefühl zieht durch mich. Ich rutsche ein kleines Stück in ihre Richtung.

Sie sieht zu Bela. „Eigentlich hab ick so `n bisschen ... ähm, Vergessen gesucht." Vergessen ist wohl zu übersetzen mit Sex.

Ich beiße mir auf die Lippen. Das gab es bisher noch nicht hier in der WG. So viele Affären Bela auch hatte, er hatte – soweit ich weiß – noch nie hier in der Niebuhrstraße Sex mit jemand anderem als mir gehabt – zumindest nicht, wenn ich da war.

Sein Blick auf mir sagt, dass er das Gleiche denkt wie ich. Zweifel legen sich in Falten auf seine Stirn.

Ich nicke ihm zu. Es ist okay. Das mit Gitti war – ist für mich immer okay. „Na, denn, ihr Beiden." Ich rutsche langsam in Richtung Bettrand. Dennoch fällt es mir schwer mich von ihnen, aus der gemütlichen Atmosphäre hier in Belas schwarzem Zimmer zu lösen und hinüber zu gehen in mein eigenes, Beates Zimmer.

Eine Berührung an meinen Fingern. Gitti. Ungewöhnlich sanft für ihre sonstige Art. Aber sie hält meine Hand fest, wechselt einen Blick mit Bela und da ist etwas, dass ich nicht ganz deuten kann, aber ...

„Bleib. ... Also, wenn de magst." Ihre Hand hält immer noch meine fest und ihre Augen sagen ...

Ich blicke zu Bela. Auch in seinen Augen erkenne ich ...

Langsam sinke ich zurück auf sein Bett.

Er beugt sich über Gitti hinüber zu mir, nimmt behutsam mein Gesicht in seine Hände und sieht mich fast durchdringend an. „Willste ... willste dit denn och?" Es ist immer noch nicht ausgesprochen, was es ist.

Ich nicke, ein wenig zögerlich, weil ...

Bela klettert über Gitti zu mir hinüber, kniet sich zwischen meine Beine. „Du sagst, wenn ..." Er sieht mich immer noch so durchdringend an, dann küsst er mich lange auf den Mund, vertieft den Kuss und ich öffne meine Lippen für ihn, bin mir währenddessen der Anwesenheit von Gitti sehr bewusst, aber – es ist gut.

Belas Kuss ist das „Ich liebe dich", das ich fühlen musste, in dem ich mit ihm verschmelze. Er löst eine Hand von meinem Gesicht.

Eine Bewegung neben mir. Gitti schmiegt sich an meine Seite. Ihre Finger in meinen Haaren. Ihr Flüstern in meinem Ohr. „Wow, sind die weich." Es ist angenehm, wie sie meinen Kopf krault und ich schließe meine Augen wieder.

„Weißte noch, damals an Weihnachten im SO?", flüstert sie und ich nicke in ihr Streicheln. Eine Hand in meinem Nacken, breiter mit Schwielen. Ich öffne kurz die Augen und Belas Blick liegt so ruhig auf mir, ein Glänzen in seinen Augen und ein warmes Lächeln.

Das heiße SO, die stinkenden Toiletten. Gitti und ein sehr verschwitzer Bela. Sein Mund auf meinem. Damals noch so ungewohnt. Unser zweiter Kuss. Der bittere Geschmack, von was auch immer er damals genommen hatte, den ich inzwischen sehr viel besser kenne, weiß was in ihm auslöst. Manchmal komme ich mir trotzdem immer noch sehr naiv vor im Gegensatz zu ihm, auch wenn meine Abstinenz ja eine bewusste Entscheidung ist.

Bela küsst die Erinnerung weg, küsst mich in einen Sog, zieht mich an sich.

„Ihr seid einfach schön miteinander." Ich kann das Lächeln in Gittis Stimme hören. „Wart ihr immer schon."

Ich löse mich kurz von Bela auf meinem Schoss, sehe sie an. Ihr Lächeln ist ein klein wenig traurig, wie mir scheint.

„Magst du auch Gitti küssen?", flüstert Bela.

„Mhmmm." Ich nicke, bevor ich wirklich darüber nachgedacht habe. Auf einmal ist da einfach nur echte Zuneigung und ein wenig tiefer Kribbelndes, etwas wie  - Begehren?

Sie lächelt. Es ist schön. Nicht nur, dass sie nicht mehr so unglücklich und verletzt aussieht, sondern es ist schön, weil ... Ich kenne diese verletzliche, leise Seite von ihr nicht, aber ich mag sie. Ihre Nähe ist verlockend und gleichzeitig seltsam gemütlich.

Ihre Hand wandert aus meinen Haaren zu meinem Nacken und das leichte Gefühl wird elektrischer. Ihre Finger wandern nach vorne zu meinem T-Shirt und ziehen es hoch. Ihre Finger fühlen sich auf meiner Haut so anders an als Belas breite Hände. Ich blicke auf das abgeblätterte Rot ihres Nagellacks und beiße mir auf die Lippen, weil ich nicht erwartet habe, dass ihre Berührung das mit mir machen wird. Es zieht durch meinen ganzen Körper und macht mich an, sehr an, wenn ich ehrlich bin.

Wir sehen uns in die Augen und auf einmal ist da dieser magnetische Moment, wenn nur noch Nähe zählt und ... Ich beuge mich zu ihr, ohne das ich wirklich Einfluss darauf habe. Kurz bevor sich unsere Lippen berühren, zuckt sie ein Stück zurück, sieht mich ernst an. „Biste dir sicher, Jan?"

Ich nicke nochmal und halte die Luft an, weil ... Ich habe seit über einem Jahr niemand anderen mehr geküsst als Bela. Für einen Moment habe ich fast sowas wie Lampenfieber, aber da legt sie ganz zart ihre weichen Lippen auf meinen Mund und ich denke nur noch ja und dann gar nichts mehr. Der Moment scheint seit drei Jahren auf uns gewartet zu haben.

Ich höre neben mir wie Belas Atem sich synchron mit Gittis beschleunigt, seine Hand groß und warm auf meiner Brust.

„Oh, verdammt, küsst du gut!", keucht Gitti, als wir uns voneinander lösen und ein wenig warmer Stolz fließt mit dem Rausch durch mich, dann Ernüchterung.

„Weil de dachtest, dass ick ... Hat Bine gesagt, dass ick ..."

Sie weicht meinem Blick aus und es tut weh.

„Hey, Jan. Ick mag dich. Sehr sogar." Sie beugt sich wieder zu mir und ihr Mund zeigt mir ohne Worte, dass ...

Ich versinke wieder. Belas Hand streichelt Kreise auf meinem Brustkorb und die Wärme der Beiden hüllt mich so angenehm ein.

„Dit is ..." Ich wende mich zu Bela, der Gitti und mich so voller Liebe betrachtet, wende mich dann wieder ihr zu, lasse meine Hand in ihren Nacken gleiten und ziehe sie fester an mich. Es scheint ihr zu gefallen, wenn ich ihr leises Stöhnen richtig deute.

Sie hält inne, sieht mich an. Mit sanfter Gewalt drückt sich mich zurück auf Belas Bett und legt sich an meine Seite. Auf der anderen spüre ich warm Bela.

Kurz falle ich aus dem Moment. „Ick weeß nich, wie viel ick ..."

„Nur, was du magst ..." Belas Gesicht, seine Augen leuchten - ganz weich. Er zieht mir das T-Shirt über den Kopf. Sie beugen sich beide über mich und für einen Moment ist es fast zu viel und ich rutsche ein Stück hoch.

„Bleib." Er sagt es ganz leise, legt mir beruhigend eine Hand an die Wange. „Du kannst jederzeit Stop sagen, okay?" Er streicht weiter über mein Gesicht, als sei es das Schönste, was er je gesehen hat.

„Du riechst gut", wispert mir Gitti ins Ohr und ich kann das Lächeln in ihrer Stimme hören.

Irritiert drehe ich mich zu ihr.

„Halt nich nach Rauch und Alk und so, wie wir anderen."

„Aha."

„Ick mein dit als Kompliment." Ihr Gesicht nähert sich meinem und ihr Kuss wird stärker, schmeckt nach mehr.

Ihre Hände auf mir - und Belas. Schauer laufen über meine Haut wie ein Regen aus Sternschnuppen. Eine Hand gleitet tiefer, in meine Unterhose. An den vertrauten Bewegungen erkenne ich Bela. Weiche Lippen auf meinen und ich lasse los, muss nicht mehr verstehen, wer was ... Schwerelos schwebe ich mit den beiden im All.

Kurz bevor der Sog in mir zu groß wird, halte ich Belas Hand fest und schlage die Augen auf. Ich war so weit weg. Belas Zimmer wandelt sich vom Weltall zurück in eine gemütliche Höhle.

„Alles okay?" Bela scheint auch weit weg gewesen zu sein. Seine Worte sind so langsam.

„Ja. Ick will nur noch nich ..."

Er nickt.

„Ist das okay, wenn ich mit Gitti ...?"

Ich nicke, meine es so.

Bela zieht Gitti den Pullover aus. Sie trägt darunter nur einen schwarzen BH. Kurz will ich wegsehen, aber sie lächelt mich an. „Dit is echt okay, Jan!" Anders als bei Bela und mir stehen bei ihr nicht die Rippen sichtbar raus.

„Magste ...?" Sie legt meine Hand an ihr Schlüsselbein und dreht sich mir zu. „Du kannst mich gern anfassen."

Und das tue ich. Ich schmiege mich in ihre Weichheit, den ungewohnten, aber angenehmen Geruch. Irgendwie habe ich Frauen doch vermisst.

„Lass dich einfach treiben", flüstert Bela in mein Ohr und Gitti küsst mich und ich schließe die Augen, atme aus, lasse mich in die Wärme von uns dreien fallen.







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LYRICS

Harry Nilsson - Remember (Christmas)  

Die Roten Rosen - White Christmas

Wham! - Last Christmas

Limahl - The Neverending Story

Die Toten Hosen - Liebesspieler  

Die Roten Rosen - Leise rieselt der Schnee

die ärzte - Scheißtyp

Die Roten Rosen - Auld Lang Syne

Cigarettes after Sex - Each time we fall in love


ADDITIONAL SONGS

Die ärzte – Bommerlunder

Frau Suurbier feat. Die kleinen Suurbiers - Party-Killer (live 1984)

Die Suurbiers - Making of "Teenage Rebel"


DIE TOTEN HOSEN

Unter falscher Flagge – Ballhaus Tiergarten

Tapeattack – Die Toten Hosen live im Ballhaus

Die Toten Hosen Magazin – Bela B.

Zur vielzitierten Rivalität zwischen Ärzten und Hosen: Habt Ihr Euch damals wirklich geprügelt?

Die Wahrheit ist ja immer subjektiv. Wir haben uns geprügelt, aber es war eher eine Spaß-Prügelei. Da waren zwei Flaschen Wodka im Spiel. Und ein Wutausbruch von Campino war der Auslöser. Der war mir aber auch nur überliefert worden. Ich stand da einfach bei einem Konzert, die Suurbiers haben im Vorprogramm der Hosen gespielt. Und ich war über die Suurbiers-Gästeliste reingekommen. Campino soll daraufhin angeblich ausgerastet sein. Zu dem Zeitpunkt waren die Ärzte so ein bisschen die Hassfiguren der Szene. Weil Campi und ich uns aber schon eine Weile kannten, bin ich backstage gegangen und habe Wodka mitgebracht. Den haben wir dann nach dem Konzert vernichtet. Und dann haben wir uns trotzdem mitten im Winter vor dem Ballhaus Tiergarten geprügelt. Campino hat gesagt: „Zwei Ärzte gegen mich, das ist ungefähr fair." Das haben wir dann auch gemacht, Sahnie und ich.

Der Ausgang war aber nicht ganz so erfolgreich für Euch?

Wir sind dabei sowieso die ganze Zeit nur am Boden rumgeschlittert, wegen dem Glatteis. Ich weiß noch, dass es dann noch ein Geplänkel zwischen Andi und mir gab, und dass ich noch einen Tritt bekommen habe, als ich schon am Boden lag. Eine Viertelstunde später hat mir Andi aber auch schon wieder ein Bier in die Hand gedrückt. Ich hatte auf jeden Fall am anderen Tag ein fettes, blaues Auge von dieser Schlägerei. Es ist aber immer ein bisschen mehr draus gemacht worden, als wirklich los war.

Ich denke jetzt aus der Weisheit des Alters heraus, dass das manchmal auch dankbar von uns aufgenommen wurde: Uns sind danach irgendwelche abfälligen Sprüche von Campino über die Ärzte immer mit totalem Hass überliefert worden. Und umgekehrt lief das bestimmt genauso. In dem damaligen Kontext von Punk-Rock und In-besetzten-Häusern-rumhängen, da hat es öfter blaue Augen gegeben. Nur bei uns findet das eben immer wieder in der Presse statt.


Tagesspiegel – Auf den Spuren der ärzte und der Toten Hosen

Auf Eurem neuen Album „Geräusch" gibt es das Stück „Als ich den Punk erfand". Ein neuer Nadelstich gegen Düsseldorf?

1998 hatte ich den Song „Punk ist…" geschrieben. Und das war tatsächlich eine Abrechnung mit der Vergangenheit. Es gab in den 80ern ja wirklich einige Interviews mit Campino, in denen der gefragt hat, was an den Ärzten denn Punk sei: „Wo kommen die denn her? Die haben doch gar keine Punk-Vergangenheit." Da hat er sich seinerseits einige Male weit aus dem Fenster gelehnt. Da habe ich dann in „Punk ist…" ein paar Zeilen eingebaut, die sich darauf bezogen, was Campino für die Punk-Bewegung geleistet hat: „Besoffen Lieder grölen vom Tresen / und nur 77 ist echt gewesen!" Diese Zeilen waren eindeutig Campino gewidmet. Das neue Stück hat aber nichts mit Düsseldorf zu tun. Da können sich Leute angesprochen fühlen, die immer noch im Untergrund leben und uns für Kommerzschweine halten, die wir auch sind (lacht).

Also herrscht zur Zeit Friede, Freude, Eierkuchen zwischen Ärzten und Hosen?

Die Konkurrenz zwischen unseren Bands muss es immer irgendwie geben. Das wäre ja auch total langweilig, wenn die Hosen und die Ärzte jetzt die allerbesten Freunde wären und sich permanent zu Kaffee und Kuchen einladen würden. Farin Urlaub würde mal ein Lied für die Hosen und Campi mal ein Lied für die Ärzte schreiben. Das wäre ja totaler Blödsinn! Dieses aneinander Reiben und auch dieses gegenseitige Beobachten, das macht ja auch irgendwie Spaß. Das hat es bei den Beatles und Stones, selbst schon bei Frank Sinatra und Elvis Presley gegeben. Das ist eine ganz gesunde Angelegenheit, die zu 70 Prozent aus Respekt voreinander besteht – und von den restlichen 30 sind mindestens 15 auch einfach der Spaß, sich hin und wieder gegenseitig zu verarschen. Wenn ich mal in einem Interview etwas sage, ist das ja immer ironisch oder zynisch gemeint; verletzten tun wir uns damit schon lange nicht mehr.


Musikexpress – Die ärzte vs Die Toten Hosen

Die Toten Hosen 1985 Bericht in TV mit Jochen Hülder

Andi Meurer getreten

Number one Shitlist

Prawda 4 ab S. 55 – Interview mit Campino

Die Ärzte bei den Hosen live, 2022



INTERVIEWS

FUQ - Musik

Ist dein Harmoniegesang etwas, was Du schon immer gut beherrscht hast oder ist das mühselig antrainiert und erarbeitet?

Ich behaupte immer noch, dass das an meiner frühkindlichen Beatles-Prägung liegt. Es fällt mir extrem leicht, Harmonien zu singen; auf längeren Autofahrten versehe ich regelmäßig und lauthals z.B. Johnny Cash, Joe Strummer und sogar Harry Nielsson mit Harmoniegesängen – sehr zum Leidwesen eventueller Mitfahrer:innen.


LOCATIONS

Pop Inn

 

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Chapter 50: 1985 - Ohnmacht

Chapter Text

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Und wieder über die 10.000 geschossen. Oje …

Ein riesiges Dankeschön geht raus an Desi aka Rockybeachgirl, die mich hier so wunderbar als Betaleserin unterstützt hat – vor allem bei den schwierigen Szenen am Schluss.

Ich empfehle euch wärmstens mal auf Fanfiktion.de bei ihrer Geschichte „Einschlag" vorbeizuschauen.

Dieses Mal gibt es sehr viel Biographisches im ersten Teil der Geschichte von der Debil-Tour, aber ohne Anspruch auf chronologische Korrektheit.

Das Ende ist – zum Glück – komplette Fiktion.  

Hier gilt leider eine Content warning
!!! Kennzeichnung mit !!! am Anfang und Ende:
Intensive, übergriffige Szene, die natürlich nie so passiert ist.



 

* Teenagers in Love *






1985 – Ohnmacht







2. Januar – Niebuhrstraße 38 b, Charlottenburg

„Ey, danke euch. Mir jeht`s viel besser." Gitti wirft sich ihren Mantel über, küsst mich und wendet sich dann Jan zu.

Mit seinen extrem verstrubbelten Haaren und dem zerknitterten T-Shirt sieht Jan grad einfach nur süß aus. Er lächelt verlegen halb Gitti, halb den Boden im Flur an und auch Gitti wirkt auf einmal fast ein wenig schüchtern. Dann beugt sie sich zu ihm. „Alles okay zwischen uns?", fragt sie vorsichtig. „Also, ick fand`s ..." Sie lächelt.  „... echt schön gestern."

Ihr Lächeln spiegelt sich in Jans Augen, als er sie direkt ansieht und dann nickt. Ich atme erleichtert auf.

Auf einmal bricht Jans breites Grinsen durch. „Ähm, … also, ick hab zu danken." Dann wird erwieder er ernst. „War echt schön." Er fasst vorsichtig nach ihrer Hand, zieht sie dann auf einmal fest an sich, fährt durch ihre Haare und küsst sie einmal lange auf die Wange.

Als er sie langsam wieder loslässt, sieht er zu mir. „Mit euch." Er verschränkt seine langen Finger mit meinen.


Am Nachmittag steht auf einmal Beate mit Sack und Pack vor der Tür.

„Tut mir echt leid, ihr Beiden, aber – der Besuch bei meinen Eltern war so ... ätzend. Ich musste da einfach abhauen."

„Kein Problem", sage ich.

„Ähm, okay ... Klar", sagt Jan, aber ich kann ihm ansehen, dass es eigentlich doch eines ist. Und auch ich hätte die gerade erst wieder aufgekeimte Zweisamkeit gern in Ruhe mit ihm ausgekostet.

„Übrigens ..." Beate hängt ihren Mantel auf. „Die CBS ist auf einmal total angetan von euch."

„Wahrscheinlich wegen der geilen Weihnachtsfeier, wa?" Ich stoß Jan in die Seite.

„Auch. Aber - von eurer Platte wurden einfach mal in den ersten 8 Tagen 10.000 Stück verkauft."

„10 ... Tausend?" Mir bleibt ernsthaft der Mund offenstehen.

„Krass ..." Auch Jan wirkt leicht geschockt, dann seufzt er. „Dann könn wa wohl endlich wieder Essen kaufen."



10. Januar – Niebuhrstraße 38 b, Charlottenburg

Und schon sind sie wieder da. Ulli von der Bravo fällt mit einer Photographin, die wir nicht kennen, in die WG ein. Heike inspiziert sehr neugierig unser trautes Heim.

Jan seufzt, dann zucken wir fast synchron mit den Schultern. Wir wollten ja reich und berühmt werden. Immerhin letzteres scheint langsam in die Gänge zu kommen.

„Und hier wohnt ihr zu dritt?", fragt Heike skeptisch.

Ich seh wie Jan auf einmal sehr aufmerksam wird. „Na, ohne Kohle können wa uns halt keen Palast leisten", schießt er zurück, schickt dann schnell ein Farin-Urlaub-Grinsen hinterher.

„Aha."

„Das hier ist meins", sag ich schnell und zieh Heike in mein Zimmer. Zu spät fällt mir auf, dass einige von Jans Riesen-Klamotten schon sehr stark darauf hindeuten, dass er mit mir in einem Zimmer wohnt. Und schläft.  

„Und wo ist dein Zimmer?", fragt die neugierige Heike auch schon.

„Also, das ... Äh ..."

Jan! Du bist doch sonst nicht auf den Kopf gefallen, denk ich und seh ihn scharf an. Oder will der uns jetzt in der Bravo outen? Kurz find ich den Gedanken ganz verlockend, aber ...

Ich schieb mich vor ihn und deute auf das Minizimmer. „Das ist seins. Aber unsere Managerin hat dort momentan ihr Büro."

„So, so!" Ich mag ihren Unterton nicht. Heike hat eindeutig gecheckt, dass hier was faul ist. Vielleicht denkt sie auch, dass einer von uns was mit Beate hat. Wie abstrus!

„Mhm." Sie denkt nach. „Also die Fans dürfen natürlich nicht mitbekommen, dass bei euch eine Frau in der WG wohnt." Sie wirft Beate einen Blick zu, der ...

Auf einmal brennt die Luft. Zwischen den beiden Frauen läuft in unserem kleinen Flur ein Blickduell. High Noon – wie in einem verdammten Western.

Ich kann sehen wie Beate in ihrem Kopf die ersten vernichtenden Sätze formuliert, aber dann scheint sie sich an ihre eigene Professionalitätsregel zu erinnern. Sie rollt mit den Augen, wirkt dadurch eher wie ein Teenager, nicht wie die Frau Ende zwanzig, die sie ist.

„Schon gut." Sie hebt übertrieben dramatisch die Hände. „Ich räum alles zur Seite, was irgendwie auf die Anwesenheit einer weiblichen Person hindeuten könnte."

„Na, wunderbar." Heikes Lächeln erinnert an eine Hyäne. Keine Ahnung, was die für ein Problem miteinander haben.

In meinem Zimmer befiehlt Heike mir eine Platte in ihre Linse zu halten. Ich entscheide mich für KISS, aber sie will, dass ich die Sex Pistols hochhalte.

Dann soll ich in der Ecke vor dem Plakat mit der hübschen Frau posieren. Meine tolle Horror-Ausstellung will sie nich – schade. Und mein geliebtes großbusiges Vixen-Plakat muss ich auch abhängen, dass wäre nicht so kompatibel mit dem Teenie-Image der Zeitung. Na toll. Jetzt zensiert die BRAVO auch noch meine Bude.

Immerhin krieg ich den Joke mit der Skeletthand unter.

Nach zwei Stunden hat Heike mit ihrer Kamera endlich unsere Wohnung fertig kartographiert und Jan schließt mit einem Seufzer die Wohnungstür hinter den beiden.

„Was für eine blöde Trulla!", schimpft Beate los. „Die kommt mir hier nicht mehr rein." Ihre Augen blitzen. „Total debil, dieses Weib."  

„Na, na, na", mahne ich sie mit einem fetten Grinsen. „Wo bleibt die Etikette, die du mir immer predigst?"

„Pfff." Sie dreht sich um und geht in Richtung ihres Büros, dreht sich dann doch nochmal um. „Habt ihr schon alles für die Tour gepackt?"

„Ähm …” , beginn ich.

Jan salutiert mit „Ja, Frau Oberaufseherin!".

„Gut." Sie tritt einen Schritt auf ihn zu und fährt ihm durch die Haare. Er zuckt zurück. „Tschuldige, aber … Die müssen so schnell wie möglich wieder platin werden, mein Lieber!"

Jan sieht sie mit offenem Mund an, dann verändert sich etwas in seiner Körperhaltung. „Und wieso?", fragt er genervt.

„Na, der Wiedererkennungswert. Du bist Farin Urlaub, der große Blonde!”

„Sahnie ist auch der große Blonde.”

Sie wiegt den Kopf hin und her. „Wenn ich ehrlich sein darf: Hans Bühnenpräsenz ist nicht so … Naja - egal." Sie lächelt ihn an. „Außerdem - es sieht einfach besser aus an dir."

Ein kleines Feuer brennt in Jans Pupillen, wenn man genau hinsieht. Das checkt jetzt Beate wohl auch, denn auf einmal wird sie ganz verständnisvoll und sanft. „Hey, ich kann ja verstehen, dass dich das nervt, aber – ein bisschen müsst ihr euch halt auch als das Produkt „Die Ärzte” sehen, wenn ihr denn wirklich reich und berühmt werden wollt, egal wie scheiße du das findest."

Als hätte sie mit ihren Worten die Luft aus Jan herausgelassen, knickt er ein wenig ein. „Okay", brummt er schließlich. „Kannste mir beim Bleichen helfen, Bela?"

„Klar." Ehrlich gesagt: ich mag ihn auch lieber in Blond.

Eine Stunde und viel beißendes Wasserstoffperoxid später betrachtet sich Jan im Spiegel. „Seltsam. Irgendwie mocht ick mich schon och so ... so anders "

Ich lasse meine Hände durch seine nun wieder blond glänzenden Haare gleiten, die eine Mischung aus struppig und weich sind. „Schön."

„Ja?" Er grinst, drängt mich rückwärts, bis ich die kalten Kacheln der Wand im Rücken spür. Hmmm ... Dann fällt mir ein, dass wir ja ab morgen wieder auf Tour sind und ich deswegen verabredet bin.

„Ähm, du ... Also, ick wollt gleich noch ma zu Gitti."

„Oh. ... Okay."

Ich horch auf jede mögliche Art von Unterton, aber – da ist keiner.

„Willste … Haste Lust mitzukommen?" Ich weiß, dass Gitti nichts dagegen hätte. Sie hat in den letzten Tagen ziemlich, fast ein wenig sehr viel, von ihm geschwärmt.

Der lächelt, küsst mich auf die Wange. „Is schon okay.” Er grinst.

Oh. Soll ich betteln? Nee. Oder?

Er scheint meinen Blick zu verstehen. „Viel Spaß euch. Ick mach mir hier `n ruhigen Abend und wir sehn uns dann morgen."

Ich kann nichts dagegen tun, dass sich meine Lippen nach vorne schieben.

„Schmollste?" Er sieht mich fast `n bisschen belustigt an.

„Nö", murre ich. Es war halt echt schön mit den beiden.

„Mhm." Er küsst mich auf meine Schnute. „Warum biste denn jetz so muksch?”

„Was … bin ich?” Bela sieht mich mit großen Augen an.

„Na, muksch. Dit hat meine Oma immer gesagt, wenn ick geschmollt hab.”

„Aha. … Also … Na, ick fand dit halt ziemlich jut mit dir und Gitti”, stammel ich rum.
Er streicht mir durch die Haare und küsst mich. „Ick och, aber ...  vielleicht ist es besser, wenn dit was Besonderes bleibt.

„... ... Okay." Schade ist es dennoch. „Küss mich nochmal.” Ich zieh ihn an mich, nehm seine Hand und führ sie an meinen Reißverschluss. „Kannste mir noch einen runterholen? Auf der Tour wird dit alles wieder so …”

„Dann kannste doch nachher nich mehr.”

„Dit krieg ich schon hin”, sag ich im Brustton der Überzeugung, auch wenn er wahrscheinlich recht hat. Aber gerade ist er mir doch ein bisschen wichtiger, aber ich will Gitti nicht hängen lassen nach dem Drama mit Buddel.

„Okay.” Jan drängt sich fester an mich und schiebt seine Hand in meine Hose. „Mit Vergnügen", grinst er.

So ganz haben wir`s immer noch nich raus, wie wir hier Sex haben können, ohne dass Beate das mitbekommt, aber ich kann auch grad nich drüber nachdenken, denn Jans Hände auf mir fühlen sich verdammt gut an.



7. Februar - Transitstrecke

Die erste große Frage der Tour ist: Wie bekommt man 11 Leute in einen Kleinbus für 9?

Da die Hallen bei der Tour zum Teil sogar über 1.000 Leute sind, brauchen wir eben auch `ne größere Crew. Neben Beate und Nopper sind mit an Bord: unser neuer Tourmanager Jacki Eldorado, Lui für das Licht und für unseren guten Sound: Dave aus Irland, der die Monitore mixt und ein anderer Dirk als Tonmeister.

Außerdem werden wir zeitweise auch noch von BRAVO-Ulli begleitet, der dieses mal zum Glück eine andere Photographin, Susanka, dabei hat und Huppi, einem Typen, der einen Bericht über uns schreiben will.

Krass. So professionell waren wir noch nie aufgestellt. Fast macht es mich ein wenig nervös.

Sogar einen richtigen Fahrer haben wir dieses Mal, so dass Nopper sich nur noch um unseren neuen Merchandise kümmern muss. Ich bin echt gespannt, ob jemand den „Ärzte"-Hammer kauft oder noch besser den „Ärzte"-Porsche in rot-weiß für schlappe 99.000 Mark.

Wir fahren aber statt Porsche Kleinbus und in dem land ich ausgerechnet neben Hans. Beate hat Jan nach hinten auf die letzte Rückbank gezogen, weil sie mit ihm was besprechen will.

Auch Hans will anscheinend etwas mit mir besprechen - über „das Geschäft", wie er es nennt. Wir rollen auf den Checkpoint Richtung Transitstrecke zu. Da er jetzt nicht mehr hinter`m Lenkrad sitzt, hat er leider sehr viel mehr Energie zum Labbern.  

„Das MUSS radiotauglicher werden. Einfach noch poppiger", erklärt er mir. „So, wie die „Münchner Freiheit".”

Ich weiß nicht, was ich zuerst machen soll. Kotzen, ihn auslachen, Augen rollen. Schließlich entscheid ich mich für einen Finger im Rachen mit den entsprechenden Kotzgeräuschen.

„Mann, Dirk. Nimm das doch mal ernst."

Super. Ausgerechnet er, der nie was Vernünftiges beisteuert - er, der Spießer, tut jetzt so als wäre er der Macher der Band.

„Sach ma, spinnste? Jan und ick haben mit Sicherheit nich Soilent Grün uffjelöst, damit de dann per Nörgel-O-Meter gloobst bestimmen zu könn, was wir für Musik machn."

„Jetzt sei doch mal realistisch. Mit 25 wirst du doch nicht immer noch so Lieder wie „Teenagerliebe" singen wollen." Er sieht beifallheischend zu Jan hinter uns. „Hey, Jan, kannst du nicht so was schreiben wie „Ohne dich”.”

Hans hat echt so ein Rad ab mit seiner Vorliebe für diesen Scheiß-Hit, der alle fünf Minuten aus dem Radio dudelt.

Jan wirft ihm auch nur einen ungläubigen Blick zu, mehr geht gerade nicht, denn Beate mischt sich ein: „Was immer du gerade willst, Hans, das muss warten. Wir besprechen hier gerade etwas echt Wichtiges.”

„Wat denn?”, frag ich, weil Jan viel zu ernst, fast unglücklich aussieht.

„Ach, die CBS stresst gerade ein bisschen, weil sie einen Hit haben wollen.” Beate seufzt. „Die kriegen den Kanal wohl nach eurem guten Start nicht voll. Deswegen wollte ich mit Jan Optionen diskutieren, weil er ja die eingängigen Popsongs bei euch schreibt.”

„Aha.” Ich wusste bis jetzt nicht wie gut Beate Schläge unter die Gürtellinie austeilen kann. Wahrscheinlich meint sie es nicht mal böse, aber es schmerzt und das zeigt sich wohl auch in meinen Augen, denn Jan greift nach meiner Hand auf der Rücksitzlehne und drückt sie kurz. Sein Mund ist ein dünner Strich.

Dann beginnt er in seinem Rucksack zu wühlen und zieht seinen geliebten Walkman heraus, ein untrügliches Zeichen, dass er sich komplett verabschieden will von unserer gemeinsamen Realität. Das Gespräch mit Beate hat ihn wohl genauso genervt wie mich.

Er wirft mir ein kurzes, entschuldigendes Lächeln zu, dann setzt er sich die Kopfhörer auf und sein Blick und sein Geist wandern hinaus in die Welt außerhalb des Buses, über die spätwinterlichen Felder - in die Ferne.

Was für eine Scheißkälte da draußen. Hier drin ist es dafür höllenheiß mit den vielen Leuten und die Heizung lässt sich nicht regulieren.

Ich dreh mich wieder zurück und klopf Hans, dessen Mund sich immer noch bewegt,  jovial auf die Schulter. „Okay, hast och irgendwie recht, nee. Ick würd sagen, dann bringste nächste Woche mal `n paar erwachsene Hits für`s Radio mit in den Proberaum."

Danach ist er ruhig und ich kann mit Nopper einen Schlachtplan für die Post-Konzertgestaltung entwerfen.

In der Nähe von Magdeburg halten wir auf meinen Wunsch oder vielmehr meine Androhung in den Bus zu pissen endlich an einem Intershop. Ich liebe das erschwingliche Alkoholparadies der DDR.

Beschwingt schwebe ich durch die sozial-marktwirtschaftlich bestückten Regale, dann sehe ich Jans Miene. Schnell stell ich den Kirschlikör zurück. Mit dem hat ich mich so zugedröhnt, als Hans und er mich damals in Hannover haben stehen lassen. Wenn ich daran denk, werd ich sofort wieder sauer – obwohl unser Gefummel auf der Toilette des Metropol …

Aber ich würd schon echt gern `n bisschen Alk mitgehen lassen, aber das wird Jan nich gefallen ... Mein Blick fällt auf eine zaubergrüne Flasche. Ich glaub, ich hab `ne Idee.

Mit einer Flasche in der Hand geh ich auf ihn zu. „Kuck ma, wat ick hier für dich jefunden hab."

Er verschränkt die Arme. „Du weißt aba, dass ick nich trinke?!"

„Is klar ... Aber – dit is Pfefferminzlikör. Weil de ja durchaus dit schmeckst, wat ick trinke, dacht ick, dit wär ma `ne nette Abwechslung", erklär ich nonchalant.

Seine Arme bleiben zwar verschränkt, aber er wirkt nicht mehr so skeptisch. „Klingt interessant", murmelt er.

Und interessant ist es im Münchner Hotel dann tatsächlich. So interessant, dass Jan sich für den Auftritt in „Live aus dem Alabama" sein Priesterhemd anzieht, weil das mit seinem hohen Stehkragen am besten die Knutschflecke verbirgt, die ich in unserem Hotelzimmer gestern nacht großzügig an seinem Hals aufgetragen habe.  


8. Februar - Live aus dem Alabama, München

Er flirtet. Seit einer geschlagenen halben Stunde seh ich Jan zu, wie er diese Amelie umgarnt, die heute die Sendung moderiert und eigentlich mit uns nur ein paar Absprachen machen will.

Sie geht auf Jans Witze auch nicht wirklich ein, was leider dazu führt, dass er noch ein paar Gänge nach oben schaltet.

„So, jetzt ist auch mal genug mit der Besprechung", mischt sich auf einmal Beate relativ barsch ein.

Jan wirft ihr einen genervten Blick zu, aber ich bin ihr dankbar. Tatsächlich lässt sich Jan von ihr in die Umkleide scheuchen.

Dort unterhält sich Hans immer noch angeregt mit einem Mädchen, dass ihn vor der Halle angesprochen hat.

„Sach ma, wat denkst `n du wie alt die is?", fragt mich Jan, der auf einmal recht ernst wirkt.

„Die?" Verunsichert muster ich das Mädchen. „Na, so 18-19. Oder?"

„Na, dit hoff ick ma, dass die 18 is. Ick würd eher sagen, die is so alt wie Julchen." Er betrachtet die Szene vor uns mit gerunzelter Stirn. „Ey, is dir dit och schon aufgefallen, dass Hans sich oft so junge Dinger raussucht?"

„Echt?” Ich runzel die Stirn und versteh grad nich so ganz, was sein Problem ist. „Wir sin grad ma 3 Jahre älter als 18."

„Also, wenn du magst, können wir nach der Show noch was zusammen trinken gehen", hör ich Hans zu dem Mädchen sagen.

Jan betrachtet die Szene immer noch aus zusammen gekniffenen Augen. Auf einmal geht ein Ruck durch ihn und er schlendert hinüber zu den Beiden. „Na? ... Hi, ick bin Farin. Und du?"

„Kerstin." Sie lächelt ihn schüchtern an und ich seh `ne feste Zahnspange aufblitzen.

„Sach ma, kann ick fragen, wie alt de bis?"

„Äh, ... Ja, klar. Ich werd nächsten Monat 16."

„Oh. ... Toll! ... Dann bist du also noch minderjährig." Bei den Worten sieht er Hans sehr direkt an, der jetzt seinerseits Jan wütend anblitzt. „Ick meins nich bös, okay, aber ick würd sagen, dit is dann nich so jut hier im Backstage-Bereich zu sein. Oder, Hans?" Er grinst ihn mit gefletschten Zähnen an.

„Ich bring dich raus." Hans Wut wabbert bis zu mir.  

Als er zurück ist – ohne Kerstin - geht er schnurrstracks auf Jan zu. „Was labberst du denn für einen Blödsinn? Seit wann dürfen keine Minderjährigen mehr in den Backstage?"

„Bei dir geht es ja nich nur darum." Jan funkelt ihn an.

„Das nächste Mal fahr ich dir auch in die Parade, Vetter. Also, falls du überhaupt mal zum Zuge kommen solltest – sieht ja bisher nicht so danach aus. Bist wahrscheinlich bloß neidisch auf Bela und mich."

Scheiße, wieso zieht mich Hans da jetzt mit rein? Und es stimmt auch noch … Jan ist der Einzige von uns, der sich bisher noch nie auf die sehr eindeutig vorgetragenen Avancen unserer weiblichen Fans eingelassen hat.

Jan wird kurz ein wenig blass, dann dreht er sich auf dem Absatz um und geht durch eine schwere Eisentür nach draußen.

Als er nach 10 Minuten zurück kommt, würdigt er Hans keines Blickes, setzt sich neben mich. Er schnappt sich seine Gitarre und trümmert auf der herum. Langsam wird sein Spiel wieder melodischer und schließlich landet er bei den 50ern.

Als er gerade "Lovers who wander” anstimmt, steht auf einmal ein Riesenschrank in der Tür. An den vielen Goldketten identifiziere ich ihn als einen der Rapper aus der New Yorker-Crew, die heute nach uns der Hauptact sind.

„Whooo-whooo-whoooa – dandedede – dandiddle – dandiddle - ladladlad ...", fällt er mit einem Organ ein, als wäre er an eine Stereoanlage angeschlossen. Ich bin echt erstaunt, dass der Typ voller Inbrunst diese weiße Musik mitsingt, aber es ist auch sehr cool - genau wie er.

Als Jan die letzten Akkorde spielt, verschwindet er einfach ohne ein weiteres Wort. Jan und ich sehen uns mit großen Augen an, aber ich bin mir auch nicht sicher, ob das gerade real war.


Am Abend weigert sich Hans wegen des Streits am Interview teilzunehmen. Mir kann`s nur Recht sein.

Ein wenig wummert auch mir das Adrenalin durch die Adern. So viele Live-Interviews haben wir noch nicht gegeben, vor allem nicht im Fernsehen. Kurz hab ich überlegt, ob das ganze mit `n bisschen Speed besser zu überstehen ist, aber dann hat wohl doch ein kleiner Rest Vernunft in mir gesiegt.

Dafür hibbelt Jan neben mir herum, als hätt er das Zeug gezogen.

Bevor wir offiziell auf die Bühne gebeten werden, wird ein kleiner Ausschnitt aus „Richy Guitar" gezeigt. Es ist das erste Mal, dass ich überhaupt was vom fertigen Film sehe und es ist einfach nur krass unsere Gesichter zu sehen auf den Monitoren.

Dann schwappt eine Gefühlswelle über mich, spült mich zurück in den Oktober. Flashback pur.

Ich seh zu Jan, der genau im gleichen Moment zu mir blickt. Unsere Blicke verschränken sich. Es ist so klar, dass auch er immer noch damit kämpft, was wir uns beide während der Dreharbeiten angetan haben.

Als letztes flimmert ausgerechnet die Wohnwagen-Szene über den Publikums-Bildschirm. Pfiffe werden im Publikum laut, Pfiffe, die wohlgefallen bekunden.

„Na, das sah doch recht heiß aus", sagt dann auch die Co-Moderatorin, deren Namen ich vergessen habe und die uns auf unsere Position auf dem Podest begleitet. „Hat dir die Szene denn Spaß gemacht, Farin?"

Der grinst nur und schweigt, aber kaum sitzen wir vor dieser Amelie, geht es wieder los.

Zuerst denk ich noch, dass er über mich und meinen schrägen Sonnenbrillen-Gag lacht, aber dann check ich, dass es wohl doch wieder um sie geht.

Diese Amelie mit ihrem kühlen, aber freundlichen Moderatorinnen-Ton kann ich nicht lesen – und auch Jan grad nicht so richtig. Irgendwie glaub ich, er weiß selber nicht, was los ist. Wahrscheinlich würde er „Lampenfieber" vorschieben.

Diese Amelie schlägt sich echt wacker gegen den unberechenbaren Blödsinn, den Jan auf sie abfeuert wie Silvesterraketen. Ist das sein normaler Ärzte-Blödsinn oder doch flirten?

Es bedient jedenfalls genau diese Mischung aus Jungscharme und Berliner Schnauze, die ich auch so an ihm liebe. Und es ist definitiv nicht das erste Mal, dass ich seh wie er sie auf jemand anderen loslässt, aber so auffällig hat er schon lange nicht mehr mit einer Frau geschäkert und das auch noch vor laufenden Kameras. Irgendwie macht mich das so ein bisschen stumm.

„Wir können ja auch Lieder über Jungs machen, aber dann kommen wir nicht mehr in eure Talkshow", grinst er gerade. Und wie er grinst. Keine Ahnung, was er an der findet, aber wie er sie jetzt anguckt, dann wegsieht, dann mit einem leicht verlegenen Lächeln wieder hin.

„Das versteh ich jetzt nich", meint sie nur, was sie mir fast sympathisch macht, denn ich versteh hier grad auch so einiges nich.

„Naja, ihr seid doch immer so ein bisschen merkwürdig hier unten", fährt Jan unbeirrt fort. „So konservativ. Ich hab mir extra so `n Hemd angezogen, vielleicht hast du das gemerkt." Er grinst sie wieder mit voller Wattzahl an.

Nee Jan, denk ich. Das Hemd haste wegen mir angezogen.

Johlen und Klatschen trotz der Beleidigung gegen Bayern. Auch das Publikum hat er auf seiner Seite.

Beim nächsten Stichwort „Vorbild" sagt Jan einfach nur mit Blick auf diese Amelie: „Seit dem ich dich kenne ..." Er grinst sie so an, dass sogar ihre professionelle Wand zu bröckeln beginnt.

„Diesem Charme ist man ja wirklich hilflos ausgeliefert", bricht es aus ihr heraus. Schnell macht sie weiter: „Was fällt euch ein beim Stichwort „Schönheit"?"

„Schon wieder du", feuert Jan grinsend auf sie ab und ich stimm jetzt einfach mit ein, um die Dynamik zwischen den beiden ein wenig aufzubrechen.

Das Publikum schüttet sich aus vor Lachen.

„... dieses peinliche Spektakel abbrechen, weil es wird mir langsam unangenehm." Ist halt doch Profi die Frau, sogar bei dem Charme eines Farin Urlaubs.

Seit der Nacht mit Gitti ist da etwas an ihm … Am liebsten würd ich ihn fragen, aber ...

Im Rest des Interviews teilt Jan auf einmal heftig gegen Sahnie aus und ich hab auch eine Vermutung warum.


Hinter der Bühne fängt uns Beate ab. „Diese Amelie war ja mal echt seltsam."

Ich kann ihr nur beipflichten, aber Jan zieht einfach eine Augenbraue hoch. „Wie jetze? Dies ma keene Kritik an uns?"

„Na, Jungs!" Auf einmal steht Hans Vater samt Gattin in unserer Garderobe. Sie sind auf der Durchreise in den Skiurlaub und Herr Runge will uns Karrieretipps geben. Ich schalte auf Durchzug und denke: Der Apfel fällt und so weiter ...

Später bei unserem Auftritt scheint er aber so viel Spaß zu haben, dass ich ihm nicht mehr böse sein kann. Außerdem muss ich mich eh konzentrieren, denn unser Konzert wird Live ausgestrahlt.

„Kennt ihr Sahnie?", rufe ich hinter meinen Trommeln ins Publikum. „Sahnie ist dieser Mensch." Ich muss mich echt zusammenreissen, jetzt vor seinen Eltern keine blöden Sprüche zu bringen.

„Er besticht durch sein vorteilshaftes Äußeres und Sahnie hat ein Lied geschrieben, was er jetzt in Bayern vortragen wird. Wir sind nämlich im TV." Ich zeig auf die Kamera. Schon ein bisschen aufregend das Ganze, aber weiter im Text. Ach ja Texte.

„Äh, also, Sahnie hat ein Problem: er kann sich keine Texte merken, nicht mal seine eigenen." Uuups. „Und weil uns das immer unheimlich belustigt." Ich seh zu Hans. Der guckt kurz angepisst, dann grinst er wieder oder macht zumindest gute Miene zu meinen Kommentaren. „Wenn das mal wieder passiert, haben wir uns eine todsichere Methode ausgedacht. Da das garantiert auch heute passiert und zwar sollt ihr einfach mitsingen."

Das Gepfeife und Gejohle aus dem Publikum kann ich nich so ganz einordnen, aber egal.

„Aber nich den ganzen Text ...", springt Farin ein, da Hans gar nichts sagt. „Das ist wahrscheinlich zu schwer. Wir haben deswegen die ganze Aussage des Liedes ein wenig komprimiert auf das Wort „Debil"."

Ich halte nach Beate Ausschau. Sie steht auf Farins Seite recht nah an der Bühne.

„Schafft ihr das: debil?", fragt Farin ins Publikum. Zustimmendes Gejohle. „Probieren wir ma alle zusamm. Eins – zwei – drei!"

„Deee-biiil!", ruft das Publikum brav zurück.

„Was war das: Cappuchino? Jungs: Debil! Nochmal! Äh, und Mädchen. Tschuldigung. Eins – zwei – drei!"

Dieses Mal ertönt das „Debil" schon viel lauter. Jan hätte echt Lehrer werden können mit seinen Massenbändigungsansprachen.

„Unsere Liebe war so schön ...", beginnt Hans zaghaft zu singen.

Jan gibt das Zeichen und das Publikum antwortet sehr unkoordiniert: „Debil".

„Spätzünder! Nicht wahr!", bricht Jan das Lied ab und rügt seine „Klasse". „Also, ihr wisst jetzt, wo es kommt und bitte alle zusammen „Debiiil"." Ich verpass fast den Einsatz bei Farins debilem Vortrag des Wortes.

Beate amüsiert sich am Bühnenrand ebenfalls sehr und betrachtet ihn mit glänzenden Augen. Wahrscheinlich musste sie auch fast heulen vor Lachen.

Sahnie fängt wieder zu singen an. Mannometer. Im Gegensatz zu Farin und mir klingt das echt traurig, also sein Gesang. Vielleicht gut, dass er nicht mehr Lieder schreibt.

Das „Debil" klappt dieses Mal an der richtigen Stelle und Farin sieht sehr zufrieden aus.

Nach uns spielen dann die New Yorker Rapper „Melle Mel & The Furious Five". Echt was ganz anderes, als unsere Musik, aber auch cool.

Der Rest der Nacht ist leider weniger verschwommen als geplant. Eigentlich wollte ich die 50 Mark Verpflegungsgeld mit Nopper in so `ner Münchner Edeldisko auf den Kopf hauen. Aber in dem blöden Schuppen bekommen wir dafür nur 2 Whiskey. Lächerlich.


9. Februar – Schlachthof, Bremen

Voll gut mal wieder in Bremen zu sein.

„Wo ist denn Knüppel?", frag ich Fabsi.

„Oh, ähm ..."

„Ja?"

„Also, der meinte, dass er findet, dass ihr ..."

„... Kommerzschweine geworden seid?", ergänze ich, dass was nun unweigerlich in den Lückentext gehört. Das hat echt die Schlagkraft eines Knüppels.

Mir geht`s erst wieder besser, als ein BH auf die Bühne fliegt. Schwarze Spitze und ich bin sehr fasziniert von ihm und von der Tatsache, dass uns jetzt so echte Rockstar-Dinge passieren.

Danach gehen wir noch in einem Imbiss Döner essen. Richtig viel runter krieg ich nich, aber das Chili-Zeug ist echt genial. Der Besitzer meint, dass das auch echt gut sei für die Vitaminversorgung, deswegen zerbrösel ich eine Schote über meinem Salat.

„Boah, brennt dit!” Ich bin wirklich beeindruckt von der Wirkung und trink ein Glas Wasser nach dem nächsten.

Jan hält sich einfach nur den Bauch vor Lachen. „Tut weh, wa? Hat ick in der Türkei och ma, als ick dit noch nich so einschätzen konnte mit den Schärfegraden. Hier trink ma `n bisschen Ayran nach."

Danach bin ich so hochgefixt vom Chili, dass ich mit Nopper noch bis drei Uhr in Bremen unterwegs bin.  

Als ich ins Hotel zurück komm, kann ich nich pennen. Jan schnarcht leise vor sich hin, aber ich krieg kein Auge zu vor lauter Adrenalin. Manchmal hilft es zum Runterkommen, wenn ich mir einen runter hole. Funktioniert auch wirklich gut und ich bin danach echt müde, aber auf einmal fängt mein Schwanz an zu brennen wie nichts gutes.

Mir bricht echter Angstschweiß aus, weil es so weh tut und weil ich Schiss hab, dass ich mir bei einer meiner Affären schon wieder `nen Tripper eingefangen hab und das möcht ich Jan echt nicht beichten müssen.

Komisch ist, dass auch meine Augen brennen. Es ist echt nich zum Aushalten. Ich stell mich unter die Dusche und tatsächlich tut das Waschen gut.

Auf einmal geht die Badtür auf und ein total verpennter Jan kommt rein. Ich dreh das Wasser ab.

Er blinzelt gegen das helle Licht und reibt sich über die Augen. „Ick muss ma pissen.”

Ich nick und fang an mich abzutrocknen.

„Allet klar bei dir?” Jan wirkt ein wenig wacher, was mir gar nich recht is, weil ich ihm dann mein Problem beichten muss.

Er beugt sich über mich. „Deine Augen sin total rot. Haste geweint?” Auf einmal klingt er echt besorgt.

„Nee, aber … Also, ick hab so `n bisschen Schmerzen …”

„Oh. Wo denn?”

„Also, mein Schwanz …”

Jans Augenbrauen gehen nach oben.

„Der brennt total.”

Er sieht mich prüfend an. „Und deine Augen och, wa?”

Ich nicke, er überlegt, reibt sich währenddessen den Schlaf aus den Augen.

„Sach ma, haste dir eigentlich nach deiner Chilischoten-Aktion die Hände gewaschen?”

Oh …



10. Februar – Hunky Dory, Detmold

Im „Hunky Dory" in Detmold tobt vor der Bühne eine wilde Mischung aus Pogo und kreischenden Teenie-Mädchen. Ich glaub, langsam wird das was mit dem Popstar-Dasein.

Nach dem Gig stehen einige der Teenies auf einmal in unserer Garderobe.

„Nur ein Photo. Biiiiitteeee, Faaaariiin!", quietscht ein braunhaariges Mädchen mit einem am Bauchnabel geknoteten T-Shirt. Ich schätze sie so auf 14.

Ein anderer Fan, schon ein wenig älter zum Glück, will unbedingt ein Küsschen von Sahnie und großzügig wie er ist, gibt er ihr es auch. Ihre Freundin hat es auf mich abgesehen und bietet mir 10 Mark für einen richtigen Kuss. Das schockiert sogar mich ein wenig.



16. Februar – Stuttgart

Die Hauptverpflegung - neben Jacki Eldorados Süßigkeiten, der ihm den Spitznamen „Praline" eingehandelt hat - besteht aus Frass von McDonalds.

Nach den ganzen Geldsorgen ist es echt cool auf Kosten der Tourkasse reinhauen zu dürfen, aber um ehrlich zu sein – meistens ist mir das Zeug zu fettig und widerlich. Vielleicht hab ich mir essen auch einfach abgewöhnt. Deswegen vernüg ich mich einfach mit den Geschenken aus dem Kinder-Menü.

In Stuttgart ist das immerhin ein „Pirate Ship". Nopper und ich bauen aus den Bastelbögen unter Zuhilfenahme zweier Strohhalme als Masten eine Flagschiff und eine Galeone. Diese ziehen in eine wüste Seeschlacht durch den halben McDoof, bis uns ein Typ hinter der Theke freundlich daraufhin weißt, dass er auch gerne die Bullen rufen kann, wenn wir nicht endlich aufhören. Bisschen überempfindlich, der Typ. Aber da wir im unberechenbaren Süddeutschland sind, versenken Nopper und ich unter dramatischen Kentergeräuschen unsere tolle Flotte im Mülleimer.

Statt Burgern trink ich mein Abendessen in Bier, ist auch besser um der Dehydrierung entgegen zu wirken. Die Schwitzerei auf der Bühne nervt echt manchmal ganz schön, anderseits lieb ich Jan in verschwitzt und roten Wangen.

Der unterhält sich gerade angeregt mit einem Typen, der einen Bericht über uns schreiben will, über mathematische Gleichungen. Hans stimmt auch noch ein und ich weiß echt nicht: Wo war jetzt nochmal der Sex, Drugs `n Rock `n Roll-Lifestyle?

Und natürlich steht in Süddeutschland noch mehr Ärger ins Haus. Jan hatte mit seinem Konservativ-Vorwurf gar nicht so unrecht, obwohl wir dieses Mal Probleme von links kriegen.

Während eines taz-Interviews wirft uns die Interviewerin „Sexismus" vor und will vor dem Konzert irgendein politisches Pamphlet vorlesen. Na, super. Da entkommt man der dogmatischen Punkszene und dann sowas.

Als sie nach dem Konzert zu uns kommt und meint „Irgendwie seid ihr doch ganz süß." zeigt Farin ihr einfach seine 52 Zähne, ich ihr meine Zahnlücke.


18. Februar – Neunkirchen-Seelscheid

In Köln übernachten wir um Geld zu sparen bei Beates Oma. Leider ist die nicht so cool wie Jans. Schade.

Jan hat sich schon zurück gezogen. Er und ich sollen auf Isomatten auf dem Boden pennen, aber zum einen hab ich keinen Bock auf den Camping-Komfort und zum anderen bin ich noch nich müde

Aber keine Chance aus dem Kuhkaff raus zu kommen. Also fangen Nopper, Helmut und ich an zu pokern.

Ich verlier zum Glück nur 20 Mark, aber Nopper muss sein ganzes Honorar für das nächste Konzert an Helmut abdrücken.

Denn nehmen wir nicht mehr mit als Mixer. Am nächsten Tag vor dem Konzert pennt er dann auch noch über seinem Mischpult ein. Anfänger!



19. Februar – Luxor, Köln

In Köln überreicht mir eine junge Frau nach unserem Konzert einen Totenkopf. In der Mitte der Schädelplatte prangt ein Loch. Ich lass den Kopf fast fallen, als mir klar wird, dass das Ding echt ist und das Loch vermutlich die Todesursache erklärt.

„Woher …?” Ich seh an die Stelle, an der gerade noch die Frau stand, aber da ist niemand, was die ganze Aktion noch gruseliger macht.

Ein Schauer jagt meinen Rücken runter und ich bin mir echt nicht sicher, was ich davon halten soll. Aber den Schädel hier zurück zu lassen geht auch nicht. Eine seltsame Art von Beschützerinstinkt überkommt mich beim Anblick der zerbrechlichen, blanken Knochen.

Schließlich packe ich ihn in ein paar verschwitzte T-Shirts und hoffe, dass er die Reise zurück nach Berlin gut überlebt. Keine Ahnung, wie ich das den DDR-Grenzern erklären soll …



21. Februar – Batschkapp, Frankfurt

Unser letzter Tour-Tag führt uns in die CBS-Metropole Frankfurt und der legendären Batschkapp.

Am Vormittag müssen wir zu einem Interview mit dem Hessischen Rundfunk und werden mal wieder von Beate ermahnt wie zwei Schuljungen.

„Benehmt euch anständig: Keine Beleidigungen, keine obszönen Witze." Keine Ahnung, was die von uns denkt.



22. Februar – Niebuhrstraße 38 b, Charlottenburg

Hamburg-Wilhelmshafen-Bremen-Detmold-Kassel-Bochum-Aachen-Stuttgart-Köln-Frankfurt.

Wir stolpern aus dem Tourbus. 10 Stunden Fahrt inklusive Transitstrecken-Geholper knallen echt anders. Ich bin voll drüber vom Adrenalin-Auf-und-Ab. Jan sieht auch aus wie der Tod auf Latschen, dabei hat er nich so viel Party gemacht wie ich mit Nopper.

Wir laufen durch den Hinterhof auf die Haustür zu. Duschen! Bett! Alkohol! Ich weiß gar nicht, was ich als Erstes will.


Am nächsten Nachmittag sitz ich über einer Tasse Kaffee und einer Flasche kaltem Bier. Jan kichert über einen Comic in der „Zitty".

„Ihr seid zu einem Interview während der Berlinale eingeladen", platzt Beate in unsere idyllische Stille.  

Jan erschreckt sich so, dass er die Zitty fallen lässt und damit meine Kaffeetasse umwirft. Im letzten Moment fängt er sie, gießt sich dabei den heißen Kaffee über die Finger und stöhnt genervt auf. „Auuuu!"

Er zieht ein leicht verdrecktes Geschirrhandtuch von der Heizung, schmeißt es auf den Tisch, läuft dann zur Spüle und hält seine Hand unters Wasser. „Dit hat ick wohl verdrängt mit der Tour und den ganzen Konzerten", sagt er über das Rauschen des Wassers. Er sieht Beate fast bittend an. „Muss dit sein? Eigentlich will ick für dit "Meisterwerk” meine Fresse lieber nicht in die Kamera halten."

„Aber das ist eure Chance auf mehr Bekanntheit."

Ich find sie hat recht. Wann bekommt man schon mal die Chance sich als Schauspieler zu präsentieren? Außerdem waren die Dreharbeiten organisatorisch und emotional strapaziös genug, da haben wir uns so `ne schicke Premierenfeier mehr als verdient. Außerdem hab ich Bock auf den Auftritt, weil ... Eine Idee nimmt in meinem Kopf Gestalt an. Wenn sie die Ärzte interviewen wollen, dann bekommen sie auch die Ärzte.

„Ihr wollt doch Karriere machen oder ist es euch jetzt doch zuviel Arbeit?" Beate sieht einen Moment echt genervt aus.

„Nein, nein", lenkt Jan schnell mit einem Lächeln in ihre Richtung ein und schon sind die Wogen wieder geglättet.

„Gut."

23. Februar – Zoopalast

Der Zoopalast ist festlich angestrahlt und die Fassade ziert ein Riesenplakat. Leider nicht mit unseren Fressen, sondern von der „35. Internationale FilmFestspiele Berlin". Aber immerhin dürfen wir zwei mit Hans im Schlepptau tatsächlich über so etwas wie einen roten Teppich schlurfen.

„Kannst du mal aufhören zu hibbeln?" Jan fasst mich an der Schulter und tatsächlich kehrt für einen Moment Ruhe in mir ein.

„Biste denn gar nich uffjeregt?"

„Nee. ... Ehrlich jesacht, hab ick so `n bisschen `n schlechtet Gefühl."

„Wegen ... Also, weil dich dit allet wieder an ... an unseren Streit erinnert?", frag ich vorsichtig.

„Was? ... Nö. Oder - vielleicht `n bisschen? Aber ick mein, was machn wa, wenn der Film echt Schrott is?"

„Wieso sollte der Schrott sein? Immerhin spieln wir da drin mit." Ich deut stolz auf eines der Filmplakate, die großzügig im Foyer gestreut sind. Ein bisschen sehr poppiges Design für meinen düsteren Geschmack, aber ... „Du siehst echt schick aus da drauf."

Jan senkt nur den Kopf. „Dein Selbstbewusstsein möcht ick och ma haben."

„Kannste doch, Hübscher." Ich möcht ihn küssen. Wenn wir so `n normales Heteropärchen wären, dann wär das kein Problem und alle fänden `s toll.

„Also, ob`s darum geht", meint er nur, aber ein wenig geschmeichelt wirkt er dennoch.

In der Menge, die jetzt in den Kinosaal drängelt, wird immer wieder getuschelt und dann auf uns gedeutet. Ich find`s super und versuch meine gute Laune noch höher zu pegeln, denn manchmal reißt sie Jan mit. Deswegen grins ich ihn besonders breit an und ganz langsam bildet sich auch auf seinen Lippen ein Lächeln.

„Schon abgefahren, oder?”, grinst er schließlich. „Ick wünsch mir nur, dass ick nich recht damit hab, dass der Film einfach nur grottig ist.”

„Hey, da seid ihr ja endlich." Michael packt mich hektisch am Ellbogen. „Na, wie geht`s euch?" Ich hatt echt vergessen, dass er so eine dicke Brille hat.

„Äh, jut. Und schau mal, wen ich mitgebracht habe." Ich grins Michael an und zieh Hans vor ihn. „Das debile Burgfräulein."

Hans macht seinem neuen Spitznamen alle Ehre und lächelt wirklich debil.

Michael zieht mich mit Jan im Schlepptau in die erste Reihe. Dort sitzen auch H.G., Astrid und Sikka, die Jan mit einem zuerst sehr strahlenden, dann leicht traurigen Ausdruck ansieht.

Er umarmt alle und wird langsam ein wenig lockerer, wahrscheinlich weil es ihm gut tut mehr vertraute Gesichter um sich herum zu haben.

„Und freut ihr euch?", fragt Michael.

„Dit sach ick dir nach der Vorführung." Jan wirft ihm einen dieser intensiven Blicke zu, unter denen ich Menschen schon hab schrumpfen sehen.

„Aha." Michael scheint so unter Strom zu stehen, dass er Jans Unterton gar nicht wahrgenommen hat.

Die Lichter im großen Saal dimmen langsam herunter. Michael lässt sich als letzter in den Sitz neben mir fallen. „Dann woll`n wir mal, nicht wahr?"

Der Vorspann mit den Notorischen Reflexen flimmert über die Leinwand. Da. Da ist mein Name: Bela B. Felsenheimer. Eine heiße Welle aus Glück fließt durch mich.

Danach die erste Szene. Verdammt, sieht Jan süß aus, wie er da so verpennt im Bett liegt. Und – die Kamera liebt ihn.

Jan greift nach meiner Hand und ich drück sie, find es echt schön bis ich merk, wie sehr sie in meiner zittert. Ich lös meinen Blick von der Leinwand und seh zu ihm. Er ist in seinem Sitz so weit nach unten gerutscht, dass ich auf ihn hinunter sehen muss. Sehr ungewohnt.

Ich beug mich zu ihm hinunter. „Hey! Allet okay?"

„..." Er nuschelt so, dass ich ihn nichts versteh, mich weiter zu ihm hinunter beugen muss. „Was `n los mit dir?"

„Dit is, als wär ick in `n Unfall verwickelt", murmelt er. „Und nur wegen Michaels Unfähigkeit."

„Aber dit sieht doch jut aus", flüster ich ihm ins Ohr. „Vor allem – du siehst jut aus, mein Hübscher."

Ein klitzekleines Lächeln ist im Licht der Leinwand auf seinem Gesicht auszumachen. „Danke. Aber – es is ja nich nur Michael ... Man sieht doch, dass ick keen ausgebildeter Schauspieler bin."

„Aber dit macht doch den Charme aus", argumentier ich und meins auch so.

„Mhrm."

Bei der Szene mit dem Wohnwagen kann ich nicht anders und leg, verborgen von der Sessellehne, meinen Kopf auf seine Schulter. Er dreht sich ein Stück zu mir und küsst mich in die Haare.

Er lässt meine Hand den ganzen Film über nicht los und langsam kann ich seine unwillkürlichen Morsezeichen deuten. Wenn er meine Hand besonders fest drückt, dann hasst er die Szene – meistens sind das welche mit ihm selbst drin. Ein paar Mal streicht er über meinen Handrücken und das ist meistens dann, wenn Igor zu sehen ist. Es ist, als würde er damit den ganzen Streß und Streit, den wir während der Dreharbeiten miteinander hatten, ein wenig wegstreicheln.

Als das Licht wieder angeht, bleibt Jan einfach auf Tauchstation in seinem Sitz. Beate beugt sich zu ihm hinunter. „Na, der war doch ganz wunderbar, der Film. Da brauchst du doch nicht so ein Gesicht ziehen, als würden gleich alle über dich herfallen."

„Findeste?" Er klingt hoffnungsvoll.

„Ja. Du sahst wirklich toll aus." Sie strahlt ihn an.

„Aber toll aussehen bedeutet ja nich, dass ick och `n juter Schauspieler bin."

Sie fasst ihn an beiden Schultern und sieht ihn eindringlich an. „Du hast das wirklich gut gemacht, Jan. Ohne deine Lichtgestalt wäre dieser Film …”

Michael gesellt sich zu uns und sie unterbricht ihren Vorwurf. Stattdessen fasst sie Jan an der Hand. „Jetzt komm! Die Premierenfeier wartet und du bist immerhin der Hauptdarsteller.” Sie zieht ihn aus dem Sessel hoch ins Licht und Jans Augen werden für einen Moment sehr, sehr schmal, dann streift er sich das Farin Lächeln über wie eine perfekt sitzende Maske.

Backstage ist auch der Radiomoderator Dennis King und der gute Mann ist so freundlich mir eine Flasche Whiskey vor die Nase zu halten. Tut echt gut das warme Gefühl in Kehle und Bauch und ich nehm gleich noch `nen Schluck.

„Ich hab eure Jacketts dabei.” Beate zeigt auf die blauen Brokatdinger.

„Och. Ick hab mich extra so schick gemacht.” Ich posier in meinem schwarzen Rüschenhemd.

Jan hält mir mein Jackett hin. „Kannste ja drunter anlassen. Ick find dit kommt jut rüber, wenn wa wirklich wie `ne Band aussehen, halt wie `ne echte Einheit.”

„Dit findste doch nur jut wegen deinen Beatles.”

„Ja, und?” Er wirkt wirklich kurz eingeschnappt. „Außerdem - is es dir lieber, dass Hans sich wieder seine Seppl-Lederhosen anzieht?”

„Oh! Obwohl - dit war echt dit Punkigste, was der Spießer je gemacht hat.”

„Wer ist ein Spießer?”, fragt Hans misstrauisch, als er zur Tür reinkommt.

„Na, du auf keen Fall, wa?” Hans hat echt so üble Vorurteile, dass er sich sogar ins „Leydicke" noch `n Pfefferspray eingepackt - gegen die asozialen Punker. Manchmal frag ich mich echt, ob er überhaupt versteht, in welcher Band er spielt und für was wir stehen. Der echte Punkverräter ist wohl Teil der Band. Mann, ey.

„Krass!" Jan schaut in einen hell erleuchteten Saal mit kleinen Tischen, an denen lauter Leute in Abendgarderobe sitzen und riesige Fernsehkameras auf uns warten.

„Geil, oder? Dit wird heut wirklich witzig.” Ich nehm noch einen Schluck Whisky und klopf auf die kleine Tasche, in der ich meine Überraschung vor Beates Argus-Augen verborgen hab.

„So, Jungs. Noch fünf Minuten hat mir der Aufnahmeleiter gesagt. Und bitte macht nicht nur wieder Scheiß beim Playback. Spielt eure Instrumente, singt passend mit. Das könnt ihr doch." Sie sieht Jan sehr bittend, mich streng, an.

„Und wie soll dit bitte gehen ohne Schlagzeug?"

„Oh!" Hatte sie wohl vergessen. „Gib dir einfach Mühe. Okay?" Sie klopft mir auf den Rücken, streicht über Jans Arm und dann werden wir auch schon von einem Typen in Richtung Auftritt gescheucht.

Es ist viel zu hell in dem Raum. Ich erkenn Rolf Eden, den alten Playboy, der ja diesen Fisch-Manager im Film gespielt hat. Ansonsten passt das Publikum kein Stück zu uns, obwohl einige der Frauen fast so wild toupierte Haare haben wie wir. Der ganze Raum schreit nach Desaster oder Herausforderung, aber jetzt ist es im wahrsten Sinne des Wortes: Zu spät!

Aus Lautsprechern erklingen die ersten Akkorde vom Tonband und Jan schlägt automatisch auf seiner Gitarre das passende Muster. Die riesigen Kameras umkreisen uns wie Satelliten oder Raubtiere, gierig darauf unsere hübschen Fressen in die Wohnzimmer Berlins zu übertragen.

Ich fühl mich ein wenig wie auf Speed und weil ich ohne Instrument so gar nichts zu tun hab, tanz ich vor der Kamera rum und grins Jan an.

Noch vollkommen außer Atem von unserem Schein-Auftritt werden wir von der Regieassistenz in Richtung Interviewtisch geschoben. Schnell zieh ich meine Überraschung raus und setz sie auf. Ein wenig schwierig durch die Sehschlitze zu navigieren, aber den Lachern nach zu urteilen, ist der Gag gelungen.

Hans und Jan schieben sich samt Bass und Gitarre auf die eine Seite des viel zu schmalen Tisches, ich setz mich direkt neben Michael und starr ihn durch meine Frankenstein-Maske an.

Der Moderator schleppt sich mit unorignellen Fragen durch das Interview, da war diese Amelie echt viel besser. Jan lässt den Typen einfach mit einem Grinsen auflaufen, in dem ich mehr Angriffslust als Freundlichkeit lese, aber auf eine Art, aus der ihm Beate nachher keinen Strick drehen kann.

Vermutlich krieg ich mit meiner Maske auch viel mehr Generve von ihr ab.

Genervt sieht aber vor allem Jan gerade aus. Der Moderator beugt sich zu ihm, hält sich an seiner Lehne fest und ist Jan viel zu nah. Zusätzlich reckt sich Hans neben ihm ständig nach dem Mikro. Auch wenn Jan ziemlich uninteressantes Zeug erzählt, bei Hans will ich lieber gar nich wissen, was er zu sagen hat.


22. Februar – TIP-Redaktion, Berlin

Ein weiteres Richy-Guitar-Interview steht an.

„Ich mag ihn schon, aber er ist halt nich so `n guter Regisseur wie er denkt, dass er is. Ganz merkwürdig, der Mensch. Mehr so `n stiller Arbeiter, ein bisschen weltverklärt vielleicht."

Beates tadelnder Blick fällt auf ihn.

Die Interviewerin nickt mir aufmunternd zu. „Bela, wenn du sagst, Ihr hättet zu dieser Zeit selbst kein Geld gehabt, dann ist das zumindest eine Parallele zu den Figuren des Films."

Ich wieg den Kopf nachdenklich hin und her. „Gut, aber das ist auch wirklich die einzige."

„Wie sind denn die Dreharbeiten an sich so gelaufen?"

„War okay", sag ich schnell und hoff sie hakt nicht nach.

„Ja, dit war zwar chaotisch, aber ..." Ich sprech nich weiter, weil so ein trauriger Schatten über Jans Gesicht fliegt.

Die Frau vom Tip räuspert sich. „Stört es dich, dass der Film jetzt in die Kinos kommt, Farin?"

Beate sieht ihn schon wieder so mahnend an.

„Nach dem, was ich bisher gesagt habe, könnte man`s meinen. Was mich wirklich stört ist, wenn die Leute jetzt denken, das seien die Ärzte. Das stört mich, weil wir völlig anders sind."

„Bis auf Hans", murmel ich, aber das hört die Interviewerin nich.

„Ich betrachte den Film mehr als Jugendsünde", fährt Jan fort und Beate seufzt.

„Ich freu mich, dass du so ehrlich bist", sagt dann auch die Interviewerin.

Jan sieht sie verdutzt an. „Welchen Grund sollte ich haben, nicht ehrlich zu sein? Ich finde erstmal meine schauspielerischen Leistungen in diesem Film wirklich niederträchtig.”

Es tut mir echt weh, ihn so über sich selbst sprechen zu hören.

„Ich hab` mir während der Drehzeit nicht mal Probeaufnahmen angeguckt. Hinterher war ich auch froh, dass ich`s nicht getan habe. Sonst hätte ich mich geweigert weiterzudrehen. Ich war entsetzt. Was mich so stört ist, wenn die Leute nun denken, wir seien privat auch so."



22. Februar – Metropol, Berlin

Endlich wieder ein Heimspiel-Konzert, was auch bedeutet, dass Bela und ich mal wieder in unserem Bett schlafen können.

Wir starten mit dem Ärzte-Theme, das teilweise durch das schrille Kreischen einiger Teenies nicht wirklich gut zu hören ist. Belas Schlagzeug ist schräg hinter mir aufgebaut, so dass ich ihn nur aus den Augenwinkeln sehen kann. Deswegen singe ich einen Teil schräg ins Mikro. Ich brauche einfach den Kontakt zu ihm, sonst komme ich mir vorne so allein vor mit Hans.

Nach „Micha" zählt Bela uns für „Klaus, Peter und Willi" ein und wirbelt seine Sticks. Auf einmal fliegt etwas an mir vorbei in seine Richtung wie ein Komet. Schlagartig setzt Belas rhythmisches Getrommel hinter mir aus. Ich drehe mich um, aber da steht nur sein Schlagzeug. Bela ist verschwunden.

Ich renne so schnell wie ich mit der blöden Gitarre kann hinüber. Er liegt hinter dem Schlagzeug auf dem Boden und rührt sich nicht. Sein Gesicht ist von Blut getränkt, das läuft und sprudelt.

Jemand drängt mich zur Seite und ich schubs den bulligen Typen zurück, um Bela zu schützen, sehe zu spät, dass es einer von den Securitys ist, in seiner Hand eine weiße Tasche mit einem roten Kreuz.

„Ruhig, Junge, lass mich dit ma machen. Ick hab früher als Sani gearbeitet.” Der Typ lädt sich Bela einfach auf die Arme und trägt ihn Backstage.

Ich lauf dem Typen nach, nehm wahr wie auch Hans hinter uns herhastet, aber steh so neben mir, als würde ich träumen. Der Sani fegt einfach im Backstage mit Belas Körper den ganzen Kram vom Tisch und Flips, Dosen und ein Aschenbecher fliegen durch die Gegend.

Blut. So viel Blut. Es läuft über Belas blasses Gesicht und geschlossene Augen, in seine Haare.

„Junge, kipp mir jetzt nich auch noch um." Der Sanitäter drückt mir Wasser in die Hand, holt dann aus einer Tasche etwas Weißes. „Drück das fest auf die Platzwunde! Kriegste dit hin?"

Meine Beine knicken weg, aber das geht nicht und so nicke ich.

Die Veranstalterin Monika Döring taucht auf und sieht sich hektisch im Raum um. „Die nehmen mir da draußen echt den Laden auseinander. Was ist denn ...? ... Oje."

Etwas scharrt über den Boden, Hände an meinen Schultern, die mich auf einen Stuhl drücken.

„Soll ich das übernehmen, Jan?", fragt Monika mich, aber ich will niemand an Bela ranlassen.  

Der Sani wischt das ganze Blut ab, holt eine Taschenlampe heraus und öffnet Belas geschlossene Augen. „Mhm ..."

Verdammt, was soll das heißen?

Auf einmal geht ein Riesenruck durch Belas Körper, er zieht Luft ein, als wäre er minuntenlang unter Wasser gewesen, hustet, versucht sich dann aufzusetzen, aber bricht stöhnend wieder zusammen. Sofort geht die Wunde wieder auf.

„Auuuuu ..." Er will sich an den Kopf fassen, aber der Sani hält seine Hand fest.

„Schön ruhig bleiben." Er sieht zu mir. „Kannst du ihn stützen?"

Ich steh auf, mir wird kurz selbst schwarz vor Augen, aber als ich Belas warmen, verschwitzten Rücken in meinen Armen fühl, klärt sich das Bild wieder.

„Was machst du denn für Sachen?"

Er sieht mich verständnislos an, will sich schon wieder an den Kopf fassen.

„Mach mal bitte den Arm hier durch." Der Sani legt Bela einen Finger ans Handgelenk. „Mhm. Scheint ganz okay zu sein, aber ick glaub du hast `ne kleine Gehirnerschütterung."

„Kann er weiter spielen?", fragt Monika von der Seite. Sie klingt ein wenig ängstlich.

„Wir müssen echt wieder raus!", sagt nun auch Hans und ich will antworten „Halt die Fresse!", aber dann höre ich es auch: das Gejohle und Gebrüll im Saal ist so gar hier im Backstage brüllend laut.

Der Security schüttelt den Kopf. „Das der weiterspielt, kann ick jetz aus `nem medizinischen Gesichtspunkt nich direkt empfehlen."

„Auuu", erwidert Bela nur. Er wirkt immer noch nicht so ganz da.

Monika fasst mich am Arm. „Hey, Jan, so leid es mir tut, aber ihr müsst weiter machen. Da draußen herrscht echte Randalestimmung."

„Aber dit ..."

„Ey, wenn ick den Arsch erwisch, der ..." Auf einen Schlag ist Bela wieder voll da und komplett auf Strom. Ich höre Monika aufatmen.


Als Bela mit einem riesigen, leuchtendweißen Verband auf die Bühne tritt, jubelt das Publikum ohrenbetäubend.

Ich trag ihm einen Stuhl hinterher und stell sein Schlagzeug so um, dass er an alles rankommt.

„Ey, eins sag ick euch: Wenn ick den Typen erwisch, dann gibt`s richtig Keile", brüllt er in sein Kopfmikro, das über dem großen Verband echt bizarr wirkt. Kurz muss er sich auf seiner Bassdrum abstützen und sein Blick wird etwas unscharf.

Schnell gehe ich zu ihm hinüber, aber da richtet er sich wieder auf. „Wer immer du bist, Freundchen, du lebst ab jetzt gefährlich”, schreit Bela und der Saal gröllt zurück.

„Scheißtyp!", brüllt Bela.

„Scheißtyp, Scheißtyp", brüllt das Publikum. Der reinste Hexenkessel.

Ich stimme schnell die Akkorde für „Scheißtyp" an. So laut wurde das Lied noch nie mitgesungen. Keine Ahnung, wie Bela das hinbekommt nach der Aktion zu trommeln und zu singen. Ich kriege schon Kopfweh, wenn ich ihn nur ansehe und Sahnies Basssolo ist einfach nur traurig.

Ich stutze, sehe Bela an. Oder hat er sich vielleicht vorher noch was von seinem weißen Pulver reingezogen und spürt deswegen nichts?


Nach dem Konzert geht es mal wieder ins Urban in die Notaufnahme.

„Ganz klar Gehirnerschütterung. Ich verordne Ihnen die nächsten Tage absolute Ruhe. Brauchen Sie eine Krankschreibung?" Bela versucht den Kopf zu schütteln, verzieht dann augenblicklich das Gesicht.

Zum Glück haben wir in den nächsten Tagen endlich mal weniger Termine.

Aber natürlich hält sich Bela trotzdem nicht an die ärztlichen Ratschläge und geht ein paar Tage später schon wieder mit Eddie auf die Piste.



!!!


1. März – Niebuhrstraße 38 b, Charlottenburg

Ein Rumpeln im Zimmer. Ich schrecke aus dem Schlaf hoch, rieche Alkohol und frischen Rauch.

„Bela?" Ich hab grad kein Gefühl für den Raum, weil ich noch total verpennt bin. Ich setz mich ein Stück auf. Mann! Ich bin echt kein Fan davon, wenn er mich nachts weckt nach seinen Streifzügen.

„Bela, bist du`s`?"

Keine Antwort, aber das Bett sinkt ein Stück neben mir ein.

„Hallo Jan!"

Meine Verschlafenheit verfliegt schlagartig. „Beate?"

In der Dunkelheit leuchtet eine Zigarettenspitze orange auf, aber Beate selbst wird nur als Schemen sichtbar, ein oranges Glänzen, da wo ihre Augen wohl sind. Sie raucht eigentlich nie - nur wenn sie was getrunken hat und jetzt rieche es auch.

„Ähm, wat willste denn? Is was mit Bela?" Die Szenarien in meinem Kopf landen sofort wieder in der Notaufnahme.

„Nein. ... Alles okay mit ihm."

„Gut." Warum steht sie dann nicht auf und geht? Ich bin mir seltsam bewusst, dass ich nichts anhabe unter der Decke, obwohl sie das ja nicht sehen kann. „Is noch was?"

„Ich ..." Stoff raschelt. Meine Bettdecke bewegt sich leicht. Eine Berührung an meinen Fingern. Schnell ziehe ich sie weg. Alle Sinne feuern schlagartig auf höchster Intensität, als wäre mein Körper ein Radar. Und ich kenne das Gefühl. Es ist alt und hat mit Gerd zu tun.

Ich versuche mich zu beruhigen. „Ähm, was `n los?"

„Ich ... Jan, ich … ich wollt dich nur sehen und … und dir sagen, dass ..." Ihr Lallen kriecht unter meine Haut und die Härchen in meinem Nacken stellen sich auf.

„Hey, du hast definitiv zu viel getrunken, Beate. Es ist besser, du gehst jetzt und wir reden mor..."

Sie zieht noch mal an ihrer Zigarette, die orange aufleuchtet. Ich höre, wie sie den Rauch ausbläst. Einen Moment später beißt er mich direkt in den Hals, in die Augen, in den Lungen und ich habe das Gefühl zu ersticken, die Orientierung zu verlieren hier mit ihr in der Dunkelheit.

Ich will das Fenster aufreißen, aber mein Körper gehorcht mir nicht und auch das kenne ich. Diese Scheiß-Taubheit. Nichts macht gerade Sinn. Alles ist seltsam irreal, als ob ich träume.

Die Matratze wippt unter mir, die Sprungfedern seufzen quietschend auf, vielleicht weil sie ein Stück näher gerutscht ist. Auf jeden Fall kann ich den Alkohol jetzt noch stärker riechen.

Mir wird kalt. Eiskalt. So kalt, dass ich so komisch einfrier, nichts sagen, mich nicht bewegen kann, dabei will ich aufspringen aus dem Bett, das sich gerade wie eine Falle anfühlt, aber ich habe ja nichts an und so bleibe ich wie versteinert sitzen.

„Hättest du … hättest du vielleicht Lust … mit mir so ein bisschen ... ?"

Sie nimmt ihre ekelhafte Kippe wieder in den Mund und ich traue mich nicht zu atmen. Auf einmal ist ihre andere Hand an meinem Arm, dann wieder weg. Sie drückt die Zigarette in etwas aus und so dankbar ich dafür bin, jetzt ist es wirklich dunkel.

„Ich wollte dir … sagen, dass ich dich … Ich mag dich wirklich … wirklich sehr gerne, Jan, und ..." Wieder eine Bewegung auf der Bettdecke. Ich kann in der verdammten Dunkelheit in Belas Zimmer nicht einschätzen, wo sie gerade ist.

Eine S-Bahn quietscht draußen vorbei und ich atme ein wenig auf in dem Bewusstsein, dass es noch ein Draußen gibt. Gerade war alles so zugeschnitten auf Beate und ich abgeschnitten hier allein mit ihr in diesem Zimmer.

Mit der S-Bahn flackert ein klein wenig Licht durch die schwarzen, dichten Vorhänge und endlich ist sie nicht mehr nur eine körperlose, unlokalisierbare Stimme im Raum. Sie sitzt als schwarze Silhouette am Ende des Bettes, ihre Hand liegt nach mir ausgestreckt auf der Decke.

Alle Härchen an meinem Arm stehen hoch, filtern aber die Signale nicht mehr richtig, sondern brüllen einfach wild „Gefahr, Gefahr!". Aus einem Impuls ziehe ich die Decke höher, aber das geht natürlich nicht, wenn sie darauf sitzt.

Die S-Bahn verklingt in der Ferne und die Dunkelheit ist zurück, legt sich wieder über uns. In meinen Ohren rauscht es, obwohl es total ruhig ist.

„Ick ..." Meine Stimme gehorcht mir nicht. Ich räusper mich. „Ick gloob echt, dit is besser du gehst jetz."

„Aber – Jan, ich … ich mein das wirklich ernst. Ich find dich … dich wirklich extrem attrak-attraktiv." Die letzten Worte fallen so stockend aus ihrem Mund. Wie besoffen ist sie?

Ihre Hand auf der Bettdecke hat jetzt mein Bein erreicht. Sie streicht darüber und ein Würgen steigt in meiner Kehle hoch.

Ich will sagen „Beate, bitte geh.", aber allein bei dem Gedanken ihren Namen zu sagen, wird mir richtig übel.

„Willst du … willst du`s nich … nich ma probieren?" Ihre Hand streicht wieder über mein Bein und beginnt höher zu wandern. „Komm, sei doch nich so. … Du-Du grinst mich doch immer so an. `s wird dir gefallen. Ich bin `ne erfahrene Frau … nich so wie die Teenies, die dich anschwärmen." Mit erfahren meint sie wohl alt.

Auf einmal ist ihre Haut an meiner. Sie hat meine Hand gefunden und drückt sie. Bittere Magensäure steigt in meinen Mund.

„Ich hab doch deine … deine Blicke auf mir gesehen."

Ich überlege, ob meine Blicke vielleicht wirklich missverständlich waren, aber mein Kopf ist so wirr, die Gedanken werden von einem Gefühlsstrom wie im Schleudergang durcheinandergewirbelt. Ich will das alles einfach nur anhalten, stoppen, aufwachen.

„Finger weg!" Mein Stimme bricht, ist viel zu leise, aber ihre Finger zucken einen Millimeter zurück, verharren dennoch weiter auf meiner Haut, die anfängt zu brennen, als würde sie diese verdammte Zigarette daran halten.

„Ich meins ernst!" Ich klinge mehr flehentlich als bestimmt und klar. Es ist als wäre ich wieder neun Jahre alt und Gerd ragt vor mir mit seinem Gürtel auf, während ich darauf warte, dass mich jemand rettet, obwohl ich weiß, dass das nicht passieren wird, weiß, dass da nur Schmerzen auf mich warten.

„Aber wir … wir beide ham`s doch noch gar nich probiert ..." Ihre Finger zeichnen flammende Kreise auf meinen Unterarm.

Ich rutsche immer weiter zur Seite und zurück, aber da ist nur noch die Wand. Sie ist mir jetzt so nah, dass sie mir ihre Alkoholfahne direkt ins Gesicht bläst. Mir wird kotzübel und ich muss mehrmals schlucken.

Wie kommt sie auf die Idee, dass ich es geil finde, wenn mich eine besoffene Frau nachts weckt und mich anfasst?

Ich überlege fieberhaft, ob ich ihr irgendwann mal Anlass dazu geboten habe, zu denken, dass ich sie attraktiv finde, etwas von ihr will. Nein. Oder? Auch wenn wir zusammen wohnen, ist sie für mich einfach nur unsere Managerin und sonst nichts. Ich sehe in ihr nicht mal sowas wie eine Freundin .

Sie kommt noch näher und jetzt spüre ich ihren Alkoholatem auf meinem Gesicht. Wenn sie mich jetzt versucht zu küssen, dann ...

„Geh! Bitte geh." Endlich höre ich mich entschiedener an.

Ich höre ein enttäuschtes Seufzen. ... Schade, wirklich schade, Jan. Aber … `s war dumm von mir. ..." Ihr Lallen hallt in meinen Ohren wieder. Ihre Finger drücken die brennende Stelle an meinem Arm, als ob es das wieder gut machen würde.

„Lass uns … Lass uns das hier … Lass uns das einfach vergessen, okay?" Auf einmal klingt sie nüchterner. Es ist eindeutig, dass sie eine Antwort erwartet. Und auch welche.

„Geh!" Meine Stimme ist jetzt fester. „Ich möchte, dass du - Jetzt! Sofort! - gehst."

Die Matratze schaukelt leicht. Sie ist wohl aufgestanden, aber wo ist sie jetzt?

„Jan!" Sie hat sich wohl zu mir runtergebeugt, ist wieder viel zu nah. „Tut mir leid. Wirklich. Bitte versteh doch ..." Ihre Hand in meinen Haaren und ich will sie wegschlagen, bin aber immer noch so merkwürdig gelähmt. Ein Schauder aus absolutem Ekel läuft durch mich.

Ich hole tief Luft und bete, dass das Kabel der Nachttischlampe am gleichen Ort wie sonst ist. Gleißend hell flammt die nackte Glühbirne auf. Endlich zuckt ihre Hand zurück, doch das Gefühl ihrer Finger bleibt.

Sie trägt nur irgendwelche schwarze Unterwäsche. Ich will nicht hinsehen, aber das Bild ist schon eingebrannt in meine Netzhaut, das Gefühl, das Wissen dieses Bild nicht vergessen zu können.

Ich zwinge mich, ihr so lange in die Augen zu starren, bis sie ohne ein weiteres Wort endlich, endlich Belas Zimmer verlässt.

Nach ein paar Sekunden höre ich, wie meine Zimmertür zu klappt. Für einen Moment fühle ich mich sicher, dann bricht das Adrenalin zusammen und ich zieh so hart Luft in meine Lungen, dass ich das Gefühl habe, am Sauerstoff zu ersticken. Mein Herz beginnt zu rasen. Und mein Blickfeld verengt sich. Belas Zimmer nur noch ein schwarzer Tunnel.

Ich kenne sie gut, diese Welle aus Ohnmacht und wenn sie mich verschlingt, dann … Nur dagegen anrennen hilft. Ich angle neben dem Bett nach meiner Unterhose, T-Shirt, Jeans, werfe in einem Irrsinnstempo alles über meinen Körper, der überhaupt nicht kooperiert und zittern-zittern-zittern will, aber ich muss hier weg. Jetzt. Sofort.

Was brauche ich? Egal. Nur weg hier. Ich schmeiße ein paar Klamotten in meinen großen Rucksack, lausche durch die geschlossene Tür in den Flur, lausche nach nebenan in mein Zimmer.

Nichts.

Nur gespenstische Ruhe, als wäre gar nichts passiert, als hätte ich mir das alles nur eingebildet. Aber ich kann ihre Berührungen immer noch wie Brandmale auf mir spüren, ihre Finger in meinen Haaren.

Ich habe mich schon lange, sehr lange nicht mehr so verletzlich gefühlt, so betrogen und am Rande einer diffusen Gefahr, was das noch alles hätte bedeuten können.

Vorsichtig öffne ich die Zimmertür, will kein Licht anmachen und taste im dunklen Flur nach meiner Jacke, nach meinen Stiefeln, finde aber nur den Linken. Ein Flashback zurück nach Kreuzberg, als ich mich damals so aus Bines Wohnung stehlen musste - und ertappt worden bin.

Meine Ohren sind wie riesige Radarantennen ausgerichtet auf mein Zimmer. Sie ist in meinem Zimmer! Ich will sie rausschmeißen. Sie soll gehen – nicht ich! Am besten sofort. Aber - mir fehlt die Kraft und ich will sie grade nicht noch mal sehen müssen. Ich will sie nie wieder sehen!

Meine Finger berühren Wildleder, Schnallen. Belas. Warum ist Bela nicht hier? Wenn er hier gewesen wäre, hätte sie das nicht gemacht. Ich streiche über seinen Schuh. Es ist nicht seine Schuld, sondern verdammt nochmal ganz allein ihre.

Endlich find ich meinen Eigenen, zieh ihn an, tast in meiner Jacke nach Schlüsseln, Geld, Papieren, als wär ich auf der Flucht und irgendwie bin ich das auch. Schnell packe ich meinen Rucksack und öffne leise - ganz leise – unsere Wohnungstür, trete hinaus, schließe, so leise und vorsichtig es geht, die Tür wieder hinter mir und stehe dann allein im dunklen Hausflur.

Atmen. Durchatmen. Ich steige eine Treppenstufe nach der anderen hinunter wie ein Einbrecher. Als ich endlich die Haustür aufstoße, höre ich im Gebüsch neben der S-Bahntrasse einen Vogel singen. Meine Knie knicken weg und ich muss mich an der Hauswand abstützen, um nicht zu fallen.

Für einen ewigen Moment schwebe ich über mir, sehe mich neutral von außen und finde es ganz schön krass, wie ich reagiere, dann stecke ich wieder in meinem Körper und das Gefühlschaos zieht und zerrt an mir wie ein wildes Raubtier.

Beate … Ich kann es echt immer noch nicht fassen, dass diese Frau mit ihrem Professionalitätsfetisch, dass die Frau, die Bela und ich arglos in unser Privatleben gelassen haben, dass sie … Es ist, als wäre mir die Welt unter den Füßen weggezogen worden.

Weg!
Schnell weg!
Aber wohin bloß?
Verdammt nochmal wohin?

Bela – ist mein erster Gedanke. Ich muss Bela finden. Aber wo? Ich weiß nicht, ob ich jetzt die Kraft habe, durch die Berliner Spelunken zu ziehen und mich mit noch mehr betrunkenen Menschen auseinander zu setzen.

Ich rieche wieder den Alkohol aus ihrem Mund, den frischen Zigarettenrauch in meinen Haaren und würge. Verdammt, ich will nicht kotzen. Ich schlucke, würge noch mal.

Früher bin ich immer in den Frohnauer Forst abgehauen, wenn Gerd mich mal wieder … Aber hier gibt es keinen Wald, der mir Zuflucht bietet.

Ecky! ... Ich will zu Ecky. Ich weiß nicht, ob ich ihm das mit B…, ihr erzählen kann, aber Ecky weiß zumindest, was früher bei uns los war. Meine Beine sind immer noch so ein bisschen wacklig und ich finde meinen Körper echt blöd, weil der so viele dumme Reaktionen macht, die überhaupt nicht helfen.

Ich wanke durch den kleinen Hinterhof, der mir im diffusen Dämmerlicht der Straßenlaternen wahnsinnig fremd erscheint.

Bis heute Nacht habe ich gedacht, dass einem nur so Drecksäcke wie Gerd wehtun können mit ihren giftigen Worten und brutalen Schlägen, aber … Dieser Verrat geht fast tiefer, weil … Das mit Beate habe ich ich echt nicht kommen sehen.
Die Ohnmacht möchte mich wieder fesseln und bewegungsunfähig machen, aber auf einmal kocht etwas in mir hoch, dass ich seit vielen Jahren nicht mehr gespürt habe. Rote, glühend heiße Wut.

Ich trete so hart gegen zwei Mülltonnen, dass sie durch den halben Hinterhof fliegen. Ihr Inhalt entleert sich wie ein Kotzschwall über den Asphalt. Ich trete noch einmal dagegen und das metallische Scheppern ist das Beste, was ich heute nacht gehört habe.

Ich laufe los, die Niebuhrstraße hinunter. Am S-Bahnhof Savignyplatz zeigt die Uhr 3:50 Uhr. In circa einer halben Stunde fahren die Bahnen wieder, aber ich halte die Bewegungslosigkeit nicht aus und laufe weiter, die Kantstraße hinunter, die zu dieser Zeit viel zu ruhig ist.

Am Zoo will ich hinunter zu den U-Bahnen, aber aus einem merkwürdigen Instinkt heraus steige ich hinauf zu den Gleisen der S-Bahn und nehme die erste S 1 Richtung Frohnau.

Die Bahnfahrt fühlt sich endlos an, als würde ich ihn Zeitlupe in einen Brunnenschacht fallen, der zum Mittelpunkt der Erde führt.

Auch als ich endlich aussteigen darf, bleibt das surreale Gefühl. In Frohnau herrscht absolute Sonntagmorgen Stille. Eine Katze huscht über die Straße, ansonsten sehe ich keine Menschenseele.

Das alte, vertraute, gelbe Haus holt mich zurück in die Realität. Ein neuer Bildersturm in meinem Kopf und meine Finger zögern über dem Klingelknopf. Dann drück ich drauf, ohne dass ich mich wirklich dafür entschieden habe.

Sie öffnet mir in ihrem Nachthemd.

„Jan?" Sie sieht viel älter aus als sonst, weil sie ungeschminkt ist, aber irgendwie auch schöner. „Um Himmels willen, was ist denn ...?"

„Kann ick – kann ick reinkommen?"

„Natürlich." Meine Mutter geht schnell aus der Tür und lässt mich hinein. Der Duft von Zuhause umfängt mich wie eine warme Umarmung, aber darunter - unter der Vertrautheit - lauert auch die alte Gewalt. Eine bescheuerte Idee ausgerechnet jetzt hierher zu fahren, an den Ort, an dem ich …

!!!


„Jan?” Meine Mutter sieht mich nervös an.

Und sie hat es nie verhindert. Trotzdem will ich mich gerade in ihre Arme werfen, zögere einen Moment, weil ... Gerade habe ich etwas Respekt vor weiblichen Köpern, aber dann zieht sie mich ganz vorsichtig an sich und der Damm, den ich bis jetzt erfolgreich aufgestaut habe, bricht komplett. Ich heule in ihren Armen bis ich auf einmal Julia auf der Treppe wahrnehme, die mich entsetzt anblickt. Schnell ziehe ich die Mauer wieder hoch und wische mir die Tränen ab.

„Oh, Jan, was is`n mit dir?" Julia starrt mich voller Mitgefühl und Sorge an.

„Nüscht schlimmet!" Ich schlucke den ganzen Schnodder in meiner Nase, in meinem Hals runter. „Is schon wieder gut. Ick muss nur – ick brauch nur `n ruhigen Platz zum Schlafen."

„Is was mit Bela?" Julias Augen sind riesig vor Angst.

„Nee, nee." Ich wisch mir mit dem Ärmel meiner Jacke über die Augen. „Mit Bela is alles okay ..."

„Aber – was is `n dann passiert?"

Ich kann den beunruhigten Blick meiner Mutter auf mir fühlen, auch wenn diese versucht, ihre Panik besser zu kontrollieren.

„Ick ... ick hatte `ne irgendwie komische Begegnung mit ... jemandem."

„Bist du verletzt?" Meine Mutter lässt ihren Blick vorsichtig an mir herab gleiten.

„Nein."

„Aber warum ...?" Ich kann sehen, wie Julias Kopf versucht eine Erklärung dafür zu finden, warum ihr großer Bruder sehr unerwartet und vor allem heulend um diese Uhrzeit hier im Flur steht.

„Möchtest du ... einen Tee ... oder so?", fragt meine Mutter unsicher.

Eigentlich will ich mich nur in mein altes Zimmer verkriechen, aber die beiden sehen aus, als hätten sie ein Gespenst gesehen und ... „Ja, bitte."

Als wir alle drei mit jeweils einer dampfenden Tasse in der Küche sitzen, wandert Mutterns Blick wieder vorsichtig zu mir. „Jan, du ... du musst nichts sagen, aber – wenn ich etwas für dich tun kann ..."

Ich nicke ihr dankbar zu, schüttle dann den Kopf.

„Und du brauchst wirklich keinen Arzt ... oder sowas?"

Keine Ahnung, welche Szenarien sich vor ihrem inneren Auge entfalten.

„Nein, wirklich nicht. Ich muss einfach nur schlafen."

„Okay, dann – vielleicht sollten wir das alle tun." Sie steht langsam auf.


Oben in meinem Zimmer lege ich mich auf mein Bett, aber anstatt zu schlafen, starre ich einfach nur an die schräge Decke über mir. Ein leises Klopfen. Julia oder Muttern? Ich weiß nicht, was mir lieber wäre, ob ich reden kann, reden will.

„Komm rein", sage ich schließlich und versuche nicht zu schwer zu seufzen.

Es ist Mama.

„Entschuldige, dass ich dich nochmal störe, Jan, aber ... irgendetwas sagt mir, dass dir heute Nacht etwas Gravierendes passiert ist."

Ich schlucke. Sie kennt mich viel zu gut. Wahrscheinlich sollte ich es hinter mich bringen. Wenn ich jetzt nicht spreche, werde ich es dann jemals tun?

„Es ... Du weißt doch, dass diese Be-Beate bei Bela und mir eingezogen ist."

„Die, die euch managt?"

„Ja, genau ..." Ich hole mehrmals tief Luft. „Sie ... sie ist heute nacht zu mir gekommen. Ich hatte schon geschlafen und Bela war nicht da und ... sie wollte ..."

Meine Mutter greift nach meinen Fingern, viel zu fest, weil sie es wohl selbst gerade nicht kontrollieren kann. Im ersten Impuls will ich meine Hand wegziehen, aber dann tut es gut, denn ihre Stärke überlagert die Handabdrücke von ... ihr.

„Was hat sie mit dir gemacht?" Die Stimme meiner Mutter klingt sehr ruhig, sehr neutral.

„Nichts."

„Okay. ... Kann ich fragen, was nichts bedeutet?"

„Sie wollte ... etwas von mir, aber ... es is nich mehr passiert. Ick weiß auch nich, warum ... Sie hatte anscheinend auch was getrunken."

Ich höre meine Mutter tief einatmen, aber kann meinen Redefluss nun nicht mehr stoppen. „Dabei weiß se doch, dass Bela und ich zusammen sind. Und überhaupt ist se ganze acht Jahre älter als ich und ... Als damals Bela was mit `ner älteren Frau von Vielklang hatte, da hat se gesagt, dass das gar nich geht, weil wir was in der Art von Schutzbefohlenen sin und .. Ick hab ihr vertraut, verdammt!" Der letzte Satz ist viel zu laut und verzweifelt, wahrscheinlich weil er die Essenz ist und ich schlage mir schnell die Hand vor den Mund.

Meine Mutter legt ihren Arm um mich und hält mich einfach nur, wartet, aber ich habe nicht mehr zu sagen.

„Ick ... ick bin echt müde", presse ich heraus, weil ihre Nähe schön ist, aber gleichzeitig halte ich sie gerade auch nicht aus.

„Okay." Sie drückt mich nochmal. „Danke, dass du mir das erzählt hast.”

Obwohl es gut getan hat, schäme ich mich irgendwie jetzt noch mehr.

„Mhm. Dann ... bis morgen."

Sie scheint zu verstehen, dass ich allein sein will und steht langsam auf. „Ich hoffe, du kannst schlafen."

„Ja. Ja, klar. Ick … ick bin echt total müde.”

„Wenn ich noch irgendetwas für dich tun kann, Jan, dann sag Bescheid, okay?”

„Mach ick. … Danke.”

Als sich die Tür hinter ihr schließt atme ich auf und wünsche sie mir gleichzeitig zurück.

Draußen dämmert es, ich bin vollkommen ausgelaugt, aber ich kann nicht schlafen. Jedes Mal wenn ich die Augen schließe wird das Gefühl ihrer Fingerabdrücke auf meinem Arm wieder stärker. Ich wünschte, ich könnte nochmal heulen und damit ein wenig diese ekelhaften Gefühle von Betrug und Verrat wegspülen, nochmal so wütend werden, aber ich bin einfach nur wie gelähmt innerlich.

Um zehn Uhr morgens quäle ich mich aus dem Bett, weil das Stilliegen mich noch wahnsinniger macht. Kopfweh und alles schmerzt, vor allem meine Muskeln. Keine Ahnung, warum. Vielleicht von meinem langen Lauf, vielleicht weil sich alles so verspannt und verkrampft hat in mir gestern.

Am Nachmittag steht auf einmal ein sehr übernächtigt und zerstrubbelt aussehender Bela vor der Haustür.

„Wat machst du `n ...?" Weiter komme ich nicht, weil Bela mich einfach nur in den Arm nimmt und „Uta" nuschelt.

„Und ... und wat hat se gesacht?"

„Das Beate ..."

Irgendwas schüttelt meinen Körper durch und ich zieh ihn fester an mich, so fest ich kann, weil ich gerade wirklich nicht darüber ...

„Dit tut mir so leid, Jan!", murmelt Bela an meinem Brustkorb. „Wenn ick da gewesen wär, dann ..."

„Dann hät sie`s an `nem anderen Tag ..." Das Kotzgefühl kehrt in meinen Mund zurück.

„Das die so wat macht." Bela schüttelt an meiner Brust den Kopf und ich kann seinen Unglauben gut verstehen, wirklich nur zu gut. „Ick hab die ganze Fahrt hierher überlegt, ob ... Ick weiß, dass se dich immer so `n bisschen speziell angesehen hat, aber ..."

Ich beug mich ein Stück zurück und leg meinen Finger auf seine Lippen, weil ... Ich kann da jetzt nicht drüber nachdenken.

„Küss mich."

Er macht es so vorsichtig, als wäre ich aus Porzellan, vielleicht bin ich es auch.

„Und ..." Er sieht mich ängstlich an. „Was willste ... also, was willste jetz machen?”

„Ick ... also, ick würd erst ma hier bleiben. Also, bis Beate raus ist."

„Oh, die is schon raus. Als ick heim gekommen bin, da war `n Großteil ihrer Sachen schon weg. Anscheinend is se abgehauen. Den Rest von ihrem Krempel hab ick einfach unten im Hof abgestellt, mit `nem Brief, dass se Glück hat, wenn du se nich anzeigst."

„Oh." Einen Moment purzelt tatsächlich so was wie ein Lachen in mir hoch. Es ist keine schöne Freude, aber ... „Danke. Dit is jut."

„Willste se denn anzeigen?”

„Anzeigen?” Auf die Idee bin ich noch gar nicht gekommen.

„Deine Mutter meinte …”

„Nee, quatsch. … So schlimm … so schlimm war dit nu och wieder nich.” Und in meinem Kopf stimmt es auch irgendwie, aber nicht in mir. Da ist alles …

„Sicher?" Bela mustert mich vorsichtig, ganz, ganz vorsichtig, dann wird seine Miene grimmig. „Am liebsten hätt ick ihr Zeug verbrannt, aber ick hat keen Benzin. … Wat … wat hat se denn gemacht?”

Wie viel hat meine Mutter ihm erzählt? Aber die weißt ja gar nichts.
„Nüscht schlimmet”, sage ich schnell, aber sein Blick ist immer noch ängstlich und mitfühlend. „Sie hat mich nich … Wahrscheinlich hab ick eenfach nur überreagiert.” Ich will nicht darüber reden. Vielleicht würde er ja sogar finden, dass es wirklich nicht so schlimm war?

„Dann kommste zurück?" Er sieht mich voller Hoffnung an.

Ich schlucke. „Ja. ... Bald."

„Okay."


Zwei Tage später ist Karfreitag und meine Mutter fährt mit Julchen, für die ich den fröhlich, unbefangenen Jan spiele, mal wieder Omi besuchen. Eigentlich wäre das jetzt für mich genau das richtige – raus aus Berlin! Aber natürlich steht wieder ein Konzert an.

„Und du bist dir sicher, dass wir dich hier allein lassen können?"

„Klar. Außerdem will ick jetz eh endlich ma wieder zurück in die WG."

Meine Mutter lächelt mich zuversichtlich, aber viel zu schmal, an. „Das ist schön. Da freut sich Bela bestimmt auch." Sie umarmt mich ein wenig zu vorsichtig und zu lang.


10. März – Niebuhrstraße 38 b, Charlottenburg

Ich dachte wirklich, dass alles wieder okay ist, aber als ich die Wohnungstür aufschließe, halte ich automatisch die Luft an.

„Hey!” Bela kommt aus seinem Zimmer und strahlt mich an. „Biste wieder da?”

Ich nicke und atme vorsichtig ein. Die ganze Wohnung riecht nach - Zitrone.

„Haste ... sauber gemacht?"

„Mhm, ja. Ick wollt dit irgendwie ... Weiß nich. Dit war so `n komischet Gefühl, dass ick weg haben wollt. Dein Zimmer hab ick och ufjeräumt und sauber gemacht. Ick hoff, dit war okay.”

„Danke.” Es rührt mich richtig und ich ziehe ihn in meine Arme.

„Wirklich allet okay?", fragt er an meinem Hals.

Es hilft, aber es hilft trotzdem nicht komplett. „Ja." Ich setze ein Lächeln auf. „Die blöde Kuh is Schnee von gestern. Reden wa nich mehr drüber. … Hey, kannste vielleicht deine Venom-LP-Platte auflegen?"

„Die Ven...? Seit wann ..?"

„Och, ick fand die nie wirklich schlecht."

„Du wolltest se vor Weihnachten aus `m Fenster schmeißen."

„Wirklich?"

„Ja, wirklich." Er mustert mich viel zu intensiv.

„Hab meine Meinung geändert."

„Okay." Er sieht mich immer noch so prüfend an.

„Na, wat is? Husch, husch!"

Das eine Lied hört sich am Anfang nach Baustelle an und genauso fühle ich mich: wie eine verdammte Baustelle. Dann knallt die Musik durch unsere WG wie ein Düsenjet, aber zum ersten Mal find ich das Lärm-Gewitter gut, als würden die Schallwellen auch den letzten Winkel unserer Bude reinigen.

Ich mach das Fenster auf und atme die kühle Luft ein, die ein wenig nach Frühling riecht.




*
*






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LYRICS

Wire – I feel mysterious today

They might be giants - Road Movie to berlin

die ärzte - Kamelralley

Grandmaster Flash & The Furious Five - The Message

Dion & the Belmonts - Lovers who wander

die ärzte - McDonalds

Cabaret Voltaire - Kino

die ärzte - zu spät

Sonic Youth - (She`s in a) Bad Mood

Venom – Black Metal



ADDITIONAL SONGS

Teenagerliebe (auf "schwäbisch")


QUELLEN

Meersau ab S. 46 ff.

Buch Ä ab S. 143 ff.

Der Spacken – Das Die + Ärzte fanzine – Beilage der „Devil“-Veröffentlichung


RICHY GUITAR

Igor/Richy-Edit

Premiere

Premieren & Preise
Westdeutschland: Februar 1985 (Berlin International Film Festival)
Westdeutschland: 7. Juli 1985
Italien: November 1985 (Festival Internazionale Cinema Giovani)
Finnland: 29. Januar 1987(TV premiere)
Prädikat: wertvoll der Filmbewertungsstelle
Publikumspreis Filmfestival Gijón 1985


INTERVIEW

Bravo – Mr. Sexpistols - Zuhause bei Bela B.

Dark Alliance – Diplom-Arbeit
In den 80er Jahren sorgte wiederum ein Bravo- Bericht über den Schlagzeuger der Berliner Fun- Punk Band DIE ÄRZTE Bela B. dafür, dass viele Jugendliche unbedingt ihr Zimmer schwarz streichen wollten (und am liebsten auch einen Sarg gehabt hätten, in dem Bela B. angeblich schlief).


CREW

Lui Helmig

 

*

Chapter 51: 1985 - Käfer

Chapter Text

*


Ich hoffe, das letzte Kapitel hat euch nicht zu verstört zurück gelassen. Das Thema war mir wichtig, gerade auch in der Konstellation.

Aus Gründen der Dramaturgie gibt es mal wieder Probleme mit dem Zeitstrahl, so dass nicht alles chronologisch akkurat ist.

Ich habe heute eine etwas seltsame Frage an euch:
Kennt jemand das (Radio-)Interview von Farin, in dem er erzählt das „Wichita Lineman“ von Glen Campbell eines seiner Lieblingslieder ist? Es hat mich damals sehr gerührt, weil mir das Lied auch viel bedeutet, aber ich finde das insgesamt sehr gute Interview nicht wieder. Es ist in mehreren Teilen bei youtube erschienen und wurde von einer Frau moderiert, vermutlich als Interview zu einer FURT-Veröffentlichung.

Ich würde mich echt sehr freuen, falls mir da jemand den richtigen Link zu schicken kann. Merci.

Inhaltlich ist es dieses Mal ein ziemlich wilder Ritt. Ich denke / hoffe, dass er keine Inhaltswarnungen braucht.

Liebe Grüße an dich, The Windmills



 

* Teenagers in Love *

 

1985 – Käfer




12. März – Niebuhrstraße 38 b, Charlottenburg

Der verdammte Wecker! Wie ich das Ding hasse.

Ich tast im Bett neben mir nach Jan, aber kann schon vorher fühlen, dass ich allein bin. Klar, er steht eigentlich immer vor mir auf.

Ich gähn. Kurz nach zwölf. Ich muss sofort los, damit ich nicht zu spät komm. Merkwürdig so früh wach zu sein. Kein Schädel. Keine verwischten Bilder von der Nacht zuvor. Ist aber auch besser bei der Feier, die heute ansteht.

Ich zieh mich an und öffne die Zimmertür, lausch.

Stille.

Ich schnapp mir meine Jacke von der Garderobe und geh langsam durch den Flur Richtung Küche.

Er sitzt am Fenster, wie schon an den letzten zwei Tagen seitdem er zurück ist. Sein langer Körper wirkt wie ein Statue, so vollkommen bewegungslos, sitzt er dort. Kein Buch. Keine Gitarre. Nichts.

Ich bin so froh, dass er wieder hier ist. Aber es ist ungewohnt ihn, der oft genauso hibbelig ist wie ich, so still zu sehen. Es ist unheimlich, macht mir Angst.

In meinem und auch seinem Zimmer verbringt er so wenig Zeit wie möglich. Es ist beredeter als seine „Alles okay. Wirklich!“-Floskeln, die ich jedes Mal zur Antwort erhalte, wenn ich versuch ihn auf seine Veränderung anzusprechen. Dann wird alles an ihm zu Stein, bis er sich zwingt zu lächeln. Sein Lächeln erreicht nicht seine Augen, die wie tot sind und so voller Schmerz und ungesagter Worte. Ich weiß echt nicht, was er sich selbst erzählt darüber, was los ist und ich trau mich nicht zu fragen, will ihm Zeit geben.

Der einzige Ort, an dem er es auszuhalten scheint, ist die Küche. Wenn er nicht dort herumsitzt, dann ist er weg.

Spazieren, hat er mir auf meine vorsichtige Nachfrage geantwortet.

Aber jetzt ist er da - zumindest körperlich, so wie er hinaus starrt in den grauen Märzhimmel.

Ich tret vorsichtig auf ihn zu. „Hey, Jan!“

Er schreckt hoch, so dass der Stuhl mit einem häßlichen Geräusch über den Küchenboden schrammt. „Was? ... Oh. Hi!“ Er betrachtet die Jacke in meiner Hand. „Willste los?“

Nein, denk ich. „Mhm. Weißte ja, der Geburtstag meiner Mutter.“

Er nickt.

„Willste mit?“

Für einen Moment zögert er. Allein, dass er überlegt mit nach Spandau zu kommen …

„Nee, quatsch.” Wieder dieses seelenlose Lächeln. „Is ja `n Familienfest.“

Ich streich über seine Schulter, spür wie er zusammen zuckt. Es ist weniger geworden in den letzten zwei Tagen, dennoch greift die Angst wieder nach mir, dass das nun für immer bleibt. Er, wir beide sprachlos, gefangen in Jans Inszenierung von “Es ist alles okay.” Immerhin sagt er nicht, dass es ihm gut geht. So gut lügen kann oder will er nicht.

„Ey, du bist immer willkommen. Meine Mutter mag dich. Weißte doch.“ Ich grins ihn an, obwohl ich mich nicht wirklich danach fühl. „Es gibt och Kuchen.“

Er grinst genauso unenthusiastisch wie ich zurück. „Bring mir eenfach wat mit.“ Als ob er den essen würde. Seine Nahrungsaufnahme ist grad schlimmer als meine und das will echt was heißen.

Er dreht sich zurück zum Fenster und sein Blick wandert wieder hinaus auf die S-Bahn-Trasse.

Ich würd ihn so gerne zum Abschied küssen oder zumindest umarmen, aber es ist so unklar, was okay ist. Wenn ich frag, sagt er ja, aber seine Anspannung dabei … Also, habe ich aufgehört ihn zu küssen, weil ... Ich komm mir dann nur schlecht vor, dabei will ich doch nur helfen.


Seegefelderstraße, Spandau

„Dit is, als wär er `ne Hülle, ‘n verdammter Geist.“

Diana und ich stehen in der Küche und waschen das Kaffeegeschirr ab. Aus dem Wohnzimmer klingt fröhliches Geplauder zu uns hinüber.

„Und weeßte warum?“ Diana sieht vom dampfenden Spülwasser auf.  

Ich nick, schüttel den Kopf, weil mir klar ist, dass er nich möchte, dass ich das rumerzähl.

Einen langen Moment sieht sie mich prüfend an, dann wischt sie sich ihre nassen Hände an einem Geschirrhandtuch ab, öffnet das Fenster und hält mir ihre Zigarettenschachtel hin. Sie gibt mir Feuer. Der erste Zug tut so gut, dass ich ihn mit einem Stöhnen ausatme.

„Wat war `n los?“ Diana setzt sich auf das Fensterbrett. „Habter euch gestritten?“

„Nö.“ Ich kaue an einem losen Stück Haut an meinem Zeigefinger herum. „Ey, wenn ick dir dit erzähl, dann ...“ Ohne das ich es will, wird meine Stimme leiser. „Dit is echt ...“

„Ick kann Schweigen wie `n Grab.“

Und das kann sie wirklich. Haben wir beide immer so gemacht, wenn unsere Mutter oder Oma, ganz früher unser Vater, etwas nicht erfahren durfte.

„Zwillings-Ehrenwort?“ Traurige Nostalgie steigt in mir hoch.

Sie lächelt genau so traurig zurück und nickt.

„Also ...“ Ich hole tief Luft. Es muss raus aus mir. Ich kann einfach nicht einschätzen wie es Jan damit geht, aber mir, mir schnürt es die Luft ab. „Du hast doch Beate ma kurz gesehen, als de vor Weihnachten bei uns warst, nee.“

„Eure Managerin? Klar.“

„Is se nich mehr.“ Und damit bricht das, was Jans Mutter und er mir bruchstückhaft über diese Nacht erzählt haben, aus mir heraus.

Diana hört mir einfach nur aufmerksam zu. Glühende Asche fällt von ihrer Zigarette auf ihr Bein und sie fegt sie schnell aus dem Fenster. „Dit ist ja furchtbar.“ Ihre Augen sind riesig.

„Ist es. Oder?” Ich bin mir immer noch so unsicher, was da genau los war. Aber ich spür es in der Wut, die mich seit diesem Morgen als mich Jans Mutter angerufen hat, nicht mehr verlassen hat - und meiner Hilflosigkeit. Egal, was passiert ist, die Auswirkungen sind ...

„Ja. Fändst du dit jut, wenn dich nachts jemand weckt und will … was auch immer sie von ihm wollte?”

„Naja ...” Das ist der Teil den ich nicht ganz versteh, denn tatsächlich fänd ich das nicht so schlimm. Aber es geht hier ja nicht um mich.

Diana rollt mit den Augen. “Oh, Mann. Also, dit is echt typisch Mann.”

„Aber …”

„Also, ick kenn Jan ja nich so jut, aber … ick gloob, dit kam für den ja anscheinend total unerwartet. Und is halt och krass, dass die zusätzlich och noch bei euch gewohnt hat.”

„Ja. Ick gloob, das is für ihn fast dit krasseste, och wenn er nüscht sagt. Aber dass sie halt so nah an uns dran war, dass wir - er ihr vertraut hat."

„Is echt `n bisschen gruselig, wenn man da so rückblickend drüber nachdenkt.” Diana sieht gedankenverloren hinaus in den grauen Märzhimmel.

„Ick hab och echt viel nachgedacht, wie dit passieren konnte. Also, ick hab schon gemerkt, so die letzten Wochen, dass sie ihn jut findet, aber dass die sowat …”

„Allerdings. Wenn ick jemand mag, dann ist mein Impuls bestimmt nich, dass ick mich besauf und dann den Mensch nachts weck, um ihm irgendwelche zudringlichen Offerten zu machen. Dit is einfach scheiße. Wenn einem sowas passiert, dann ...“ Sie spricht nicht weiter, bläst den Rauch so nach draußen, dass ich ihr Gesicht nicht sehen kann.

„Ist ... Ist dir sowas ...?“ Ich weiß nicht, ob ich das fragen kann, ob ich es überhaupt wirklich wissen will.

Sie schnaubt. „Wat denkst du denn, warum ick mich von Robbi getrennt hab? Glaubste, für den war „Ick hab keen Bock.” jedes Mal genuch?" Sie drückt energisch ihre Zigarette auf der Fensterbank aus.  „Und dann hat er sich am nächsten Tag immer damit rausgeredet, dass er zuviel getrunken hatte. Zum Kotzen! Echt!”

„Oh … Dit … dit tut mir echt leid.” Ich würd sie gern in die Arme nehmen, aber weiß nicht, ob das der richtige Moment dafür ist. Auf einmal bin ich mir doch sehr bewußt, dass ich ein Mann bin.


Niebuhrstraße 38b, Charlottenburg

Ich öffne vorsichtig die Wohnungstür, lausch in die WG.

Stille. Diese verdammte Stille. Wie ein Grab.

Ist er wieder weg?

Ich erschreck mich, als ich um die Ecke in die Küche späh. Seine Silhouette vor dem dämmerungsblauen Himmel. Er sitzt fast millimetergenau so wie ich ihn vor vier Stunden verlassen hab, starrt immer noch aus dem Fenster. Ich wünschte, ich könnte in ihn hinein sehen, um zu verstehen, wie schlimm es wirklich in ihm aussieht.

Ich klopf an die Küchentür, damit er weiß, dass ich wieder da bin. Er zuckt trotzdem zusammen. Hat er nicht mal die Wohnungstür in seiner Trance gehört? Wo ist der Junge nur mit seinen Gedanken? Verdammt weit weg anscheinend.

„Hey…” Auch seine Stimme klingt weit weg, als käme sie von einem anderen Kontinent, dann zementiert er sich schnell sein „Alles gut“-Lächeln ins Gesicht, das in der Dämmerung gespenstisch leuchtet. „Na? War`s nett in Spandau?“

Ich nick und quäl mir ein ähnlich falsches Lächeln ab. Ich würd ihm so gerne erzählen, dass Diana mir ein wenig mehr die Augen geöffnet hat, wie es ihm wohl geht, aber … Auch das geht nicht, weil dann wäre ja dieses Mal ich der Verräter, weil ich Diana eingeweiht habe in sein Geheimnis.


Abends liegen wir nebeneinander in meinem Bett und lesen. Er gähnt. Mehrfach. So stark, dass es wirkt als würde der Weiße Hai neben mir liegen. Immer wieder fallen ihm die Augen zu und “Huckleberry Finn” kippt auf seinen Bauch, dann reißt er die Augen wieder auf und liest weiter.

„Hey, ick kann och dit Licht aus machn. Vielleicht hilft dit.“

„Nee, nee. Schon okay.“ Er gähnt wieder.

„Es is schon nach eins. Normalerweise pennst da doch schon längst.“

„Mhmmm. Normalerweise ...“, murmelt er. „Normalerweise wärste jetzt och nich hier, sondern unterwegs.“

Ich schluck die kleine Provokation weg. Seine neue Taktik, um von sich abzulenken.

„Kannste nich schlafen?“ Eigentlich kenn ich die Antwort, hab ja ausreichend mitbekommen, wie er sich die letzten zwei Nächte neben mir hin und her gewälzt hat, aber … Irgendwie müssen wir doch darüber reden, dass ...

Er dreht sich ein kleines Stück zu mir. „Sach ma, haste ... haste irgendwas da, dass ... ick vielleicht besser schlafen kann?“ Er schafft es nicht mir in die Augen zu sehen.

Mir wird kalt, richtig innerlich kalt. Es gab in den letzten zwei Tagen viele ungewöhnliche Dinge, aber dass hier ...

„Dit ... dit willste doch nich wirklich. Oder?“

„Nein. ... Nein, natürlich nich. Geht schon ... irgendwie.“ Er legt “Huckleberry Finn” auf den Boden. „Dann ... äh, gute Nacht.“ Er küsst mich so halb auf den Mund und dreht sich zur Seite, weg von mir.


Als ich am nächsten Mittag aufwach, hör ich ihn in der Küche Gitarre spielen und atme auf. Das hat er seit Tagen nich mehr gemacht.

Er singt sogar, wenn auch sehr leise. Ich öffne die Tür, lausch auf den Text, den er mehr ausstößt wie etwas Giftiges, als das er ihn singt:

 

Wenn ich dich sehe, wird mir schlecht
Bei dem Gedanken an dich bekomm ich Ausschlag
Bitte spring doch aus dem Fenster - los, spring schon!
Ich steh dann unten und ich freu mich auf den Aufschlag

Was haben deine Eltern der Menschheit angetan?
Warum legst du dich nicht unter eine Straßenbahn?
Du bist nicht zu ertragen, du bist so widerlich
Die Welt könnte so schön sein – ohne dich.



Saturn, Köln

Zum ersten Mal sind wir wieder ohne große Entourage unterwegs – nur zu dritt in Hans altem VW-Bus, was fast nostalgische Gefühle in mir heraufbeschwört.

Ähnlich nostalgisch ist, dass anscheinend hier uns niemand kennt. Wir sitzen für eine Autogrammstunde einen ewigen Nachmittag hinter dem Tisch in der Musikabteilung und niemand – wirklich niemand – kommt vorbei. Das hat sich die CBS, die uns diesen Termin eingebrockt hat, sicher anders vorgestellt. Wir ehrlich gesagt auch. Eine Lektion in Demut, nachdem alles so gut lief. Und das ausgerechnet in Köln.

Ich kann es einfach nicht abstellen. Jedes Mal wenn ich in dieser Stadt bin, halt ich Ausschau nach ihm. Aber wäre wahrscheinlich ein Wunder, wenn er mitbekommen würde, dass sein Sohn …. Ich bin mir nicht mal sicher, ob er überhaupt weiß, dass ich in einer Band spiele und an meinem Künstlernamen, der ja eigentlich gar keiner mehr ist, kann er mich natürlich nicht erkennen.

Wieder eine Durchsage. “Wir freuen uns die Funpunker von den Ärzten im Haus zu haben. In der Plattenabteilung könnt ihr Farin Urlaub, Bela B und Sahnie treffen. Holt euch doch ein Autogramm!” Mit jeder Aufforderung auf die niemand kommt, wird die Schmach schlimmer.

Hans lernt unter dem Promotisch für irgendeine Klausur und Jan kritzelt neben mir auf dem Stapel Autogrammkarten herum, die niemand haben möchte.

In Berlin hätt sich das einfach durch Mundpropaganda herum gesprochen und mit Sicherheit wär eine schmeichelhafte Anzahl von Mädchen und jungen Frauen hier aufgelaufen. Im Westen werden wir nur mit vorsichtigen oder sogar skeptischen Seitenblicken von den Kund*innen begutachtet. Tja, das war`s dann wohl mit dem berühmt werden.

Meine Stimmung sinkt mit jeder pseudo-euphorischen Durchsage mehr. Ich überleg, ob eine kleine Nase Speed der Enttäuschung abhelfen könnte.

Jan dagegen fährt neben mir immer mehr hoch, flachst mit Hans herum, grinst den Abteilungsleiter Herrn Öchsle an, der sichtlich beschämt, ob der gähnenden Leere vor uns, immer wieder neue Getränke auffährt, leider nichts Hochprozentiges.

„Na, dit is doch ma `n entspannter Nachmittag.“ Jan lehnt sich grinsend zurück und das Grinsen wirkt so echt wie – seit langem nicht mehr. Ich hab es vermisst, auch wenn ich nich versteh, ob das nur wieder Fassade oder echte Freude ist. Warum kehren ausgerechnet hier seine Lebensgeister zurück?

Aber wenn ich ehrlich bin, dann war er schon wie ausgewechselt, als wir im Auto saßen Richtung Checkpoint, noch mehr seit wir Berlin verlassen haben, wieder unterwegs sind. Die Erkenntnis lässt mir das Blut in den Adern schockgefrieren, weil … Das kann ja nur bedeuten, dass er nicht in Berlin sein will. Verdammt. Gleichzeitig ist es so schön, dass der Junge wieder spricht und sogar lacht, auch wenn ich es ihm nicht wirklich abnehme.

„Also, ihr Drei!“ Der nette Abteilungsleiter Herr Öchsle, der eindeutig kein Ur-Kölner ist, sieht uns vollkommen zerknirscht an. „Es tut mir so leid, dass des hier so a Flop gworde isch. Wenn ihr wollt, könnt ihr euch noch was aus unsrer Abteilung mitnehme.“

Wir stöbern fast eine Stunde durch die Platten. Schließlich entscheid ich mich für Motörhead. Ich hoffe, Jan ist mit meiner Auswahl zufrieden. So ganz hat er sich noch nicht mit meiner Metal-Leidenschaft anfreunden können.

Gerade starrt er aber auf eine Platte in Hans riesigen Händen. „Wat willst du denn mit Vivaldi?“

„Also, ein bisschen Kultur hat ja wohl noch niemand geschadet.“

Jan dreht sich zu mir und grinst, als ich mit den Augen roll. Ich bade in seinem breiten Grinsen wie in einem Regenschauer nach langer Dürre.

Jan drückt Herrn Öchsle eine Platte in die Hand. „Könn se vielleicht dit hier auflegen? Dit fünfte Lied.“

Die Scheibe beginnt sich zu drehen.

„Und könn Se vielleicht och noch die Ladenlautsprecher zu schalten?“

Herr Öchsle sieht kurz verwirrt aus, dann lächelt er und drückt auf einen Knopf.



„Para bailar la bamba
Para bailar la bamba se necesita una poca de gracia
Una poca de gracia pa′ mi pa‘ ti, ay arriba y arriba
Ay arriba y arriba por ti seré, por ti seré, por ti seré“

Jan hält mir die Hand hin. Leider bin ich der Einzige von uns beiden, der einen Tanzkurs besucht hat und dementsprechend malträtiert werden meine Füße. Aber alles egal, Hauptsache Jan lacht wieder. Wir sind so albern, dass nicht nur Jan strahlt, sondern sogar ein paar der Kund*innen, die uns zuvor so missachtet haben.

Danach müssen wir leider Köln schon wieder verlassen, aber vielleicht ist das auch besser so. Gerade weil ich so viele schöne Kinder- und Jugenderinnerungen an diese Stadt habe, tut sie weh.

Es geht Richtung Süden nach Stuttgart. Jan ist nach der Fahrt sogar immer noch so gut drauf, dass er mit in eine von diesen seltsamen Großraum-Discos kommt. Es ist schön mal mit ihm allein unterwegs zu sein. Ich wähle das “Roxy”, weil ich den Namen mag und es nicht weit von unserer Absteige liegt.

Im Roxy arbeiten sie mit diesem Kunstnebel und ein Charthit jagt den nächsten, aber weil Jan so gut drauf ist, könnten sie auch schreckliches Bierzelt-Humtatada spielen und es würde mich nicht stören. Eigentlich sieht es ganz geil aus, wie die Discokugel bunte Punkte durch den großen Raum feuert. Und so schlecht sind Falco, „Wild Boys“ von Duran Duran und „Shout“ von Tears for Fears auch nicht. Nur bei Modern Talking verweigern wir uns. Ich hol mir stattdessen einen Cola - ohne Jacky.

Der DJ wechselt um Mitternacht und damit auch die Musik. Anscheinend ist das hier die alternativere Stunde, was auch daran zu merken ist, dass auf einmal die bunten Lichter zu blau wechseln. Ich höre ein Zischen über der lauten Musik. Im nächsten Moment sind wir eingehüllt in Kunstnebel und Jan ist nur noch eine große Silhouette gegen die fliegenden Punkte der Discokugel.

Die Musik gefällt mir sehr viel besser, aber Jan wird ernster, albert nicht mehr ganz so viel herum. Seine Gesichtszüge frieren für einen Moment vollständig ein, als die ersten Takte von Talk Talk erklingen.

Er hält inne, bleibt wie versteinert mitten zwischen den tanzenden Menschen um uns herum stehen. Seine Miene hat nichts mehr von dem ironischen Herumgealber zu den anderen Songs. Ganz langsam, als würde er sich selbst nicht trauen, beginnt er zu tanzen.

Ich kenn Jan nur als absolutes Energiebündel auf der Tanzfläche, kenn ihn nur bei Pogo und Ska, aber nicht so. Normalerweise gehen die Leute auf der Tanzfläche in Deckung, wenn Jan für ein Skastück oder was anderes Wildes drauf stürmt. Aber dies hier ist nicht Berlin, sondern Pop und Disco und so scheiße es war, dass in Köln niemand etwas von uns wissen wollte, so schön ist grad die Anonymität.

Die Tanzfläche wird voller. Ein Pärchen und zwei junge Frauen schieben sich zwischen Jan und mich. Gleich wird er gehen, denk ich, aber - er bleibt, fängt meinen Blick ein.

So oft er mich in den letzten Tagen hat abblitzen lassen, jetzt lässt er mich nicht mehr los mit seinen Augen. Schmerz steht in ihnen, der ganze Schmerz, den er seit dieser verdammten Nacht in sich weggesperrt hat und er lässt ihn mich sehen.

Ich mache einen Schritt auf ihn zu, will an den jungen Frauen vorbei zu ihm, alles zieht mich zu ihm, aber instinktiv weiß ich, dass ich besser auf Abstand bleibe, dass es auch so schon zu nah ist. Er bewegt sich, seinen Körper so vorsichtig, als hätte er noch nie zuvor Musik gehört und vielleicht stimmt das in diesem Zusammenhang sogar.

Nur der Typ hinter den Plattenspielern beobachtet Jan ebenfalls, scheint fasziniert zu sein von dem großen Blonden, der so selbstvergessen tanzt. Und Jan bemerkt es wirklich nicht, scheint nun komplett in sich abgetaucht. Obwohl wir uns schon so lange kennen, hab ich ihn noch nie so gesehen.

Er bewegt sich verloren in der Menge, als würde er jeden Schritt mit seinem Körper ausdiskutieren, der anscheinend mehr tanzen will zu diesem Lied als er. Es ist als würde Jan gegen sich selbst in eine Schlacht ziehen: der Teil in ihm, der frei und unbeschwert sein will gegen die neu eingezogene Schwere und das Schweigen. Ich wünschte, ich könnte ihm besser helfen in diesem Kampf.

Immer wieder stoßen mich Leute auf der Tanzfläche an, weil ich nur auf ihn fixiert bin. Genau wie der DJ kann ich meine Augen nicht von ihm wenden. Es wirkt als würde der Typ nur noch für ihn auflegen und als nächstes spielt er Ultravox "Dancing with tears in my eyes”.

Jan wirft mir einen kurzen, scheuen Blick zu. Leuchtende Punkte von der Diskokugel fliegen über sein Gesicht, über sein Lächeln, das traurig ist, aber endlich ein echtes Lächeln, eins in dem ich ihn erkenne.

Langsam schiebe ich mich an dem Pärchen vorbei, das uns voneinander trennt, greife vorsichtig nach seiner Hand und leg sie behutsam an meine Hüfte, seh ihn unverwandt dabei an und er blickt nicht weg. Schließlich zieht mich zu sich und küsst mich - nur kurz, fast keusch. Es ist ein bisschen ungewohnt nach der langen Zeit, in der er sich von mir ferngehalten hat, aber mein ganzer Körper atmet auf und erst in dem Moment merk ich, wie angespannt ich gewesen bin.

In dieser Nacht schläft er zum ersten Mal wieder mit mir und es ist in seiner Vorsichtigkeit schmerzhaft, weil er immer noch so zerbrechlich wirkt wie auf der Tanzfläche.


17. März – Niebuhrstraße 38 b, Charlottenburg

Wir stehen beide um 16 Uhr auf und wanken in die Küche. Kaffee für ihn, Tee für mich.

„Hey, Bela? Haste Bock auf Risiko heut Abend?"

Er sieht von seinem Comic auf und mich genauso überrascht an, wie ich es nicht wollte. „Ähm ... okay."

„Cool." Ich drehe mich um und gehe schnell aus der Küche ins Bad. Stuttgart war ein Weckruf. Nicht schlafen nachts. Ich muss raus aus der Wohnung, unter Leute. Besser versorgt als mit Bela, dem Experten für nächtliche Streifzüge an meiner Seite, kann man nicht sein.


Das Risiko ist voll, laut, verraucht. Nopper ist da, aber nach einem Seitenblick zu mir schlägt Bela sein Angebot auf einen Jacky aus.

„Nein! Bitte nicht.” Nopper wirkt als würde er vor uns in die Knie gehen, während er zwischen uns hin und her sieht. „Nich du jetzt auch noch, Bela. Hat er dich zum Anti-Alkoholiker gemacht?”

„Quatsch.” Bela macht eine wegwerfende Handbewegung. „Ähm, ick hab heut eenfach keen Bock.”

„Aha.”

Vielleicht weil er nicht will, dass mich der Alkoholgeruch jedes Mal an ... erinnert und es hilft. Aber ich will nicht, dass es soviel Macht über mich hat. Ich will verdammt nochmal die Kontrolle zurück. So vieles, was mit mir seit dieser Nacht passiert, ist mehr als unlogisch, schließlich war es nicht so schlimm. Eigentlich hat sie ja gar nichts gemacht, aber mein Körper hat anscheinend entschieden sich nicht um Logik zu kümmern.

Vielleicht ist meine neue Nachtaktivität auch eine unbewusste Konfrontationstherapie, um diese Verknüpfung zu sprengen. Keine Ahnung. Irgendwie ist das alles Experiment und Blindflug, zum Glück einer, der bisher wirklich hilft.

Der weiteren Unterhaltung zwischen Bela und Nopper kann ich über die laute Musik nur bruchstückhaft folgen, aber es ist auch egal. Bewusst sauge ich den Cocktail aus Lärm und Zigarettenrauch ein und dieses Mal vernebelt die verqualmte Luft meine Gedanken, nicht auf gute, aber auch nicht auf schlechte Art und das ist genau das, was ich wollte. Mit Bela an meiner Seite schwebe ich auf einer Wolke aus wilden Eindrücken, die nachdenken einfach nicht zu lassen.  

Irgendwann sind die Eindrücke aber nicht mehr neu genug und ich unruhig. „Hey, woll`n wa noch weiter?”

„Klar. Haste Bock auf tanzen?” Bela strahlt mich mit glitzernden Augen an und ich frage mich, ob er den Alkoholkonsum mit Speed ersetzt hat. Vermutlich. Nicht toll, aber definitiv angenehmer für mich. „Lass uns ins Pol.”

„Okay.”

„Cool.” Bela nimmt meine Hand. "Da is heut hi-NRG-Party. Da sin och Leute aus der Schwulenszene da.”

„Aus der Schwul…”

„Och, Jan. Jetz tu doch nich so. Da könn wa och ma auf der Tanzfläche knutschen.”

„O-okay.”

Als wir vor der eindrucksvollen Fassade des Metropol stehen, stürzen Erinnerungen auf mich ein wie Kanonenfeuer. Wie konnte ich das nur vergessen. Der Laden weckt keine guten Erinnerungen. Sofort habe ich wieder Belas blutende Stirn vor Augen, vor allem aber die unglückseligen Dreharbeiten. Dementsprechend unsicher folge ich Bela durch das Foyer. Immerhin war der Teil mit Nena damals echt toll, vor allem nachdem Bela und ich uns endlich wieder zusammen gerauft haben.

Die ballsaalartige Tanzfläche ist voll, die Stimmung entspannt. Viele Leute grinsen sich an, auch mit mir nimmt ein Typ in hellen, engen Jeans Blickkontakt auf. Charmant. Und schmeichelhaft. Alle sind etwas weniger unnahbar hier als in den Avantgarde- oder Szeneschuppen.

An der Seite knutschen ein paar Lederschwule. Ungewöhnlicher Anblick, aber auch schick. Andere der Männerpärchen verschwinden hinter den bodenlangen schwarzen Vorhängen, die die Wände verdecken.

Als ich Bela darauf aufmerksam mache, grinst der nur. „Bock?”

Ich schüttele schnell den Kopf.

Tatsächlich ist das Metropol mit seinen Stockwerken und Balkonen auf seine Art sehr gediegen. Im Kontrast dazu stehen die Laser, die den Nebel mit ihren bunten Fächern und Klingen zerschneiden. Sieht sehr futuristisch aus.

Die Musik ist auch seltsam, als wäre ich auf einem anderen Planeten gelandet. Auf einem Plakat steht dieses "hi NRG” und hohe Energie hat die Musik definitiv und nicht nur die.

„Oh. Blue Monday." Bela grinst und zieht mich auf die Tanzfläche. „Dit scheint mich ja wirklich überall hinzuverfolgen. Nu denn …”

Ich muss mich immer noch daran gewöhnen, das ich anscheinend seit Neuestem gerne zu Pop und Disco tanze, aber - hey, Blue Monday. Danach ein Lied, dass glaube ich von "Frankie goes to Hollywood” ist.

Neben uns knutscht ein hübscher blonder Typ mit einem Braunhaarigen, der sein T-Shirt hoch geknotet hat, wahrscheinlich um seine sehr ansehnlichen Bauchmuskeln zu betonen. Mhm … Es ist seltsam und gleichzeitig einfach schön. Irgendwie scheint mein Körper auf zu atmen. Das Unwohlsein, das mich nach der Rückkehr nach Berlin seit Tagen wieder wie ein Schatten begleitet, wird blasser.

„Hey, Jan!” Bela greift in dem Lasergewitter nach meiner Hand. „Is echt schön mit dir nachts unterwegs zu sein.” Er sieht mich richtig verliebt an und ich ihn ziehe an mich, beuge mich zu ihm hinunter.

„Hat schon echt so `ne ganz eigene Faszination, die Nacht.” Ich lecke über sein Ohr und er quietscht auf, presst sich dann an mich.

„Doch Bock auf die Vorhänge?” Bela deutet an die Wände.

Ich schüttele den Kopf, etwas zu entschieden vermutlich, denn Belas Grinsen verschwindet. Schade.

„Is okay”, sagt er schnell. „Bin gleich wieder da.”

Kurz habe ich Angst, dass er sich von jemand anderem holt, was er von mir gerade nicht bekommt. Als er wieder auftaucht, umgibt ihn eine neue zappelige Energie. Ich ahne, woher die kommt, aber wir reden nicht darüber. Auf eine verdrehte Art sind mir die Drogen doch lieber als wenn er, was mit anderen Leuten hat. Ich seufze.

Die Nacht verschwimmt in Beats und Songs und bunten Lichtern. Bei "Smalltown Boy" zähle ich die Stunden, die ich wach bin. Gerade bricht die 26. an und die tanzenden Lichter vor meinen Augen verwischen und wabern.

„Nee, ehrlich, Jan. Die ham keene Laser mehr an.” Bela mustert mich mit skeptisch-besorgten Blick. "Vielleicht sollten wa besser heim gehen?”

„Mhm. Vielleicht …”

Vor dem Metropol bricht grau morgen über Berlin an. Montag morgen - die Stadt der mürrischen Berufstätigen erwacht. Auch sie sehen müde aus, obwohl sie vermutlich geschlafen haben.

Ich schlafe nur noch, wenn es nicht anders geht, wenn ich mich gar nicht mehr wach halten kann. Und jetzt ist es fast soweit, aber nur fast.

„Wolln wa nochma im Risiko vorbei?”, sage ich wie beiläufig.

„Ernsthaft? Aber dit is doch die falsche Richtung.” Wieder dieser prüfende Blick auf mir.

„Na, und? Kannste nich mehr, oder wat?” Provokation klappt immer.

„Pfff. Na, denn los.”

Es ist schön mit Bela an meiner Seite durch Berlin zu laufen. Ich wünschte nur der Anlass wäre ein anderer, aber mit ihm fühle ich mich auf eine seltsame Art beschützt. Außerdem tut es gut auf einmal mit ihm einen gemeinsamen Rhythmus zu haben, nicht nur weil es besser ist, nachts nicht allein in der Niebuhrstraße zu sein. Gar nicht mehr schlafen, wäre noch besser, dann wären auch die Träume weg.

Im Risiko treffen wir mit großem Hallo wieder auf Nopper und Eddie. Die beiden sind so dicht, dass es ein Wunder ist, dass sie uns noch erkennen.

In dem ganzen Laden sind nur Bela und ich nüchtern im Sinne von kein Alkohol. Die schwirrenden Unterhaltungen werden zu einem dumpfen Hörspiel,  die Gesichter der anderen zu wabernden Fratzen, wahrscheinlich weil mir immer wieder die Augen zu fallen. Endlich, endlich umarmt mich bleischwer die Müdigkeit. Die rauchige Luft um mich dreht sich langsamer und ich kippe. Eine Hand mit einem silbernen Ring hält mich im letzten Moment fest und hellgrüne Katzenaugen mustern mich.

„Woll`n wa jetz endlich heim?” Er sagt es fast sehnsüchtig.

„Okay”, gähne ich und Bela seufzt laut auf.

Wir schlurfen die paar Kilometer zu Fuß in die Niebuhrstraße, weil ich den Rauchgestank aus den Klamotten haben und meinen Lungen ein wenig frische Luft gönnen will. Dann fallen wir mit der aufgehenden Sonne ins Bett.

Der Schlaf danach ist die ersehnte Bewußtlosigkeit.



11. März – Niebuhrstraße 38 b, Charlottenburg

„Komm Se ma mit. Dit schlepp ick jetz schon seit `ner Woche mit mir rum, weil Se ja nie da sin.” Der Briefträger sieht uns vorwurfsvoll unter seiner blauen Schirmmütze an. „Ick hab et aufgegeben dit allet in ihren kleen Briefkasten zu stopfen." Er knallt mir eine Plastiktüte vor die Brust, die ich verdutzt festhalte. Schwer.

„Und wat soll ick jetz damit?"

„Na, wahrscheinlich ufmachen und lesen." Er tippt sich an seine Mütze und fährt auf seinem gelben Fahrrad davon.

Ich wuchte die Tüte mit Briefen auf die Anrichte und bringe damit die dort prekär gestapelten Teller zum Klirren.

Bela lässt sich mit einem Seufzer auf einen Stuhl fallen. Misstrauisch begutachtet er die Plastiktüte. „Und wat is nu damit?"

Ich kippe die Tüte in einem Schwung auf dem Tisch aus. Bela springt hoch, versucht die Lawine aus Briefen zu bändigen.

Ich überfliege die Adressen: Ärzte, Die Ärzte, F. Urlaub, Farin, Bela, aber auch Jan und auf ein paar steht sogar Dirk, was mir ein nostalgisches Gefühl macht.

„Ick gloob, dit is allet Fanpost.”

„Ernsthaft?” Bela inspiziert misstrauisch die Brieflawine. Sein Grinsen wird mit jedem Brief größer. "Geil.”

Ich lehne mich zurück gegen die Spüle. „Mhm. Ick gloob, wir sin jetz an dem Punkt, an dem wa entweder durchstarten oder uns als Eintagsfliege entpuppen. Und so wie ick dit hier sehe, brauchen wa unbedingt `n neues Management." Ich versuche es so klingen zu lassen, als wäre mir der Gedanke eben erst gekommen. Bela zuckt trotzdem zusammen.

„… Jute Idee", sagt er nach einer viel zu langen Pause und lässt sich auf einen Stuhl fallen.

„Wär echt doof, wenn wir dit jetz nich weiterverfolgen." Ich seh vorsichtig zu Bela. „Oder?"

„Klar." Ich merke, wie sehr er sich bemüht meinen unverbindlichen Tonfall aufzunehmen, so zu tun, als wäre es keine große Sache, dass wir implizit gerade auch über Beate reden.

Er nimmt einzelne Briefe hoch. "Alle für uns. … Krass!” Er sortiert sie in drei Haufen. „Der is für Die Ärzte, der is für Jan oder Farin und der hier für mich." Nach zwei Minuten hält er einen mit spitzen Fingern hoch. „Sogar eener für Sahnie."

Als er fertig ist, drückt er mir einen fast zehn Zentimeter hohen Stapel in die Hand. Ich kann mich nicht zusammen reißen und schiele auf seinen. Ähnlich hoch wie meiner. Gut so. Wär komisch, wenn einer von uns beiden …

Bela deutet auf die oberen Briefe meines Stapels: „Ick gloob, `n paar sin von einer besonders glühenden Verehrerin – Petra oder so."

Tatsächlich kommt mir der Name Petra Hermler bekannt vor. Aus Bremen. Vor einem Monat hat sie schon mal geschrieben. Sie hat uns wohl mal im Schlachthof gesehen und ich hätte ihr von der Bühne so besonders zu gelächelt und seitdem kann sie nicht aufhören an mich zu denken.

Sie hat auch ein Photo von sich dazu gelegt, auf dem sie vor der Gedächtniskirche posiert, geschossen auf ihrer Klassenfahrt nach Berlin. Ich kann mich definitiv nicht an sie erinnern und habe auch keine Ahnung, was sie genau von mir will, aber wenn sie so ein großer Fan ist, dann schreibe ich wohl besser nochmal zurück. Oder ist es vielleicht ein Fehler auf so intensive Fanbriefe zu antworten? Keine Ahnung. Ich lege ihre drei Brief ungeöffnet zurück und überfliege die Adressen der anderen an mich adressierten, sortiere die Kuverts in zwei Stapel.

Bela legt sein Kinn auf meine Schulter. „Ick hab die doch schon sortiert."

„Schon, aber die hier", ich deute auf den kleineren Stapel. „Die beantwort ick und die hier nich." Ich zerreiße elf Briefe.

„Hey! Wat machste denn? Dit sin unsre Fans. Is dir der Ruhm jetz schon zu Kopf gestiegen oder wat?"

„Quatsch. Ick hab`n System. Wenn `n Brief an Vetter-Marciniak adressiert is, dann sin dit Fans, die mich nur aus der BRAVO kennen. Die beantwort ick nich."

„Aha." Bela nickt beeindruckt, dann greift er nach dem „Die Ärzte"-Stapel. „Kiek ma hier! Süß, oder?" Er zeigt mir einen Umschlag, auf dem ein Comic von uns Dreien gemalt ist, wie wir auf der Bühne stehen. „Komm, lass uns den zusammen beantworten." Bela reißt den Umschlag ganz vorsichtig auf, damit die Zeichnung nicht beschädigt wird.

„Ah, schau mal. Der Comic geht noch weiter. Dit is echt toll." Bela hat fast Tränen in den Augen, so gerührt ist er. „Da müssen wa unbedingt antworten."

„... Uups!"

Der Küchentisch hat der Lawine nicht mehr standgehalten und ein Brief ist auf den Boden gefallen. Ich starre auf den Absender.

„Alles okay?", höre ich Bela aus weiter Ferne fragen.

„Ähm ... ja." Hektisch öffne ich den Umschlag. Meine Augen fliegen über den Bogen und ...

Bela beugt sich zu mir. „Scheint ja `n besonders toller Fanbrief zu sein."

„Mhm?" Ich muss meinen Blick wegzwingen von den Zeilen. „Nee ... Ähm, dit is keen Fanbrief."

„Sondern?"

„Also, der ... der is von John und Claire aus London."

„Oh."

„Sie woll`n anscheinend nach Hamburg kommen."

„Okay."

„Sie ham gefragt, ob ick se dort treffen will."

„Okay. ... Ähm, schön."

„Ja."

„Und warum kiekste dann, als wenn`s donnert?"

Ich zucke ertappt zusammen. Tatsächlich ist es nach der langen Zeit ein Schock, die Chance zu haben, die beiden wieder zu sehen. „Nee, allet jut."

Bela räuspert sich. „Ick hätt och Bock auf Hamburg."

Ich tu, als hätte ich ihn nicht gehört, weil ich nicht weiß, wie ich ihm sagen soll, dass … Das Thema London sorgt jedes Mal für seltsame Stimmung zwischen uns. „Ähm,  ... Also, ..."

„Du ... willst allein fahren, oder?”, fragt er so leise, dass ich mich schäme.

„Naja, ick ... wir ...", stammel ich herum.

„Schon okay, wenn de unbedingt allein ..." Selten klingt Bela unaufrichtig.  

„Es is nur, weil ... Also, ..."

„Wat is denn los? Du klingst fast so, als ..." Er runzelt die Stirn. „Als du in London warst ... Biste wegen ... diesem John wieder hin?"

Ich kann seine Miene nicht lesen. „Nein."

„Okay, aber ..." Bela mustert mich so intensiv, dass ich wegsehen muss. „Mann, jetz lass mich halt hier nich so raten."

Wenn ich jetzt lüge, dann ... „Also, die beiden ... Ick hab ja bei ihnen gewohnt beim zweiten Mal und da ... An einem Abend ... da sind wir uns halt irgendwie näher gekommen."

„Wie näher ... gekommen?"

„Naja, so … körperlich.” Es ist nicht direkt eine Lüge.

„Körperlich? Alle … drei?”

Irgendwie hatte ich erwartet, dass er sowas cool findet, aber seine weit aufgerissenen Augen wirken eher geschockt, dann verdüstert sich seine Miene. „Schon so `n bisschen interessant, dass de mir da gar nichts von erzählt hast, oder? Das de was mit `nem anderen Typen hattest?"

Ich denke an den Abend zurück, weiß sofort wieder, warum ich es nicht getan habe. „Naja, ... ick ..."

„Was?"

„Na, ick wußt nich … wie." Jetzt schäme ich mich wirklich.

„Dit is eigentlich janz einfach. Es gibt so Dinger, die nennt man Wörter und daraus kann man Sätze basteln und anderen damit In-for-ma-tion-en mitteilen." Er dreht sich von mir weg zum Fenster, dann wieder ein Stück zurück. „Mach mich nie wieder an, weil ick dir eine meiner Affären verschwiegen hab, okay?"

Es fühlt sich an wie ein Messer zwischen die Rippen, auch wenn er recht hat. Und ich habe ihm noch nicht mal das Eigentliche, das Entscheidendere erzählt, obwohl sich alles in mir danach sehnt, es mit ihm zu besprechen. Was damals zwischen uns passiert ist, was so schön und hat mich dennoch grundlegend verunsichert.

Vielleicht sieht er mir diese Verunsicherung gerade auch an, denn Belas Blick liegt vorwurfsvoll, fast abschätzig, auf mir. Ein heiß-klebriges Gefühl begehrt in mir auf. Ich kann es nicht leiden, aber es begleitet mich schon mein Leben lang. Du bist ihm keine Rechenschaft schuldig, sagt der Trotz und ich würde ihm so gerne recht geben, weil sich das besser anfühlt, aber es stimmt nicht. Dennoch bleibe ich stumm, sage nicht, dass ich ihm alles - wirklich alles - gerne erzählt hätte.

Bela sieht mich noch ein paar Momente an, dann haut er ohne ein weiteres Wort ab in sein Zimmer, schließt die Tür hinter sich. Augenblicklich komme ich mir total verlassen vor in unserer kleinen WG.

Zögernd betrete ich mein eigenes Zimmer, bin zu stolz bei ihm zu klopfen und um Einlass zu winseln. Ich nehme Platz an meinen Schreibtisch, halte es dort nicht aus, weil ich vor meinem inneren Auge wieder sie daran sitzen sehe. Ich springe auf, beginne hektisch alles umzustellen, schleife die Matratze hin und her, aber finde keinen Platz für sie.

Schließlich lehne ich sie an die Wand, weil auf diesen beengenden 7m² einfach kein Platz ist für Veränderung. Ich schnappe mir meine Isomatte und meinen warmen Schlafsack, lege mich draußen auf den Balkon. Ganz passe ich mit meinen fast zwei Metern nicht drauf, so dass ich meine Füße über die Schwelle ins Zimmer ragen lassen muss, aber die frische Märzluft tut gut.

Ich hole mir mein altes „Beatles Complete" Songbook, schlage es blind an einer Stelle auf.

Help!

Wahrscheinlich bin ich nicht durch Zufall auf dieser Seite gelandet, sondern sie öffnet sich wie von Zauberhand automatisch, weil ich dieses Lied als 13-Jähriger so oft gespielt habe.

Am liebsten würde ich meine Gitarre holen, aber ich will nicht, dass Bela, dass er ausgerechnet dieses Lied hört. Dabei würde es so gut tun, jetzt einfach zu spielen, zu singen. Ich seufze, schnappe mir mein Textbuch und beginne zu schreiben.

Ich merke, jemand ist hinter mir her
Ich höre, jemand atmet schwer
Ich versteck mich und warte, dass sie endlich geht
Da merke ich, dass sie schon wieder neben mir steht

Ich lasse den Bleistift sinken, zerreiße den Text, klebe ihn dann wieder mit Tesa zusammen. Er sieht so aus, wie ich mich fühle.

Mein Blick schweift über mein Bücherregal und bleibt an Kafka hängen. Manchmal gibt es so Tage, an denen Texte nur so aus mir heraus sprudeln.

Ich hatte heut Nacht einen Traum
Und dieser Traum war sonderbar
Ich saß auf einem Erbsenbaum
Weil ich im Traum ein Käfer war


Schon besser, aber irgendwie sitzt mein Kopf momentan nicht so grade auf den Schultern wie sonst.

Ich würde mich so gerne mit Bela darüber unterhalten, nicht nur über die Beatles, sondern darüber wie wir uns verändern, verändert haben, aber ... gerade ist es wohl schlecht.

Ich blicke auf das Beatles Songbook. Solche Melodien schreiben zu können, so bizarre Texte.

John meinte im Brief, dass ich ihn mit meiner „Beatlesmania" so angesteckt habe, dass er sich die letzten Monate ausführlich mit ihnen beschäftigt hat und jetzt in Hamburg auf ihren Spuren wandeln will.

Mein Puls geht wieder in die Höhe, als ich daran denke, die beiden wieder zu sehen. Ich wünschte nur, es wäre mit Bela nicht so blöd gelaufen. Selbst schuld. Vermutlich. Andererseits kotzt es mich an, warum ich mir ausgerechnet von Mr. Casanova vorwerfen lassen muss, dass …

Ach, Scheiße. Ich hasse streiten, aber … mich entschuldigen auch irgendwie.

Dennoch schüttelt mich dieser beschissene Streit so durch, dass ich mich versenken muss in einer anderen Welt, in einem anderen Leben. Ich brauche Ablenkung, intensive, mich verschlingende Ablenkung.

Im Bücherregal fällt mein Blick auf die Beatles-Biografie. Das erste Buch, dass ich auf englisch gelesen habe, mit 14, als ich noch nicht wirklich alles verstanden habe. Aber das sie von ihnen autorisiert war, dass war mir damals irgendwie schon wichtig. Und sie im Original lesen zu können, nicht die deutsche Übersetzung. Nachdem ich nun am eigenen Leib und Leben erfahre, was Medien so aus den Infos machen, die man ihnen gibt, ist es mir noch wichtiger.

Berühmt sein ist nicht nur geil. Zweifel schlägt seine Nagezähne in mich. Mann. Ich würde wirklich gerade gerne mit Bela reden, aber seit dieser Scheißnacht ist mein Mund wie verklebt.

Ich sehe wieder den Berg Fanpost auf unserem Küchentisch vor mir, der darauf wartet bearbeitet zu werden. Er macht mich ein wenig schwindelig. Weniger die Arbeit an sich, aber die Erwartungen, die darin an uns formuliert werden.

Will - ich – das?

Ja! Ich will.

Ich öffne vorsichtig die Tür, lausche in den Flur – kein Mucks aus Belas Zimmer. Wahrscheinlich schläft er.

Ich hole meinen Stapel in mein Zimmer und beginne ein paar Briefe zu beantworten.

Nachdem ich bei den ersten beiden noch lange überlegt habe, komme ich langsam in Schwung.

„Ihr seid echt die beste Band der Welt und ich liebe deine Lieder, besonders Teenagerliebe", schreibt eine Chris aus Dortmund. Ich bin wirklich gerührt.

Im vierten Brief befindet sich ein sehr eindeutiges Angebot, samt Telefonnummer. Was mich daran am meisten schockt ist das Alter von Britta – 32. Aus einem Impuls heraus zerreiße ich den Brief. Am liebsten würde ich ihn verbrennen.

Danach bin ich so von der Rolle, dass ich erstmal keine weiteren Briefe öffnen will. Nach einer Tasse Tee überrede ich mich einen zu lesen, auf dessen rosa Kuvert ein paar Glitzerherzen geklebt wurden.

Süß. Echt süß. Karolin ist zehn, wohnt bei Hamburg auf dem platten Land, liebt Pferde und kennt die Ärzte durch ihren großen Bruder. Am besten findet sie „Zitroneneis", weil das auch ihr Lieblingseis ist. Ich gehe im Geist den Text durch und hoffe, dass sie nicht alles versteht, was darin am Anfang erzählt wird. Ganz unten auf dem Briefbogen hat sie ihr Pony gemalt.

Was für eine Mischung aus Fans ...

Ich denke an die Mädchen, die vor ein paar Monaten hier bei uns geklingelt haben. Sind das schon potentielle Groupies? Bei Bela sind es ja nicht nur potentielle und auch Hans hat immer mal wieder auf Tour jemand mit auf sein Zimmer genommen.

Reich und berühmt haben wir uns am Anfang geschworen. Gerade habe ich irgendwie ein bisschen die Motivation verloren. Doch bei Bela steht sie immer noch in Leuchtschrift auf der Stirn: Sex, Drugs and Rock `n Roll ...  

Drugs und ich, wir werden nie Freunde werden, aber ... ja, verdammt, es ist schon cool, wenn rotwangige Mädchen mit glänzenden Augen zu einem hoch strahlen.

Will ich deswegen Popstar werden? Nee, oder? Am wichtigsten ist mir die Musik. Ich will einfach mein ganzes Leben lang Musik machen und dafür muss man ja nicht berühmt werden. Andererseits müsste ich dann ja was anderes machen, um Geld zu verdienen. Und - ich stehe gern auf der Bühne - vor allem mit Bela. Außerdem zieht mich etwas immer wieder vor Publikum. Keine Ahnung, was das ist in mir ...


18. März – Transitstrecke Berlin – Hamburg

Eine Woche später verabschiedet mich Bela mit einem murrenden Schmollen. „Na, dann viel Spaß mit deinen Engländer*innen."

Im Zug starre ich hinaus auf die langsam grün werdenden Felder der DDR. Im Gepäck habe ich eine merkwürdig fiebrige Nervosität – nicht nur wegen des Wiedersehens mit Claire und John.

Die Beatles. Meine alte Leidenschaft ist wieder geweckt. Und sie befeuert und erstickt meine Popstar-Träume:

Ich vergrabe mich während der Zugfahrt in der alten, zerlesenen Biographie. Als ich sie das erste Mal gelesen hatte, da gab es ja nur mich und meine Sperrmüllklampfe. Mit 15 habe ich mir aus der Amerika-Gedenkbibliothek noch zwei weitere Biographien geholt und war fürchterlich geschockt darüber, dass dort ganz andere Sachen erzählt wurden von Drogen und Groupies. Da war George noch nicht mal volljährig. Und die Schlägereien. Vor allem John war Handgreiflichkeiten nicht abgeneigt, was auf der Reeperbahn aber wohl kaum was besonderes war.

Irgendwie erinnert er mich ein klein wenig an Bela. Werde ich dadurch automatisch zu Paul? Quatsch. Wir sind die Ärzte. Aber das mit den kreischenden Fanmädchen entwickelt sich langsam in eine Richtung, die ... Ausser in Köln. Mann, war das schlimm, so schlimm, dass bei mir auf einmal alles in Galgenhumor gekippt ist. Lalalala Bamba ...

Berühmtheit ist so ein zweischneidiges Schwert mit all seinen Begleiterscheinungen. Aus meiner jetzigen Perspektive ist es um so spannender die Dynamik innerhalb der Beatles nachzuvollziehen, auch wenn es mich traurig macht, dass meine Lieblingesband so unglücklich auseinander gebrochen ist.

Was wenn Bela und ich auch einfach so in ein paar Jahren auseinander brechen, getrennte Wege gehen mit Solo-Projekten?


Reeperbahn, Hamburg - St. Pauli

Große Freiheit, aber danach fühlt es sich nicht wirklich an. Das Gewusel ist schlimmer als am Bahnhof Zoo. So sehr ich Entdeckungstouren und unbekanntes Terrain liebe, hier ist mir zu viel los.

Trotz der Menschenmassen entdecke ich sie schon von der anderen Straßenseite. Kein Wunder, denn Claires rote Haare überstrahlen sogar das Neongewitter der Reeperbahn und Johns zwei Meter überragen auch einige der Türsteher, die fast so breit wie lang sind.

Sie stehen vor dem Kaiserkeller, den wir als Treffpunkt für unsere Beatles-Memorial-Tour gewählt haben. Schön sehen sie aus. Gerade als Paar strahlen sie noch mehr, nicht nur äußerlich, sondern … Ihre Verbundenheit tut fast weh und einen Moment fremdel ich, kann mir nicht vorstellen, dass sie auf mich den Berliner Punker warten. Selbstsicherheit ist echt ein Fremdwort in den letzten drei Wochen.

Claire hält Johns Hand und sie unterhalten sich einander so zugewandt, dass einfach nichts und niemand zwischen die beiden passt. Manchmal sind Bela und ich auch so, zumindest am Anfang waren wir so. Dann … Wir sind einfach so gegensätzlich. Zu gegensätzlich?

„Maaaax!" Claire winkt, als ich über die Straße auf sie zu laufe. „Ah, it`s so lovely to see you." Sie nimmt mich in den Arm und es ist ein so warmes Willkommen.

John umarmt mich ebenfalls, schlägt mir leicht auf den Rücken. Sein Grinsen, als er mich loslässt, ist so voller Freude. „How are you?"

„I`m ..." Ja, wie bin ich. „I´m fine." Ich setze mein Grinsen auf.

„Mhmm." Er mustert mich und nickt bedächtig. „Are you alright?”

„It was good to get out of Berlin”, sage ich schnell und ziehe ihn nochmal an mich, um seinem viel zu aufmerksamen Blick zu entgehen. Sein Geruch spült mich zurück nach London, in die Notenfabrik, in ihr kleines Zuhause in Brixton …

„It’s really great to see you again.” Die Umarmung der beiden schwingt in mir nach. „Should we get going? I’ve made a little sightseeing route for us.”

Claire grinst. „Lead the way!”

Es tut so verdammt gut einfach wieder an unserer Leichtigkeit miteinander anknüpfen, zumindest so gut ich es gerade spielen kann.

Wir laufen an der Straße mit ihren blinkenden Lichtern entlang, die tausend und ein Vergnügen versprechen und ich bin so fasziniert und unsicher, wie ich das alles hier finde.

Ich versuche es durch die Augen der Jungs zu sehen, die aus Liverpool verschifft wurden und nun hier standen. The roaring sixties. Was für ein verdammtes Abenteuer.

Manchmal wünsche ich mir in dieser Zeit jung gewesen zu sein anstatt in der NDW. Andererseits gab es damals auch keinen Punk. Dafür mehr Surf und Rock ‘n Roll.

Claire sieht sich um. „It`s quite - unusual?” Sie bricht ab und staunt eine Frau an, die in einem Tanga-Badeanzug und einem kleinen Pelzjäckchen an uns vorbei flaniert. Die Frau wirft John einen langen Blick zu, aber als sie Claire entdeckt, rümpft sie die Nase und geht weiter.

In Berlin sieht es im Sperrbezirk auf der Kurfürstenstraße manchmal auch so aus. Als Bela und ich einmal ins Quartier Latin sind, mussten wir hindurch. Ich war damals genauso fasziniert und vollkommen überfordert mit den leicht bekleideten Frauen und ihren deutlichen Angeboten. "Mit der Hand - 20, Blasen - 30”. Dort war alles dunkel und verhuscht, hier wird es zelebriert und eigentlich finde ich das besser, als diese Geschäfte auf dunkler Straße, aber es ist auch totale Reizüberflutung.

Große Freiheit 64. Das Indira. Es heißt sogar immer noch so. „Here it is. When they arrived here in 1961, they were still five young lads with Pete Best as the drummer and Stuart Sutcliff as their bassist." Ich habe mir Einmerker in der Biographie gemacht. „In the evenings, After they had played, a stripper performed after them."

Claire zieht die Augenbrauen hoch, lacht dann. „I`m not really astonished after seeing all of this.”

„But was George Harrison not even 18 then?" John schüttelt grinsend den Kopf. „He called Hamburg the naughtiest city in the world. Must have been some kind of sweet experience to be a young man in this area."

Claire haut ihm ihren Ellbogen zwischen die Rippen, muss dann aber grinsen.

Es muss wirklich krass gewesen sein damals. „I think, it was Lennon, who said: I might have been born in Liverpool, but I grew up in Hamburg. They had to regularly be treated for veneral diseases." Ich denke an Bela.

„Oh", staunt Claire. „Not really the picture, that Britain likes to paint of them." Sie lehnt sich an die Hausfassade. Das orange Licht über dem Eingang lässt ihre Haare aufflammen und ich bin mir nicht sicher, ob es ein Leuchtfeuer ist, dass mich anzieht oder mich warnt. „Also, not unexpected, I guess. Must have been quite a wild time in their life."

Ich denke wieder an Bela und irgendwie auch an mich. Schnell lese ich in der Biographie weiter. „They were obliged to perform up to six hours." Mir wird schwindlig bei dem Gedanken. Mir reichen schon die eineinhalb Stunden, die wir spielen und selbst bei denen wird mir oft schwarz vor Augen und meine Finger taub, weil in den Clubs einfach kein Sauerstoff existiert. „I could never do that.”

„I read, they took drugs for that”, sagt John. „Something called Preludin, but – what do I know about drugs. I don’t like that stuff."

Wären Bela und ich uns näher, wenn er auch keine Drogen nehmen würde? Oder wenn ich welche nehme würde? Dieser Scheißstreit war so unnötig. Wahrscheinlich stürzt er sich jetzt absichtlich wieder zurück in sein Partyleben, nachdem er auf mich keine Rücksicht mehr nehmen muss.

Drei junge Männer in identischen schwarzen Bomberjacken kommen die Straße hinunter. Auf ihren Jacken steht St. Pauli Champs eingenäht. Mein Alarmsystem beginnt zu schrillen. Es ist wirklich etwas anderes mit John in Deutschland unterwegs zu sein als in London - und da war es ja auch schon oft gefährlich.

Die Muskeln in meinen Beinen spannen sich an, wie damals als wir vor den Nazi-Skins und den Bobbys weglaufen mussten. Neben mir strafft sich John zu seinen vollen zwei Metern. Seine Aufmerksamkeit auf unsere Umgebung beginnt wie ein Radar zu mir hinüber zu strahlen.

Die Typen mustern uns, nicken dann, keine Ahnung warum. Weil John schwarz ist? Weil er und Claire eindeutig nach Skins aussehen? Ich atme auf.

Zwei Häuser weiter schnappen sie sich auf einmal einen Typen mit einer teueren Jeansjacke und hübsch zurück gegelten Haaren.

„Drecks-Popper. Verpiss dich", brüllt einer. Sie treten sehr gekonnt nach ihm und er tut mir einen Moment leid, aber einem Popper helfen?

Der Angriff ist so schnell vorbei wie er aufgeflammt ist. Die Passant*innen haben kaum drauf reagiert, aber der Adrenalinsturm tobt immer noch in meinem Körper. Ich hätte doch helfen sollen. Oder?

Die Reeperbahn ist echt ein schräges Pflaster mit noch schrägeren Leuten.

Wir laufen an einem Laden vorbei, der „Zur Ritze" heißt. Die Eingangstür ist so zwischen zwei nackten, gemalten Frauenbeinen platziert, dass kein Zweifel bleibt, warum der Laden so heißt.

Meine Neugier auf diesen besonderen Teil Hamburgs beginnt sich langsam zu verabschieden. Der Erlebnishunger in den glänzenden Augen der Vorbeilaufenden. Andere abgestumpft von Alkohol oder der Arbeit in der Vergnügungsindustrie, die brüllende Lautstärke der Musik, der lallenden Unterhaltungen, das zu laute Lachen. Es ist nicht die Art von Freude, die mich mitzieht, auch wenn ich neugierig bin. Die vollen Straßen mit ihren torkelnden, gröhlenden Menschen beginnen mich immer mehr zu stressen.

Eine der leicht bekleideten Frauen streicht über meinen Arm. „Are you lonesome tonight?” Sie sagt es nicht mal verführerisch, sondern mit einer Ernsthaftigkeit, dass … In ihren Augen lese ich, dass sie diejenige ist, die einsam ist. Ich will sie und ihr Elvis-Zitat retten, weg bringen von diesem Ort.

Ich schüttel den Kopf, lächel sie traurig an und sie lächelt traurig zurück.

Einer der bulligen Türsteher oder besser Türschreier brüllt uns an, ob wir „Die geilsten Weiber der Hansestadt” sehen wollen. Dann entdeckt er Claire und seine Fresse ziert ein anzügliches Grinsen. Er mustert sie von Kopf bis Fuß, pfeift dann anerkennend: „Je rostiger das Dach, desto feuchter der Keller".

Ich gehe einen Schritt auf das Arschloch zu. „Halt die Fresse, Alter!”

Der Typ bedenkt mich mit einem abfälligen Blick. „Nimmst den Mund ja ganz schön voll für so `n Spargeltarzan!” Er trägt schwarze Lederhandschuhe, lässt seine Knöchel knacken.

Eine Hand auf meiner Schulter. „Hey, let`s go!” John zieht mich sanft von dem Typen weg.

„Was für ein Arschloch!”, fluche ich, als ich mich wieder daran erinnere, warum ich so ausgeflippt bin.

„Do I even want to know, what he said?”, fragt Claire.

Ich schüttel den Kopf. Meine schon angeschlagene Laune hat eine weitere Macke.

„Hey, Max? Are you okay?" John sieht mich ein wenig besorgt an und fasst mich vorsichtig an der Schulter.

„Yeah, I`m fine", lüge ich, genauso wie ich es in Berlin getan habe. I´m fine.

Claires Augen liegen im Schatten, aber ich kann ihren Blick auf mir dennoch spüren. Sie tritt einen Schritt auf mich zu und mein erster Instinkt ist zurück zu weichen, aber … Sie fasst mich vorsichtig am Arm und es ist wie ein Verbindung, die auf einmal magnetisch geworden ist - wieder magnetisch. Sie drückt meinen Arm. Die Berührung tut gut. Schade, dass sie wieder los lässt.

„Where are you sleeping actually?", fragt sie.

Bela hat mir einen Zettel mit einer Telefonnummer in die Hand gedrückt von irgendeinem Kumpel von einem Freund, aber eigentlich habe ich keinen Bock den anzurufen.

„I guess, I`m just gonna crash in one of the Hostels around here."

„Good. I was afraid, you might want to sleep on a grave yard again."

„Actually, that was my first thought.", lache ich.

Claire wechselt einen Blick mit John, dann wendet sie sich an mich. „If you want, you can join us in our hotel room. There is a couch, you can sleep on”, sagt Claire vorsichtig, aber ihre Augen leuchten. „Like in the good ol` times in our flat." Ihr Blick erzählt, was noch so alles damals passiert ist.

Ich zögere. Da ist dieser Widerstand in mir, aber – wenn ich das jetzt nicht mache, wenn ich jetzt nicht diese Scheißerfahrung in Berlin mit etwas übermale, mit etwas Gutem, dann …

Ich nicke.

Claire lächelt und ihre Hand gleitet in meine. Warm. Ich seufze auf. Ihre zierlichen Finger drücken meine, dann greift sie auch nach Johns Hand. Wie sehr ich die beiden vermisst habe. Claire zieht uns in eine Richtung, runter vom erleuchteten Kiez, die Straßen werden kleiner und ruhiger. Vor einem leicht heruntergekommenen Haus mit der flackernden Aufschrift "Pension” bleibt sie stehen.

„It`s better you wait outside until John signals you the all clear.” Die beiden werden von der Pension verschluckt und ich stehe auf einmal allein in der kühlen Märznacht.

Minuten vergehen, dann taucht John in der Tür auf und gibt mir ein Zeichen leise zu sein. Im stickigen Empfangsraum, der nach Zigarrenrauch riecht, ist der Portier in seiner speckigen Strickjacke in ein Streitgespräch mit einem Besoffenen verwickelt.

Claire grinst und John zieht mich am Arm, als wir halb geduckt hinter dem Tresen vorbei schleichen und in mir steigt etwas hoch, dass ich länger nicht mehr hatte: Abenteuerlust.

Wir steigen die Treppen hoch bis in die oberste Etage. John schließt die Tür auf und deutet mir mit einer kleinen Verbeugung einzutreten. Schräge Wände unterm Dach. Gemütlich. Dennoch kommt bei mir ein bisschen Unsicherheit hoch, als wir nach all dem Trubel auf der Straße auf einmal allein sind - und wir wissen alle drei, warum ich hier bin, warum sie mich gefragt haben.

Eineinhalb Jahre haben wir uns nicht gesehen. Claire scheint weniger befangen als ich. Sie lässt sich auf das Doppelbett fallen, dass ein schrilles Quietschen von sich gibt. „The receptionist said, that this was rented by the hour some years ago." Sie deutet auf das Waschbecken in einer Ecke und grinst sie zu mir rüber. „It´s a little fascinating to think ...”

„Oh …” Ich stelle meinen Rucksack neben das dunkelgrüne Samtsofa und setze mich. Zwei Sprungfedern stehen hervor. Das kann ja eine angenehme Nacht werden. Ich erhebe mich wieder, gehe zu John, der am Fenster steht und stupse ihn vorsichtig mit der Schulter an. Vor ihm habe ich ein bisschen weniger Scheu als vor Claire.

„It`s really nice seeing you again.” Zwischen zwei Häusern strahlen die grellen Flutlichtern des Freihafens zu uns hinüber. Ich drehe mich vorsichtig zu ihm und er rückt ein Stück näher an mich heran, nicht nur seine Stimme, auch seine Größe jagt einen Schauer durch mich. Seine Präsenz neben mir ist auf einmal aufgeladen mit warmen Begehren in mir. Ich will ihn berühren, aber weiß nicht wie. Es ist seltsam, dass ich ein Stück nach oben sehen muss, um ihm in die Augen schauen zu können.

„I missed you.” John sagt es ganz leise.

Claire gesellt sich zu uns und legt ihren Arm um mich. „We missed you.” Ihre Stimme hat ebenfalls diese leise, warme Qualität, die ich mit den Abenden und Nächten in ihrem Schlafzimmer in der Railton Road verbinde. Sie streicht mir vorsichtig durch die Haare. „Is that okay, Max?”

Ich erstarre für einen Moment, atme dann vorsichtig aus und nicke. In meinen Beinen ist eine seltsame Unruhe, als müsste ich weglaufen, aber als ich mich in ihre Berührung schmiege, wird in mir alles ruhig.

John drückt sich behutsam an mich. „Would you like to play with us tonight?", flüstert er in mein Ohr und ich kann nicht anders als zu nicken, obwohl ich immer noch ein wenig schüchtern bin, ob der plötzlichen Nähe.

Er nimmt mein Gesicht zwischen seine großen Hände. „What would you like to do?” Seine Augen liegen so warm auf mir, aber in ihnen liegt auch ein Funkeln, dass mich lockt und ein klein wenig durcheinander bringt, nicht nur im Guten. Das letzte Mal, dass jemand mich so hungrig gemustert hat, da …

Aber Johns Frage ist so ernst und aufrichtig. Ich wünschte, ich hätte eine Antwort. „I’m feeling a bit weird … since some time.”

Claire streicht weiterhin sanft durch meine Haare. „Because …?”

"Because …” Es fühlt sich zu schwer an für den Moment. Außerdem will ich jetzt nicht darüber reden, es - sie nicht hier in den Raum bringen. Ich lächle es weg.

„As always - you, we don`t do anything, that the others don`t like.” Sie wartet bis ich wirklich verstanden habe.

„Right”, sage ich schließlich, als ich es wirklich fühle.

John stellt sich vor mich, nimmt meine Hände und legt sie auf seinen rasierten Kopf. Kurze Stoppel kratzen an meiner Handfläche. Sein Schädel fühlt sich stark und zerbrechlich an.

„Is there something, that you would like tonight?”

So viel. Ich taste mich durch die hoch strömenden Bilder wie durch ein Labyrinth.

Ich könnte auf Deutsch niemals beschreiben, was … Die englischen Wörter sind einfacher. Auf angenehme Art more disconnected from me. „Can you tie me up?” Was ich eigentlich meine ist, dass ich mehr Halt brauche.  

„Of course.” Claire streicht über meine Handgelenke und es strömt so heiß durch mich. „It`s just … I did not bring my ropes. We …” Sie sieht zu John, auf dessen Gesicht sich eine Mischung aus Schmerz und Wut spiegelt, die ich inzwischen besser einschätzen kann und die etwas damit zu tun hat, wie er als schwarzer Zwei-Meter-Mann in der Gesellschaft behandelt wird.

Claire nimmt John in den Arm. „We ran into complications at an airport once.”

„I´m sorry”, sage ich hilflos.

John zuckt mit den Schultern. „Thanks. … So, that`s why we don`t have our equipment with us.”

„But …” Claire sieht sich um. „John?” Sie deutet auf seine Doc Martens. „Your laces, please.” Er grinst und fädelt die Schnürsenkel auf.

„Would you also like to bind John again?” Sie lächelt. „You were such a good student.”

Mit den beiden in London war es wie - etwas, das einem Rausch wohl am Nähesten kommt.  

„Or do you want to focus on being bound?”

„Yes”, schießt es aus mir heraus, so stark, dass ich selber überrascht bin von der Intensität.

„Wonderful.” Claire lässt die über zwei Meter langen dunkelroten Schuhbänder durch ihre Hände gleiten, sieht mich dann an. „You are sure?”

„Ja. More than sure.”

Ein warmes Lächeln. „With or without your shirt?”

Ich zögere einen Moment. „Without.” Ich will ihre Hände spüren, die Schnüre auf meiner Haut …

John tritt neben sie.

Sie streicht über seinen rasierten Kopf, dreht ihn so, dass er mir gegenüber steht. Seine Größe ist einfach so …

„Kiss him”, befiehlt sie John sanft und trotz des kühlen Zimmers läuft eine Welle aus Hitze über meine Haut, durch mich.

John sieht auf mich hinunter, sieht mich einfach nur an, aber es fühlt sich intensiver an als eine Berührung wie seine Augen über mich wandern. Vorsichtig zieht er mein T-Shirt ein Stück nach unten, küsst mich auf mein Schlüsselbein. Seine großen Hände wandern an meinen nackten Oberarmen hinunter zu meinen Fingern. Er nimmt meine Rechte und küsst einzeln jeden Finger. „I love your long, slender hands.”

Er betrachtet mich so liebevoll, dass ich mich nackt fühle, nicht weiß, wie ich reagieren soll. Die Nähe der beiden … Etwas in mir will sich wieder versperren, aber die Erinnerung an die Zeit mit ihnen ist warm, kämpft gegen das neue Dunkel.

„You don`t have to do anything, okay?”, flüstert mir Claire ins Ohr. „Just let us know, if you don`t like something.”

John küsst die Spitze meines Zeigefingers, die voller Schwielen sein muss vom Gitarre spielen. Er leckt über ihn, dann lässt er ihn über seine Lippen in seinen Mund gleiten. Ich stöhne auf und mir fallen die Augen zu.

Als wäre ein Streichholz in mir angezündet und an eine Lunte gehalten worden. Schwer atmend stehen wir voreinander.

„Undress him”, befiehlt Claire sanft.

John fasst mein T-Shirt und lässt es langsam über meinen Oberkörper, über meinen Kopf gleiten und zu Boden fallen. Ich zucke zusamme, zittere ein wenig.

„Are you cold?” Die Aufmerksamkeit der beiden macht mich wieder schüchtern. Mir wird schwindelig in der zerbrechlichen Balance zwischen ausgeliefert sein und mich zugleich vollkommen behütet zu fühlen, loslassen zu dürfen. Das Wissen, das Gefühl, dass sie mich auffangen, sich um mich kümmern, es …

Ich fange Johns Blick ein, weil ich will, dass er mich richtig küsst. Er streicht behutsam mit beiden Händen über mein Gesicht, als wäre ich das Schönste, was er seit langem gesehen hat.

Wieder tauchen in mir dunkle Bilder auf. Ihr Blick auf mir, ähnlich, aber alles was jetzt gerade schön ist, war bei ihr häßlich.

„I want to be wrapped in …” You. Both of you. Ich sehe zu den Bändern in Claires Hand.

„I feel like binding your hands, your fingers. Are you okay with that?”

„Ja.”

„On your front or on your back?”

„Front”, stoße ich hervor, obwohl ich sie eigentlich auf dem Rücken haben will, aber ich bin dafür gerade zu fragil.

John stellt sich hinter mich. Sein Atem in meinem Nacken lässt die Härchen hochstehen.

Claire nimmt meine Hände und legt sie so aneinander, dass es aussieht als würde ich beten. Eine ungewohnte Geste. Sie spreizt meine Finger leicht auseinander, lässt die dunkelroten Bänder zwischen den Fingern hin und her gleiten, webt meine Hände aneinander.

„Beautiful”, höre ich John über meine Schulter seufzen und es sieht wirklich schön aus wie sich die blutroten Schnüre über meine Hände winden.

„It looks as if I´m praying”, sage ich, ein wenig unsicher, ob ich das gut finde.

„Think of it not as religion, but as art.” Claire streicht liebevoll über ihr Werk, über meine Finger und küsst mich. Es ist wie ein Schock und - eine Befreiung.

Sie hat mich in dieser schrecklichen Nacht nicht geküsst, aber es fühlt sich so an, als hätte sie sich meinen Körper genommen mit ihren Augen und ihren Händen, gegen meinen Willen - schon vorher, als sie mit uns so nah zusammen gewohnt hat und mich damals schon …

Claire löst sich von mir, streicht mir über den Kopf. „Abandon your thoughts.” Sie zieht das andere Band durch ihre Finger. „More?”

„Yes”, stoße ich atemlos hervor.

„John? Can you bind his upper arms together?” Sie reicht ihm den zweiten Schnürsenkel.

John fasst mich von hinten an meinen Oberarmen, führt sie langsam zurück, dann spüre ich die Fesslung. Mit dem Zug an meinen Armen kommt der Zug in meinen Gelenken, Muskeln. Das leichte Brennen - auch auf meiner Haut.

Mein Atem kehrt zurück, doppelt so schnell.

„You are okay?”, fragt John.

„M-hm.” Es klingt eher wie ein Wimmern, aber anscheinend klingt mein Verlangen dennoch durch, denn Claire vor mir lächelt, streicht über meine Brust und mein Körper reagiert. Alles will aus mir herausexplodieren, die Kontrolle übernehmen, aber schnell reisse ich mich wieder zusammen.

„You are in control, Jan." Clair sieht mich ernst an. „Okay?”  

Ich verstehe nicht, warum mir auf einmal Tränen über das Gesicht laufen. Vielleicht ist es mein Name, vielleicht das Gefühl, dass ich ich ihr vertraue, sogar in dieser hilflosen Position.

Sie sieht mich mitfühlend an, streicht über die nassen Stellen auf meinem Gesicht. "Would you like to stop?”

Ich schüttel den Kopf, obwohl ich mich wahnsinnig verletzlich fühle, aber bei ihnen ist es auf eine Art, die die geschlagene Wunde ein Stück schließt.

„Does it help?” Sie legt ihre Hand auf meinen Brustkorb, auf mein Herz.  

„Yes.” Es ist als wäre ein Damm in mir gebrochen, etwas das versteinert war, löst sich, löst sich in den Tränen und ich kann mich endlich, endlich wieder fühlen.


Claire und John schlafen noch, als ich im Morgengrauen wach werde und nicht mehr einschlafen kann. Ich betrachte im Dämmerlicht die verschlungenen Körper der beiden neben mir und sehne mich nach Bela.

Ich schleiche mich auf die Toilette im Flur. Der Spiegel zeigt mir rote Stellen an meinen Oberarm und ein angenehmer Schauder läuft durch meinen ganzen Körper. Ich beschließe, dass ich ein bisschen Zeit für mich brauche und schlüpfe in meine auf dem Boden verstreuten Klamotten. Leise nehme ich meine Jacke, schleiche mich aus unserem kleinen Zimmer unterm Dach, die Treppe hinunter.

Die Luft draußen ist so klar wie sie es in Berlin nie ist. Ich stromere durch die kleinen Gassen St. Paulis. Wilde Böen von der Elbe wehen eine Bierdose klappernd durch die Straßen. Ein Mann torkelt aus einer Kneipe, gefolgt von übler Schlagermucke.

Auf einmal öffnet sich vor mir der Blick. Ich stehe am oberen Ende einer langen Treppe, die den Blick auf die Elbe und den Freihafen auf der anderen Seite frei gibt.

Fernweh schießt durch mich wie ein Pfeil und es tut weh - richtig körperlich weh - gerade nicht weg zu können.
Ich gehe die Treppe hinunter und realisiere erst, wo ich bin, als ich den Text eines vier Stockwerke hohen Schriftzugs lese.

Baader und Enslin sagen mir etwas. Die anderen kenne ich nicht.

Die Stimme meiner Mutter ist immer sehr nachdenklich geworden, wenn sie über die RAF gesprochen hat.

Das ist sie also, die berühmt-berüchtigte Hafenstraße. Eigentlich schön hier. Der Blick über die Elbe auf den Hafen, die großen Schiffe, die Docks. Nur das Fernweh, das …

Ich gehe zurück ins Hotel. Immer wieder begegnen mir Horden von grölenden Männern. Ist hier eigentlich nie mal Ruhe? Nachdem ich immer den gleichen braunen Schal um ihre Hälse entdecke, checke ich endlich, dass das wohl Fußball-Fans sind. Anscheinend von dem Verein "St. Pauli", was in diesem Viertel ja ziemlich Sinn macht.

Ich folge meinem Orientierungssinn zurück zu der kleinen Pension. Das kleine Zimmer unter dem Dach wirkt noch gemütlicher nach meinem Ausflug.

Claire und John haben aus einer Bäckerei etwas zu essen geholt. Sie schlägt die Decke zurück und klopft neben sich auf die Matratze. „Breakfast in bed sounds so much better than it actually is.” Sie fegt ein paar Krümel zur Seite und hält mir ein Rosinenbrötchen entgegen. „These are weird, but tasty.”

Ich ziehe meine Schuhe aus, schlüpfe zu ihnen unter die Decke und seufze auf. Warm. Der Wind kam doch recht frisch die Elbe herunter geschossen. Fast konnte ich die Nordsee riechen und Bilder von Bela und mir im Wattenmeer ziehen an meinem inneren Auge vorbei.

Bela …

Auf einmal habe ich so verdammte Sehnsucht nach ihm, sogar ein bisschen nach Berlin.



21. März – Niebuhrstraße 38 b, Charlottenburg

Ich öffne die Wohnungstür und schmeiße meinen Rucksack in den Flur. Bela kommt aus der Küchentür. „Na?"

„Hey!"

Er mustert mich. „Und? Wie war`s?"

Ich versuche mein Strahlen ein wenig herunterzudimmen, um ihn nicht zu verletzen. Gut sieht er aus. Fit, erholt, nur sein Blick ist ein wenig argwöhnisch.

„War jut, wa?" Einen Moment beißt er sich auf die Unterlippe, dann kommt er zu mir rüber. „Schon `n bisschen schick, dass de wat mit `m Pärchen am Laufen hast."

„Jetz tu nich so, als wär mir dit nich zuzutraun." Diese Scheißverteidigungshaltung, die sofort anspringt, wenn ich das Gefühl habe jemand kritisiert mich.

Er tritt noch einen Schritt auf mich zu. „So meint ick dit nich." Er reckt sich auf die Zehenspitzen. „Krieg ich `n Kuss oder ...?"

Ich nehme sein Gesicht zwischen meine Hände. „Ick lieb dich.”

Er sieht fast genauso geschockt aus, wie ich mich fühle, denn mir war absolut nicht klar, dass ich das sagen werde.

„Dit … is …” Irgendwie scheine ich die Tränen aus Hamburg mitgebracht zu haben, denn auf einmal werden Belas Augen feucht. „Ick hat echt `n bisschen Schiss, dass de jetze wieder mit denen nach Lo…”

„Quatsch.” Ich drücke ihm einen dicken Kuss auf, versuche damit wohl gleichzeitig mein schlechtes Gewissen abzulenken, denn … So richtig hat mich das Fernweh nicht wieder verlassen seit dem Hamburger Hafen.

Aber auch nicht das warme, lebendige Gefühl in meinem Körper. Endlich wieder.

Ich ziehe Bela in sein Zimmer und werf in auf sein Bett.

„Oh, la la!", grinst er.

„Oh, allerdings oh, la la!", antworte ich und ziehe ihm sein T-Shirt aus.


Am nächsten Mittag beim Frühstück, fasse ich mir ein Herz und frage das, was ich seit Tagen wissen will. Ich stehe auf, hole mir ein Glas Wasser, weil mein Mund so trocken ist. „Ähm, sach ma, hat ... hat sich Be-Beate eigentlich nochmal gemeldet?"

Belas Mund geht einmal auf, dann wieder zu. „Also, ... nee ..." Er hört sich so unsicher an, obwohl er in den letzten drei Wochen mein Fels in der Brandung war. „Hättste ... also, hättste nochmal mit ihr reden wolln?" Seine Augenbrauen sind so sorgenvoll zueinander gezogen und ich will ihn nicht so sehen, ich will nicht der Grund dafür sein, dass er wieder so guckt.

„Äh, nee. Ick dacht nur, dass se vielleicht ..." Ich muss wieder abbrechen. Immer noch nicht einfach über sie zu reden.

„Ick hab gehört, dass sie nach Frankfurt zurück is."

„Oh ..." Meine Lungen machen komische Sachen und auf einmal atme ich viel zu tief und schnell.

„Hey, hey, hey ..." Bela legt seine Hand auf meine Schultern, dann auf meinen Brustkorb. „Setz dich."

„Is schon okay." Mein Atem pfeift und ich will, dass es aufhört, weil das so verräterisch ist. „Ick ... ick hätt einfach gern ..."

„Mach langsam, Jan." Bela legt seine Hand hinten auf meinen Rücken und gibt durch leichte Bewegungen vor, wann ich ein- und ausatmen soll. Es ist seltsam, aber als ich es endlich schaffe mich darauf einzulassen, hilft es.

„Ick hätt ihr einfach gern nochmal gesagt, was für `ne Scheiße dit war. Und ... ick versteh nich, warum se dit gemacht ..." Ich beiße mir auf die Lippen, weil da viel zu viel aus mir raus will. „Aber - ick bin froh, dass se weg is." Und es stimmt. Etwas in mir atmet auf, ein kleines bisschen - immerhin.

Nach der Offenbarung fällt es mir leichter Bela glaubwürdig vorzuspielen, dass es für mich wieder okay ist in der Niebuhrstraße.

 

 


*
*




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LYRICS

City - Am Fenster

The Feelies – The Boy with the perpetual nervousness

die ärzte - ohne dich

The Beatles – Everybody`s got something to hide (except me and my monkey)

The Beatles - Help (Noel Gallagher cover)

Buddy Holly - La Bamba

Talk Talk - Such a shame

The Beatles - I`m only sleeping

Fugazi - I’m So Tired

Jan Fedder – An de Eck steiht ´n Jung mit´n Tüddelband

Ministry - I`m falling

Depeche Mode - In your room



ADDITIONAL SONGS

Die ärzte – Cover: City – Am Fenster
Das sie (fast) das ganze Cover spielen, ist echt etwas Besonderes.

die ärzte – ohne dich
Lyrics

Farin Urlaub – Schatten, 1985
Lyrics

Die Ärzte - Käfer
Lyrics

Die Ärzte aka Die Ulkigen Pulkigen – Help!

The Beatles – Now and Then
Lyrics
The Last Beatles Song (Short Film)

Ultravox - Dancing with tears in my eyes
Lyrics

Jan Delay – Die Söhne Stammheims
Lyrics

Die Ärzte – Ohne dich / Quelle: Booklet von Das Beste von kurz nach früher bis jetze  

Farin: Es kommt - zum Glück - nicht oft vor, daß ich jemanden abgrundtief hasse, aber in diesem Fall wäre ich fast geplatzt. Um meine schlechten Gefühle loszuwerden, schrieb ich sie einfach auf. Die Aufnahmen waren lustig - mit einer pfeifenden Ilse Werner, Bela, Hoffmann, Ronnie und mir an den Burunditrommeln für die Landbevölkerung - und heute ist „Ohne dich" traditionell unter den ersten vier Liedern jedes Konzertes. Klar, jeder kann irgendwen nicht leiden: Bela mich, ich ihn usw...

Bela: Ilse Werner hat mir ein Autogramm für meine Eltern gegeben.


La Bamba

"La Bamba” is believed by musical scholars to have arisen from the slave trade between Spain and the Mexican port city of Veracruz. Many of the slaves came from the African regions of Angola and Congo, homes to the Bamba tribe. Over the centuries, the African music was influenced by Mexican and Spanish rhythms, creating a music that came to be known as son jarocho ("sound of Veracruz”).
"La Bamba” is believed to come specifically from a slave uprising in 1683, often referred to as the "Bambarria.” The song was traditionally performed at weddings, where attendees were encouraged to make up verses of their own. At rowdy weddings, where lyrics got a bit out of hand, fistfights were known to break out and, in some cases, machetes were drawn.


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Metropol

Metropol Interview in English



THE BEATLES

Die Welt, 2012 –  Farin über die Beatles

Gab es in deiner Kindheit oder Jugend einen musikalischen Schlüsselmoment, der so prägend war, dass du selber Musiker sein wolltest?

Urlaub: «Es gab zwei völlig unterschiedliche. Der erste und wahrscheinlich der wichtigere, auch wenn Bela das furchtbar finden wird, war, als ich mit neun Jahren meine Sympathie für die Gitarre entwickelte. Ich hatte immer schon Volkslieder geträllert und dachte, so eine Begleitung, das wäre doch ganz schön. Dann lauschte ich einer Radiosendung über eine Band, von der ich zu diesem Zeitpunkt noch nie gehört hatte, The Beatles. Und doch kannte ich jedes Lied. Jedes Lied! Ich bin dann zu meiner Mutter gegangen und habe ihr das Erlebnis erzählt. Meine Mutter lachte und sagte: „Was glaubst du denn, was du die ersten vier Jahre deines Lebens ausschließlich gehört hast?" Danach war ich der größte Beatles-Fan und habe angefangen, Gitarre zu spielen.»

The Beatles in Hamburg – Short

Beatles Hamburg Interviews

The Beatles Story: In Their Own Words

The Day John Lennon Met Paul McCartney

How Hamburg changed the Beatles Forever

The story of the Savage Young Beatles days from 1960-1962 using interview clips

The Beatles - Live! at the Star-Club in Hamburg, Germany; 1962

The Beatles in Hamburg in 1966 (1)

Hempel´s Beatles-Tour Anniversary Film – in Hamburg



HAMBURG / ST. PAULI

Ich habe absolut nichts gegen Sexarbeit an sich, aber zum Thema Reeperbahn habe ich keine Links, da ich keine Lust habe die meist patriarchalen Macho-Strukturen des Kiezes und die daraus resultierende Ausbeutungskultur zu featuren.


JUGENDBANDEN

Hamburgs Strassengangs der 80er

NDR, 2016 – Jugendbanden in den 80ern in Hamburg

Skinheads erschlagen Ramazan Avci


Der Kampf um die HAFENSTRASSE

Chronologie eines Kampfes
Auch hier gab es antisemitische Tendenzen mit Wandgemälden, die zum Boykott Israels aufriefen.

Deutschlandfunk

Terrible Houses in Danger – 1981 – 1985

1987

Rapper Disarstar zerstört Anti-Obdachlosen-Architektur
Gute Einstellung. Seine Antisemitische leider sehr viel weniger. Schade. Wirklich schade.


ST. PAULI - Der Verein

Der „etwas andere Verein" | St. Pauli und die Hafenstraße

St. Pauli-Fan Bela B zum Fußball-Bundesliga-Start

AlJazeera English – The Fans Who Make Football: FC St Pauli
Al_Jazeera – Controversies and Criticism – Allegations of antisemitism and anti-Israel sentiment

St. Pauli Hymne - Die Toten Ärzte



Weil alles gerade so übel ist im Weltgeschehen, noch etwas zum Aufmuntern am Ende :-)

DIE ÄRZTE im JAM-Interview Teil 1/5 - Niebuhrstraße mit Farin im St. Pauli-Shirt

Die Ärzte Tribut  

Bela & Farin (1983-1988) Teil 2

Bild 1

Bild 2


*

Chapter 52: 1985 - Kakao

Chapter Text

*

 

Hui, dass hat dieses Mal wirklich krass lang gedauert. Es lag / liegt an einer Mischung aus gerade sehr beschäftigt sein mit anderen Dingen und einer Unzufriedenheit mit dem Kapitel, die ich nicht analysiert bekommen habe. Jetzt gefällt es mir wesentlich besser, auch wenn ich immer noch nicht ganz zufrieden bin. Vielleicht liegt das mit auch ein wenig an der Unzufriedenheit von Jan in diesem Kapitel.

Liebe Grüße aus Dänemark an dich, The Windmills



 

* Teenagers in Love *

 

1985 – Kakao

 

 

29. April - Niebuhrstr. 38 b, Charlottenburg

„Ey, kiek ma.“ Bela kommt in die Küche gestürzt. In einer Hand schwenkt er die Zitty. Er hält sie mir so nah vor die Nase, dass ich alles nur verschwommen sehe. „The Cure spielen am Wochenende im Loft. Da müssen wa hin?“

Ich schiebe seinen Arm ein Stück zurück und der verschmierte Lippenstift von Robert Smith lächelt mich an. „Äh, cool, aber ...“ Ich wende den Blick ab. Mir fällt keine gute Ausrede ein, nur die blöde Wahrheit, dass ich gerade keinen Bock habe auf verräucherte Konzerte und die Fratzen betrunkener Menschen. Stattdessen wogt das in der Sonne funkelnde Mittelmeer mit seinen Stränden durch meine Synapsen. 

Bela nimmt mir die Teetasse aus der Hand und stellt sie auf dem Küchentisch ab. „Hey …” Er lässt sich vorsichtig auf meinem Schoß nieder. Sein Gesicht ist nun auf meiner Höhe, sein Blick liest mich, bis er schließlich zögernd fragt: “Willste heut abend nich ma wieda mitkomm`n?”

Ich weiche seinem flehenden Blick aus. „Bitte.“ Wahrscheinlich sollte ich nicht so kompliziert sein, einfach mal wieder mit ihm nachts losziehen. Doch nach der Theaterrevue der Besoffenen auf der Reeperbahn, habe ich gerade keine Lust mehr auf das Nachtleben. Irgendwie ist es ja doch immer das gleiche. 

„Ick fand dit echt schön mit dir ...“ Er sieht mich so warm an und ich will nicken, stattdessen ziehe ich ihn an mich, verstecke mein Gesicht in seinem T-Shirt. Ungewohnt, dass er nicht nach Rauch und Tod und Teufel der Berliner Kneipen riecht. Aber anscheinend will er das gerade wieder ändern. 

„Ick och“, nuschel ich in den warmen, dünnen Stoff. „The Cure ist echt toll, aber ...“

Ich spüre seinen warmen Atem in meinem Nacken, als er sich über mich beugt. „Ick würd dich och einladen“, flüstert er an meinem Ohr.

„Ick gloob `n Abend Ruhe is besser für mich”, murmel ich.  Warum ist nicht alles bei uns so passgenau, wie wenn wir Musik machen, zusammen auf der Bühne glänzen? Manchmal gibt es dort nur uns beide, in unserem Universum, obwohl vor uns 600 schreiende Menschen stehen. 

“Ooooh …” Seine Enttäuschung vibriert durch mich. 

Ich vergrabe mich weiter in seinem T-Shirt. Ist schön da. „Wollte Jörg nich mitkommen?” 

„Schon, aber … “ Er löst sich von mir, erhebt sich schwer von meinem Schoß. „Schade. Also, dit is okay, aber halt schade.” 

Eigentlich will ich ihn nicht schon wieder enttäuschen. Vor drei Tagen habe ich schon das „Frankie goes to Hollywood“-Konzert“ abgesagt, obwohl ich laut Bela „doch so toll dazu getanzt hab im Pol.” Er ist dann auch nicht hin, stattdessen ins Risiko. “Is ja och billiger”, hat er mit trauriger Miene verkündet. 

Der Zwiespalt, das Zerren und Ziehen in mir zwischen hier und dort. Alles in mir will Richtung Süden, der Wärme folgen, der Sonne. Wie fern Bela und ich uns wieder geworden sind. Ich erhebe mich vom Stuhl, schlinge meine Arme um ihn. Nach einem Moment lässt er es zu. „Biste sauer, weil ick …?” 

„Nee. … Quatsch. … Ick vermiss dit halt nur, ick vermiss dich …” Bela sieht mit dem bettelnden Blick eines kleinen Hundes zu mir auf. Dann stellt er sich auf die Zehenspitzen, umarmt mich zurück. Eine seiner wilden Haarsträhnen kitzelt mich im Gesicht. Sein Körper an meinem wird ganz weich. Ich mag dieses Verschmelzen, auch wenn es oft eine namenlose Unruhe in mir auslöst. Ich streiche mit meinen Lippen an seiner Wange entlang bis ich seinen Mund gefunden habe. Einen Augenblick erwidert er meinen Kuss nicht, dann werden seine Lippen weich.

„Mhm.” Ich ziehe ihn fester an mich, wandere mit meiner Hand in seinen Nacken und streichle vorsichtig über seine Haare, die dort so untoupiert und haarspraylos ganz weich sind. Er schmiegt sich an mich wie ein kleines Kätzchen und wir bleiben einfach ruhig so stehen. Ich mag diese Stille zwischen uns. So nah, so vertraut, so selten.

„Ick würd dich einfach so gern ma wieder tanzen sehn”, flüstert er.

Wir denken wohl beide an Stuttgart und mein Gesicht wird ein bisschen warm. 

„Fandste dit so jut?”, flüstere ich zurück.

Er nickt an meiner Schulter. „Schön sahste aus … Und `n bisschen traurig.” 

Mein Körper wird für einen Moment ganz steif, dann sinke ich in mich zusammen. Er streicht über meinen Rücken.

„Mir tut dit echt so leid, weil … Dit is immer noch wegen …?” 

Ich nicke schnell. 

„Wenn ick dir irgendwie helfen kann, nee, dann …”

„Dit haste schon, mein Lieber.” Ich küsse die weiche Stelle hinter seinem Ohr. „Danke.” Es ist so leise, dass ich nicht weiß, ob er es verstanden hat. Keine Ahnung, warum mir das so schwer über die Lippen geht. „Ick fand`s echt schön mit dir nachts unterwegs zu sein.” Ich streiche über seine wilde Mähne. 

„Aber?“

„Aber diese Räucherhöhlen sin einfach für mich auf Dauer doch ‘n bisschen krass." 

Er lässt mich los und sieht mich schmollend an. Ich sollte ihm besser nicht sagen, wie sehr ich das mag. Tatsächlich habe ich viel nachgedacht in den letzten Tagen. Wir brauchen etwas, dass uns wieder mehr zusammenbringt. „Ähm, ick würd ma wat ausprobiern wolln mit dir zusammen.”

„ … Okay?” 

Ich kann seine Miene nicht deuten. Neugierig oder skeptisch? „Äh, also, magste jetz doch ma ausprobieren …?” Seine Hand gleitet über meinen Rücken hinunter bis zum meinem Gürtel. Fühlt sich gut an. Ich drücke mich fester gegen ihn. Seine Hand wandert weiter, über meinen Hintern und ich warte ein wenig gespannt, wie das wohl weiter geht. 

Auf einmal zuckt Bela zurück. Sein Blick liegt nicht mehr skeptisch, sondern nun eindeutig wütend auf mir. Keine Ahnung, was ich jetzt schon wieder gemacht habe.

„Haste … Du hast dich von John ficken lassen und weil’s so gut war, willste jetz …”

„Was? … Nein!” Einen Moment sehe ich rot. „Sach ma, wat denkste denn von mir?” Dann fällt mir wieder ein, dass sein Misstrauen nicht ganz unberechtigt ist. Ich hätte ihm das mit den beiden echt viel früher erzählen sollen. Ich lasse mich zurück auf den Küchenstuhl sinken und sehe ernst zu ihm auf. „Hab ich nich, okay?“

So schnell wie er wütend geworden ist, hat er sich auch schon wieder beruhigt. „Also, habt ihr gar nich …” 

Wie sind wir nur auf dieses Thema gekommen? „Also, wir haben so Sachen… gemacht.”

„ So ... Sachen?”

„Ähm, ja. Also ...” Ich weiche seinem Blick aus und es ist so mies von mir, weil … Genau durch sowas entfernen wir uns ja noch weiter voneinander. Ich fasse nach seinem Arm, halte mich an ihm fest, spüre wie sehnig und doch zerbrechlich er sich in meiner großen Hand anfühlt. Manchmal vergesse ich das, weil er immer so energiegeladen wirkt. 

Als ich wieder zu ihm aufsehe, ist sein Blick immer noch skeptisch. „Irgendwie wär dit schon schön, wenn ick manchma `n bisschen mehr wüsste von dir. Einfach weil ... Ick mag dich halt und dit mit den Geheimnissen, dit is …“ Er seufzt. „Aber vielleicht braucht man sowat ja auch, wat Eigenes. Wir teilen ja schon ganz schön viel, wa?”

Ich verstecke mein Gesicht wieder an seiner Schulter, weil der eine Satz so gut tut - und der letzte so weh.

„Hey, Jan?” Seine Stimme brummt durch seinen schmalen Körper in mein Ohr. „Tschuldige. Ick wollt nich ... Natürlich kannste wat mit anderen haben. Vielleicht muss ick mich nur `n bisschen dran gewöhnen ... oder so.“ 

Ich weiß nicht, was ich antworten soll, denn darum geht es mir ja gar nicht wirklich. 

„War doof, wie ick reagiert hab. Also, wat is dit nu für `n Experiment?”

„Ach, nee. Is nich so wichtig”, murmel ich in seine Schulter. Keine Ahnung, wie ich auf diese bescheuerte Idee gekommen bin. Wahrscheinlich Verzweiflung, weil ich diese Nähe zwischen uns retten will - ohne ständig in verräucherten Kneipen rumhängen zu müssen. 

„‘n bisschen neugierig bin ick ja schon.” Er tritt einen Schritt zurück und betrachtet mich nachdenklich. „Wat willste denn ausprobieren?”

Irgendwie war ich vor ein paar Minuten noch mutiger. „Nee, is schon okay.” Eigentlich aber auch nicht, denn … Manchmal mache ich mir echt Sorgen, dass mich Bela langweilig finden könnte, so wie ich oft das Weggehen langweilig finde. Außerdem - in einer Beziehung sollte man doch wichtige Dinge teilen? Oder?

„Mhm, dann muss ick dir dein Geheimnis wohl mit unlauteren Methoden entringen.” Er zückt seine Zeigefinger wie Westernrevolver und allein bei der Vorstellung zuckt mein Körper schon.

Einen Augenblick später laufen mir Tränen die Wange runter und ich bin nur noch ein vor Lachen vibrierender Haufen.

„Friiiiiiiee ... Bitteeee …” Ich kämpfe gegen ihn, seine Finger und dagegen vom Stuhl zu fallen, der unter seinem Ansturm wild über den Küchenboden kratzt. 

„Nur wenn de ... mir dein … Experiment verrätst.” Auch ihn hat unser kleiner Kampf außer Atem gebracht.

„Ick … ick … sach`s dir. Aber … dafür … dafür musste uffhören … Stop! Bitte, Beeeelaaaa!”

Auf einmal sind seine Finger an meinen Rippen weg und ich rutsche vom Stuhl auf den Küchenboden, ringe nach Atem. 

Bela lässt sich auf den Stuhl fallen und sieht keuchend auf mich hinunter. 

„Also …” Ich rappel mich vom Fußboden hoch und leg mein Gesicht auf seinen Oberschenkel. „Ick konnt gestern nich schlafen und da hab ick halt überlegt, dass ja irgendwat dran sein muss an dem ganzen Drogenquatsch, wenn dit alle so …”

„Waaas?” 

Ich erschrecke mich so, dass ich hochfahre. 

Einen Moment herrscht Verwirrung in seinem Gesicht, dann … „Nee. ... Nein! Vergiss es, Jan.” 

Hätte ich einfach mal meine große Klappe gehalten. Gleichzeitig ärgert es mich. „Du wolltest doch wissen, wat für `n Experiment. Also, ick hab ja noch nie wat genommen und deswegen weeß ick ja och nich wie dit is und deswegen …”

„Nein. Einfach nein.” Belas Miene ist steinern. Selten habe ich ihn so rigoros gesehen. 

„Ick dacht halt, dass dit schön wär, wenn wa ma wieder … Also, halt einfach ma wieder zusammen wat neues …” 

„Hey, Jan.“ Seine Hand auf meiner Schulter fühlt sich überraschend schwer an. Genauso wie sein ernster Blick. „Dit willste doch nich wirklich, oder?”

„Kann ick ja nich sagen, wenn ick nich weiß, wie's is.” Wieso darf er sich Drogen reinballern wie Smarties und ich muss die unschuldige Jungfrau bleiben?

„Ick kann mir nich vorstellen, dass ausgerechnet du’s geil findest die Kontrolle zu verlieren.”

„Wat heißt’n da ausgerechnet ich?”

„Na, …” Er seufzt. 

„Was?”

„ … Naja …” Er kaut auf dem, was er sagen will so lange herum, dass ich noch trotziger werde.

„Jetzt spuck`s halt aus, Felse!”

Er zuckt zusammen, strafft sich dann wieder. „Drogen sin halt nich für jeden was.”

Ich verschränke meine Arme vor der Brust, entknote sie dann schnell wieder. „Okay. Dann mach ick dit halt mit … Mit Gitti.”

Er kneift die Augen zusammen. „Dit is doch Quatsch.”

„Mann. Ick will dit ja och gar nich mit Gitti machen, sondern mit dir, du Idiot.” Ich habe mir das tatsächlich alles gut überlegt in meiner schlaflosen Zeit nachts um halb drei. Ich habe irgendwie die Hoffnung, dass man auch so reisen kann – zumindest habe ich das gelesen in den Beschreibungen von Rausch und Halluzinationen. „Ick würd halt einfach nur sowat wie Hasch probieren." 

„Ick weiß nich … Lass uns doch wat anderet Neues probieren.“ Er schiebt mich ein kleines Stück von sich, atmet langsam aus. „Wie wär`s mit Kino?“

„Na, so neu is dit ja nu och nich. Wat willste denn sehen?“ Ich bete, dass es kein Porno oder einer seiner geliebten Trashfilme ist. 

„Ick wollt mir „Shoah“ ansehen.“

„Bitte?“

„Also, die Dokumentation über den Holocaust.“

Ich nicke. „Ja, ick weiß, ick hätt nur nich gedacht, dass dich dit interessiert.“

„Also, entschuldige ma."

„Nee, ick find's doch jut.

„Ick hab wat im Berliner Kurier drüber gelesen und ... ick gloob, den sollte man gesehen haben.“ 

„Allerdings.“

„Also, kommste mit?“

„Ja.“

„Der is aber fast 10 Stunden lang.“

„Wenn ... wenn wa nich mehr können, dann ... Meinste man darf bei so `nem Film einfach gehen?“

„Wahrscheinlich nich, aber ... Ey, wenn wa dit nich aushalten, dann ... Ick hab schon echt Respekt davor. ... Aber ick will halt och wissen ... Unsere Geschichtslehrerin, die hat dit immer allet nur so angedeutet.“

„Is grad ma 40 Jahre her, ick mein – meine Mutter hat dit noch miterlebt. Also, nich die Konzentrationslager, aber ...“ Ich schlucke. 

„Okay, dann mach`n wir dit morgen.“ Er sieht auf seine Bugs-Bunny-Uhr. „Oh, Mist. Schon vier.“

„Ma wieder zu spät, wa?“

„Da bist nur du dran schuld.“ Er sticht mir sehr effektiv nochmal seinen Zeigefinger in die Seite, so dass ich unkontrolliert aufquietsche. „Na, Jörg kennt dit ja schon. „Ick hab ihm versprochen, dass ick mir sein neuestes Machwerk ansehen. Hot Love oder so.“

Er umarmt mich nochmal und gibt mir einen langen Kuss. „Echt schade, dass de nich mitkommst. Soll ick Robert Smith von dir grüßen?“

„Ja, mach ma.“ Gerade find ich es selber ein bisschen schade, dass ich nicht mitgehe, aber - es geht einfach nicht. Gleichzeitig ärgere ich mich. Gerade ist beides doof. Mitgehen und hierbleiben.

Als Bela zu Jörg abgehauen ist, verziehe ich mich in mein Zimmer. So ein bisschen hängt mir unser Gespräch noch nach. Irgendwie hatte ich mir vorgestellt, dass Bela total begeistert auf mein Experiment reagiert. Versteht er denn nicht, dass ich das auch ein bisschen für uns mache? Auf einmal komme ich mir seltsam tölpelig und außerdem zurückgewiesen vor. 

Ich wandere drei rastlose Runden durch mein Zimmer wie ein Tiger in einem Käfig. Ich brauche mehr Auslauf. Irgendwie ist gerade nicht nur mein Zimmer zu klein, sondern ganz Berlin. Da ist ein Verlangen in mir, ein Druck, der explodiert, wenn ich ihm nicht bald nachkomme. Ich halte inne. Spürt Bela das gleiche, wenn er aufbricht in die Abenteuer der Nacht? Nimmt er deswegen so viel von dem weißen Pulver und dem Hochprozentigen?

Schließlich fasse ich einen Entschluss und schnappe mir meinen Rucksack, packe einen Briefumschlag hinein.

 


Ingeborg-Bachmann-Bibliothek

Wenn ich joggen würde, dann wäre das jetzt genau der richtige Moment. Meine langen Beine tragen mich gar nicht schnell genug über den Asphalt, durch die Stadt.

Ich sollte ... Ich möchte ... Keine Ahnung, nur das dieser kleine Spaziergang nicht reicht. Ich brauche etwas viel weiter weg.  

Wie ein Getriebener trabe ich entlang der altbekannten Pfade. Ich könnte woanders sein. Neue Wege unter meinen Füßen, neue Landschaft vor meinen Augen, neue Kulturen, die ich noch nicht verstehe. Alles neu und mysteriös. 

Stattdessen stadtgraues West-Berlin. 

Ich blicke nach Süden, wo ich hinter den einheitsgrauen Wolken die Sonne vermute. Es ist, als könnte ich in der Ferne die Alpen sehen und dahinter ...

Gerade ist mir nicht mal Italien genug, obwohl der Golf von Neapel mich gerade durch jeden Tag begleitet. 

Afrika! Wahrscheinlich ist meine Sehnsucht nach dem großen Kontinent komplett bescheuert, ein naiver Traum, aber die Sehnsucht danach ist so real. Afrika! Es klingt so viel spannender als Europa. 

Schon beim Gedanken an Landschaften, die nur wenige Menschen je betreten haben, rauscht Adrenalin durch mich wie wilder Fahrtwind. Ich weiß nicht, warum mich diese natürliche Einsamkeit so anzieht, warum es für mich ungezügeltes Glück ist. Ein Lächeln, so breit, dass es weh tut, breitet sich auf meinem Gesicht, in mir aus. Ein Rausch aus Bildern und Erinnerungen strömt durch mich, heiß und lebendig wie die Lava in den Spalten des Ätna – das echte ungezähmte Abenteuer. Leben.

Die Sehnsucht ist wie körperliche Schmerzen, so verdammt real. 

Ich schlüpfe durch die Tür, entkomme dem grauen Berliner Alltag. Die Stadtbibliothek ist mein neuer Zufluchtsort, weil in der WG ist es immer noch zu ... 

Besonders ruhig ist es im ersten Stock bei den großen Atlanten, die niemand wälzt – außer mir. Eine fiebrige Unruhe ergreift mich, als ich mit den Augen den Gebirgszügen folge.

Linien, die Straße durch die riesigen Sandfläche der Sahara darstellen, ich folge ihnen mit dem Finger, fahre im Geiste entlang der Grenze zwischen Algerien und Libyen. Ein Strich wie mit dem Lineal gezogen – mehr menschengemacht geht nicht. Wahrscheinlich irgendwelche weißen Kolonialist*innen.

Ich folge der Grenze Richtung Westen, versuche im Kopf die Namen zu entziffern. Bordj Badji Mokhtar ist schon ganz nah an Mali. Gourma-Rharous liegt direkt am Ufer des Flusses Niger. Wie die Menschen dort wohl leben. 

Ich will ein Lied über diese grenzenlose Sehnsucht in mir schreiben, die so gigantisch groß ist, dass es wehtut ihrem Ruf nicht zu folgen. 

Timbuktu.

Auf einmal zieht vor meinem inneren Auge eine Allee mit Kopfsteinpflaster vorbei. Hinter mir auf Eckys Moped sitzt Bela. Unser Ausflug an die Grenzen Berlins. Auf meiner Haut der wilde Fahrtwind und hinter mir Belas warmer Körper. Der Gesang einzelner Vögel über dem Geknatter des Auspuffs. Wie lange ist das her? Vier Jahre erst? Als wäre ich damals ein anderer gewesen. 

Am liebsten würde ich mich jetzt – jetzt sofort auf ein Moped schwingen, ein Motorrad. Der Wunsch ist so übermächtig, dass ich unten bei der Ausgabe nach einem Telefonbuch frage. Unter Fahrschule finde ich eine, die tatsächlich nur eine Querstraße von unserer WG entfernt liegt. Mir ist sie nie aufgefallen, weil Fahrschule bis eben keine Priorität hatte für mich. Aber jetzt ...

Kann ich mir das überhaupt leisten? Ich muss unbedingt mein Konto checken. 

Gedankenverloren steige ich die Treppen hoch. Zurück zwischen den verwaisten Geographieregalen, blättere ich in meiner Kladde mit den Songtexten, suche den angefangenen Brief, der sich dazwischen verbirgt und lese ihn nochmal. Der Schluss bereitet mir Kopfzerbrechen. 

„Es wäre echt schön wieder von dir zu hören.“ Auf den letzten Brief von mir hat Felice nicht reagiert. Aber vielleicht ist er auch einfach nicht angekommen?

„Ich plane gerade meinen Urlaub und ...“ Ich halte inne. Soll ich schreiben „Ich würde gerne in Italien vorbei kommen.“ oder „Ich würde dich gerne besuchen.“? Ist das zu viel? Ich will nicht betteln. Doch ich würde sie echt gerne wiedersehen. Es ist viel zu lange her. Nicht nur sie. Ich muss mal wieder raus oder ... Ich weiß nicht, was das „oder“ ist, nur das es ein Problem ist und es lässt mich nicht atmen. 

Schließlich entscheide ich mich für die ehrliche Variante. „Ich vermisse Italien und ich würde dich wirklich gerne wiedersehen. Schreib mir doch, ob du Lust und Zeit hast. Ich freue mich auf deine Antwort. Alles Liebe ...“ 

Ich zögere. Jan? Oder dein Jan? Versteht Felice diese feinen Unterschiede im Deutschen? Ich befürchte, hoffe, dass es so ist und schreibe schnell „Dein Jan“. 

Danach stöbere ich durch die Regale mit den Romanen, arbeite mich durch die englischsprachigen, schaue dann bei den Gedichtbänden vorbei und bleibe schließlich bei den Klassikern hängen. 

Ich lese Klappentexte, blättere wahllos ein Buch nach dem anderen auf, auf der Suche nach ... Ich lese erste Zeilen bis eine sich in meinen Augen, meinem Hirn verhakt. 

„Kann man jemals wissen, wohin man geht?

Ich blicke auf den Titel. Diderot. Oh, okay. Warum nicht? Soll ich das französische Original lesen? Endlich wären meine Französischkenntnisse mal was wert. Oder doch lieber auf Deutsch? „Jacques der Fatalist und sein Herr" klingt irgendwie nicht so toll. 

Ich gehe hinüber zum Regal mit den französischen Büchern und finde dort den Roman tatsächlich im Original.  Da ist er wieder der Satz, der in mir widerhallt als wäre er ein Versprechen, eine Drohung. 

„Est-ce que l’on sait où l’on va?“

Ich muss dieses Buch lesen und versuche mich an der ersten Seite. Es ist demütigend. Und frustrierend. Also doch auf deutsch. Von mir selbst enttäuscht trete ich einen Schritt vom Regal zurück und knalle gegen etwas Weiches, das da vorhin noch nicht stand. Ein ohrenbetäubendes Geräusch durchbricht die Stille der Bücherei und etwas Schweres landet auf meinem Fuß.

„AU!"

Ich schnell herum und stehe einer jungen Frau gegenüber, die mich wütend anstarrt. Vor uns liegen mehrere dicke Bücher. Wir bücken uns gleichzeitig und stoßen leicht mit den Köpfen zusammen. Mir ist die ganze Aktion so peinlich, dass ich sie nicht ansehen will, ihr stattdessen wortlos die Bücher hinhalte.

„Wirklich sehr ungestüm, der Herr!"

Verblüfft blicke ich auf. Ein hübsches Gesicht mit Sommersprossen und einer überdimensionalen Brille, die prekär auf ihrer Nasenspitze balanciert.

„Äh, `tschuldige, dit ... Ick wollt nich ..."

„Na, das hoffe ich mal, dass du das nicht wollest."

„Dit war echt `n Versehen, weil ick mich nich entscheiden konnte, ob ick dit Buch in französisch oder deutsch lesen soll." Was für ein Gestammel.

„Was haben wir denn da?" Sie nimmt mir Diderot aus der Hand. „Oh ..." Sie blickt vom Einband auf, mustert mich über den Rand ihrer Brille, mustert mich nun wirklich und nicht gerade unkritisch.

„So, so. ... Hmmm ... Wie wäre es, wenn du mich auf eine Tasse Kaffee einlädst? So als – Wiedergutmachung."

Ich sehe ihn ihre grünen Augen. So anders als Belas und doch ziehen sie mich an. Aber – das war irgendwie so gar nicht der Plan. „Ähm, also ...“

Sie mustert mich immer noch und dieser wache Blick schüchtert mich ein. Flirtet Sie mit mir?

Auf jeden Fall verunsichert Sie mich. Akademische Bildung strahlt ihr geradezu aus jeder Pore. Und älter ist sie auch noch. Was soll ich dieser Frau den bieten?

„Also, heut ist es ein bisschen schlecht, weil ... Ick hab noch Bandprobe“, improvisiere ich so schlecht, dass die Lüge auch in meinen Ohren klingelt. 

„Aha.“

„Vielleicht ein andres Mal?“

„Vielleicht", grinst sie mich an und für einen Moment bereue ich meinen feigen Rückzug. 

„Ich bin übrigens Mathilda.“ Sie streckt mir ihre Hand hin. Feingliedrig, aber mit einem unerwartet festen Händedruck. 

„Farin. ... Äh, ich meine Jan.“

Ihre Augenbrauen wandern nach oben. „Soll ich dich jetzt Jan oder Farin nennen?“

„Jan. Nenn mich einfach Jan.“

„Okay. Ich schreib dir mal meine Telefonnummer auf und wenn du mal keine Bandprobe hast, dann kannste deine Unachtsamkeit wiedergutmachen.“

Sie kramt in ihrer Umhängetasche, zieht einen Kugelschreiber hervor. Dann schnappt sie sich meinen Arm und schreibt ihre Nummer darauf. 

 

30. April - 5 Jahre Tempodrom

Und wieder ein Auftritt. Heute ist auch Axel mit dabei. Mit ihm an meiner Seite ist es verschmerzbarer, denn Bela begrüßt und umarmt mal wieder tausend Leute. Heute abend scheint er es besonders ausführlich zu tun, aber vielleicht bilde ich mir das auch nur ein. 

Axel hält mir die blaue Brokatjacke hin. „Ich glaube, dat is für heute `ne ganz angemessene Abendgarderobe.“ Ein Schauer läuft über meinen Rücken. Es sind die Jacken, die Beate für uns hat anfertigen lassen. Allein ihr Anblick ... Als würden mich ihre Finger wieder berühren. Ich unterdrücke den Impuls die Jacke von meinen Schultern zu reißen und ein Feuerzeug dranzuhalten, zwinge ihn nieder, da ich mir vorgenommen habe, mich nicht mehr einzuschränken zu lassen von dem, was war. Außerdem – wie soll ich das Axel erklären? Mir ist schon unangenehm genug, dass meine Mutter und Julchen davon wissen. Ganz zu schweigen von Bela, der mich viel zu oft so prüfend ansieht.

Wieder wird mir bewußt, dass der Fall durch Beate tiefer ist, als ich am Anfang angenommen habe, tiefer als ich vor mir selber zugeben will. Hat mein Fernweh etwa auch etwas mit ihr zu tun? Nein. Oder? Keine Ahnung. Ich hasse diesen Psychokram, der in mir Bauchweh und Fluchtreflex auslöst. 

Aber so sehr ich sie hasse-hasse-hasse, sie hat uns wirklich vorwärts gebracht in den letzten Monaten. Und jetzt fehlt sie karrieretechnisch. Soll Hans uns jetzt managen, oder was? Kopfweh beginnt sich durch meine Schädelplatte zu drücken. Ich brauche Ablenkung, bevor das voll explodiert. 

Die Ablenkung kommt schneller als mir lieb ist. 

Eine Frau  schreitet durch die Besuchermenge. Sie ist ganz in Lack gekleidet, in weißen Lack. Sie dominiert den Raum und auch meinen Blick, ohne viel tun zu müssen.

Das Kleid schmiegt sich an ihre üppige Figur wie eine zweite Haut, gibt ihrer Erscheinung etwas extrem dominantes. Alle Blicke folgen ihr als sie auf uns zugestöckelt kommt. Auch ich kann mich ihrer Aufmachung nicht entziehen. Ich halte den Atem an. Die Art, wie sie geht, ihr Blick ... Ihr Auftritt in seiner kalkulierten Theatralik zieht mich gleichzeitig an und stößt mich ab. 

Sie sieht sich um und kommt dann geradewegs auf uns zu. Alles passiert wie in Zeitlupe. Hans Mund steht offen und ich hoffe und bange, was sie von uns will. 

Auf einmal zieht sich ein schmales Lächeln über ihren kirschroten Mund. Zielstrebig stolziert sie auf Bela zu. Er lächelt, als er sie bemerkt. Die Frau lächelt nicht. Ihr Blick ist kühl. 

Sie stoppt knapp vor uns, streckt uns ihre in einem langen weißen Handschuh steckende Finger hin, als erwarte sie, das wir diese küssen. Keiner von uns rührt sich. 

„Bela!“ Es soll wohl eine Begrüßung sein, klingt aber wie etwas zwischen Katzenschnurren und Peitschenknall. Sie schiebt ihren Lackrock ein Stück hoch und zieht etwas heraus. Ein silbernes Blitzen. Was ...? Mein Atem stockt. 

Bela neben mir lächelt weiterhin, als hätte sie ihn hypnotisiert. Sein Kopf ist halb geneigt, als würde er einen Ritterschlag von ihr erwarten, genau in Richtung der Rasierklinge.

Die Frau nähert sich ihm. Alles in mir ist sprungbereit und gleichzeitig erstarrt. Wie in einer Unfallzeitlupe greift die Frau nach Belas Hand und zieht die Klinge über seinen Handrücken. Die Wunde ist nicht groß, doch sofort quillt dunkles Blut heraus.

Bela wirkt nicht mal geschockt, leckt stattdessen über seine Hand. Das Blut ziert seinen Mundwinkel und auf einmal erinnert seine blasse Haut nicht mehr nur an einen Vampir, er ist einer. 

In mir zieht sich alles zusammen, als ich sehe wie er nach ihrer ausgestreckten Hand mit der blutenden Klinge greift. Ihrer beiden Hände fließen ineinander und mich blendet ein Leuchten, als würde ich in die Sonne blicken oder einer Kernfusion beiwohnen. 

Wie sein Blick auf ihr liegt. Als wäre sie die Königin der Nacht und irgendwie ist sie das auch. 

Kennt er sie? Ich vermute nicht, so wie er sie anstarrt. Allerdings ändert das nichts daran, dass mich sein Blick beunruhigt. Das Glitzern in seinen Katzenaugen, wie er den Blick nicht von ihr abwenden kann.

Sie fährt mit ihren Fingern über seinen blutverschmierten Mund. Auch in ihrem Blick liegt nun Faszination. Nicht mal ich kann wegsehen von dieser Szene, dabei tut sie mir bis ins Mark weh, denn instinktiv verstehe ich etwas Bedeutendes über Bela, für das ich dennoch keine Worte finde. 

„Schön dich zu treffen.“ Ihre Stimme ist so dunkel, dass sie mir einen Schauer über den Rücken jagt. „Ich bin Susanne, aber bitte nenn mich Suzi. Mit z.“ Sie lächelt ihn an.

Bela nickt andächtig. „Wie Suzi Quattro.“ Dann verbeugt er sich und ... 

Ich will wegsehen, aber da hat er ihr schon einen eleganten Handkuss gegeben.

„Mhm, du bist so charmant wie du mir beschrieben wurdest.“ Suzi wirkt sehr zufrieden.

„Ey, wir müssen los.“ Auf einmal steht Hans vor mir. „In einer halben Stunde ist unser Auftritt.“

Belas Blick wandert zu mir, aber ich bin mir nicht sicher, ob er mich wahrnimmt. „Auftritt?“ Seine Augen werden wieder klarer. „Oh, ja. Na, klar.“


Wir haben schon öfter im Tempodrom gespielt, aber heute bin ich nervös. Ich sehe zu Bela, deute auf das neue Lied, schon wieder scheint er mich gar nicht wahrzunehmen, dann nickt er. Ich spiele die ersten Akkorde und sehe in fragende Gesichter, aber schließlich wippen ein paar Zuschauer*innen in den ersten Reihen mit.  

Bela sagt das nächste Lied an: “Der nächste Song behandelt die Weltprobleme, Südafrika, Libanon und so weiter. Er heißt “Tittenmaus” und ich widme ihn – Suzi.“ Er winkt ins Publikum und mir wird kalt, dann verdammt heiß, aber für meine Befindlichkeiten ist keine Zeit, denn gerade zählt Bela ein.

Vor meinen inneren Auge sehe ich wie Bela Suzi einen Handkuss gibt. In der Realität sehe ich den weißen Verband um seine Hand und ein glückseliges Lächeln.

Was für einen Song spielen wir nochmal? Ach ja - Tittenmaus.


„Hey!“ Axel stürmt backstage auf uns zu, rennt mich fast um. „Ich habe heißeste Neuigkeiten.“ Er packt mich an den Schultern, strahlt über beide Ohren. „Das glaubt ihr nicht.“ Er grinst so, dass er die Worte kaum rausbekommt.

„Jetz spuck`s schon aus.“ Geduld ist gerade echt nicht meine Stärke. 

„Wir fahren nach Amerika – genauer gesagt nach New York.“

„Was?“ Bela versucht immer noch sein schweißnasses Hemd abzustreifen, das nicht so will wie er. „Sag das nochmal!“

„Nach Amerika. Mit dem Goethe-Institut.“

 

2. Mai - Frohnauer Forst

Da meine Mutter über den 1. Mai mit Julchen nach Sieseby gefahren ist, habe ich Bela nach Frohnau entführt. Es wäre echt gut gewesen Omi mal wieder zu sehen, aber das Jubiläumskonzert im Tempodrom war mir mal wieder wichtiger. Irgendwie ist immer was los. 

Tatsächlich ist Bela trotz dieser Suzi, die ihn natürlich sofort nach dem Auftritt abgefangen hat, gestern nacht schon um eins zusammen mit mir zurück nach Hause, „weil wir ja einen Ausflug ins Grüne machen morgen“, war seine Erklärung. Danach war mir nicht mehr so heiß und kalt. 

Bepackt mit Decken und einer Thermoskanne schlurfen wir durch den Frohnauer Forst. Über den noch kahlen Bäumen liegt nach dem langen, viel zu kalte  Frühling, ein erster Schimmer von Grün und die Sonne lächelt milde auf uns hinunter, während ich uns zu dem Platz führe, an dem Ecky und ich früher unser Fort hatten. 

Um die alte Buche herum steht ein blühender Teppich aus Buschwindröschen. Ich breite die Decke aus und lasse mich unter den großen Baum fallen. Sonnenstrahlen kitzeln mich im Gesicht.  

„Magste och `n Kakao?” Ich wünschte, meine Stimme wäre fester. 

„Oh ja, gerne.” Belas Augen leuchten heller als die Sonne. 

Meine Hände zittern ein wenig, während ich einschenke. Vorsichtig halte ich ihm den Becher hin. Soll ich was sagen? Wahrscheinlich schon, oder? „Also, dit is … so `n spezieller Kakao.“

„Wie speziell?” Er schnuppert daran, zieht dann eine Augenbraue hoch. „Haste da ... Jetz wirklich …? Wo haste dit Zeuch den überhaupt her?” 

„Von Ecky.“

„Aha. Und wie fand der deine Idee?“

„War so `n bisschen erstaunt, aber ...“ Das ich mit Ecky auch über mein akutes Fernweh geredet habe, lasse ich weg. Es hat so gut getan, dass Ecky mich einfach ohne große Erklärungen verstanden hat. Aber ein anderes Gegenmittel außer Reisen ist ihm auch nicht eingefallen.

Bela nippt vorsichtig am Kakao. „Oh … Is der nich `n bisschen stark.” Er sieht mich mit großen Augen an. 

„Meinste?“ Ich nehme ihm die Tasse aus der Hand und trinke einen Schluck. Der Kakao schmeckt merkwürdig und ich bin kurz davor ihn in die Buschwindröschen zu spucken. Eine Konsistenz, als hätte man Tonerde in die Milch gerührt. Unter der Süße liegt das Herbe von diesen blauen Kiffwolken, die mich an Mamas alte WG in Moabit erinnern, wenn Riadh und Yanis geraucht haben.

„Biste dir echt sicher, Jan, dass de dit …?”

Ich nicke, auch wenn ich nicht mehr komplett von meinem Plan überzeugt bin. Es könnte sein, dass „The Suzi Experience“ gestern abend den Ausschlag gegeben hat.

„Na, ick dachte hier so im Wald, in der Sonne, da kann doch nüscht schief gehen.“ Oder?

„Mhmmm. … Vielleicht is dit dann besser, wenn ick nüchtern bleib, wa?” Es hilft meiner eigenen Unsicherheit nicht wirklich, dass er so ängstlich klingt, sein Blick ein wenig besorgt auf mir liegt.

„Vielleicht ...” Ich trinke vorsichtig noch einen weiteren Schluck. Es schmeckt nicht mehr ganz so schlecht, aber auch nicht gut. Langsam sinke ich zurück auf die Decke und starre hinauf in den blauen Himmel. Mir ist ein wenig schwindelig, aber das kommt wohl eher von den weißen Wolken, die eine laue Maibrise über den Himmel bläst. Oder von den leichten Bewegungen der noch kahlen Äste im Wind. 

Bela erscheint mit besorgtem Blick über mir. „Merkste schon was?” Es gefällt mir, dass er mich so ein bisschen umgluckt. Mein schräger Plan kommt mir gleich weniger dumm vor. 

Ich stütze mich auf und schüttel den Kopf. 

„Na, is och noch zu früh dafür.” Bela greift nach der Thermoskanne. „Vielleicht trink ich doch `n Schluck, sonst sin wir gar nich auf der gleichen Wellenlänge.”

Ich nicke, weil genau darum geht es ja. 

Er trinkt, schüttelt sich dann. „Wäh! Also, da schmeckt rauchen ja besser.”

„Ick find`s eigentlich ganz interessant.”

„Na, interessant könnte es echt noch werden.” Er beugt sich zu mir runter und legt seinen Kopf auf meiner Schulter ab. 

Ich drehe mein Gesicht und küsse ihn auf die Stirn. „Was war’n dit Beste, was de je auf Drogen erlebt hast?”

Bela sieht mich einen Moment irritiert an, dann wird sein Blick versonnen. „Mhm ... Dit is schwer zu sagen.”

„Aber … du liebst die schon sehr, … oder?”

Er lacht, wird dann wieder ernst. “Es is halt echt aufregend. Und dit ganze Leben wird irgendwie intensiver. Alles sieht so `n bisschen mehr aus wie `n Film. Weißte noch als wir „Christiane F.“ gesehen haben?“

Die Kälte ist zurück, umklammert mich. Und wie ich mich daran erinnere. Es ist schon drei Jahre her, wir haben damals noch nicht zusammen gewohnt, aber wenn wir uns gesehen haben, hat Bela jedes Mal angefangen wieder über den Film zu reden. Und wie sich wohl Heroin so anfühlt. Das war das erste Mal, dass ich echt Schiß bekommen habe mit seinem Drogenkonsum. Immer wenn er ein T-Shirt anhatte, habe ich unauffällig seine Arme abgesucht. 

Lieber nicht weiter über Belas Drogenerfahrungen reden. Sie ziehen mich in etwas in mir, dass einer dunklen Höhle ähnelt. Ich blicke zurück in den Himmel. Die Wolken über uns scheinen langsamer zu werden und die Sonnenstrahlen gleissender. 

Auf einmal wird mein Kopf schwer. Ich kann ihn nicht mehr halten und er sinkt nach hinten. Als er den weichen Waldboden berührt, fällt die bleierne Schwere von mir ab, vielleicht trennt sich auch mein Geist von der schweren Hülle. [link href=“https://youtu.be/8F-Q9mgFZxs?si=xWgLW4BeU8Bt8MP7"]Ich entschwebe in das Blaue des Himmels, meine Gedanken – ich – steige wie ein Luftballon nach oben. [/link]

Schlagartig wird mir schwindlig. Ich versuche wieder Kontakt zu meinem Körper zu bekommen, rolle mich auf die Knie und versuch unbeholfen aufzustehen. „Bela?" 

„Mhm?“ Er hört sich weit weg an, aber als würde er gleichzeitig in mir wohnen. Warme Haut berührt meine. Seine Hand ... Ich fahre über seine Finger. Alles an ihm ist grazil, vielleicht auch fragil, aber seine Hände – die sind stark. Vielleicht vom Schlagzeug spielen. 

Meine Gedanken schweben dahin wie die Wolken über uns. Dafür ist Belas Wärme neben mir um so fokusierter. Seine Haut. So geschmeidig. Meine Finger sinken in seine, als würden sie Teil von ihm. Wie durch ein Vergrößerungsglas nehme ich jede kleine Falte in seiner Handfläche wahr. Sie sind wie Strassen, Berge und Täler. Ich streiche über eine Erhebung an seinem Zeigefinger, fahre nochmal langsamer darüber, nehme dann erst wahr, dass Bela mich intensiv mustert. 

„Dit is vom Schlagzeug spielen”, sagt er leise. Auch er scheint sich ganz langsam zu bewegen, so wie er die Hand nach mir ausstreckt.  „Hey, Jan, is alles okay?“

„Mir is so `n bisschen komisch."

„Oh. ... Okay. ...“ Er stützt sich neben mir auf, streicht mir vorsichtig durch die Haare und es ist als würde die ganze Welt nur aus aus dieser Berührung bestehen. „Versuch dich nich dagegen zu wehren. Lass dich hinein fallen.” 

Ich weiß nicht, ob er wirklich so stockend redet oder ob ich ihn nur so wahrnehme. Nichts ist mehr sicher. „Bela, mir is echt seltsam.” Ich mag es nicht, wie getrennt sich alles in mir anfühlt, als wäre ich zwei Einzelteile: Körper und Ich. „Ick glaub, ick will dit doch nich."

In Belas Augen zeigt sich viel zu viel Sorge. „Komm." Er zieht mich hoch. „Dit kannste noch raus kotzen."

Er schleift mich zu einem kleineren Baum, was gar nicht so einfach ist, da meine Beine nicht den Signalen gehorchen, die ich ihnen sende. Ich falle vor dem Baum auf die Knie, spüre Belas Hand auf meinem Rücken.

„Finger in Hals", befiehlt er, aber weil alles so langsam klingt, hört es sich ganz sanft an. 

„Dit kann ick nich”, würge ich heraus, obwohl mir wirklich total schlecht ist.

„Soll ick machen ...?"

„Oh, Mann." Die Panik schlägt hohe Wellen in mir. Das Zeug muss rausrausraus. „Okay, okay. Bitte mach." Ich beuge mich nach vorne.

Belas Hand an meinem Kopf, er hält mir meine langen Ponyfransen zurück und schiebt ganz vorsichtig seinen Zeigefinger in meinen Rachen. Mein Körper rebelliert gegen sein Eindringen, aber ansonsten passiert nichts. Bela bewegt vorsichtig seinen Finger und schließlich krümmt sich mein ganzer Körper zusammen und ein Strahl schießt über seine Hand. Es ist so eklig und Bela tut mir so leid, aber ich bin auch froh, dass es klappt, dass das Zeug raus ist.

„Noch mehr?“

„Nhnnn.“ Ich schüttel den Kopf und falle zurück auf meine Fersen, krieche zurück zu unserem Deckenlager.  

Die Buche. Ich lasse mich gegen ihre schuppige Rinde, ihren Stamm fallen. Ein fester Halt in meinem Rücken, als würde sie mich behüten. 

Bela setzt sich neben mich und drückt mir etwas in die Hand. „Zum Abwischen. Und hier ist Wasser.“

Die Flasche zittert in meiner Hand und ich brauche zwei Versuche um sie anzusetzen, dann läuft Flüssigkeit in meinen Mund, tiefer. Ich habe Wasser noch nie so gefühlt. Kühl rinnt es durch meinen ganzen Körper. Klar, rein, frisch. Sofort geht es mir besser, als hätte es mich wieder auf die Erde zurück geholt.

Ich stelle die Flasche ab und tauche mit meinen Händen in das rotbraune Laub. Die alten Blätter knistern in meinen Händen und die ganze Welt scheint nur noch aus diesem Geräusch zu bestehen. Ich lege den Kopf gegen den Stamm, der zu pulsieren scheint. Ich folge seiner Länge bis ich wieder im blauen Himmel angekommen bin.

„Ick gloob, der Baum pumpt das Wasser aus dem Boden bis ganz oben in die Äste.” Ich muss meine Augen zwingen den Blick von der Krone abzuwenden und Belas Gesicht zu suchen. Als ich es gefunden habe, kann ich den Blick nicht mehr von ihm lösen. 

„Oh …”

„Alles okay mit dir?” Sein Lächeln scheint und strahlt und schwebt. 

„Du …” Ich strecke meine Hand aus. Meine Finger erscheinen in Zeitlupe in meinem Blickfeld wie ein Raumschiff. Es landet auf Belas Wange. Weich. So weich. Seine Haut. Als würde sie mich streicheln.

„Du bist sooo schööön.” 

Ist das ein Lächeln auf seinem Gesicht?

Als ich mich an ihn schmiege, ist es wie fallen – in ihn. Er dreht sich zu mir und das Grün seiner Augen strahlt wie das grüne Mailaub, das noch an den Buchen fehlt. 

„Biste okay?“

Ich kann nur nicken, weil diese Strahlen so nah und vertraut ist, dass ich es nicht mit schnöden Worten vertreiben will. Ich streiche über seine Wange. Harte Knochen unter weicher, weißer Haut. 

Er zieht sich an mich und auf einmal weiß ich nicht mehr, wo er anfängt und ich aufhöre.


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LYRICS

The Cure - Close to me

The Replacements - Anywhere`s better than here

Abwärts - Unfall

Nina Hagen - Personal Jesus

The Beatles - Got to get you into my life

Swans – Where does a body end

 


ADDITIONAL SONGS

die ärzte - Studentenmädchen

Naja ...

 


FILM

Shoah, 1985 - Documentary

 


FERNWEH

über Fernweh

The Wanderlust gene

 

Bordj Badji Mokhtar, Algerien

Ortsschild

Tourismus Webseite

 

Gourma-Rharous, Mali Gourma-Rharous, Mali - Fluss Niger

Timbuktu, Mali Timbuktu, Mali - Djinguereber mosque

 

BUCH

Diderot: Jacques, der Fatalist und sein Herr - Wikipedia

Zusammenfassung

 

TEMPODROM


Diaset

Bela, Hans und Farin


Bela, Axel und Farin

Farin

Bela 1
Bela 2
Bela 3
Bela 4

 

NINA HAGEN

1. Interview in West-Deutschland

Skandal-Interview 1979 über Masturbation

 


MARY JANE

Rolling Stones Artikel

The Beatles, “Got to Get You Into My Life” (1966)
The 20 Greatest Weed-Themed Songs of All Time

This sunny, soulful track from 1966’s Revolver LP is generally thought of as one of the Fab Four’s many upbeat love songs – but according to Paul McCartney, the love object in this particular instance is a weed, not a woman. “‘Got to Get You into My Life’ was one I wrote when I had first been introduced to pot,” he told Barry Miles for the 1997 book Paul McCartney: Many Years from Now. “I’d been a rather straight working-class lad but when we started to get into pot it seemed to me to be quite uplifting. It didn’t seem to have too many side effects like alcohol or some of the other stuff, like pills, which I pretty much kept off. I kind of liked marijuana. I didn’t have a hard time with it and to me it was mind-expanding, literally mind-expanding. So ‘Got to Get You Into My Life’ is really a song about that, it’s not to a person, it’s actually about pot. It’s saying, ‘I’m going to do this. This is not a bad idea.‘”
 

 

*

Chapter 53: 1985 - atmen

Chapter Text

*



* Teenagers in Love *





FYI – Die New York Story hat sich nicht genau so zugetragen, sondern war nur ein Gerücht. La Loora waren immer diejenigen die nach New York fahren durften mit dem Goethe-Institut. Das Gerücht war, dass die ärzte ihnen das streitig machen wollten.



1985 – atmen




3. Mai – Proberaum Tempelhofer Flughafen

„Der Song ist halt irgendwie komisch“, nöhlt Hans, nachdem er zum fünften Mal seinen Einsatz verpasst hat.

Genervt sehe ich zu Bela, dessen Miene schreit: „Sag ich doch schon die ganze Zeit, dass der Typ nervt!“, dann wende ich mich Hans zu. „Was meinst du genau mit „komisch“?“

„Naja, das ist so ... experimentell“, stottert Hans rum.

„Mann, das ist ja genau der Clou daran.“ Das neue Stück will einfach nicht sitzen und das liegt vor allem an ihm.

Bela findet den absurden Text und vor allem den heftigeren Gitarrensound ganz geil, aber Hans kriegt es einfach nicht hin. Wenn der endlich mal lernen würde seinen Bass zu spielen. Oder zumindest üben würde. Mit seiner Einstellung kommen wir nicht raus über einen Dilettantismus, der rein gar nichts mit der Genialität vom Neubauten-Umfeld zu tun hat.

Nach dem dreizehnten Versuch schnalle ich meine Gitarre ab. „Okay. Reicht für heute.“ Ich will nicht so genervt rüber kommen. Die anderen Beiden sollen nicht merken, wie sehr ich gerade an allem zweifel, aber natürlich checkt Bela es dennoch und kommt zu mir rüber.

„Hey, Jan. Dit wird schon.“

„Vielleicht. Aber ... manchmal frage ich mich echt, ob wir jemals weiter kommen als Band.“

„Ey, Unkraut vergeht nich“, grinst er mich an und obwohl ich es nicht will, muss ich lächeln.

Sein Strahlen wird breiter. „Und überhaupt, Alter: New – York. Da wollt ick immer schon mal hin.“

Und ich erst. Ich will sowieso überall hin. Vor meinen Augen ziehen riesige Häuserschluchten vorbei. Das CBGB. Es wäre echt so geil und obwohl eigentlich noch nichts geklärt ist, halte ich mich an dem Gedanken fest wie an einer Rettungsboje.

„Is es da nich gefährlich?“, holt uns Sahnie wieder auf den Boden der Tatsachen zurück.

Bela verdreht die Augen. „Ja, und? Dit is New York. Gudrun hat da mit Malaria! gespielt und sie meinte, dit war zwar echt nich ohne, aber einfach so geil.“

„Was ist denn passiert?“, fragt Hans.

„Naja ... Sie hat halt gesehen wie die Bullen so `ne Razzia in `nem Club durchgezogen ham. Da kannste wohl echt froh sein, wenn die ihre Waffen nur zücken. Und in der Subway hat ein Typ wohl ma `n Messer gezogen. Is dann nüscht passiert, aber dit is schon `ne andere Qualität als hier auf unserer behüteten Insel.“

So behütet finde ich das graue Berlin gar nicht, aber das behalte ich lieber für mich und halte mich meinem neuen Tagtraum fest: The Big Apple.

„Also, ich weiß echt nicht, ob ich dafür mein Studium einfach so ...“

„Mann, Hans! Es is ja noch nich ma sicher, ob wa echt fahren.“ Eigentlich bin ich seltener genervt von ihm als Bela, aber gerade ...

 Bela geht mit einem Grinsen wieder hinüber zu seinem Schlagzeug. „Guck ma.“ Bela wedelt mit einem Poster herum. „Geil, oder? Ey, dit wird dufte. Ick sach nur: Ramones." Er hebt seine Sticks. „One – two – three – four ...“


4. Mai – Charlottenburg

Der Frühling ist immer noch kühl und grau und ich brauche mal wieder Kohle: um Frohnau zu retten, mir ein Motorrad zu kaufen beziehungsweise mir erstmal den Führerschein leisten zu können, für den potentiellen New York Trip, für einfach alles und vor allem um Ausbrechen zu können aus dem klaustrophischen Berliner Alltag.

Da ich keinen Bock habe gerade auf ständig wechselnde Studijobs und neue Leute, spreche ich bei Joachim in seinem Büro vor, auch wenn es mir schwer fällt.

„Alles okay mit dir?“ Wir haben uns seit Dezember nicht mehr gesehen, weil er mal wieder auf einer seiner Reisen war. Neid. Purer Neid überfällt mich bei seiner Erzählung von Brasilien.

„Ja. Alles gut. Warum?“

„Du - siehst irgendwie anders aus.“

Ich zupfe an meinen Haaren, fühle mich auf einmal gläsern vor ihm.

„Nee. Die sind so zottelig wie eh und je. Ich mein eher ... Du bist so ernst.“

„Icke?“ Ich setze mein strahlendstes Grinsen auf, blende ihn damit. Ich hätte niemals gedacht, dass mein immer abwesender Vater so aufmerksam sein kann, wenn es um mich geht. „Quatsch. Allet schick. Ick broch nur grad Kohle für ...“ Besser nicht sagen, dass es um Frohnau geht, weil Muttern sich nicht von ihm helfen lassen will. Und auch die Idee mit Führerschein und Motorrad verschweigen, denn das petzt er unter Garantie weiter an sie.

„Für - New York.“

„New ...?“ Genau dieses spezifische Heben der Augenbrauen kenne ich in und auswendig und es bedeutet, dass man hinterfragt, was das Gegenüber gerade gesagt hat. Und es nervt.

„Ja, wir haben dort `n Gig.“ Ich lasse es total gewöhnlich klingen.

„Mit ... eurer Band?“

Ich hasse den ungläubigen Ausdruck in seinen Augen. „Ja“, sage ich deswegen schnell und möglichst nonchalant.

„Okay.“ Mein Erzeuger scheint beeindruckt und das ärgert mich so richtig, zumal es ja nicht mal klar ist, ob es klappt.

Ich seufze auf, als ich nach acht Stunden Büroarbeit wieder auf der Straße stehe und stecke den Fuffi in meine Tasche.


5. Mai – Niebuhrstraße 38 b, Charlottenburg

Ich erwische Bela mit der BRAVO.

„Na, bestaunste dich selbst?“ Ich schiele über seine Schulter und entdecke diesen Pop-Norweger, den mit der Drei-Oktaven-Stimme, auf die ich ein wenig neidisch bin. „Oh. Du findest den aber nich echt ... Findeste den gut?“

Belas sonst so bleiche Haut färbt sich rose.

„Nee, jetz nich im Ernst. Dit is doch Popmucke.“

„Ick dachte du magst Pop?“

„Ja, aber doch nich mit Streichern. Dit würd ick niemals bringen.“

„Na, ick guck mir ja och nur dit Photo an.“ Bela grinst mich fast ein wenig verschämt von unten her an.

Ich schau nochmal über seine Schulter.

„Sieht doch jut aus.“ Bela deutet auf die Seite und - er hat nicht unrecht. Die Natur hat manchmal einen fiesen Gerechtigkeitssinn, vergibt an einen Typen nicht nur diese krasse Stimme, sondern ...

„Stehste seit neuestem auf Muskeln, oder was?“ Steht er wirklich darauf? Auf einmal kommt mir mein langer Körper noch schlaksiger vor als sonst.

„Nee, nich wirklich. Aber er hat `ne süße Zahnlücke.“ Er grinst mich wieder an. „So wie icke.“

„Mhmmm. Genau. So wie du.“ Ich lasse mich auf seinem Schoß nieder und nehme ihm die BRAVO aus der Hand, schmeiße sie hinter mich und beuge mich dann zu ihm hinunter, lege meine Hände an seine Wangen. „Zeig mal!“

Er sieht mich fast ein wenig schüchtern an, grinst dann, so dass ich seine Zähne sehen kann, grinst noch mehr und ich ziehe ihn an mich und fahre mit meiner Zunge über die Lücke, fühle wie er mit einem Keuchen Luft einzieht.

Sein Keuchen schießt mir heiß durch die Adern. Hatte ich schon länger nicht mehr. „Wirklich sehr sexy, deine Zahnlücke.“ Ich drücke ihn in die Waagrechte, setze mich auf ihn.

„Mhmmm.“ Er wirkt einen Moment irritiert, sieht dann sehr zufrieden mit sich aus, schiebt mein Shirt hoch. Nicht nur die kühle Luft jagt Schauer über meine Haut. Seine Finger ... 

Riiiing. Riiing. Riiiing.


Das Telefon. Ich schrecke hoch, bin schon halb aufgestanden, als Bela mich zurück zieht.

„Ma-hannnnn, Jan. Ick bin mir sicher, dit is nich so wichtig, wie dit hier.“ Er zeigt zwischen uns hin und her.

Das Telefon verstummt.

„Siehste?“ Er drückt seinen Rücken durch und presst sich gegen meinen Schritt. Dieses Mal keuche ich auf. Ich stütze mich über ihm auf. Seine hellen Kajalaugen sind nur noch ein verschwommenes Glänzen vor mir.

Riiiing. Riiing. Riiiing.

„Mist.“ Ich richte mich wieder auf.

„Du bleibst ma schön hier, mein Lieber!“ Bela packt mein Shirt und zieht mich wieder zu sich hinunter.

„Vielleicht ist dit jemand wegen der Band.“ Ich hieve mich vom Boden hoch, muss dann erstmal meine Jeans neu justiere. Beim ersten Schritt Richtung Flur stoppt mich Belas Hand an meinem Hosenbein. Ich beuge mich zu ihm hinunter. „Ey, Süßer, was wenn dit Rakete is oder so ...“ Bei dem Gedanken stolpert mein Herz ein wenig. Bela zieht eine Schnute und immer noch an meiner Hose.

Riiiing. Riiing. Riiiing.

Außerdem is ja der Anrufbeantworter ... nich mehr da.“

Nach dem Satz lässt Bela meine Jeans los.

„Nich böse sein.“  Ich beuge mich nochmal zu ihm hinunter, lasse meine Zunge an seinen Lippen entlang gleiten. „Mrmmm", protestiert er und versucht mich wieder auf sich zu ziehen. Es klingelt zum sechsten Mal und ich hechte aus Belas Reichweite in den Flur.

„Ja?“, sage ich nur, um nicht zu außer Atem zu klingen.

„Hallo, Jan! Ich hab gute Neuigkeiten.“ Meine Mutter hört sich wirklich fröhlich an. „Ich bekomme ab nächstem Schuljahr die Stelle als Oberstudienrätin. Und Volker hat mir den Samstagsunterricht zu geschanzt.“

Das Gesicht von Julias Lehrer taucht vor meinem inneren Auge auf. Auch wenn der Typ wahrscheinlich nett ist, wir haben uns bisher noch nicht offiziell kennengelernt. Wenn es nach mir geht, hat das auch keine Eile. Ein potentieller, neuer Stiefvater steht nicht direkt auf meiner Wunschliste. Immerhin scheint Julia es nicht mehr so seltsam zu finden, dass ihr Geschichtslehrer der Liebhaber unserer Mutter ist. Außerdem – schlimmer als Gerd kann er kaum sein.

„Du freust dich, wenn du auch jeden zweiten Samstag in die Penne musst?“

„Das ist doch die gute Nachricht. Damit verdiene ich endlich genug, um die Raten für das Haus abzuzahlen.“

„Oh ... Das heißt, du brauchst keine Kohle mehr von mir?“ Ich habe mir wirklich den Kopf zerbrochen, wie ich das am Besten gestemmt bekomme. Alles um zu verhindern, dass Julchen in einer Zwei-Zimmerwohnung leben muss. Außerdem - trotz der vielen beschissenen Erinnerungen hänge ich an dem Haus in Frohnau.

„Genau. Ich dachte, dass freut dich auch.“

„Cool.“ Und ein bisschen schade, denn es hat sich auch gut angefühlt Muttern zu unterstützen.

Anscheinend hört sie mir die untergründige Enttäuschung an. „Ich danke dir wirklich sehr, Großer, aber auf Dauer wär das doch nicht gut gegangen.“

„Na, danke.“

„So mein ich das doch nicht. Ich bin dir wirklich dankbar, dass du die letzten Monate was beigesteuert hast. Wo hast du überhaupt die 100 Mark letzten Monat herbekommen?“

Ich wünschte, sie hätte das nicht gefragt. „Ach, Bela und ick ham einfach `ne Bank überfallen.“

Bela stützt sich auf seine Ellenbogen und sieht fragend zu mir hinüber.

Sie lacht. Es ist ein wirklich amüsiertes Lachen und ich bin nicht mehr beleidigt.

„Nee, Mama. Dit würdn wa natürlich nur tun, wenn es gar nich anders geht.“

„Ach, Junge.“ Sie seufzt, aber ich kann auch das Grinsen hören. Es ist schön, dass sie seit Gerds Auszug wieder so aufgelebt ist. Sie erinnert mich wieder mehr an  früher, mehr an das Blumenmädchen aus der Hippie-WG.

„Wir hatten März, April einfach Glück und konnten ein paar Gigs mehr spielen.“ Von wegen. Aber den echten Grund möchte ich ihr lieber nicht sagen. Inzwischen esse ich auch wieder normal.

Als ich auflege, atme ich auf: ein Problem weniger. Vielleicht kann ich ja jetzt wirklich ein bisschen Geld zur Seite legen für den Motorradführerschein.


Weil es mir keine Ruhe lässt, laufe ich am nächsten Tag die paar Querstraßen zur Berliner Stadtsparkasse in der Wilmersdorfer. Ich traue mich kaum auf den Kontoauszug zu schauen. Als ich es dann tue, falle ich fast um. Für einen Moment wird mir so schwindlig, dass ich mich an die Wand neben dem Automat lehnen muss. 5.000 DM! Krass. Ein Teil des Filmhonorars ist angekommen – endlich! Wurde auch verdammt nochmal Zeit. Nach dem ganzen Chaos hatte ich gar nicht mehr wirklich damit gerechnet, dass Michael überhaupt noch zahlt.

Szenarien laufen vor meinem inneren Auge ab. Mit der Kohle könnte ich sofort los. Die Idee zu Verreisen ist momentan der einzige Lichtblick in meinem grauen Alltag. Endlich wieder raus aus Berlin, auf eine richtig lange Reise. Andererseits geht es ja vielleicht bald nach New York.


6. Mai – Proberaum Tempelhofer Flughafen

„Ey, Jungs, es tut mir so leid.“ Axel sieht betrübt, nein, komplett niedergeschlagen aus, als er zur Tür herein schneit. Ich wappne mich für das Schlimmste. „Dat war alles `ne reine Verarsche. Die Typen von La Loora wollten euch wohl eins auswischen.“

Bela neben mir erstarrt. „Hä? La Loora?“

Ich hasse es, wenn jemand so geheimnisvoll um die Ecke kommt. „Jetz spuck`s schon aus.“

Axel tritt an meine Seite und legt mir einen Arm auf die Schulter. Jetzt ist klar, das seine Nachricht Erdbebenqualität hat. „Also, das mit New York, nee ... Split, ihr Sänger, hat mir das ja vor `n paar Tagen im Tempodrom erzählt mit dem Goethe-Institut.“

Mein Gehirn rattert mit Lichtgeschwindigkeit durch die Information und dann macht es klick und das Klick ist wie ein Haus, das einstürzt. In Zeitlupe.

„Dat war alles nur, weil sie euch eine Lektion erteilen wollten von wegen, dass ihr die neuen Überflieger seid und so.“

Es scheint immer noch nicht bei Bela durchgedrungen zu sein. Ungläubig schüttelt er den Kopf. „Was ist das denn für `n Scheiß. Woher haste denn jetz die Info?“

„Hab Split und den Schlagzeuger, Hoffmann oder so, gestern im Risiko getroffen ... Die haben nich gedacht, dass ihr da wirklich drauf reinfallt.“

Und nun klickt es endlich bei Bela. „... Ey, solche Pisser!“, explodiert er und ist augenblicklich auf 180. „Deswegen hat mich dieser Scheißdrummer vor `n paar Tagen so vor den Toiletten angerempelt und dann doof gegrinst. Mann, hätt ick dem eine mitgegeben, wenn ick dit gewusst hätte. Der kann wat erleben, wenn ick den dit nächste Mal seh. Wie heißt der Clown? Hoffmann? Was für `n Arsch.“

„Der Arsch besitzt zufällig dit Preussen-Tonstudio“, mischt sich Hans ein.

„Ja, und?“, faucht ihn Bela an, aber ich bekomme es nur noch so halb mit, lasse mich gegen die Wand hinter mir sinken.

„Jan? Jaaan?“ Auf einmal ist Belas Gesicht vor mir. „Allet okay mit dir?“ Er fährt mir mit der Hand über das Gesicht. „Du bist total blass.“

„Hrrrmm ...“, krächze ich heraus, weil ich irgendwie gerade keine Worte finde. Ich komme mir dumm, blöd und so unglaublich naiv vor, dass ...

Belas Hand wandert an meinem Brustkorb runter, als wollte er checken, ob ich noch ganz bin. Dann fasst er meine Hand und die Wärme seiner Finger tut gut.

Ich richte mich wieder auf, will die Kontrolle zurück, nicht zeigen, wie sehr es mich trifft. Nicht nur weil New York mir unter den Füßen weggezogen wurde. Gerade bin ich ein aufgeblasener Ballon, aus dem alle Luft entwichen ist, nur meine leere Hülle bleibt zurück. Mühsam drehe ich den Kopf zu Axel. „Ham se denn gesagt warum?“

„Nur, dass ihr halt nervt mit eurem Gehabe wegen dem Senatsrockwettbewerb.“

„Mann, dit is über `n Jahr her.“ Bela lässt meine Hand los, wandert ruhelos vor mir auf und ab, was mich komplett schwindelig macht, dann tritt er gegen den Verstärker. „Wat soll `n so der Scheiß?“

Ich bin zu schwach, ihn davon abzuhalten. Ist eh egal. Wir fahren nicht nach New York.

Ich versuche Luft zu holen, weil ich ersticke, an meiner Dummheit, an unserer Unfähigkeit, an Berlin. „Vielleicht sollten wir dit einfach komplett aufgeben mit der Musik ...“, murmel ich.

„Wat?“ Bela bleibt abrupt stehen. Seine Augen sind so weit aufgerissen, als er mich ansieht. „Spinnste? Jetz erst recht.“

„Ja, aber ... Wohin führt uns dit denn? Wir ham inzwischen sogar `n Plattenvertrag. Aber könn wa davon leben?“

Belas Mund steht offen, dann wendet er sich Hans zu. Das er das tut, ist wohl der größte Ausdruck seiner Hilflosigkeit.

Vielleicht ist das der Moment meine Zweifel auf den Tisch zu legen.

„Ick bin mir grad einfach nich sicher, ob wir dit hinkriegen ...“

„Hey.“ Bela greift wieder nach meiner Hand. „Reich und berühmt, dit war doch unser erklärtes Ziel“, grinst er mich an, aber selbst sein Grinsen ist gerade behutsam. Vorsichtig drückt er meine Hand, drückt sie so vorsichtig, als wäre ich aus Porzellan und vielleicht bin ich das auch gerade.

Ich muss nachdenken. Obwohl mir klar war, dass New York nicht fest war, diese Nachricht ...

„Ick ... Also, irgendwie bringt dit heut eh nüscht mehr.“ In Windeseile verstaue ich meine Gitarre in ihrem Koffer, kann nicht entscheiden, ob ich sie mitnehmen soll oder im Proberaum lassen. Ich lasse sie nie im Proberaum. Doch gerade beschwert sie mich einfach nur zusätzlich. Der ganze Raum fühlt sich auf einmal klaustrophobisch an, ganz Berlin.

„Ick ... Ick mach dann mal los.“

Bela sieht mich verwirrt an. „Okay. Ick komm mit.“

„Ähm, ick bin mit Ecky verabredet.“

„Echt?“ Er sieht auf seine Bugs-Bunny-Uhr. „Eigentlich läuft die Bandprobe doch bis um 8.“

„Ähm, ja, aber ... Er braucht grad ... also, ick hat dit janz vergessen.“

Er kauft es mir nicht ab, würde ich auch nicht, aber er sagt nichts, nur seine herunterhängenden Schultern sind sehr beredet.


U6 – Platz der Luftbrücke

Draußen ist die Luft kühl, aber die Sonne ist hervorgebrochen, strahlt den Columbiadamm hinunter, blendet mich.

Ich atme auf, will aufatmen, aber es klappt nur bedingt. Gerade ist die Anspannung in mir so extrem, dass ich das Gefühl habe, Funken zu sprühen. Alles ist so schwer und ernst und ich fühle mich eingesperrt von den Erwartungen – die der anderen, aber vor allem von meinen eigenen an mich. Ich kann es nicht abstellen und – etwas muss passieren und irgendwie weiß ich auch genau was, nur ...

Seit Monaten ruht ihre Telefonnummer in meiner Brieftasche wie ein versteckter Schatz.

Wieder atmen können.  

Ich gehe in eine Telefonzelle unten in der U-Bahnstation. Viel zu leise hier. Ich habe Angst, dass jemand mich hören kann.

Wieder fühlen können.  

Ich gehe wieder hoch, suche nach einer der gelben Telefonzellen und finde eine mitten an der riesigen Kreuzung. Autos schießen auf mich zu und ich gehe schnell hinein. Drinnen stinkt es nach Pisse und Zigarettenqualm, aber ich brauche das jetzt.

Ich werfe 30 Pfennig in den Schlitz, halte den Atem an.

Wieder frei sein.  

Es klingelt.

„Madame Manu. Mit wem habe ich das Vergnügen?" Allein schon wie sie es sagt, ist ein Versprechen, ein Versprechen nach Ausstieg aus dem Alltag, der Realität.

Eine Welle aus Erleichterung jagt durch mich – und Aufregung. „Äh, hallo. ... Hier ist Max. Wir haben, äh, vor ein paar Monaten mal miteinander gesprochen."

„Ah. Der noch sehr junge Mann?" Ich höre ein Lächeln in ihrer Stimme und mein Anruf, das was ich will, kommt mir nicht mehr ganz so absonderlich vor.

„Ja, genau."

„Schön, dass du dich wieder meldest. Wenn ich mich richtig erinnere, dann hattest du damals nicht genügend Geld, nicht wahr?"

„Ähm, ja.“ Immer diese Scheißkohle. „Aber jetzt – ... ähm, ... Also, ich hab jetzt ein bisschen Geld.“

„Und nun möchtetst du gerne vorbei kommen."

„Ja, falls das überhaupt so spontan geht."

„Mhm. Es scheint dir ja wirklich dringlich zu sein."

„... Irgendwie schon."

„Okay. ... Also, ich bin eigentlich morgen schon fest gebucht, aber ... Lass mich mal nachsehen.“ Der Hörer knallt dumpf auf eine Oberfläche, Schritte, die sich entfernen, Schritte, die sich wieder nähern. „Max? Also, wenn du in drei Tagen, am Freitag nachmittag für eine Stunde vorbei kommen willst, das würde gehen."


9. Mai – Schöneberg

Ich weiß nicht, was ich genau erwartet habe, aber ... Sie begrüßt mich in einem nachtblauen Morgenmantel aus Satin. Claires rote Haare hätten perfekt zu diesem gepasst, aber Madame Manu hat akkurat geschnittene schwarze. Sie ist schön auf eine dunkle Art, eine Art, die Bela gefallen würde.

„Hallo, Max! Schön, dass das doch noch geklappt hat. Ich hatte dich ...“ Sie sieht zu mir hoch. „... anders eingeschätzt.“

„Wie ... denn?“ Die Verunsicherung ist zurück.

„Du hast so eine helle, klare Stimme. Ich dachte, du würdest jünger aussehen.“

„Oh. ... Okay?“

„Entschuldige meine Vorurteile. Wir haben uns ja noch gar nicht kennengelernt. Madame Manu.“ Sie reicht mir elegant ihre Hand und für einen Moment habe ich das Gefühl, als sollte ich sie wie im 19. Jahrhundert küssen, komme mir dann aber albern vor. Außerdem erinnert es mich ungenehm an Suzi.

Schließlich gebe ich ihr die Hand. „Ja. ... Ähm, Max.“ Irgendwie habe ich auf Funken gehofft. aber da sind nur ihre schmalen Finger in meinen viel zu großen. Sie drückt angenehm kraftvoll zu und auch ohne Funken weiß ich, dass ich am richtigen Platz bin.

„Du kannst das Geld hier in den Umschlag legen.“

„Könnten Sie mir zeigen wo der ...?“

„Hier. Aber bitte, sag du zu mir.“

Umständlich ziehe ich zwei Fünfziger aus meiner Brieftasche, komme mir sehr unbeholfen dabei vor. „Okay.“ Ein ungewöhnliches Geschäft. Wenn Joachim wüsste, wofür ... Ein wenig – mehr als ein wenig – gefällt mir das Verbotene oder vielmehr Verruchte daran.

Sie führt mich in ein großes, abgedunkeltes Zimmer, dass eher den Namen Salon verdient. Nur ein paar gedämpfte Lichtquellen erleuchten das Dunkel. Alles ist edel eingerichtet. Nur das silberne Pentagram an der schwarzen Wand erzählt eine andere Geschichte. Bela würde es gefallen, aber mir jagt es einen Schauer über den Rücken und einen Moment bin ich nun doch unsicher, ob ich am richtigen Ort bin.

Dann entdecke ich die Bücher. Drei Regale, die bis zur Decke reichen und ich will vor ihnen niederknien. Andächtig trete ich näher als wäre es ein Altar und beginne die Titel zu lesen.

„Was möchtest du denn in deiner gebuchten Zeit machen, Max?“ Sie tritt hinter mich. „Lesen?“ Ihr Amüsement ist deutlich zu hören.

Gerade habe ich Canettis „Masse und Macht“ entdeckt. „Vielleicht.“

Sie stellt sich vor mich, bedenkt mich mit einem Lächeln, dass ich verdutzt erwidere. „Du bist süß.“

Ich sehe mich selbst eher als zu groß, vor allem mit einer zu großen Klappe, wobei - die ist mir hier gerade ein wenig abhanden gekommen.

„Mein ... Also, mein Problem ist, dass ich nicht weiß, was ich will.“

„ ... Okay. Das macht es ein wenig schwieriger, denn ich möchte dich nicht mit etwas unangenehm überraschen, aber ... Ich kann einfach ein paar Dinge ausprobieren. Wenn du etwas davon nicht magst, dann sagst du einfach „Alabama“.“

„Ala ... Wieso Alabama?“

„Wir können auch gerne ein anderes Safeword verwenden, aber es sollte keines sein, dass man auch einfach so benutzt.“

„Aha. ... Nee, Alabama is schon okay.“

„Hast du sowas schon mal gemacht?“

„Ja, ein paar Mal in London.“

„London?“

„Ja. Mit einem befreundeten Pärchen.“

„So, so. ... Das ist gut, dass du schon ein wenig Erfahrung hast.“ Sie lächelt wieder. „In nehme an, dass Pärchen war ein Mann und eine Frau.“

Ich nicke und vor meinem inneren Auge taucht Claires rotes Haar auf und Johns warme, dunkle Augen.

„In ein Pärchen kann ich mich leider nicht für dich verwandeln. Falls ich das fragen darf: Stehst du denn auch auf Typen?“

Ich nicke wieder und auf einmal ist Bela so präsent, als wäre er mit uns in diesem Raum.

„Auch damit kann ich nur in begrenztem Masse dienen, allerdings gibt es da schon Wege ... Traditionelle Dominas machen das nicht, aber ich biete auch sexuelle Dienste an.“ Sie öffnet einen Schrank und deutet auf einen Ledergurt, in den ein Dildo eingearbeitet ist.

„ ... Oooh. Äh, ... das ... habe ick noch nich gemacht ... bisher.“

Ihre Augen blitzen auf und ich mag den Hunger in ihnen, auch wenn er mir ein wenig Angst macht. Dieses Blitzen ist aufregend, zeigt mir, dass ich hier anscheinend nicht nur etwas kaufe, sondern dass es tatsächlich auch ein klein wenig Interesse von ihrer Seite an mir gibt. Oder bilde ich mir das nur ein? Ich möchte es nicht zerstören, in dem ich es zu sehr hinterfrage. Außerdem lauert hinter den Fragen auch noch diese schreckliche Nacht mit ...

„Vielleicht können wir mit was Einfachem anfangen“, unterbreche ich meinen Gedankenstrom.

„Natürlich. ... Aber falls du mal Lust hast, melde dich.“

„Ähm, ja. ... Also, ich war noch nie bei einer ...“

„Madame.“

„Mhm. Ick hab trotzdem so `n paar Bilder im Kopf und ... Das was wir machen, also eine ...“

„Session?“

„Okay, also, geht so eine Session auch ohne Erniedrigung? Das ... macht mich nämlich nicht so an.“

„Aha. Was hat dir denn gefallen bei deinem Pärchen?“

„Wir haben mit Seilen gespielt und mit Fesseln, an den Haaren gezogen werden, fand ich auch gut.“ Ich versuche in Worte zu fassen, was mich daran reizt, was ich brauche. „Es ist so ein gelenkt werden, so dass ich ... loslasse, loslassen kann.“

„Dich fallen lassen.“

Ich nicke. „Ja. ... Ick will aber nich angeschrien werden oder ... Befehle ausführen wie an Schuhen lecken oder so.“

Sie lacht. Ein echtes Lachen. „Gut zu wissen. Magst du Schmerzen?“

„Ja, bitte“, entkommt es mir, bevor ich wirklich rational darüber nachgedacht habe.

„Okay. Hast du noch weitere Wünsche? Oder Fragen?“

Ich schüttel den Kopf.

„Du kannst auch währenddessen fragen, auch wenn das das Spiel unterbricht. Immer, okay?“

Ich nicke.

„Gut, dann weise ich dich erstmal in meine Spielregeln ein, denn trotz meiner sexuellen Offenheit gibt es davon ein paar und sie sind wichtig.“ Sie wartet bis ich sie ansehe, bevor sie fortfährt. „Also: nur ich fasse dich an. Du kannst mich nicht anfassen. Verstanden?“

Es ist ein wenig schade, aber ich hatte mir sowas schon gedacht. „Okay. Madame Manu.“

„Gut, dann wollen wir mal sehen.“ Sie kommt zu mir hinüber, lässt ihre Hände über mein Shirt gleiten. „Ich würde dir wirklich gerne das T-Shirt vom Leib reißen.“

Dieses Mal schrecke ich wirklich heftig zusammen.

„Aber deine Reaktion deutet darauf hin, dass du an ihm hängst.“ Sie streicht über meine Brust, über den Schriftzug. „Bauhaus.“ Sie lächelt. „Gute Band. Vor allem live.“

In mir kommt kurz das Bedürfnis hoch mit ihr über Konzerte zu reden, aber dafür bin ich nicht hier.

Sie streicht nochmal über mein T-Shirt. „Runter damit!“

Unter ihrem sehr aufmerksamen Blick ziehe ich es mir über den Kopf und stehe auf einmal halbnackt in diesem großen, dunklen Raum.

„Mhmmm.“ Ihre Finger gleiten über meine Brust und meine Brustwarzen reagieren augenblicklich auf ihre Berührung.

„Glatt. Gefällt mir.“ Sie fährt mit ihren dunkelroten Nägeln über meinen Bauch zu meiner Gürtelschnalle, öffnet sie mit einem metallischen Klirren. Adrenalin schießt durch mich, als sie den Gürtel aus meiner Hose zieht.

Sie streicht über meine Schultern und ich entspanne mich wieder. „War das ein gutes Zusammenzucken?“ fragt sie behutsam.

„Ich bin mir nicht sicher.“ Doch. Obwohl ich mich gerade viel zu unsicher und verletzlich fühle, weiß ich doch, spüre ich mit jeder Faser meines Seins, dass es genau das ist, was ich will - brauche.

„Du hast schöne Hände, Max. Wirklich schöne Hände. Streck sie aus. ... Ja, genau so.“

Sie schlägt mit dem Gürtelende auf meine Finger.

„Mhmmm“, stöhne ich auf. Der Schlag ist nur leicht, zieht trotzdem durch meinen ganzen Körper, wild und ungezähmt. Jede Synapse empfängt den Schmerz, befeuert ihn und sendet ihn weiter. Die Welle steigt und bricht und die Entspannung , die dem Schlag folgt, geht genauso tief wie die Anspannung zuvor. Mein ganzer Körper seufzt auf.

„Hände auf den Rücken!" Madame Manu tritt hinter mich, fasst meine Handgelenke, zuerst behutsam, dann fester und zieht meine Arme auf meinen Rücken bis sie angenehm gespannt sind, sie mich komplett im Griff hat. Wieder der Adrenalinsturm, aber jetzt eindeutig elektrisierter.

Warmes Leder legt sich um meine Handgelenke, als ob es lebendig wäre. Madame Manu zieht den Gürtel zu und mir stockt der Atem, weil ... Ich versuche, meine Hände zu bewegen. Keine Chance. Ein Moment wilder Panik, dann spüre ich ihre Hände auf meinen Schultern, ein sanftes Streicheln, dass mich zurück holt.

Das Spiel mit den Fesseln wiederholt sich mehrere Male, aber das erste Mal war am intensivsten und ich möchte ...

„Madame Manu? ... Ich brauche mehr.“

„Was mehr?“ Sie hebt mein Kinn mit ihrer Hand an. Ihr Blick liegt fast zu aufmerksam auf mir.

Wenn ich das nur wüsste. „Ich brauche mehr ... Ich brauche es ... härter.“

Sie öffnet den schwarzen Schrank, kehrt mit einer Peitsche zurück.

Ich zucke zurück. „Was ...?“

„Das ist eine südafrikanische Sjambok. Auf Swahili wird sie auch Kiboko genannt, in Deutschland Nilpferdpeitsche.“

Ich erschaudere unangenehm als ich die Peitsche in ihrer Hand sehe, auch wenn die unbekannten Namen Sehnsucht in mir auslösen. Diese feste Gerte tut es nicht.

„Keine Angst, sie ist nicht wirklich aus Nilpferdhaut gemacht, sondern es ist ein Plastikimitat.“

„Ähm, vielleicht nicht ganz so hart.“

„In Ordnung.“ Sie sieht mich an, ernst und da ist er wieder diese Vibrieren in mir, das mir sagt, dass das hier mehr ist als nur ...

„Ich würde gerne etwas anderes an dir ausprobieren. Der Gürtel vorhin ...“

Sie holt einen langen Schwarzen aus dem Schrank, lässt ihn in ihre Handfläche knallen.

Ich zucke wieder zusammen.  

„Du kannst jederzeit „Stop!“ sagen, wenn es dir zu viel ist. Und „Alabama“, wenn alles zu viel ist. Okay?“

Sie umkreist mich. Ich warte auf den Knall. Als er endlich kommt, zündet er wie Feuerwerk auf meiner Haut, obwohl sie nur ganz leicht gegen meinen Oberarm schlägt. Dennoch verspannt sich alles in mir.

„Sieh mich an!“ Ich blicke in warme Augen, umarme den Schmerz, lasse ihn durch meinen Körper laufen, sich mit den anderen Schmerzen verbinden, die ...

Ich atme so tief aus, dass es ein langer Seufzer wird. Katharsis.

Es ist merkwürdig, wie sehr ich ihr vertraue. Vielleicht weil so klar ist, dass sie weiß, was sie tut, weil es zwischen uns eine klare Abmachung gibt, keine komplizierten Emotionen.

Sie arbeitet weiter auf meiner Haut, geschickt wie eine Künstlerin. Schließlich holt sie ein Seil und es ist so rauh an meinem nackten Oberkörper, auf meiner geschlagenen Haut, an meinen Armen, der Schmerz umso süßer.

„Ich probiere noch eine Sache aus, okay? Dann ist unsere Zeit vorbei. Du kannst es jederzeit abbrechen, Max. ... Oder du kannst dich fallen lassen.“ Sie streicht über meine Arme. Dieses Vergehen in absoluter Hilflosigkeit ...

Ihre Hände wandern an meinem Hals, dann drückt sie zu. Atmen ist nur noch ganz flach möglich. Ich hätte niemals formulieren können, habe nicht einmal gewußt, dass ich es will, dass ich das brauche, aber sie scheint es instinktiv zu wissen.

Durch den Sauerstoffmangel wird alles noch intensiver und ich kann nicht mehr dagegen arbeiten, muss aufgeben und falle, falle tiefer in die Trance, tauche erst wieder auf, als sie mich sanft am Kopf streichelt.

Sie ist wie eine dunkle Fee, die erschienen ist, um mir meine geheimen Wünsche zu erfüllen, die auf die Stellen schlägt, die weh tun, damit ... Hier in ihrer dunklen Wohnung, ihrer Gruft, ihrem Verlies, vergeht die Zeit anders. Es könnten Stunden gewesen sein. Oder Jahre.

„Danke, Max, für dein Vertrauen. Es war sehr schön mit dir zu spielen.“ Sie löst die Fesseln, den Gürtel.

Das Wiederauftauchen ist hart, aber die Stunde ist rum und es ist klar, dass ich gehen muss.

Mit John und Claire habe ich danach in einem Bett gelegen. Sie haben es „afterglow“ genannt und es war fast so gut wie das eigentliche ...

Aber hier ist der Deal, dass man nach Stunden zahlt und es ist genau richtig. Würde ich mir wünschen, dass ich das mit jemandem machen könnte, den oder die ich kenne? Die Antwort zögert in mir. Nein. Gerade will ich nicht mehr als dieses klare Abkommen mit einem Profi.  

Ich schlüpfe in mein T-Shirt. Meinen Oberkörper, meine Oberarme zieren unzählige rote Striemen und ich muss die kurzen Ärmel ein gutes Stück nach unten ziehen. So kann ich Bela heute unmöglich unter die Augen kommen ohne das erklären zu müssen. Am besten einfach einen Pulli überziehen, auch wenn es 25 ° C herrschen. 

Ich schnüre meine Schuhe zu. „Warst du mal in Südafrika?“ Ich sehe zu ihr auf.

Sie blickt belustigt auf mich hinunter. „Die Frage kommt ein wenig unerwartet.“

„Ick meinte nur wegen der Sjambok.“

„Oh. ... Nein, leider nicht. Mich zieht es eher in Richtung Osteuropa. Und Asien.“

„Schade.“

„Wieso schade?“

„Ick ... ach, ich weiß auch nich, aber ...“

„Ja?“

„Mich zieht`s gerade irgendwie voll nach Afrika. Is schwer zu beschreiben.“

Sie legt den Kopf ein wenig schief und sieht mich sehr aufmerksam an. „Hört sich nach einem wichtigen Traum an.“

Ich nicke. „Is es. Irgendwie muss ick grad raus aus Berlin!“

„Mhm. Kann ich verstehen. Ich bin eigentlich aus einem echt kleinen Dorf an der Ostsee.“

„Oh. Woher denn?“

„Tut mir leid, aber ... das möchte ich nicht verraten.“

„Oh. Entschuldige. Dit war nur, weil meine Oma wohnt auch an der Ostsee.“

„Schön. ...“ Sie zögert einen Moment, aber dann fragt sie doch nicht. „Für mich war Berlin meine Zuflucht – mein Traum. Aber ich kann schon auch verstehen, dass es einen hier einengen kann. Die Mauer macht mich auch manchmal leicht klaustrophobisch.“ Sie öffnet die Tür. „Ich würde mich freuen, wenn du mal wieder kommst. Vielleicht nach deiner Afrikareise.“

„Vielleicht." Auf einmal ist mein altes, breites Grinsen zurück und sie beantwortet es. Für einen Moment fällt ihre Rolle von ihr ab und ich sehe die Frau, die sie darunter ist. Mein Grinsen wird noch breiter und auch ihr Lächeln.

„Du gefällst mir. Ich unterhalte mich selten mit meinen Kunden – oder Kundinnen – über andere Themen. Ich würde mich wirklich freuen, wenn das mit uns etwas reguläres wird.“

„Ich mich auch. Ick muss nur schauen, wegen ...“

„Wegen dem Geld, hm?“

„Auch. Und ... ick würde wirklich gerne für ein paar Monate abhauen.“

„Ich hoffe, du kannst dir deine Wünsche erfüllen. So wie diesen hier.“

„Danke.“ Ich will, dass sie versteht, wie ernst ich das meine.

„Darf ich dich zum Abschied umarmen?“

Ich nicke und ihre Arme schließen sich warm und fest, um mich. Nach allem, was in der letzten Stunde zwischen uns passiert ist, ist diese Umarmung um so schöner, berührt mich so tief wie ihre Schläge.


12. Mai – Sound

Zwei Tage später wirkt die Session bei Madame Manu immer noch nach. Ein Summen in meinem Körper, ein lebendiges Flüstern, dass mich herausfordert und verlangt – nach allem. Und Bela.

Deswegen verstecke ich „Die Geschichte der O.“ unter meiner Matratze und gehe mit Bela in diesen verräucherten, brüllend lauten Laden

Künstliche Nebelschwaden trennen uns vom Rest der Feierenden, als wir uns an den Rand der Tanzfläche stellen, und es ist so intim, dass ich mich zu ihm hinunter beuge und ihn küsse. Als ich mich von ihm trenne, sieht er mich erstaunt an.

„Dit is ja ma janz wat neuet.“ Sein Blick wird weich. „Könnt ick mich dran gewöhnen. Wir könnten uns och in dieses schicke kleine Kino zurück ziehen und ...“ Bela streift über den Schritt meiner Jeans und mein Körper reagiert. Ich ziehe ihn in die dunkelste Ecke, schiebe ihn gegen die Wand und stütze mich mit beiden Händen über ihm ab.

„Hey, ihr beiden.“

Schnell gehe ich wieder auf Abstand. Eine junge Frau sieht uns sehr neugierig an. „Seid ihr nich die ärzte?“

„Nein. Wäre cool, aber – nee. Da musste uns mit jemandem verwechseln.“ Es ist fast beänstigend wie einfach Bela diese Lüge über die Lippen kommt, aber sie rettet uns.

Die Frau wirft uns noch einen letzten prüfenden Blick zu, dann zuckt sie mit den Schultern und verschwindet.

Endlich stellt der DJ die Nebelmaschine ab. Leider taucht dafür aber auch der Raum mit den vielen Menschen wieder um uns herum auf.  

Bela wendet sich wieder mir zu. „Ey, ick würd sagen, wir sollten doch in dit kleene Kino. Ick geh ma schnell pissen und dann ...“ Er blickt wirklich sehr wenig subtil auf meinen Schritt und sogar in diesem diffus blinkenden Discolicht ist mein Zustand ziemlich eindeutig, aber ...

Bela leckt sich über die Lippen. „Keene Widerrede. Dit wär jetz wirklich `ne Lüge, wenn de nein sachst.“ Er küsst mich nochmal, jetzt nicht mehr verdeckt von den Schwaden, dann ist er weg.

Ich folge ihm mit den Augen so gut ich kann auf seinem Weg. Mein Blick bleibt auf ihn geheftet, auf seinen Rücken, der sich tänzelnd von mir entfernt. Auf einmal ändert sich mein Blick auf ihn. Ich sehe ich ihn so, als würden wir uns nicht kennen. Er verwandelt sich vor meinen Augen in einen Fremden, ein Mysterium, dann schließt sich die Toilettentür hinter ihm. 

Bin ich gerade auch so rätselhaft für ihn? ... Der Gedanke bleibt unfertig in mir kleben, denn schon ist er wieder zurück – auf dem Weg zu mir.  Ich hoffe echt, dass ich dieses langsame Auseinander driften bekämpfen kann, in dem ich zum Beispiel mal wieder in verräucherte, laute Discos gehe.

Die Tür öffnet sich wieder und Bela tritt heraus. Selbst in seinen schwarzen Klamotten überstrahlt er die anderen Leute. Keine Ahnung, wie er das macht. Er guckt zu mir hinüber und wenn ich mich nicht täusche, hat er mir gerade zugeblinzelt. 

Ein paar Meter von mir entfernt, hält ihn auf einmal eine Hand auf. Suzi. Die beiden umarmen sich fest, ein Kuss auf den Mund, der sticht und mich auch ein wenig anekelt.

Bela deutet in meine Richtung und geht weiter. Ich will schon aufatmen, aber diese Suzi hängt sich an ihn und er – scheint es zu genießen.

Ich komme mir wie ein schlechter Privatdetektiv aus einem Film Noir vor, wie ich ihn, die beiden beobachte. Fehlt nur noch, dass ich mich hinter einer Zeitung verstecke. Leider bin ich emotional viel involvierter als ein Detektiv.

Eine Gruppe von drei Leuten gesellt sich zu den beiden. Ich kenne sie nicht. Einer zieht Bela an sich und flüstert ihm was ins Ohr. Ich mag seine Ausstrahlung nicht. Alle drei wirken total unter Strom und nervös. Bela schüttelt den Kopf. Das Flüsterspiel wiederholt sich und auf einmal nickt Bela. Ein kleiner durchsichtiger Beutel mit weißem Inhalt wandert von der Hand des Flüsterers in Belas. Bela beugt sich hinunter über einen Tisch ...

Ohne das ich darüber nachgedacht habe, tragen mich meine Füße hinüber zu der kleinen Gruppe.

Ich stehe genau vor Bela, als er wieder hochkommt. Klar weiß ich, dass er das macht, aber es zu sehen ...

„Jan?" Ich kann im blitzenden Stroboskoplicht meinen Namen auf seinen Lippen lesen – und etwas das wie ertappt sein durch seinen Blick blitzt. Er kommt einen Schritt auf mich zu.

Mein Unmut muss mir wohl ins Gesicht geschrieben stehen, denn er kommt noch einen Schritt näher, greift nach meinem Ärmel, aber ich weiche zurück.

Blut läuft aus seiner Nase.

Als er meinen entsetzten Blick bemerkt, fährt er sich über das Gesicht, sieht dann auf seine Hand. Das Blut ist nun auch auf seiner Wange verschmiert. „Hey, Jan. Is alles okay, ... , wirklich ...

Mein Herz rast und ich kann nicht hören, was er sagt, spüre nur jeden einzelnen Blick der anderen vier auf mir. „Find ick nich.“

„Dit is nur ...“

Er streckt seine Hand nach mir aus, wir blicken beide auf das Blut darauf, dass im Stroboskoplicht als dunkle Flecken von seiner weißen Haut leuchtet. Er lässt sie wieder sinken, weicht einen Schritt zurück, vielleicht weil er selbst merkt, dass nichts in Ordnung ist.

Mir wird kalt und das zeigt sich vermutlich auch in meinem Blick, der eisig auf ihm liegt, obwohl sich mein Kopf anfühlt wie ein zu heiß gelaufener Motor.

Schlagartig ist mir alles zu viel. Der Qualm sticht mir in den Augen, in die Lungen und ich habe das Gefühl nicht mehr atmen zu können. Ich wollte gar nicht hier sein. Es ist als würden die Wände näher rücken. Ich brauche Luft, stürze durch die Leute nach draußen.

Bela läuft hinter mir her. Ich höre seine Worte nur ganz dumpf durch das Rauschen in meinen Ohren. „Jan, warte ... ... kann dit erklären."

Ich komme mir so dumm vor. Ja, wir driften auseinander, aber – allein kann ich uns ja schlecht zusammenhalten. Er will das Zeug und anscheinend will er es mehr als mich.

Die Erkenntnis brüllt mich an, tobt und brennt in mir wie ein Flächenbrand.

Ich eile an den Türstehern vorbei, quetsche mich durch die wartenden Leute, die rein wollen und stehe auf einmal schwer atmend wieder draußen in der milden Nacht. Es riecht nach Sommer.

Ich wende mich nach links, eile zu meinem Fahrrad, schließe es los, sehe, wie Bela nach mir Ausschau hält. Aus seiner Nase tropft immer noch Blut und ich will ihn retten - vor ihm selbst – und ich will abhauen vor ihm.

Ich werfe ihm einen letzten Blick zu, er hebt die Hand, kommt auf mich zu, aber ich steige auf mein Fahrrad und trete in die Pedale.

Ich komme nicht klar.
Etwas muss passieren.
Ich. Muss. Loslassen.

Lass – los, Jan.

Jetzt ...

Ich brettere den ganzen Weg zurück durch das dunkle Berlin. Körperlich müde und emotional erschöpft komme ich in der Niebuhrstraße an. Eigentlich will ich nicht hier sein, aber jetzt nochmal los zu Ecky oder nach Frohnau ...

Mit einem resignierten Seufzer lass ich mich auf meine Matratze fallen, springe kurze Zeit später wieder auf. Eine physische Unruhe hat von mir Besitz ergriffen. Vielleicht hätte ich auf dem Fahrrad einfach immer weiter fahren sollen – bis an diese Scheiß-Mauer.

Das Stroboskob beleuchtete Blut auf Belas weißer Haut ... Ich finde nicht den Schalter, um die Bilder aus meinem Kopf zu bannen. Alles in mir kribbelt unangenehm, schlimmer als letzte Woche. Eigentlich hatte der Besuch bei Madame Manu für eine angenehme mentale Ruhe in mir gesorgt, aber das eben ...

Wenn du nicht hier gewesen wärst, dann hättest du das gar nicht gesehen, flüstert eine Stimme in mir. Warum bist du immer noch hier? Wolltest du nicht nach Afrika?

Schon wieder reagiert mein Körper vor meinem Verstand. Aus einem Impuls heraus hole ich meinen abgeliebten roten Reiserucksack aus seinem Versteck hinter dem Staubsauger. Als wäre ich auf der Flucht schmeiße ich alles hinein, was ich finden kann, dann hebe ihn hoch - mit Mühe, so vollgestopft wie er ist.

Mit Schwung leere ich ihn wieder aus, so dass sich eine Stofflawine auf den schmalen Weg zwischen Bett und Schreibtisch ergießt. Eigentlich bin ich kein naiver Reiseanfänger mehr, aber ein seltsames Sicherheitsbedürfnis hat mir wohl gerade gesagt, dass ich ...

Ich sortiere den Haufen aus Stoff in: „muss mit“ und „nicht so notwendig“, lege die Sachen zusammen und verstaue sie fein säuberlich im Rucksack. Allein das Packen löst diese fürchterliche Anspannung in mir, verwandelt sie in glänzendes Reiseadrenalin. Sonne über dem Mittelmeer, die heiß auf meine Haut scheint, Zikaden singen und alles ist durchströmt vom wilden Geruch der Maccia.  

Ein Geräusch. Die Wohnungstür wird aufgestoßen und eine Sekunde später steht Bela im Flur. Sein Gesicht ist immer noch voller blutroter Flecken. Schweißtropfen laufen wie rote Tränen herunter. Vollkommen außer Atem hält er sich am Türstock fest.

„Jan, hey, es tut mir le...“ Schlagartig setzt sein Atem aus. „Was ...?“ Er verstummt, starrt auf den Rucksack in meiner Hand. Seine Augen sind so voller Angst, dass ich sagen will, dass das alles ein Missverständnis ist, aber ... Ist es das?

Belas Augen füllen sich mit Tränen. Er wendet sich ab, aber ich habe sie schon gesehen. Seine Schultern sinken so niedergeschlagen nach unten, dass ...

Ein neuer Impuls, er trägt mich zu Bela. Ich halte ihn an der Schulter zurück, drehe ihn zu mir.

Vergessen ist das Pulver und seine morbiden Freund*innen, hier in der Niebuhrstraße gibt es nur ihn und mich.

„Bela ...“ Ich kann nur flüstern, weil alles andere zu laut und aufdringlich ist. Auf einmal durchfließt mich eine so allumfassende Zuneigung zu diesem dünnen Kerl, dass ... Ich schmieg mich an ihn.

Er rutscht ein Stück von mir weg. „Is ... is ... schon okay.“ Er winkt niedergeschlagen ab und wendet sich zum Gehen. „Reisende soll man nich aufhalten, ne.“

„Es tut mir leid, aber ...“ Ich muss schlucken und hoffe, dass er es nicht falsch versteht.

„Aber ... du hältst mich nicht mehr aus“, murmelt er.

Vorsichtig ziehe ich ihn an mich und er lässt es geschehen. „Bela ... Dit ... hat nich nur mit dir zu tun, okay? Ick bin seit Wochen schon total ... Ick muss ma wieder weg.“

Er entzieht sich meiner Umarmung, hebt langsam seinen Kopf und sieht mich an. „Schade.“

„Mhm.“

„Und du willst sofort los? Morgen schon?“

„Wäre es anders, wenn ich erst übermorgen fahre?“

Er überlegt, schüttelt dann den Kopf.

„Wärste morgen einfach abgehauen, wenn ick dir jetz nich hinterher gefahren wäre.“

Die Wahrheit. „... ... ... Wahrscheinlich.“

„Du bist auch oft `n ganz schöner Arsch. Dit weißte, oder?“

Mein Körper, mein Geist wird hart, dann atme ich durch. „Vielleicht. Aber ... ick fühl mich einfach irgendwie nich wohl grad hier.“

„In der WG?“

„Auch.“

„Immer noch wegen ihr?“ Er greift nach meiner Hand, aber auch da ist immer noch Blut. Bela geht hinüber ins Bad, wäscht sich die Hände. Das Wasser färbt sich rosa. Er blickt in den Spiegel entdeckt das Blut in seinem Gesicht, schrickt zurück. „Shit. Das sieht echt krass aus.“ Seine Augen funkeln. Gefällt ihm was er sieht oder ist das das weiße Pulver?

Schließlich reißt er sich von seinem Spiegelbild los und wäscht sich das Gesicht. Noch mehr von seinem Blut fließt hinunter in die Berliner Kanalisation. Er trocknet sich ab und sieht fast wieder normal aus – bis auf das unnatürliche Glänzen in seinen Augen und ich weiß nicht wieviel das Pulver ist und wieviel davon ich.

„Tut mir echt leid. Dit war allet nich so geplant heut abend.“

Ich kann den Seufzer nicht unterdrücken. „Bei mir och nich. Aber ... Ick weiß schon, warum ick meistens lieber zu hause bleib.“

Er tritt langsam auf mich zu. „Ick fand`s echt schön, dass de mitgekommen bis“, sagt er leise und blickt vorsichtig zu mir auf, als würde er noch mehr harsche Worte meinerseits erwarten, aber als ich in seine Augen blicke, ist da wieder nur diese verhängnisvolle Zuneigung zu ihm.

„Findste mich wirklich so schlimm?“ Da ist so viel Angst in seiner Stimme.

„Ick find nich dich schlimm, okay? Aber ick mag speziell dit halt nich. ... Also, klar sollste tun und lassen können, was de willst, aber ick will da halt nich zu gucken.“

„Dit ... haste nie so klar gesacht.“ Er senkt den Kopf, sieht dann wieder hoch und nickt. „Tut mir leid.“ Sein Blick liegt auf einmal extrem nüchtern auf mir – aber auch sehr viel desillusionierter.

„Ick wollt dich nich einschränken. Bin ja nich deine Alten.“ Es soll witzig sein, aber ...

Schweigen.

Schließlich deutet er auf meinen Rucksack. „... Und du? Du willst wirklich weg?“

„Irgendwie halt ick Berlin grad nich so jut aus. Deswegen ...“

„Und ich?“ Es klingt so kläglich.

„Du ... du hast doch genügend Leute.“ Ich vermeide den Namen Suzi, aber kann die Bitterkeit nicht aus meiner Stimme halten.

„Mann, Jan“, braust er auf einmal auf.

„Is doch so“, erwidere ich kühl.

Er schnaubt, dann sinken seine Schultern nach unten und er blickt zu mir hoch. Sein Blick ist nun so leidenschaftslos, dass ich mir das Funkeln zurückwünsche. „Willste jetz wirklich streiten, wenn de morgen gehst.“

Ich beiße mir auf die Lippen, auf denen ich noch mehr böse Worte schmecken kann, schlucke sie runter, schüttel dann den Kopf.

Er lächelt mich vorsichtig an und ein gewaltiges Gefühl explodiert in meiner Brust, weil da auf einmal so viel Sehnsucht ist – nach ihm. Nichts ist wirklich geklärt, aber ...

„Bela?“

Vorsichtig sieht er zu mir auf.

„Bleib. Bitte bleib heute nacht bei mir.“

Jetzt funkeln seine Augen doch wieder und es ist das Warme, dass ich so an ihm liebe.

Sanft schließe ich meine Zimmertür und schalte das Licht aus.

„Warum ...?“

„Weil ...“

Atemlos stehen wir einander im Dunklen gegenüber.

„Letzte Nacht miteinander?“ Seine Augen glänzen ein wenig im Schein der Straßenlampe, wandern zwischen meinen Hin und Her, als ob er etwas sucht.

„Mhm.“

Er schluckt, wendet sein Gesicht ab und wischt sich über die Wangen.

Behutsam streiche ich eine seiner wilden Strähnen hinter sein Ohr, küsse ihn auf die Stirn. „Ick ...“ Meine Finger am Reißverschluß seiner Lederjacke. „Is dit okay.“

Er nickt und ich ziehe seine Jacke auf, streife sie von seinen Armen. Es ist, als würde ich ihn aus einem schützenden Kokon holen.

Mit Bedacht lege ich die Jacke auf den Boden, schließe meine Arme um ihn und drücke ihn vorsichtig an mich. Sein dünner Körper verhärtet sich gegen meinen. Ich streiche über seinen Rücken, über die Rippen, die unter dem schwarzen Hemd deutlich spürbar sind, über seine Wange, seine Haut feucht unter meinen Fingerspitzen und ein scharfer Schmerz zieht durch meinen Brustkorb.

„Bela?“ Ich streichel über seinen Kopf, durch die zerzausten Haare.

„Mhm?“ Er klingt so ...

„Ick würd dir gern ... nah sein ... heut nacht.“ Ich fange seinen Blick ein.

„Mhm?“ Seine Augen glänzen immer noch viel zu viel, aber er weicht meinen nicht aus.

Ich habe ihn immer bewundert, wie er es schafft sich so zu zeigen, sich mit all seinen Gefühlen so verletzlich zu machen. Es erscheint mir unmöglich, unerreichbar, aber ich will ihn sehen lassen, was ...


Meine Finger wandern an den obersten Knopf seines Hemds, öffnen ihn, wandern weiter bis ich das Hemd schließlich von seinen Schultern streifen kann. Sein Oberkörper strahlt hell in das Dunkel um uns. Ich fahre über sein Schlüsselbein, über das Kreuz mit der Schlange, fühle wie sich sein Brustkorb unter meinen Fingern schneller hebt und senkt.

Er stellt sich auf die Zehenspitzen. Unsere Gesichter sind nun auf gleicher Höhe. Er streicht mir über das Gesicht, ganz langsam. „Ach, Mann, Jan“, flüstert er. Unverwandt sieht er mir in die Augen. Sein Blick immer noch so ungewohnt ernst, aber da ist auch Wärme und Begehren glimmt darin wie Glut in einem heruntergebrannten Feuer.

Er zieht meinen Kopf zu sich hinunter und küsst mich mit einem tiefen Seufzer. Sein Mund - so warm und traurig an meinem.

„Was ist das nur mit uns?“, murmel ich ein wenig überfordert, vergrabe meine Hände in den weichen Härchen in seinem Nacken.

„Ick lieb dich, du Trottel“, flüstert er an meinen Lippen. „Vielleicht wirkt dit nich immer so, aber ...“ Sein Kuss wird stürmischer. Er schiebt sich gegen mich und sein schmaler Körper ist so heiß an meinem.

Ich fasse mit meinen langen Armen um ihn und ziehe ihn so fest an mich, dass er einen Abdruck auf meiner Haut, in mir hinterlassen muss. Oder wir verschmelzen. Langsam schiebe ich ihn rückwärts.

Bela erschaudert, als die kalte Wand uns stoppt. Ich presse mich fest an ihn, fasse dann seine Schultern und drehe uns.

„Was ...?“

„Kannst du ...?“  Ich nehme seine Hand und lege sie an meine Hüfte, bin zu schüchtern, obwohl ich sie gerne an meinem Hintern hätte.

„Kannst du ...?“ Die ganzen Monate habe ich mit dem Gedanken gekämpft, ihn mehr aus so einer Art seltsamen Gerechtigkeitssinn verfolgt, habe mir Infos geholt und es dann doch wieder verworfen – bis jetzt.

„Ich möchte ...“ Ich weiß nicht, wie ich das sagen soll, was ich auf einmal so unbedingt von ihm will. Ich warte bis er mich wirklich ansieht, beuge mich ganz nah an sein Ohr, lecke darüber und höre ihn hart die Luft einziehen. „Schlaf mit mir."

Sein Blick ist verwirrt, dann weiten sich seine Augen. „Mit dir ...? Jetzt?“ Es klingt fast entsetzt. Er schiebt sich ein Stück von mir weg und das ist definitiv nicht der Effekt, den ich mir davon versprochen habe.

„Ja.“ Ich erwidere seinen Blick ohne die Augen zu senken, auch wenn es mir schwer fällt.

Langsam, ganz langsam, wird sein Körper weich und er sinkt wieder gegen mich. „Willste dit ... wirklich?“

Ich schmiege mich an seinen Hals und beginne die zarte Haut unter seinem Ohr zu küssen, küsse mich über seine Wange, an seine Schläfe, küsse seine Wimpern, seine Nasenspitze ...

Als unsere Lippen wieder aufeinander .treffen, spür ich zum ersten Mal seit Wochen wie echtes, reines Begehren in mir hochsteigt. Wir haben zwar ein paar Mal miteinander geschlafen nach dem 1. März, aber ich war nie wirklich bei der Sache und Bela mit seinen feinen Antennen hat es wahrscheinlich auch gespürt und mich danach in Ruhe gelassen.

Doch jetzt brennt die Luft zwischen uns. Heiß. Mir ist fürchterlich heiß. Fiebrig knöpfe ich mein Hemd auf.

Seine Augen liegen im Schein der Straßenlaterne so eindringlich auf mir, als würde er mich berühren. Er streckt sich. Seine Hand - fest und hart in meinem Nacken. Ich vergesse zu atmen, hole dann tief Luft und ziehe Bela mit einem Ruck hinüber zu meiner Matratze, auf meinen Schoss, höre sein Keuchen. Meine Hände an seinem Gesicht. Ich drehe seinen Kopf, wie ich ihn will und Bela öffnet seinen Mund für mich.

Blut schießt durch meinen Körper, hart und schnell. „Ich will dich spüren“, keuche ich.

„O-okay." Er wirkt fast ein wenig überfordert, aber ich will ihn.

Er befreit mich von meiner Jeans, allem.

„Was ...?“ Er deutet auf etwas an meinen Rippen. „Was `n das?“

Ich schiele an die Stelle, aber sie ist so weit an meiner Seite, dass ich sie kaum sehen kann.

„Dit sieht fast aus, als hätt dich jemand verprügelt.“

Mir wird kalt. Ich dachte, es wäre alles wieder weg.

„Hab mich nur gestoßen, irgendwo ...“

Er runzelt die Stirn. „ ... Okay. Wirkt fast wie `n Abdruck von `nem ...“

Diese Scheißgeheimnisse, aber ... Schnell ziehe ich hinter mir die Schublade auf und drücke ihm die Flasche mit Gleitgel in die Hand.

Er sieht sie irritiert an, stellt sie dann neben das Bett. „Wir ham Zeit, Jan. Also, ... “ Er beißt sich leicht auf die Lippen, sieht mich dann nochmal an. „Zumindest bis morgen früh.“

„Biste dir wirklich sicher, dass ...?“

Ich kann die Fragen in seinem Gesicht lesen, beide - die wegen der Reise und die wegen meiner Idee, aber es gibt auf beide nur eine Antwort: „Ja.“

„Okay.“ Er legt sich auf die Matratze und zieht mich zu sich hinunter, beginnt mich zu küssen, langsam und intensiv, so dass alles um mich herum verschwimmt, es nur noch ihn gibt – uns.

Alles ist so konzentriert, fast zu viel und genau richtig um mich hineinfallen zu lassne. Ich beuge mich ihm entgegen, will mehr, aber er drückt mich zurück auf die Matratze, legt sich auf mich.  

Alle meine Sinne laufen auf Hochtouren, aber ich bin nur zur Hälfte in meinem eigenen Körper. Meine andere Hälfte ist bei ihm, im Echo zwischen uns.

Seine Hände glühen auf meiner Haut, die eine Spur aus Funken darunter hinterlassen. Er hört nicht auf mich zu streicheln, über meine Haare, mein Gesicht, lässt mich versinken in Wärme und ich schmiege mich an ihn.

„Du bist so schön“, flüstert er über mir. „Wie willst du ...?“

„Ganz ehrlich ... Keine Ahnung. Is dit okay? Kannst du einfach machen.“

Er küsst mich auf die Wange und lächelt auf mich hinunter. „Ja.“

Eine warme Welle fließt durch mich. „Danke.“

Er lacht leise. „Na, noch sin wa nich fertig. Spar dir dit lieber für nachher auf.“

Ich knuffe ihn auf den Arm und jetzt lacht er wirklich, dann stützt er sich auf und lässt sich langsam hinter mich gleiten, drückt sich an meinen Rücken. Ich höre wie er die Flasche öffnet und zucke zusammen.

„Wir müssen nicht, Jan.“

„Bitte.“ Ich presse meinen Hintern an ihn, spüre wie erregt er ist und ... „Ick will dit. Wirklich.“ Ich drehe mich zu ihm, so dass ich ihn küssen kann.

„Okay.“ Er bricht den Kuss legt seine Hand über meine Augen, nur ganz leicht, aber um mich wird es nun richtig dunkel. Ich halte inne. „Nich nachdenken, Jan. Einfach nur fühlen“, flüstert er und es klingt so ernst.

Ich lehne mich zurück gegen ihn. Er streicht über meinen Rücken, nur ganz leicht. Langsam entspannt sich mein Körper.

Seine Finger verschwinden über meinen Augen. Ich muss mich kurz an die Dämmerung in meinem Zimmer gewöhnen, dann kann ich Bela an meiner Seite wieder erkennen.

Seine Finger beginnen zu wandern, meinen Rücken hinunter und ... Ich atme nur ganz flach, weil ...

„Is es sehr seltsam?“, fragt er vorsichtig und auf einmal muss ich lachen, weil ...

„Schon `n bisschen, aber ...“ Er bewegt seinen Finger in mir und auf einmal ist meine Sprache weg. Ein tiefes Stöhnen fließt aus meinem Mund, will gar nicht mehr stoppen, bis ich es dazu zwinge.

Dann verstummt die kleine Explosion wieder, aber ich will mehr. Unter dem leichten Schmerz suche ich nach dem anderen Gefühl. Eine Sensation, die durch meinen ganzen Körper schießt, finde es und ...

Für einen langen Moment bestehe ich nur noch aus Stöhnen, nur am Rande bekomme ich mit, wie sich mein Rücken durchbiegt, Belas Finger entgegen. Da ist es wieder, wie ein Blitzschlag, so intensiv, dass es fast zu viel ist.

Meine Finger krallen sich in seine Haut. Keuchend hole ich Luft, zwinge mich dazu, weil ich sonst ertrinke in diesem Empfinden. „Fühlste ... Fühlste dit auch so krass, wenn wir ...?“

Ein Lächeln blitzt durch die Dunkelheit auf mich hinunter. „Gefällt`s dir?“

Ich dränge mich gegen seinen Schoß und sein tiefes Stöhnen ergießt sich über mich. „Schlaf mit mir.“

Er rutscht ein Stück von mir weg. „Hey, Jan. Ick will schon, aber ...“ Seine Stimme wird immer leiser. „ ... ick kann dit nich, wenn du morgen gehst.“ Sein Blick liegt so ernst und eindringlich auf mir.

„Ick weiß, aber ... Ick will dich so.“ Es ist fast ein betteln, weil ich auf einmal Angst vor einem Nein habe. Ich stupse ihn mit der Nase an. „Bitte.“

Er lächelt, ein wenig traurig. Dann seufzt er. „Okay, aber – ick will ehrlich sein: Dit Zeug was ick vorher gezogen hab, dit macht irgendwat mit mir.“

Die Realität schiebt sich als dunkle Wolke zwischen uns, aber ich will gerade keine keine Trennung, sondern roh und ganz einfach ihn. „Wat `n irgendwat?“, frage ich vorsichtig.

„ ... Also, der Typ vorhin, der Bekannte von Suzi, ...“

Ich muss mich auf seine nächsten Worte konzentrieren, weil der Frust wieder in mir hochkocht.

„ ... ick hab dit nur gezogen, weil er meinte, dass man damit länger kann.“

„Aha. ... Und?“ Ich versuche es neutral klingen zu lassen.

Er senkt den Kopf. „War `ne dumme Idee, weil ... Als dit is ja schon wat besonderes heut mit dir ... Und eigentlich will ick dit nich so überschattet ham von so `nem Zeuch.“

Es sickert langsam ein, was er meint. Ich beiße mir auf die Lippen, atme aus. „Mhmmm. Dit is echt schade, aber ... Du bist schon klar im Kopf, oder?“

„Ja.“

„ ... Okay. ... Dann ...“ Ich lege meine Hand über seine Augen. „Schalt den Kopf aus.“ Ich küsse ihn auf die Wange, auf seinen Mundwinkel, dann lass ich mich neben ihn fallen, seh zu ihm auf. „Küss mich. Küss mich einfach.“

Und das tut er. Wir wälzen uns auf meiner schmalen Matratze, rollen auf den Boden, mein Fuß berührt meinen gepackten Rucksack und ich will gerade nicht daran denken, küsse Bela um so ungestümer, unsere Lippen sind so miteinander verbunden und verschlungen wie unsere Körper.  

„Lass ma zurück auf die Matratze. Dit is doch `n bisschen bequemer.“ Wir klettern zurück in mein Bett.

„Kannste mich nochma so anfassen wie vorher?“

„Mochteste dit?“ Er klingt amüsiert. Natürlich mochte ich das.

Wieder reagiert mein Körper, alle Nervenenden darin, als hätten sie einen Schlag erhalten. Ich wusste nicht mal, dass sich etwas so anfühlen kann.

„Is geil, oder?“ Bela grinst.

„Ja“, keuche ich. „Ick wusst ich nich, dass dit echt so ...“ Es kribbelt immer noch durch mich. „Aber ick glaub, dit reicht jetz ...“ Ich drehe mich vor ihn und fasse hinter mich, fasse nach seinem Schwanz. „Ick ... Kannste bitte ...“

Er legt sich hinter mich und beginnt ganz langsam in mich einzudringen. Ich höre ihn unterdrückt Stöhnen, sein Kopf sinkt gegen meinen. „Oh ...“

Schmerz, heißer, scharfer Schmerz. Ich halte die Luft an.

Sofort hält Bela inne. „Tut`s weh? Soll ick aufhören?“

„Nein. Also, ja, aber ... Mach weiter, bitte“, keuche ich. „Und ...“ Ich drehe mich zu ihm. „Und küss mich.“

Er beugt sich zu mir hinüber. Seine Küsse sind vorsichtig und schön, aber mein Kopf viel zu an und mein Körper wohl doch noch nicht so ganz bereit.

„Entspann dich ...“ Bela streicht über meinen Rücken, über meine Seite, wartet bis sich meine Muskeln mit einem tiefen Ausatmen etwas entspannen.

„Gut.“

„Lenk mich ab.“ Ich beuge mich zu ihm hoch, dringe in seinen Mund, höre ihn stöhnen. Auch mein Atem beschleunigt sich und ich verliere mich in unserem Kuss, dränge mich Bela entgegen, gegen den Schmerz. Das Gefühl von ihm in mir ist gleißend – als würde man in die Sonne blicken.

„Oooh.“ Sein Keuchen in meinem Mund.

„Ick ...“ Ich kneife die Augen zu, weil es gerade wirklich weh tut.

„Aufhören?“ Ich spüre wie Bela nur auf mein Kommando wartet.

„Neeein. Bleib“, presse ich gegen den Schmerz heraus.

„Atmen, Jan.“

Ich schnappe nach Luft und es wird tatsächlich besser.

„Tief durchatmen. Es dauert bis de dich daran gewöhnt hast.“ Belas Hand wandert über meine Hüfte, streicht über meinen Schwanz und langsam werde ich wieder hart, bin wieder an Bord mit meiner Idee.

„Bela?“

„Mhm?“

„Ick will dich sehen. Kannste ...?“

Vorsichtig zieht er sich aus mir zurück. Ich lege mich auf den Rücken und er drückt meine Beine auseinander. Wieder der scharfe Schmerz, aber auch sein mitfühlender, warmer Blick auf mir.

Er küsst mich auf die Stirn, auf die Wange, dann verzieht sich sein Gesicht. „Morgen ...“ Er spricht nicht weiter und ich kann die Verzweiflung darauf auch ohne seine Erklärung lesen.

Ich ziehe ihn auf mich und die Funken sprühen wieder, weniger stark als zuvor, aber dafür ist es so intensiv Bela über mir zu sehen, zu intensiv. Ich schließe die Augen, merke, wie sich eine Wand zwischen mich und ihn schiebt, aber ich will das nicht, ich will ihn wirklich einlassen, nicht nur seinen Körper. Ich zwinge meine Augen auf, sehe Belas wilde Mähne über mir, seine Miene andächtige Konzentration.

„Bela?“

Seine Augen über mir fliegen auf.

„Sieh mich an.“

Seine Augen wandern zwischen meinen hin und her, dann versenken sich unsere Blicke ineinander. Nah, so verdammt nah.

Langsam beginnt er sich zu bewegen. Es ist mehr als nur unsere Körper. Ich atme noch einmal tief durch, dann lasse ich mich fallen ...


Schummriges Licht weckt mich. Ich hab so bewußtlos, tief geschlafen, dass ich nicht weiß, warum mir so heiß ist, verdammt heiß. Vorsichtig beweg ich mich ein Stück. Haut an meiner, ein Kuss in meine Haare, dann ist die warme Haut auf einmal weg. 

Ich schlag die Augen auf. Jan sitzt auf der Matratze, streift sich sein T-Shirt über. Jetzt hat er wohl meinen Blick bemerkt. Zögernd wendet er mir sein Gesicht zu. Wir sehen uns für einen langen, langen Moment einfach nur an. 

„Du gehst wirklich?“

Er beißt sich auf die Lippen, nickt dann langsam. 

„Jetzt?“

Er nickt wieder. 

„Einfach so.“

Seine Miene verzieht sich schmerzhaft. „Nicht einfach ...“ Er lässt mich in das tobende Chaos, den Zwiespalt in ihm blicken. 

Ich kann nicht atmen. Vorsichtig setz ich mich ein Stück auf. „ ... Du kommst wieder, oder?“

„Ja. ... Ick komm immer zurück.“ Er beugt sich zu mir hinunter. „Danke“, flüstert er mir ins Ohr und sieht mich dann an. Sein Lächeln ist warm und traurig, sinkt in mich. 

Am liebsten würd ich ihn einfach festhalten, damit er nicht gehen kann. „Ick lieb dich so, Jan.“

Seine langen Arme legen sich um mich, ganz vorsichtig, ganz weich, dann drückt er mich behutsam an sich. „Ich lieb dich auch, Bela.“


Und dann ist er weg. Und trotzdem wird er die ganze Zeit da sein in meinen Gedanken. Und das ist schön und beänstigend. Jan ist der eindringlichste, abwesende Geist, den ich kenne. 





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LYRICS

die ärzte – Käfer
Billy Joel – New York State of mind
Ramones – Blitzkrieg Bop
A-ha - Living boy`s adventure tale
La Loora - What happens
Depeche Mode – Broken
Depeche Mode – Enjoy the silence (cover by Lotte Kestner)
Daryll Hall & John Oates – Maneater
Ton Steine Scherben – Wenn die Nacht am tiefsten ist
Mode – World in my eyes (cover by Lotte Kestner)

ADDITIONAL SONGS

Die Toten Hosen & Die Ärzte – Blitzkrieg Bop – Düsseldorf, 25.06.2022
Video 2

Die Ärzte Live, 1987 - Nach uns die Sintflut - Sweet, Sweet, Gwendoline
Die Nilpferdpeitsche findet hier Erwähnung.

die ärzte in Prag, 27.06.2013
Cover „Love is a battlefield", „Maneater" – Sweet Gwendoline, Bravopunks



BANDS

http://subkultur-ost.de/Spex%2012-83%20(Koeln)%20Fanzine%20%60831.pdf
Spex, Dez `83 – La Loora mit Uwe Hoffmann - später u.a. Producer von die ärzte und Drummer von King Kong - S. 13 (Blixa Interview ab S. 22)


ORTE

Photos – New York in the Eighties


BUCH

Elias Canetti: Masse und Macht


Fernweh

Geo Reisen: Farin Urlaub

Heimweh kenne ich nicht. Das Fernweh aber tut manchmal fast körperlich weh. Dann schnappe ich mir halt einen Bildband, blicke auf meinen Kalender und muss durchhalten.
Allein reisen ist die beste Form für mich. Miteinander Erlebnisse teilen auf Reisen - das vermisse ich einfach nicht. Wenn ich Sachen sehe oder erlebe, muss ich nicht unbedingt gleich darüber sprechen. Ich mache das mit mir selbst ab.



BDSM

DM Fetisch Gear

Kill them all – Forum

Bitte bitte: Farin: Eine befreundete Domina lud mich mal in ihr Studio ein, wo ich mir heimlich ein paar interessante Folterungen und Demütigungen anschauen durfte - naja, nicht jedermanns Sache. Für die Maxiversion unseres einzigen Synthie-Stückes gab „Dominique" dann noch ein paar wissenswerte Details aus ihrem Job preis. Ein nettes Lied - und Pflichtprogramm für angehende FolterknechtInnen.

Bela: „Bitte Bitte" verschaffte uns die Bekanntschaft einer Frau, die viele Männer eh‘ aus- und vor allem inwendig kennen: Teresa Orlowski. Beim Abschiedsessen nach dem Videodreh unterhielt ich mich mit ihr erst über Gott und die Welt, und nachdem diese beiden Themen nach ca. fünf Minuten abgehandelt waren, über Sex. Was immer man über Deutschlands Pornokönigin denken mag, sie ist in jedem Falle intelligent, charmant und sie lebt und liebt ihren Job. Auf die Frage, ob wir mal in einem ihrer Filme mitwirken würden, bekam sie ein gehüsteltes und eher als „Nein" gemeintes „Vielleicht". Für all die pubertären Spekulanten unter euch: Frau Orlowski fuhr nach dem Essen allein ins Hotel. Übrigens stellte sie und zum Schnitt des Videos ihre höchsteigenen Videostudios zur Verfügung. Quelle: Booklet von Das Beste von kurz nach früher bis jetze


Leopold von Sacher-Masoch - Venus im Pelz - Hörbuch mit Bela als Sprecher

Leopold von Sacher-Masoch hat mit Venus im Pelz einen zeitlosen Roman geschaffen: Der ewige Kampf zwischen Mann und Frau als Rollenspiel. Entweder eine Frau, die mich liebt oder eine, die mich verachtet, in jedem Fall nichts Halbes ist die erotische Wunschvorstellung von Severin, die ihm im Verlauf des Stückes von Wanda variantenreich erfüllt wird. Ein Klassiker der Weltliteratur. Mit diesem Text wurde der Autor ungewollt zum Namensgeber einer sexuellen Perversion. Sein Name wird immer mit dem Masochismus verbunden bleiben, auch wenn der Autor sich zu Lebzeiten dagegen heftig gewehrt hat.




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Chapter 54: 1985 - Maristella

Chapter Text

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* Teenagers in Love *





Dieses Kapitel ist aus bestimmten Gründen Vernice gewidmet.

 

 

1985 – Maristella






4. Mai – Niebuhrstraße 38b, Charlottenburg

Das Bett sieht verwüstet aus von unserer Nacht. Mir wird heiß. Irgendwie bin ich ein bisschen durcheinander. Ziemlich durcheinander, ehrlich gesagt. Ein flaues Gefühl. Nicht nur in meinem Bauch, in meinem ganzen Körper. Als wäre mir schlecht. Kurz wird mir ein wenig schwindelig. Wahrscheinlich zu wenig Schlaf.

Mein Entschluss heute - endlich - in den Süden aufzubrechen, bröckelt. Dennoch schultere ich meinen Rucksack und den Gitarrenkoffer.

Meine Hand liegt schwer auf der Klinke meiner Zimmertür.

Bela sieht zu mir hoch, blickt dann wieder weg. "Mann, jetz hau schon ab, bevor ich dich hier festbind ...", grollt er, aber es klingt einfach nur traurig.

Ich knie mich vor die Matratze, streiche durch seine Haare. "Tut mir leid, dass ich ausgerechnet jetzt los will."

Er beißt sich auf die Lippen. Seine Augen schimmern verdächtig, dann sieht er weg.

Ich streiche durch seine Haare. "Danke", flüstere ich an seinem Ohr.

"Wofür denn?" Er klingt heiser. "Das ick gestern ma wieder über die Stränge geschlagen hab?" Fast wäre mir lieber, er würde mir Vorwürfe machen, als sich selbst.

"Nee. Für ... Naja, für ... War schön gestern."

Ein Miniversion von Belas Strahlen huscht über sein Gesicht. "Ja?"

"Ja."

"Gut." Er atmet erleichtert aus. "Ick war mir echt nich ganz sicher, ob ..."

"War dit nich zu merken?" Meine Wangen werden ein wenig warm, aber ich muss dennoch grinsen.

Er streicht über meinen Oberschenkel, über meine Hüfte zu meinem Hintern und kleine Funken fliegen durch mich. Mein Atem wird schneller. "Doch. ... Sehr."

Ich kann sehen, dass er überlegt, mich wieder ins Bett zu ziehen und ein Teil von mir hätte nichts dagegen, auch wenn ich ein wenig wund von gestern bin. Aber wenn ich jetzt nicht gehe, dann schaffe ich es nie.

"Bela, ich sollte los." Ich richte mich vorsichtig wieder auf.

Das Strahlen erlischt. "Okay. ... Wann ...? Weißt du, wann du wieder ...?"

"Nich so richtig. Einen Monat, vielleicht?" Ich bin mir unsicher. Es könnten auch zwei Monate werden. Vielleicht.

"Mhm." Er schluckt. "Pass auf dich auf, Süßer, ja?"

"Immer." Meine Augen beginnen zu brennen. "Unkraut vergeht nich."

Wir sehen uns lange an. "Du passt auch auf dich auf." Wie in einem Trailer laufen Bilder der letzten Nacht vor meinem inneren Auge vorbei. Blut auf Belas Gesicht.

Er nickt

"Wirklich, ja?"

"Komm schon auch ohne dich klar", grummelt er.

Das ist gut, oder? Trotzdem mag ich den Satz nicht.

Der Weg bis zur Wohnungstür fühlt sich weit an, als würde ich Kontinente überwinden. Das Klicken hinter mir klingt wie ein Schuss. Ich seufze, dann hebe ich den Gitarrenkoffer hoch und schleiche müde die Treppe runter, trotte durch den Hinterhof. Der Koffer ist viel zu schwer. Ich sollte ihn zurückbringen, mich zurückbringen.

Warum wollte ich nochmal weg? Wegen dem eingesperrten Alltag in Berlin. Und den Erinnerungen, die du wie eine unsichtbare Eisenkugel immer noch mit dir herumschleppst, meldet sich eine innere Stimme. Die New York-Seifenblase platzt noch einmal. Die Schiffe im Hamburger Hafen ziehen an mir vorbei. Das Fernweh - so stark, dass es körperliche Schmerzen verursacht. Aber gerade spüre ich dieses Ziehen und Zerren nicht. Nur Belas Präsenz hinter mir. Zwischen uns ein Hinterhof und zwei Etagen Treppen.

Ich zwinge mich, weiter zu gehen.

An der Kreuzung Niebuhrstraße / Wilmersdorfer Straße schaue ich auf die dunkle Unterführung, die mich zum S-Bahnhof bringen soll. Ratlos bleibe ich stehen. Nichts macht Sinn. Meine Beine wollen nicht. Ich blicke zurück, die Niebuhrstraße entlang. Stadtgraues Berlin. Abenteuer. Wollte ich nicht Sommer, Palmen, Sonnenschein und Abenteuer, die nix mit Berlin zu tun haben. Trotzdem wollen meine Beine mich nicht zur AVUS bringen.

Bela ... Einfach wieder zu ihm ins Bett kuscheln. Ich kann doch auch morgen noch fahren. Oder übermorgen.

Wieder der innere Kinofilm. Gestern Nacht. Er über mir, in mir. Auf einmal poppt diese verdammte Suzi vor meinem inneren Auge hoch wie ein Springteufel. Dann Bela, wie er inmitten dieser Gruppe dubioser Leute weißes Pulver zieht. Blut auf Belas Hand.

Eine kühle Windböe weht die Niebuhrstraße hinunter und ich drehe mich weg. Ein paar hundert Meter vor mir liegt immer noch die dunkle S-Bahn-Unterführung und dahinter der schimmernde Golf von Neapel.

Zögerlich lasse ich mich in der S3 Richtung Wannsee auf einen Fensterplatz fallen. Berlin fliegt an mir vorbei, dann der Grunewald, aber die erhoffte Euphorie bleibt aus.



Kontrollpunkt Dreilinden – Checkpoint Bravo

An der S-Bahnstation Wannsee folge ich ein paar Seitenstraßen, dann einem Waldweg zur Raststätte Dreilinden. Der rote Turm ist wirklich nicht zu verfehlen. Normalerweise ist spätestens das der Moment, in dem mein Herz beginnt zu fliegen und meine Mundwinkel hoch gehen, aber heute fliegt nichts in mir. Ich weiß nicht, ob ich gewonnen habe, weil ich meiner Entscheidung treu geblieben bin. Oder verloren, weil Bela ...

Wieder steigt Hitze in mir hoch, als ich an die vergangene Nacht mit ihm zurückdenke. Ich bin echt ein Arsch. Apropos ... Ein leichtes Ziehen erinnert mich durchaus noch an gestern. Huihuihui. Ich hatte nicht erwartet, dass das so … Besser da jetzt nicht dran zu denken.

Vor mir verbreitet der Checkpoint mit seiner französischen, britischen und US-amerikanischen Flagge internationales Flair. Dahinter wartet die holprige Transitstrecke auf mich. Und Erinnerungen an Bela und die Pritsche von Hans VW und uns. Wieder zieht eine elektrische Sehnsucht nach ihm durch meinen Körper.

Verzweifelt beschwöre ich das Reiseadrenalin hoch, reihe mich ein in die lange Schlange der Tramper*innen und halte mein Schild hoch "Italien".

Nach einem leichten Regenguss, der mich darin bestärkt, dass ich in den Süden muss, hält eine grüne Ente vor mir, obwohl ich in der Schlange der Trampenden recht weit hinten stehe.

"Du! Steig ein!" Ich mustere die Frau irritiert. Sie ist so Mitte dreißig und erinnert mich von ihrer Art her ein wenig an Gitti. Sie ist mir sympathisch, aber trotzdem ... Anscheinend mustere ich sie zu lange.

"Willste jetzte nach Italien oder nich?"

Das Misstrauen ist schwer abzuschütteln nach ...

Ich blicke die lange Schlange der Wartenden entlang. Ein paar mustern mich wütend. "Warum icke? Dit Pärchen da vorne steht schon länger."

"Weil de `ne Gitarre dabei hast."

"Aha. … O-okay." Ich wuchte meinen Rucksack und den Gitarrenkoffer auf ihren Rücksitz und damit ist das kleine Gefährt auch voll.

Sonja ist eine angenehme Reisebegleitung. Sie ist gut drauf ohne mich die ganze Zeit zuquatschen zu müssen.

An einer Raststätte bittet sie mich ihr ein paar Lieder auf der Gitarre vorzuspielen. Obwohl ich keine Lust habe, will ich ihr den Wunsch nicht abschlagen.

“Kannst du “Major Tom” von Bowie?”

Ich stolpere mich durch die ersten Akkorde, aber dann läuft es. Ich bin nicht ganz textsicher, aber das gleicht Sonja mir ihrem enthusiastischen Gesang aus.

"Ick war so verknallt in den Bowie." Ihr Lächeln macht sie ein Jahrzehnt jünger.

Als wir wieder in der Ente sitzen, spult sie ihr Mixtape zu Bowies Lied. Der Countdown wird heruntergezählt und sie dreht den Lautstärkeregler hoch. "Meine Freundin und icke sind wegen dem immer in den Dschungel."

"Mich haben se da letztes Mal nicht reingelassen mit meinem Freund."

"Oh, dit tut mir leid. Ick fand dit echt immer so geil da. Jetz geh ich nich mehr so viel weg."

"Ick och nich."

Sie sieht zu mir rüber und runzelt die Stirn. "Aber du bis doch noch jung?"

"Schon, aber ..." Mann. Irgendwie bin ich schon ein ausgewachsener Spießer. "Ick weeß nich. Macht halt nich so Spaß, wenn die sich alle abschießen und ick bin dann der einzig Nüchterne."

"Mhm. Kann sein. Ick war och immer voll dabei, aber jetz interessiert mich dit nich mehr so."

Wenn das bei Bela doch auch so wäre ... Ich bin mir nicht sicher, wie viel diese Exzesse Teil seiner Persönlichkeit sind. Ist Bela ohne Drogen noch Bela? Der Gedanke macht mir totales Kopfkino.

"Im Dschungel hat mir David einmal vom Balkon zugewinkt, aber ick hab mich dann doch nich getraut zu ihm zu gehen. Dit bereu ick bis heut." Sie sieht kurz von der Straße weg zu mir. "Wenn ick dir einen Tipp geben darf: Wenn du Zweifel hast, ob du`s machen sollst oder nich: Mach`s! Sonst bereust du`s."

Bisschen unheimlich, dass sie Gedanken lesen kann, aber meine innere Anspannung legt sich, legt sich fast komplett.

Meine Gedanken wandern schon wieder zurück zu gestern nacht. Ob er wohl noch auf meiner Matratze pennt? Wahrscheinlich.


Am Ende des Tages tauchen die ersten Berge am Horizont auf, aber ich kann mich nicht auf sie konzentrieren, denn diese eine Textzeile lässt mich seit Stunden nicht los.

Though I’m past one hundred thousand miles
I’m feeling very still
And I think my spaceship knows which way to go
Tell my wife I love her very much she knows


Weiß er es wirklich? Weiß er es genug?

Ich drehe meinen Kopf zur Seite, weil – es tut weh. Und ich bin derjenige, der gegangen ist. Hab ich uns verraten? Wenn das bei mir schon so weh tut, wie fühlt sich dann erst Bela?

Etwas kaltes legt sich über mein Herz, wird dann heiß. Ich bin einfach so ein Scheiß-Egoist.


Innsbruck.


Gemütlich zuckeln wir über die Brenner-Autobahn.


Bozen.


Nach dem letzten Alpenpass wird es warm, sehr warm und Sonja klappt das Dach hoch. Der Fahrtwind weht mir nun trotz der gemütlichen 80 km/h stürmisch um die Ohren, aber dafür stoße ich mir nicht mehr ständig den Kopf.

Der erste Duft nach Pinien und Zypressen und – endlich, endlich, endlich - fängt das Blut in meinen Adern an zu singen von Reiseadrenalin und Abenteuer.

In Verona ist leider Schluß, da Sonja nur an den Gardasee will. "Irgendwann fahr ich auch noch mal runter nach Rom und Neapel." Sie klopft auf die Motorhaube ihrer kleinen Ente. "Wenn wir beide noch fit genug dafür sind. Also dann, Jan. Mach`s gut, mein Lieber."

In Verona übernachte ich mal wieder auf dem Friedhof. Der Cimitero Dossobuono ist winzig, aber hat zum Glück ein paar abgelegene Ecken und die Auffahrt zur E45 Richtung Süden liegt in unmittelbarer Nähe.

Das letzte Mal war ich vor drei Jahren hier. Mit Ecky. Alleine ist es – anders. Die Grablichter geben dem Ort fast etwas gemütliches. Oder unheimliches, aber da denke ich nicht genauer drüber nach.


5. Mai – Italien, Neapel

Das Trampen am nächsten Tag klappt kein bisschen und nach drei Stunden zweifle ich sehr an meinem tollen Plan. Schließlich gebe ich auf und steige in Verona in den Nachtzug nach Neapel. 20 Mark einfach so weg. Puh. Dafür werde ich einige Straßenkonzerte spielen müssen.  

Als die Schienen gemütlich unter mir rattern, bin ich dann doch ganz zufrieden mit dem Tag und falle in einen leichten Schlaf.

Ein blasses Gesicht mit kajalumrandeten grünen Katzenaugen und wilden schwarzen Haaren. Er ist über mir und so nah und seine Lippen ... Ich erwache desorientiert und voller Sehnsucht und ziemlich erregt.

Schlafen kann ich danach nicht mehr. Ich stelle mich in den Gang und betrachte die hügelige, grüne Landschaft, die so anders aussieht als Berlin. Nach einer Kurve breitet sich auf einmal der Golf von Neapel vor mir aus, strahlend und glitzernd in der Morgensonne und irgendwie ist es gerade ein wenig wie nach Hause kommen.


Dennoch dauert es einen Moment, bevor ich mich im wuseligen Neapel wieder orientiert habe. Drei Jahre.

Aufregung steigt in mir hoch, als ich mit der Tram 2 Richtung San Giovanni a Teduccio fahre. Schon von der Haltestelle folgen mir Blicke wie Stiche, als ich auf den großen Häuserkomplex der "Bronx" zugehe.

Ich hatte vergessen, dass ich hier mit meiner Größe und den blonden Haaren auffalle wie ein bunter Hund. Spannung surrt in jedem Blick und ich versuche niemanden zu genau oder zu lange anzusehen.

Auf einmal legt sich ein Arm um meine Schultern. Wie erstarrt bleibe ich stehen. Nur mein Herzschlag rast dreimal so schnell los.

"Vuoi vedere Mariana, vero? Sembra che io voglia mangiarti", grinst der Typ und haut mir lachend auf die Schulter. Er kommt mir vage bekannt vor. Mein Bauchgefühl vermutet, dass ich ihm vertrauen kann, aber das habe ich bei Beate auch gedacht.

Ich blicke mich um. Auf jeden Fall ist der Typ besser als die Anderen, die mich wirklich so ansehen, als wollten sie mich fressen.

“Ti porterò da lei.”


Die "Bronx" riecht genauso wie vor drei Jahren nach Essen und Pisse. Nur die bleichen, zitterenden Junkies sind mehr geworden. Ich steige über eine junge, halb bewusstlose Frau.

Der Typ klopft an einer Haustür und ich hoffe inständig, dass sie da ist. Und dass sie sich noch an mich erinnert.

Sie wirkt müde, als sie Tür öffnet, dann werden ihre Augen groß. Ihr Blick gleitet an mir auf und ab. Hinter ihren Beinen versteckt sich ein kleiner Junge, der mich misstrauisch mustert. Mariana selbst sieht allerdings noch misstrauischer aus.

"Il biondo di Berlino? Cosa stai facendo qui?"

"Luca, vero?", lächle ich den Jungen an, um Zeit zu gewinnen. "Suo figlio è davvero cresciuto." Ich komme mir vor wie ein alter Onkel, als ich kommentiere wie groß er geworden ist.

"Non sei stato lì per tre anni." Sie sieht mich sehr kühl an.

"Sì, è vero." Drei Jahre sind eine lange Zeit. "Non avevo soldi." Es ist nicht wirklich gelogen mit dem pleite sein. Aber das Felice nicht auf meinen letzten Brief geantwortet hat, verschweige ich lieber. "Sto cercando Felice."

Ihr Blick wird ein wenig weicher, dann traurig. "Non vive più qui. La nonna di Felice è morta. Poi è andata via."

"Oh." Mist. Ich wusste ja, dass ihre Oma krank ist, aber ... "Mi dispiace molto. Mi ha scritto che è molto malata." Kurz geistert meine Omi durch mein Herz, dann realisiere ich, dass Mariana gesagt hat, dass Felice weg ist. Das Riesenhaus fühlt sich schlagartig sehr viel bedrohlicher an. "Dov’è adesso?"

"Lei è in partenza per la Sardegna. Vive lì con il padre di sua madre."

"Sardegna?" Das tiefblaue Meer Sardiniens taucht vor mir auf. Sie hat mir nie etwas von einem Großvater mütterlicherseits erzählt. Auf einmal merke ich, wie wenig wir uns kennen. Sie war für mich wohl einfach immer die freche, hübsche Neapolitanerin.

Aber jetzt bin ich schon hier, also ... "Dove vive lì adesso?" Ich mache eine Schreibbewegung.

"Aspetta, mi ha scritto …" Sie wühlt in einem Stapel Papiere neben dem Telefon. "Ah, eccola qui." Sie zögert. "Anche se tu fossi veramente importante per lei."

Es ist schön zu hören, dass ich Felice wirklich wichtig war, aber einfach so will Mariana mir nicht ihre Adresse geben. Verzweiflung macht sich in mir breit. Sie hat ja recht, aber ... Ich blicke zum Telefon. "Puoi chiamare lì?"

Kurz zögert Mariana, dann lächelt sie. "Buono." Sie hebt den Hörer ab und wählt. Ich kann die Freizeichen hören. Zwei Minuten lang. "Mi dispiace. Lei non risponde."

"Ha lasciato un messaggio per me o altro?"

Mariana schüttelt den Kopf und mein Mut sinkt. Nicht mal eine Nachricht für mich. Ist mein Brief nicht angekommen? Es tut weh. Als wäre ich einem fixen Traum hinterhergelaufen.

"Vuoi ..." Mariana gibt sich dann einen Ruck und schreibt mir ihre Telefonnummer auf – und daneben Felices Adresse. "Vuoi passare ancora la notte qui, Jan?"

Ich bin fast gerührt, dass sie meinen Namen noch weiß. Dann fällt mir auf, dass es wahrscheinlich daran liegt, dass Felice mit ihr über mich gesprochen hat. Und anscheinend nicht nur Schmeichelhaftes.

"Sì, sarebbe bello. Grazie mille, Mariana."


Es ist seltsam wieder in diesem riesigen Gebäude zu sein. Zum Glück sehe ich nicht all zu verändert aus. Eine Frau nickt mir zu, was mich ein wenig aufatmen lässt. Aber Felice fehlt mir jetzt nur noch mehr.

Es dämmert draußen schon, als ich über eine halbe Stunde immer wieder versuche von einer halb kaputten Telefonzelle Bela in der Niebuhrstraße und Felice auf Sardinien zu erreichen.

Dann wird es zu dunkel hier draußen für mich, il biondo tedesco.



5. Mai – Niebuhrstraße 38 b, Charlottenburg

Rastlos stromere ich durch die WG, voll unter Strom, weil - gerade ist es richtig schlimm, dass Jan nicht da ist.

Die ersten Stunden hab ich es ganz gut hinbekommen, war einfach den ganzen Tag und die Nacht unterwegs mit Suzi. Deren Lebendigkeit und Abenteuerlust und das Berliner Nachtleben haben mich echt aufgefangen – mal wieder.

Auf der anderen Seite bin ich todmüde und ich will mich jetzt einfach nur zu ihm ins Bett legen und er liest mir was vor und danach ... Zuerst so nah und dann - weg. Fahr in Urlaub beziehungsweise Jan Vetter in Reinkultur. Ich vermiss ihn einfach. Und es sind noch nicht mal 24 Stunden rum.

Riiiiiiing.    Riiiiiing.     Riiiiiing.

Das Telefon.

"Jan?" So ein Quatsch. Ich hab ja nich gesagt, er soll anrufen. Muss er ja auch nich. Oder?

"Es ist sehr ungeziem mich so zu vernachlässigen." Manus dunkle Stimme. Es tut so gut sie zu hören. Und trotzdem bin ich enttäuscht.

"Es ... Äh, es tut mir leid."

"... Madame Manu." In der Strenge kann ich ihr Lächeln hören und es gefällt mir.

"Es tut mir leid, Madame Manu."

"Gut. ... Ich möchte mal wieder mit dir spielen, Bela. Ich erwarte dich morgen abend um Punkt 18 Uhr bei mir."

Bevor ich antworten kann, hat sie auch schon aufgelegt.

Ich atme erleichtert tief ein. Perfekt! Das ist genau das, was ich jetzt brauche.

Voll unter Strom und gleichzeitig erschöpft blätter ich durch Jans blöde Platten.

To lead a better life,
I need my love to be here!

I want her everywhere
And if she's beside me, I know I need never care
But to love her is to need her



Sehr witzig. Was für ein beschissener, zuckersüßer Scheiß-Song! Ich wisch mir das verdammte Wasser aus den Augen. Nee, damit kriegen die doofen Käfer mich nich.

Lonesome tears, singt Buddy Holly auf der nächsten Platte, die ich auflege. Anscheinend will ich mich gerade quälen.

Irgendwas stört Buddys softe Stimme. Ich drehe den Lautstärkeregler runter.

Riiiiiiing.    Riiiiiing.     Riiiiiing.

"Ja?"

"Hi Dirk ... äh, Bela! Hier is Hagen. Wie geht`s dir?"

"Äh, jut."

"Hörst dich so `n bisschen verschnupft an ..."

Scheißheulerei. "Is nur Heuschnupfen oder so. Allet jut bei mir."

"Keen Wunder. Ihr geht ja auch voll durch die Decke grad mit euren Ärzten."

"Mhm." Ich zwinge mich zu nicken, auch wenn das ein Telefonat ist. Vielleicht um mich selbst zu überzeugen. "Na, die Nirvana Devils sin doch och jut im Geschäft."

"Ja, schon. Aber – ich glaub ihr habt `n bisschen mehr Spaß zusammen als wir in der Band. Die anderen sind so – naja, auf Koks. Is manchmal echt anstrengend. Dit kann dir bei Jan und Hans ja nich passieren."

"Nö." Wie auch, wenn er nich da is.

"Äh, tschuldige, wenn ich da irgendwie … " Anscheinend klang ich bitterer als gewollt. "Okay, also, ich wollt fragen, ob du Bock auf `n Photoshooting hast für mein Fanzine?"

"Äh, klar." Ich kenn Hagen eigentlich eher so lose aus dem Risiko und anderen Läden. Netter Typ. "Aber wie kommste da auf mich?"

"Also, das Fanzine heißt "Pinthouse"." Er macht eine Art Kunstpause. "Wegen Penthouse, weißte?"

"Meinste dit Pornoheft?"

"Manche sagen auch Männermagazin dazu." Ich hör sein Grinsen. "Na, jedenfalls wollt ich in meiner nächsten Ausgabe was über Berliner Boys machen. Also, keine nackten Frauen, sondern ich wollte jeweils ein Interview und ein paar ansprechenden Photos von Typen machen."

"Und da biste auf mich gekommen?"

"Ja", lacht er. "Du bist solchen Dingen gegenüber doch sehr aufgeschlossen."

"... Okay, ick fühl mich geehrt."

"Weiß nich, ob das auch was für Jan ist, aber falls er auch Lust hat, gerne. Wäre echt cool euch beide drin zu haben."

"Da wirste leider nur mit meinem Astralkörper vorlieb nehmen müssen, außer du willst Hans dazunehmen.”

“Ähm, nicht unbedingt.”

“Verständlich. Aber Herr Urlaub ist leider gerade mal wieder im in seinem heiligen Urlaub und in den Gefilden des Mittelmeers unterwegs."

"Oh. Okay, dann photographier ich halt dich."

"Cool." Tatsächlich stiehlt sich ein Grinsen auf meine Lippen. Geil. Ich als Centerfold.


6. Mai – Niebuhrstraße 38 b, Charlottenburg

Riiiiiiing.    Riiiiiing.     Riiiiiing.

Murph`s Law. Natürlich klingelt es, wenn ich penn. Ich bin so genervt, dass ich im ersten Moment gar nicht rangehen will, mich wieder unter der Bettdecke vergrabe, aber ...

Jan! Ich bin auf den Beinen, bevor ich den Namen zu Ende gedacht habe.

"Ja?"

"Hallo, Bela! Hier ist Ecky. Sag mal, ist Jan da?"

"Ähm, der ... der ist doch in Italien."

"Was? ... In Italien?"

"Ja. Ist vorgestern einfach abgehauen."

"Deswegen meldet sich der Typ nicht. ... Und was heißt "einfach abgehauen"?" Da ist so ein Unterton in seiner Stimme, den ich nicht ganz deuten kann, weil ich ihn einfach nicht gut genug kenne.

"Also, ... Irgendwie war ihm hier wohl alles zuviel und da ..." Ich versteh`s ja selbst nicht wirklich. Ich vermute, dass Beate die größte Rolle bei seiner Entscheidung gespielt hat. Hat er Ecky erzählt, was passiert ist?

"Mhm. ... Okay." Wieder der Unterton. "Hätt auch echt mal Bescheid sagen können, die treulose Tomate", bricht es schließlich aus ihm raus.

Ich kann ihn so gut verstehen, aber inzwischen sprech auch ich ein paar Brocken "Janisch" und ahne, warum er es nicht getan hat. "Ick glaub, er wollt allein sein."

"Mhm. Wie war er drauf, als er los ist?"

"Nich so jut." Die Erinnerung macht mich ein wenig kleinlaut – und traurig.

"Hat er mal wieder so `ne Phase?"

Fast lässt mich dieser Satz aufatmen. Ecky kennt Jan viel länger als ich. "Wie meinst`n dit mit Phase?" Wenn ich es so richtig überdenke, geht "die Phase" irgendwie schon seit dem 1. März.

"Na, dieses "Ick halt dit hier nich mehr aus und muss unbedingt raus!""

Auch wenn Jan das nie genau so formuliert hat, macht er ihn doch sehr treffend nach. Ich seufze.

"Falls er sich bei dir meldet, dann sag ihm von mir, dass ich eigentlich auch ganz gerne mit ihm weggefahren wäre."

"Mach ick. Und falls er bei dir anruft, er soll sich bitte mal hier melden."

Ecky räuspert sich. "Tut mir leid, dass er …"

“Dit muss dir doch nich … Du hast doch damit nüscht zu tun.”

“Ja, ich weiß, aber … ich weiß halt auch, wie er so sein kann und …”

“… Danke.”


Nachdem ich aufgelegt hab, sehe ich noch länger auf das Telefon. Nicht mal Ecky hat er eingeweiht. War wohl wirklich ein spontaner Entschluss.

Im Briefkasten liegt zwischen der ganzen Fanpost ein Brief, der aussieht, als hätte er einen weiten Weg hinter sich, so zerknittert wie er ist.

Sardegna. Das ist in Italien, oder?

Ob ich den aufmachen soll? Besser nich.



7. Mai – Niebuhrstraße 38 b, Charlottenburg

Riiiiiiing.    Riiiiiing.     Riiiiiing.

“Hallo, Bela! Hier ist Uta. Ist Jan da?”

“Äh, nein, der ist doch in … Italien?”

“Was?”

Schlagartig kocht Wut in mir hoch. Uta hätte er ja nun wirklich mal Bescheid sagen können. Und Julia. Toller Bruder.


Dieser Scheißbrief aus Italien sieht mich vom Küchentisch an.

Schließlich hab ich genug und reiße den Umschlag auf. Wahrscheinlich versteh ich eh kein Wort.

Eine fein säuberliche Handschrift. Auf Deutsch.

Ein kleiner Zettel fällt herunter. Anscheinend aus einer Zeitung herausgerissen.

Scheiße. Das knallt richtig. Ich weiß nicht, ob ich lachen oder weinen soll. Anscheinend wohl Letzteres. Ich wische mir über die Augen. Keine Ahnung, wer die Figur sein soll, die auf Jans oder vielmehr Richy Schraders Schulter herumtanzt. Anja? Oder vielleicht sogar ich? Für mich wirkt es, als wäre das Felice.

Ich greife nach dem eng beschriebenen Briefbogen.

"Lieber Jan,

ich habe deinen letzten Brief heute bekommen. Meine Post wird gerade weitergeleitet von Napoli nach Sardegna und das dauert.

Also, es ist nicht gut, dass du kommst, weil ich wohne nicht in Napoli mehr. Nach dem Tod von Nonna bin ich nach Sardegna gezogen. Dort wohnt der Vater meiner Mutter. Er ist die einzige Familie, dass ich noch habe und der letzte Wunsch von Nonna war, dass ich nicht allein bin.

Eigentlich will ich lieber in Napoli bei Mariana bleiben, aber ... Ich weiß, warum Nonna mich darum gebittet hat.

Nonno Matia bemüht sich, aber es ist dennoch ein wenig komisch hier. Er hat die letzten 15 Jahre ganz alleine gelebt.

Ich mein das nicht böse, aber es ist schwierig, wenn du kommst, auch für meine Gefühle. Du weißt, dass ich dich mag – mehr als das. Ich habe unsere gemeinsame Zeit und Nächte nicht vergessen. Du warst so lieb und süß, als du hier warst. Süß hörst du wahrscheinlich nicht gerne von mir, aber das warst du wirklich.

Aber du warst jetzt nicht hier drei Jahre und ich habe schon letztes Jahr die Hoffnung aufgegeben. Das mit uns kann nicht funktionieren, Jan. Nicht mal als Freundschaft. Dafür mag ich dich zu lieb. Ich habe dir doch gesagt damals, als ich dich habe weggeschickt. Du bist zu gefährlich. Aber vergessen kann ich dich trotzdem nicht und wenn du mir so was schreibst, dann kommt wieder die dumme Hoffnung.

Ich werde dich nie vergessen, Biondo di Berlino. Mit dir, dass war etwas ganz Besonderes, aber du lebst in Berlin und ich jetzt in Sardegna mit Nonno Matia.

Damit der Brief nicht so traurig ist, erzähle ich dir eine lustige Sache. Hast du den Ausriss gefunden? Was für eine Überraschung, als ich dich in einer Zeitung für ein Filmfestival entdeckt habe. Das bist doch du, oder? Du hast mir gar nicht geschrieben, dass du machst einen Film. Anscheinend ist sogar ganz gut, sonst wäre er nicht auf einem Filmfestival. Schade, dass ich ihn nicht sehen konnte.

Also, es tut mir leid, aber wahrscheinlich können wir uns nicht wiedersehen. Ich finde, dass auch schade, aber mein Leben hat sich sehr geändert. Ich weiß nicht einmal, ob ich überhaupt noch Anwältin werden kann, ob ich das noch will. Erstmal muss ich wieder "robusta" werden, alles sortieren, was passiert ist und wie es weiter gehen kann.

Es ist nicht schön, wenn das Leben so zerfällt. Ich verstehe, dass du mich unterstützen willst, aber gerade muss ich – wie sagt man das – die Scherben flicken?

Falls ich es mir anders überlege, melde ich mich wieder bei dir.

Alles Gute für dich, Felice



Bahnhof Zoo, Hardenbergstraße

Ich laufe die Treppe von der S-Bahn hinunter, gehe zum Hinterausgang raus auf die Hardenbergstraße. Die Seite ist noch dreckiger als der Rest von Berlin.

Inzwischen kenne ich auch in der Punk-Szene einige Dealer*innen, die mir das verkaufen könnten, was ich will, aber die würden alle bei Gitti petzen. Die hat auf einmal einen moralischen. Komplette Übertreibung.

Eigentlich find ich Speed sogar besser, aber gerade ist es einfach geil, mal was Neues auszuprobieren, die alten Pfade zu verlassen. So ganz unrecht hat Farin nicht mit seiner Idee – auch wenn seine Art gerade total nervt.

Wie lang ist er jetzt schon weg? Wahrscheinlich ist er jetzt schon auf Sardinien, Felice hat alle Bedenken über Bord geworfen, als sie sein Grinsen und seine verstrubelten blonden Haare gesehen hat. Und er auch und jetzt bauen sich die beiden eine Existenz in Sardinien auf.

Mir wird schlecht. Ich brauch was gegen die Bilder. Ich mustere die jungen Männer, die hier aufgereiht unter dem Vordach des Bahnhofs stehen, bereit für den nächsten Freier, für den nächsten Druck. Ein ziemlich fertiger Typ stößt sich von der Wand ab und schleicht auf mich zu.

"Haste vielleicht was zum Wegknallen da?"

"Klar. Was willste?" Die Augen des fertigen Typen sind nur auf halbmast.

"Schorre."

Für einen Moment scheint er mich wirklich wahrzunehmen. "Machste dit zum ersten Mal?"

"Nö."

"Lüg nich." Auf einmal liegt sein Blick total scharf und klar auf mir, als wollte er mich röntgen. Gruselig.

"Is doch egal."

"Is es nich! Ich fix keine Leute an."

"Aha. ... Toll!" Ich wende mich zum gehen, als er mich an der Schulter festhält.

"Hier. Nimm die. Du siehst wirklich so aus, als könntest du was zum Wegknallen brauchen." Er zeigt mir ein paar schmutzig-gelbe Pillen in seiner Hand. Sein Handgelenk ziert eine eitrige Wunde. Schnell ziehe ich meinen Arm zurück, aber er hält meine Finger fest.

"Erst wird bezahlt."

"Wie viel?"

"`n Zehner."

"Okay. ... Dafür musste mich jetz aber loslassen. Dit Geld kann ich ja schlecht aus meiner Hosentasche zaubern."

Ich bekomm es nicht beim ersten Mal heraus, weil meine Lederhose so eng ist, aber ich will nur noch hier weg. Der Zoo ist doch eine Nummer zu krass.

Seine schmuddeligen Finger schließen sich um den Schein und meine Beine tragen mich schnell hoch zum S-Bahngleis. Nur zwei Stationen und ich bin wieder zu hause.

Jetzt heißt es wieder warten. Aber immerhin habe ich jetzt nette Gesellschaft. Ich schmeiße alle drei. Sind ja nur Pillen …  



8. Mai – Niebuhrstraße 38 b, Charlottenburg

Riiiiiiing.    Riiiiiing.     Riiiiiing.

Ich schrecke hoch.

AU.

Elektrisch blitzender Schmerz zieht vom Scheitel durch meinen ganzen Kopf.

Riiiiiiing.    Riiiiiing.     Riiiiiing.

Aufhör`n.

Ich such nach dem Kissen, um den Lärm zu ersticken. Keins da.

Ich hau mit dem Arm in Richtung Nachttisch.

Boooom.

Sehr gut. Das sollte dem Wecker zeigen, wer hier der Herr ...

Riiiiiiing.    Riiiiiing.     Riiiiiing.

Verdammte Sch...

Mühsam öffne ich ein Auge und kneif es wieder zu. Viel zu hell.

Riiiiiiing.    Riiiiiing.     Riiiiiing.

Quäl mich hoch, verdrehte Decke zieht mich zurück, befrei mich, quäl mich hoch. Das Zimmer dreht sich um mich im grellen Sonnenschein. Fick dich, Sonne. Ich stolper Richtung Tür, in den Flur, haste zum Hörer.

Riiiiiiing.    Riiiiii... Tut. Tut. Tut. Tut. Tut. Tut.

Geil. Ich knalle den Hörer zurück auf die Gabel. Vielen Dank auch.

Immerhin endlich Stille.

Ich schlurf zurück, zieh die dicken Vorhänge zu, dreh die Decke um - Alles verschwitzt. - leg mich wieder ins Bett, in Morpheus Arme, die mich warm umschließen und ...

Riiiiiiing.    Riiiiiing.     Riiiiiing.

Ich stürm zurück in den Flur, stolper über die Türschwelle und das tut echt fies weh. Mit schmerzverzerrtem Gesicht reiße ich den Hörer hoch.

"Mann, es ist ..." Ich habe keine Ahnung, wie viel Uhr es ist. "Was ist denn soooo wichtig, dass ..."

"Ey, sag mal, spinnst du?"

Suzi.

"Oh, hey. Tschuldige. Äh, schön, dass de anrufst."

"Wo warst du gestern?"

Ehrlich gesagt, weiß ich das nicht so genau.

"Ich hab fünfhundert Mal angerufen."

"Okay ..."

"Und wo warste jetz?"

Keine Ahnung und irgendwie geht sie das doch auch nichts ...

"Ich hab mir Sorgen gemacht, Mann."

"Oh. ... Das tut mir leid. Also, ick ..."

"Is ja auch nicht so schlimm."

Ich atme auf.

"Ey, ich hab Karten für die "Sisters of Mercy"."

"Was? Geil. Du bist echt … Ick lieb dich."



9. Mai – Niebuhrstraße 38 b, Charlottenburg

Riiiiiiing.    Riiiiiing.     Riiiiiing.

Das Telefon.

Mein Herz poltert so los, dass ich nich ran gehen will, aber ... Ich schlurf in den Flur. Meine Beine sind schwer. Aber - vielleicht es ja doch endlich mal Jan. Oder noch lieber jemand, der mir nicht das Herz rausreißen will. Das wäre die bessere Option.

Heute ist kein guter Tag, Jans Abwesenheit ist so anwesend, als wäre sie eine lebendige Präsenz in der Niebuhrstraße.  

Puh, ist der Hörer schwer.

“Jan?" Die Hoffnung stirbt zuletzt oder so.

"Was? Nee, hier is Gitti. Ick wollt hören, was de heute abend so machst?"

"Och, nüscht besonderet!" Mein Plan ist weitere Bewußtlosigkeit. Entweder hier allein oder draußen gemischt mit Party. Beides fühlt sich gerade gleich sinnlos an.

"Hörst dich nich so jut an."

"Mhm."

"Was`n los?"

"Jan ist abgehauen und meldet sich nich."

"Oh. Dit tut mir leid. Habt er euch gestritten?” Sie fragt für ihre Verhältnisse sehr vorsichtig.

"Nö. ... Nich wirklich."

"Was heißt dit?"

"Er war nich so erfreut, als ick mit Suzi Speed gezogen hab und dann ist er abgehauen nach Italien zu seiner Felice."

“Oh. Naja, du kennst ja meine Meinung zu Suzi. … Tut mir trotzdem leid. Vermisst ihn, hm?"

Ich nick, weil ich es nicht laut aussprechen will. Tut dann nur noch mehr weh.

“Aber ick glaub, Suzi und ick sin da jetz och nich allein dran schuld. Ey, Gitti. Dich vermiss ick och. Kannste vorbeikommen?"

"Mhm. Is grad `n bisschen schlecht. Hab `ne neue Affäre und der ist so `n bisschen eifersüchtig."

Ich seufze. "Also, ick mein, freut mich für dich – wenn er nett is und nich nur eifersüchtig."

"Is er. `n Ticken spießig, aber süß."

"Aha."

"Und was is nu losgewesen, dass Jan meinte, er muss mal wieder abhauen?"

Dann muss ich es wohl am Telefon erzählen.

"Irgendwie ist er seit ein paar Wochen schon schräg drauf gewesen."

"Wie schräg?"

"Naja … Also, er hat so Experimente gemacht."

"Was Sexuelles?" Ich kann ihr Grinsen förmlich vor mir sehen. “Da wär ick durchaus och gern ma wieder dabei.”

"So, so. … Also, bevor wir zu dritt im Bett waren, dass er dit schon ma mit `nem Pärchen in London gemacht hat."

"... Wow. Hätt ick ihm gar nich zugetraut."

"Ick och nich." Irgendwie find ich das immer noch aufregend und auch sexy, aber noch mehr hat es mich auch vor den Kopf gestoßen. Aber was hätte ausgerechnet ich sagen sollen?

"Und – es gab da noch was, aber dit ... kann ick dir nich erzählen." Ich pule an der Haut an meinem Daumen herum, beiße ein Stück ab. Blut quillt hervor.

Mit Schaudern denke ich an den 1. März zurück. So habe ich ihn echt noch nie erlebt. Als wir auf Tour waren, war es ja auch wieder besser. Wegen dem Reisen? Ist er deswegen gegangen? Die Erklärung gefällt mir bisher am besten.

"Dit hört sich nach nüscht Jutem an."

"War`s och nich.” Wie viel darf ich erzählen? Ich lass besser Beate mal weg. Ich glaub nich, dass er will, dass Gitti oder andere das wissen. “Eigentlich dacht ick, dass er sich wieder gefangen hat. Aber dann – dann wollt er unbedingt mit mir Hasch probieren."

"Jan?" Ich bin froh, dass sie sofort versteht, wie ungewöhnlich das ist.

"Also, er war schon länger schräg drauf, aber bevor er abgehauen is, da war halt dieser Abend mit Suzi und dem Speed ..."

"Ey, Bela, die Frau, nee ..."

“Ja, ja. Schon jut.”

“Okay … Aber Jan weiß doch, dass de dit machst. …"

"Schon. Aber …"

"Ehrlich jesacht, so `n bisschen kann ick et och verstehen, dass er da nich so drauf abfährt, der alte Abstinenzler."

"Aber dit war noch nich alles. Zuerst ham wir uns gestritten und dann wollte er das ich mit ihm schlaf. … Und - dit war das erste Mal für ihn."

"Oh. ... Und da is was … schief gelaufen?"

"Nee. ... Also, ick glaub nich und ick glaub och, er mochte dit. Dann is er aber trotzdem am nächsten Morgen abgehauen nach Italien."

"Weil ihr ..."

"Ick weiß es nich.” Meine Verzweiflung klingt wie Wolfsgeheul in den Worten. “Jan is einfach so `n ... Geheimniskrämer. ... Manchmal frag ich mich schon, was ich noch alles nich weiß."

"Is schon so `n bisschen mysteriös manchma, der Gute, och wenn er dit unter seinem Strahlegrinsen gut zu verstecken weiß."

"Aber vielleicht is er ja bald wieder da, wenn er merkt, dass diese Italienerin ihn gar nicht da haben will, obwohl sie anscheinend mal total in ihn verknallt war. Versteh einer die Frauen."

"Häh?"

Ich erzähl ihr alles, also, zumindest den Teil, den ich weiß. Ohne den Brief wäre das sehr viel weniger gewesen.

"Ey, danke, Gitti! Tut voll gut, dass de dit verstehst. ... Kannste echt nich vorbeikommen?"

"Wird da deine Suzi nich och eifersüchtig?"

"Vielleicht. ... Wahrscheinlich."

"Weiß die dit mit Jan eigentlich?"

"Glaub schon."

"Dit is jetz nich wirklich `ne Antwort, Felsenheimer. Stell dit ma klar."

"Mhm. ... Ja, mach ich ja."

"Und ansonsten?"

"Sitz ick vor`m Telefon rum. Oder knall mir die Birne zu. Oder schlaf."

"Toller Plan."

"Wat besseret jibt es grad nich im Angebot."


Ich bin gerade auf dem Klo pinkeln, als das Telefon wieder losklingelt.

Riiiiiiing.    Riiiiiing.     Riiiiiing.  

Schnell spüle ich und ziehe den Reißverschluss hoch. "Ja?"

"Be-chrrxxx?"

Mein Herz jagt los. "Jan? Jan, bist dit du?"

"... Verbin... auch so schl..."

"Hey, Felice hat geschrieben. Sie will gar nich, dass du sie besuchst."

"Hä? ... nicht verst... Nur irgen... ... Felice. Sag noch ..."

Krrrchhh … Chrxhxxrch.      Klick.    Tuuut.  Tuuut.  Tuuut.

Verdammt. Ich hau den Hörer auf die Gabel, wart den ganzen restlichen Tag und die Nacht, dass er noch einmal anruft.



9. Mai – Alghero, Sardegna - Italia

Sardinien ist immer noch genauso schön wie bei meinem letzten Besuch. Dennoch hätte ich nicht gedacht, dass ich es so schnell wieder sehen würde.

Allerdings war ich das letzte Mal nur im Süden der Insel. Die alte Festungsstadt Alghero oben im Nordwesten hat eine schöne Atmosphäre zwischen gemütlich und mittelalterlich. An der Uferpromenade lasse ich mich auf der breiten Kaimauer nieder. Halb Alghero flaniert an mir vorbei, auf eine gemütliche Art. Tourist*innen sehe ich fast keine.

In der Ferne ragt eine steile Klippe aus dem Meer, auf der rhythmisch ein Leuchtturm zu mir hinüber leuchtet.

Da es schon dunkel wird, laufe ich an dem langen Sandstrand entlang bis ich ein ruhiges Eckchen finde. 

Der Sand unter mir ist kühl, aber weich. Ich habe Unterschlupf gefunden unter einer von Wind verdrehten Kiefer. Richtig heimelig wie in einer kleinen Höhle ist es unter ihr und alles duftet nach Pinien. Gerade kann ich mir keinen besseren Ort auf der Welt vorstellen, als hier am Mittelmeer zu liegen und den Zikaden zu zuhören, während der Leuchtturm über Lichtsignale mit mir kommuniziert.



Am nächsten Morgen ist der Weg zu Felice etwas kompliziert. Da mich kein Auto mitnimmt, laufe ich die 10 km entlang der Landstraße und über staubige Feldwege komplett zu Fuß. Erst am späten Nachmittag erreiche ich das Ortsschild.

Maristella.

Eine alte Frau mustert mich neugierig. Oder misstrauisch. Ihr Gesicht is so voller Runzel, dass ich das schwer einschätzen kann.

"Felice?"

Die Frau sieht auf meinen Gitarrenkoffer und lächelt mich an. "Vive con suo nonno, signor Piras."

Sie weist nach links, in Richtung eines bewaldeten Hügels, der den kleinen Ort Maristella leider vom Meer trennt.

Nach weiterer Fragerei stehe ich vor einem kleinen Steinhaus. Es ist alt, aber auf gepflegte Weise. Piras steht auf einem roten Briefkasten. Mein Herzschlag poltert so brutal los, dass ich ihn in meinem ganzen Körper spüren kann.

Ich klopfe an einer verwitterten Holztür.

Schwere Schritte, dann öffnet sich die Tür mit lautem Knarren. Ein wettergegerbtes Gesicht starrt mich an. Der Mann mit den tausend Falten in seiner tiefbraunen Haut sieht aus wie 80, aber seine Augen mustern mich sehr wach.

"Bon dia."

Ich starre den alten Mann an. "Buongiorno, Signor!", sage ich schnell, deute ein Kopfnicken an.

Er nickt zurück und sieht mich neugierig an. "Què vols aquí?"

Ich hatte gehört, dass es in Alghero eine Art Sprachenklave gibt, aber es jetzt wirklich live zu hören, überrascht mich nun doch.

"Mi chiamo Jan." Überflüssigerweise deute ich auf mich, als ob er kein Italienisch verstehen würde.

Er nickt wieder. "D'acord, però què vols aquí?"

Es klingt wie das Spanisch, dass ich vor vier Jahren in Barcelona gehört habe. Schnell krame ich mein Spanisch zusammen, weiche dann doch auf Italienisch aus. "Eh, vengo dalla Germania …."

"Germania!" Seine Miene verdüstert sich schlagartig so sehr, dass jede Falte in seinem Gesicht noch deutlicher hervortritt. "E cosa vuoi qui a casa mia?" Er hat ins Italienische gewechselt, aber verschwunden ist seine Freundlichkeit.

Ich schlucke, aber ich bin zu weit gereist, als das ich jetzt aufgebe. "Cerco Felice."

Sein Gesicht ist jetzt ein einziger Gewittersturm. "Cosa hai a che fare con mia nipote?"

Mist. Das ist wohl wirklich ihr Opa. Auf einmal geht neben mir eine Tür auf und sie steht vor mir in einem verwaschenen, weißen Sommerkleid, dass ihre Haut noch sonnenverwöhnter wirken lässt. Keine Schuhe.  

"Jan?" Ihre Augen sind so groß, als wäre ich ein Geist. Kein freches Grinsen, dass ich von ihr gewohnt bin. Sie wirkt gealtert. Etwas ist mit ihren Augen passiert. Sie strahlen nicht mehr. Ich erinnere mich an ihre Eltern. Sehen so Menschen aus, die den Tod kennen, ihm nicht nur ein Mal begegnet sind?

Sie fasst mich am Ellbogen und führt mich hinaus in den Sonnenschein. "Torniamo subito, Nonno Matia", wirft sie ihrem Großvater zu, dann schließt sie hinter uns die Haustür.

"Cosa ci fai qui?" Sie runzelt die Stirn. "Warum bist du gekommen hierher? Hast du meine Brief nicht bekommen?"

“Welchen Brief?”

“Den Letzten. Ich hab geschrieben an dich, du sollst nicht kommen." Es klingt ein wenig verzweifelt. Oder sauer.

"Oh. ... Das wusste ich nicht." Die Situation, sie, alles macht mich wirklich unsicher. “Non ho ricevuto la sua lettera." Das Italienisch holpert mir schwer über die Lippen. "Auf Reisen fühle ich mich selten fremd in anderen Ländern, aber gerade ...

"L’ho spedito solo due settimane fa." Sie seufzt. "Ich habe ihn erst geschickt vor zwei Wochen."

Mir wird ein bisschen seltsam. Ich trete einen Schritt zurück, sie einen auf mich zu.

Mein Herz wird so schwer, dass ich mir auf die Lippen beißen muss. "Ich kann auch ... wieder fahren."

Sie nickt, schüttelt dann den Kopf. "No. Resta! Du bist so weit gefahren. Das ist doch - Wie sagt man – Quatsch? - wenn du jetzt wieder gehst."

Wir sehen uns an und ein kleines Lächeln taucht auf ihrem Gesicht auf. Schön sieht sie aus.

Sie kommt auf mich zu, schirmt uns ab. "Ich muss schauen, wie ich Nonno Matia erkläre ...", sagt sie leise, dann geht sie zurück ins Haus, schließt die Tür hinter sich.

Es wird ziemlich laut in dem kleinen Steinhaus. Leider kann ich nur einige Wörter verstehen: uomo - tedesco  - seconda guerra mondiale – occhi belli – seduzione - bambino. Ein wenig kann ich mir die Geschichte zusammenreimen.

Es ist mir bisher nicht besonders oft in Italien passiert, aber manchmal geht es dann eben doch um die deutsche Nazivergangenheit und alt genug ist der Mann, dass er wahrscheinlich sogar noch den ersten Weltkrieg miterlebt hat. Das Kind ist wohl eher ein Baby, wenn ich es in Verbindung zu den schönen Augen und der Verführung bringe. Oje.

Es wäre wohl wirklich besser wieder zu gehen.  

Als Felice nach einer Viertelstunde aus dem Haus kommt, nickt sie mir mit roten Wangen zu.

Andiamo.

Sie geht hinüber zu einer kleinen Vespa und startet sie mit einem wilden Tritt, deutet mir an mich hinter sie zu setzen.

Wir fahren über kaum befestigte Schotterpisten vorbei an alten Olivenbäumen. Die Sonne steht tief über dem glitzernden Mittelmeer und blendet mich.

Felices Haare wehen wild in mein Gesicht. Sie riecht anders als in Neapel – angenehm verschwitzt, nach Sardinien. Mitten in der Fahrt nimmt sie meine Hand und legt sie an ihre Hüfte. Als ich mich an ihren Rücken schmiege, höre ich sie zustimmend brummen.

Sie hält neben einem Olivenhain und stellt den Motor ab.

Ich klettere von der Vespa und stehe in der plötzlichen Stille ein wenig beklommen vor ihr.

"Es tut mir leid. Ich hätte nicht kommen sollen."

"Jan?" Auf einmal klingt mein Name ganz sanft in ihrem Mund. "Das ich nicht wollte, dass du kommst ..." Sie sieht mich ernst an. "Es ist nicht, dass ich mich nicht freue dich zu sehen." Sie lächelt mich an. "Capisci?"

Ich nicke, auch wenn ich mir nicht sicher bin, ob ich wirklich verstehe.

Sie steigt von der Vespa. Die Sonne schimmert durch ihr Kleid und gerade sieht sie aus wie eine auf die Erde gestiegene Göttin. Sie tritt auf mich zu, nimmt mein Gesicht zwischen ihre Hände und stellt sich auf die Zehenspitzen.

"Ich habe noch nicht mal richtig Hallo gesagt." Sie umarmt mich und in mir wird alles weich und warm. "Ciao, Jan."

"Komm mit." Sie nimmt meine Hand und führt mich durch den Olivenhain.


Die silbrig-grünen Äste wedeln im warmen Sommerwind hin und her, als würden sie sich Luft zu fecheln. Das Gras um sie herum wirkt noch saftig, ist aber an manchen Stellen schon verdorrt.

Ich schaue genauer auf die Äste und entdecke kleine weiße Blüten. Daraus werden dann vermutlich später mal Oliven heranwachsen. Irgendwie echt cool. In Berlin bin ich irgendwie so abgeschnitten von der Natur. In Frohnau war das noch anders.


Wir nähern uns der Küste. Sand an einem Strand hat einen ganz besonderen Duft, den ich überall erkennen würde und auch hier umweht er mich, der Duft nach gemahlenen Steinen. Jetzt höre ich auch Wellen. Vor uns steht eine runde Struktur aus Steinen. Es wirkt wie ein kleiner Turm.

"Hier."

"Was ist das?"

"Ein alter Rifugio. Wie sagt man – Bunker?"

"Oh. ... Das meinte dein Großvater wohl mit "È tedesco. Probabilmente conosce i rifugio. Natürlich. Deutsche und Bunker gehören zusammen." Ich bin dem alten Mann nicht wirklich böse.

Felice lächelt entschuldigend. "Am liebsten hätte er dich wohl ganz weggeschickt. Das war schon der beste … compromesso."

Ich bücke mich und trete in den kleinen Raum, erwarte den Geruch nach Pisse und Bier, so wie das in Berlin der Fall gewesen wäre, aber hier ... Es riecht ein wenig moderig, aber ansonsten ist es okay

Der Raum wirkt innen durch die Fenster und die weiße Farbe sogar recht hell. Eine Hälfte der Fläche ist mit Werkzeug vollgestellt. Auf der anderen Seite steht ein Tisch vor einer Holzpritsche. Die zwei Fenster blicken auf das Meer, dass in der Mittagssonne glitzert wie Silber. Fast wohnlich, denke ich, bis mir einfällt, das die "Fenster" vermutlich für Maschinengewehre waren.

"Va bene?"

Ich wuchte meinen Rucksack und meinen Gitarrenkoffer auf die Pritsche. "Home, sweet home."

Sie lässt sich neben den Rucksack fallen und grinst mich an.

"Du bist ein bisschen wie ein … äh, spirito.” Sie sieht mich prüfend an. 

“Ein Gespenst?” Wenn wir noch so unbeschwert wären wie in Neapel, würde ich sie jetzt einfach kitzeln. Von wegen Spirito. 

“Hat der Gespenst Hunger?"

"Gespenster müssen nichts essen!" 

Einen Moment sieht sie mich ungläubig an, dann lacht sie los. Sie holt etwas aus ihrer Umhängetasche. "Ist nur eine Foccacia."

Ich beiße hinein. Mhm. Tomaten und Pecorino. "Die Beste, die ich je gegessen habe."

Sie lächelt und ich würde sie gerne an mich ziehen, aber sie wendet sich abrupt von mir ab. "Lass uns hinunter ans Wasser gehen."

Wir schlagen uns auf einem kleinen Pfad durch die Maccia und lassen uns auf einem großen Stein nieder.

Sie holt eine Flasche aus ihrer Tasche und hält sie mir hin.

"Wein?"

Sie nickt. "Immer noch nicht, hm?"

"Esatto."

"Stört es dich, wenn ich ein wenig trinke? ... Ist ein bisschen eine Angewohnheit bekommen seit ..." Sie blickt traurig zu mir. "Ist nicht so gute Angewohnheit, hm?"

Am liebsten würde ich ihr die Flasche aus den Händen nehmen. Vorsichtig nicke ich. "Es tut mir sehr leid mit deiner Nonna."

"Mir auch. Mir war nicht klar, wie sehr ihr Tod ... Es macht alles wieder auf mit meinen Eltern, weißt du? Besser nich darüber reden." Sie nimmt einen langen Schluck. "Und du? Wie geht es dir?"

"Gut."

Sie sieht mich prüfend an. "Du bist irgendwie … nicht mehr so strahlend."

"Du auch nicht", schieße ich zurück.

Sie dreht sich weg, als hätte ihr eine Ohrfeige verpasst. Ich bin so ein Trottel. 

"Entschuldige. Ich wollte nicht ..."

Als sie mich wieder ansieht, ist ihre Miene verschlossen.

Verzweifelt suche ich nach etwas, dass es wieder gut macht. Die Wahrheit. "Vielleicht wirk ick nich mehr so strahlend, weil ... Ick hatte in Berlin `n nich so jutet Erlebnis."

Sie dreht sich ein Stückchen mehr zu mir. Keine Ahnung, was sie in meinem Gesicht liest, aber ihre Gesichtzüge werden auf einmal ganz weich.

"Was ist passiert?"

Ich hole tief Luft, weil das ist wie vom Zehner im Freibad zu springen. Ich kann es nicht erzählen, wenn ich sie ansehe, also erzähle ich es dem Meer. “Da war diese Frau und …”, stottere ich mich durch die Erklärung, dann wechsel ich ins Italienische und obwohl ich es nicht fließend spreche, wird es dadurch viel einfacher. 

"Era la nostra manager. Viveva con me e Bela nel nostro piccolo appartamento. Ha aiutato molto il nostro gruppo. Mi sono fidato completamente di lei, ma poi ..." Die Geschichte platzt schließlich in einem einzigen Schwall aus mir heraus, als würde ich mich übergeben.

Die Sonne hat jetzt den Horizont erreicht. Die roten Kiefernstämme um uns herum glühen, als würden sie gleich in Flammen aufgehen.

"Irgendwie ist seitdem alles ein bisschen ... anders", ende ich, starre dann blicklos auf das Meer hinaus. Leer. Auf einmal bricht das ganze Reiseadrenalin in sich zusammen und ich bin nur noch leer. Vielleicht eine gute Leere, so ganz bin ich mir noch nicht sicher.

Felice hat die ganze Zeit nur zugehört, aber auf einmal springt sie wutentbrannt auf. "Che mostro! La odio. Se la incontrassi le caverei gli occhi." Feuer lodert in ihren Augen und ihre Lebendigkeit tut mir gut.

So schnell Felices Wut hochgekocht ist, so schnell beruhigt sie sich auch wieder. Sie atmet einmal tief durch, dann setzt sie sich wieder zu mir, streicht behutsam über meine Finger. "Oh, Jan. Es tut mir leid. Vielleicht jetzt verstehe ich besser, was mit deinem Grinsen passiert ist. Es ist ... kaputt?" Unsicher sieht sie mich an. "Sagt man das so?"

Ich hole tief Luft, seufze dann aber nur. "Ja, kaputt ist wohl ein ganz gutes Wort." Eine Gänsehaut zieht über meine Arme, obwohl mir in der Abendsonne nicht kalt ist. Aber so richtig nehme ich die auch gerade nicht wahr. Alles ist weit weg und ein wenig surreal. Das einzig warme sind Felices Finger auf meinem Handgelenk. Irgendwie fühlt sich meine Haut sehr dünn an.

"Kann ich ...?" Sie öffnet ihre Arme.  

"Ja. ... Bitte." Sie umarmt mich vorsichtig, hält mich einfach nur fest und langsam komme ich wieder in der Realität an. Als sie mich wieder loslässt, bleibt sie einfach neben mir sitzen und hält schweigend meine Hand.

Der letzte Rest der Sonne verschwindet am Horizont.

Sie blickt zu mir. "Es tut mir so leid, Jan, aber ich habe Nonno Matia versprochen, dass ich zurückkomme, wenn es Abend wird. Das war seine Bedingung."

"Oh. ... Okay."

"Ist wirklich schade. Kommst du denn hier alleine in Ordnung?"

"Ja. ... Ja, klar."

"Buono." Sie küsst mich auf die Wange, aber ihre Umarmung ist lang und fest und tut verdammt gut. "Ich komme morgen früh mit Frühstück vorbei."


12. Mai – Maristella, Sardegna

Ich sitze vor dem Bunker in der Sonne, als ich das inzwischen bekannte Knattern der Vespa höre. Zum Glück. Ich habe seit gestern Nacht kein Wasser mehr.

Aber auf einmal steht nicht nur Felice, sondern auch ihr Nonno vor mir.

"Buongiorno, Signor Piras!” Schnell ziehe ich mir ein T-Shirt über. “Grazie per avermi permesso di passare la notte qui nel suo uliveto!”

Leider höre ich trotzdem sehr deutlich, was er in meine Richtung grummelt.  "Beh, questo era chiaro. Probabilmente il ragazzo ozia tutto il giorno al sole." Er nimmt sich eine große Astschere, einen Rechen und die Schubkarre aus dem Bunker.

Ich hasse es faul genannt zu werden. Gerd hat das immer gemacht. Andererseits weckt das auch meinen Trotz.

“Posso aiutarvi a lavorare”, biete ich ihm an, auch wenn ich keine Ahnung, was für Arbeiten eigentlich in einem Olivenhain anfallen.

"Perché parla così bene l’italiano?", fragt er Felice über meinen Kopf hinweg.

Ich unterdrücke einen tiefen Seufzer. Ja, mein Italienisch ist dank Felice wirklich gut.

"Lo chiederò a me stesso!", erwidert Felice auch, aber natürlich fragt er mich nicht selbst.

Stattdessen nimmt Signor Piras seine Schirmmütze ab und kratzt sich an seinem staatlichen grauen Haar. "Non ho molte speranze, ma anche questo non aiuta. Dopotutto, gli diamo da mangiare."

Na, super. Natürlich bin ich dankbar für das Essen und das Bunkerdach über dem Kopf, auch wenn ich mir weder meinen Urlaub noch meine Zeit mit Felice so vorgestellt habe. Aber ich hatte es auf Reisen auch schon sehr viel schlimmer.

Er sieht mich abschätzig an, dann wirft er mir einen Spaten zu, den ich aus der Luft fange. "Digli di finire di scavare la trincea qui. Fino alla strada."

Er deutet Felice an, dass sie übersetzen soll, aber sie sieht mich nur fragend an, bis ich abwinke und stattdessen zu graben beginne.

"Ispero chi su giòvanu non si fatzat calos in sas manos delicadas tropu in presse." Dieses Mal spricht er wieder dieses Algueres, dass Ähnlichkeit mit Katalan hat. Anscheinend ist ihm aufgefallen, dass ich wohl tatsächlich Italienisch verstehe. Allerdings auch ein wenig Katalan, wenn auch nicht so gut.

"Fatzat calos?", fragt Felice irritiert nach.

Er deutet auf seine Hände, auf die harten Schwielen an seinen Fingern.

"Oh." Sie rollt mit den Augen. "Non capisco gli algueres, Nonno.” Sie sieht zu mir hinüber. “Er macht das immer, wenn er so richtig genervt ist. Dabei weiß er doch genau, dass ich nicht dieses komische Algueres spreche. Jan, du musst nicht arbeiten, wenn du nicht willst, okay? Du bist ein Gast.”

“Schon okay. Ich mach das gerne.” Und irgendwie stimmt das auch. Es macht mir Spaß etwas nützliches mit meinen Händen zu tun. Aber die Sonne sticht heftig auf mich hinunter und ich warte nur auf den Moment ins Wasser springen zu dürfen. Aber aufgeben ist nicht. Dem Typen zeige ich es.

"Andiamo, Felice! Gli ulivi non si potano da soli."

Er und Felice beschneiden in meiner Nähe die Olivenbäume und rechen Unkraut unter den Stämmen zusammen. Keine Ahnung, was alles für Arbeiten in so einem Hain notwendig sind.

"È necessario potare i rami con molta attenzione potatura." Geduldig erklärt er Felice, wie er die Äste beschneidet. Ich sehe den beiden eine Weile zu, lerne sogar ein wenig dabei.

Dann verschwinden sie hinter einem kleinen Hügel, der hinunter zum Wasser führt.

Auf einmal rieche ich Rauch. Tatsächlich. Eine dunkle Wolke steht über dem Hain. So schnell ich kann laufe ich hinüber. Ein Feuer lodert zwischen ein paar Bäumen.

Ich laufe weiter zu Felice und winke wild. "C’è un incendio."

Signor Piras runzelt die Stirn. "Cosa c’è che non va in lui adesso?"

Ich komme mir vor wie ein Idiot und wedle mit den Händen in Richtung der Flammen. "Fuoco. Abbiamo bisogno di acqua per spegnerlo." Hektisch sehe ich mich um, beginne dann Erde auf die Flammen zu schaufeln. “La terra soffoca il fuoco.”

Auf einmal fängt Signor Piras an zu lachen. Er deutet zu mir. “Digli che abbiamo appiccato il fuoco di proposito. Ma è un bene che sia così attento.”

Felice kommt zu mir hinüber, aber ich habe schon verstanden, dass er das Feuer wohl absichtlich angezündet hat.

Ein kleines Schmunzeln liegt immer noch um den grauen Schnurrbart von Signor Piras. Es war schön mal eine freundlichere Seite von ihm zu sehen, dennoch komme ich mir wie der letzte Trottel vor.

Nach zwei Stunden winkt mir Felice zu. "Mittagspause." Sie wischt sich den Schweiß von der Stirn.

Ich mustere sie. "Dir gefällt die Arbeit, oder?", sage ich leise auf deutsch.

"Es hilft, wenn man nicht zu viel nachdenken will."

"Stimmt."

Signor Piras hat im Rifugio Brot, Olivenöl und Pecorino auf den Tisch gestellt. Ich bin wirklich froh, dass ich den Bunker einigermaßen ordentlich gehalten habe. Er ignoriert mich wieder, aber Felice deutet, dass ich mich setzen soll.

Wir essen schweigend und auch wenn es ein wenig ungemütlich ist, dass Essen ist fantastisch.

Als wir aufgegessen haben, knallt er eine Flasche Rotwein auf den Tisch und schenkt uns ein.

"Grazie, ma non bevo", wende ich mich direkt an ihn.

"È veramente strano." Er schüttelt den Kopf, aber zum ersten Mal sieht er mich wirklich an oder vielmehr mustert er mich.



13. Mai – Maristella, Sardegna

Ich sitze gerade mit meiner Gitarre vor dem Bunker und probiere mich an einem neuen Stück. Mein Kopf ist halb voller italienischer Wörter und ich bekomme keinen sinnvollen Text zusammen.

Wie schön es war, du und ich allein am Strand
Und dann kann ich es alles kaum fassen
Hast du mich nie geliebt?
Hast du mich nie geliebt?

Auf einmal stehen Signor Piras und Felice vor mir. Anscheinend war ich zu vertieft in das neue Lied und habe Signor Piras kleinen Fiat nicht gehört, weil ich die Vespa erwartet habe. Schnell höre ich auf zu singen.

Ich darf mit zum Einkaufen, obwohl ich kaum auf den Beifahrersitz des kleinen Fiat passe.

“Schau mal, Jan!” Felice deutet auf eine Schafherde mit kleinen Lämmchen. “Süß.” Sie strahlt.

“Deve essere sempre così per il tedesco?” Er schreit nicht, sagt es nur leise, deutet dann auf mich. “Parla italiano.”

“Siamo felici di parlare solo in italiano. Allora anch'io imparerò di più.” Ich mag italienisch und würde wirklich gerne mehr lernen.


“Ecco fatto.” Signor Piras deutet auf mich und sieht sehr zufrieden aus, dann kurbelt er das Fenster hinunter und spuckt vor dem Ortsschild von Fertilia aus. "Villaggio fascista!"

Erstaunt drehe ich mich zu Felice auf der Rückbank.

"Cavolo, nonno! La gente non può farci niente!", weißt sie ihren Opa zurecht. "Non dovremmo avere compassione per i rifugiati?"

"SÌ. Hai ragione …", grummelt er.

Felice neigt ihren Kopf zu mir und flüstert mir auf Deutsch zu: "Das Dorf wurde zu Ehren Mussolinis errichtet. Später sind dann aber Flüchtlinge aus Istrien hierher gesiedelt. Nonno hasst das Dorf trotzdem."

Auf einmal spüre ich Signor Piras Augen auf mir. "Qual è il suo orientamento politico?" Das erste Mal, dass er mich persönlich anspricht.

Felice sieht mich an und ihre Miene sagt Minenfeld.

"Eh …" Jetzt bloß nichts falsches sagen. "Non credo molto alla politica."

"È tedesco." Vorwurfsvoll sieht er mich an. "Mi hanno portato via la giovinezza. E mia figlia." Auf einmal ist da Schmerz in den Augen des alten Mannes.

Felice sieht zu mir. Ihre Hand zuckt über die Rückenlehne zu meiner Schulter, aber dann berührt sie sie doch nicht.  Wohl besser, denn Signor Piras sieht mich unter seiner Schirmmütze nun wieder sehr böse an.

“Mi dispiace molto per questo. Vorrei che non ti fosse successo.” Ich hoffe, ich habe mein Mitgefühl für seine verlorene Jugend und seine verstorbene Tochter richtig ausgedrückt. Anscheinend, denn sein Blick wird wieder milder.

“Non è stato sempre facile per lui", erklärt mir Felice.

"Facile!”, fährt er wieder hoch. Zum Glück sind wir an unserem Ziel angekommen. Schwungvoll parkt Signor Piras das Auto vor dem Supermarkt.

Er stellt den Motor ab und blickt dann zu mir.  "Come non essere politico?"

Es ist echt seltsam mal nicht von Politpunkern des unpolitisch seins bezichtigt zu werden. Vor dem alten Mann ist es mir tatsächlich ein wenig peinlich.

"Er ist immer noch Anarchist."

"Was?" Ungläubig mustere ich den alten Mann.

"Ja. Er hat im Spanischen Bürgerkrieg gekämpft."

"Mit deutsch Genossin und Genosse", fügt er grollend hinzu.

Ich erschrecke mich so sehr, dass ich mir den Kopf am Dach des kleinen Fiat anhaue. "Oh, äh, … ich wusste nicht, dass sie deutsch sprechen."

"Nich sprecke, nur …" Er deutet auf seine Ohren.

"Okay. Ich dachte Sie haben im Zweiten Weltkrieg gegen die Deutschen gekämpft."

"Auch. Immer gekampft. Anche in Italia. Ci sono fascisti ovunque. Purtroppo." Der Blick seiner sonst so wachen Augen trübt sich, als würde er in seiner Erinnerung in die Vergangenheit eintauchen. "Avevo tre anni. E poi arrivò Mussolini. Quando avevo 23 anni, la seconda guerra mondiale era finalmente finita. Che cosa avrei dovuto fare? Arrenditi? Ho sempre lottato contro il fascismo."

Er hat mehr oder weniger die ersten zwei Jahrzehnte seines Lebens im Faschismus verbracht oder vielmehr im Kampf dagegen. Es beeindruckt mich, dass er trotz seine Alters immer noch diese politische Entschiedenheit hat.

Der Blick des alten Mannes schärft sich wieder. Langsam dreht er sich um zu Felice. "Ho conosciuto tua nonna in Spagna. È un peccato che non ti abbia mai conosciuto." Er lächelt und wirkt auf einmal viel jünger - und netter. "Lei ti vorrebbe."

Ich hätte Felices Oma auch gerne kennengelernt, wenn sie dieser so ähnlich ist.

"Ora basta con le vecchie storie." Resolut steigt Signor Piras aus und schlägt die Fahrertür zu. Nur ich sehe wie er sich verstohlen über die Augen wischt.

Alte Geschichten können echt weh tun. Vielleicht ist es wirklich besser diese nicht zu sehr aufzurühren.



16. Mai – Maristella, Sardegna

Endlich Wochenende.

Wäre schön endlich mal wieder Zeit mit Felice alleine zu haben, aber zuverlässig taucht Signor Piras mit ihr auf. Inzwischen bin ich mir nicht mal mehr sicher, ob er darauf besteht mitzukommen oder sie ihn jedes Mal dabei haben will.

Er hat eine Mandoline dabei und ich kann den Blick nicht von dem alten Instrument abwenden.

Schließlich nimmt er sie und fängt an zu spielen.

Ich beobachte seine Finger. Schwierig.

Fragend hält er mir die Mandoline hin. “Non è molto diverso dalla chitarra. E si può fare.”

Mir wird richtig warm bei seinem Lob. Aber Mandoline und Gitarre sind schon sehr unterschiedliche Instrumente.

Und dementsprechend schrecklich klingt es die ersten Minuten auch, dann bekomme ich mehr Gefühl das filigrane Instrument.

“Sai cantare una canzone italiana?”, fragt mich Signor Piras.

Zögerlich beginne ich mir die Akkorde zusammen zu suchen und fange an zu spielen.

“O partigiano porta mi via
O bella ciao, bella ciao, bella ciao ciao ciao
O partigiano porta mi via
Che mi sento di morir”


Als ich ende, streckt er mir die Hand hin.

Unsicher fasse ich sie. Schwer und rauh liegt sie in meiner, dann drückt er einmal zu.

"Sono Matia."

"Piacere", sage ich. “Jan.”

"Ancora non beve?" Er sieht mich ernst an.

"No. Non ho mai bevuto", antworte ich vorsichtig, weil ich nicht lügen will und ich immer noch nicht trinke, auch wenn Felice es jeden Tag tut.

"Strano."

Auch sein Blick sagt, dass ich seltsam bin, aber seltsam komme ich mir in seiner Gegenwart sowieso die ganze Zeit vor.

"Una buona decisione.” Er zwinkert mir zu.



17. Mai – Maristella, Sardegna

Am nächsten Tag kommt Felice allein.

"Wo ist ...?"

"Er meinte, dass er heute gerne mal einfach nur Ruhe hat. Aber ich kann gerne zu dir gehen." Felice wackelt mit den Augenbrauen und lacht.

"So, so."

"Toll, oder?"

"Sehr toll."

"Hast du Lust an den Strand unten zu gehen?"

"Unbedingt."

Wir gehen vier Mal ins Wasser, weil es so angenehm warm ist. Tatsächlich habe ich einige Blasen von der Arbeit und das Salzwasser brennt übel in der offenen Haut, aber lasse mir nichts anmerken. Den Rest des vormittags verpennen wir am Strand.

Ich sehe zu ihr hinüber und da ist ein Sehnen in mir sie zu berühren und … "Felice?"

"Mhm?", kommt es verschlafen zurück.

"Oh, tschuldige. Ich wollte dich nicht aufwecken."

"Schon okay." Sie dreht sich auf den Rücken, rollt dadurch näher an mich heran. Ihre Haare gleiten über meine Brust und ihre sonnenwarme Haut am Bein berührt meins. Schlagartig ist sie so nah und …

"Allora?" Sie sieht süß aus, so verschlafen.

Ich versuche nicht in den Ausschnitt ihres Badeanzugs zu schauen, aber …  Schnell drehe ich mich auf den Bauch.

"Alles okay mit dir?" Sie lacht und strubbelt mir durch die Haare. "Vielleicht zu viel Sonne für il biondo di berlino?"

Ihre Hand in meinen Haaren hat es echt nicht besser gemacht. Ich schlage sie sanft weg.

"Also, ick wollt fragen, ob … Meinste, Matia würd dir erlauben, dass de mal bei mir im Rifugio übernachtest?" Ich frage so vorsichtig wie ich kann. "Also, nur wenn du das natürlich auch willst?"

Sie runzelt die Stirn. "Vielleicht." Sie streicht sich eine Strähne aus dem Gesicht. "Was fragst du eigentlich, Jan?"

Ich beiße mir auf die Lippen. "Also ... naja, ob du vielleicht gerne mit mir eine Nacht verbringen würdest."

Sie stutzt. "... Du meinst ... Also, es war schön mit dir. Damals. Sehr schön. ... Aber ..." Sie verstummt.

"Aber?"

"Die Briefe ... In denen konnte ich dir sagen, wie viel du mir bedeutest, weil du warst nicht hier und so war das nicht gefährlich."

"Findest du denn immer noch, dass ich gefährlich bin?"

Sie lacht, aber es klingt nicht fröhlich. "Weißt du eigentlich, wie du ... Du bist nett. Du bist witzig. Siehst gut aus und bist auch noch intelligent. Es ist fast zu viel auf einmal, verstehst du? Und du warst der erste Mann, mit dem ich geschlafen habe. Aber du bist auch Deutscher."

"Nicht du jetzt auch noch ...", entfährt es mir.

"Nein, lass mich reden." Sie sieht für einen Moment hinaus auf das Meer, als müsste sie sich sammeln. "Bitte sag ehrlich: Kannst du dir vorstellen, hier zu leben? Hier in Maristella. Mit mir. Und Nonno."

Jetzt muss ich wegsehen.

"Das meine ich." Ihr Blick verschattet sich, als wäre die Sonne hinter Wolken verschwunden. "Oder geht es dir nur darum wieder mit mir zu schlafen?" Sie mustert mich.

"Ich weiß nicht. ... Ich habe seit dem ..." Ich überlege, ob das mit Claire zählt, aber nein. Das war was anderes. "Ich habe dir doch erzählt ... Ein bisschen unsicher bin ich mir, ob ich gerade überhaupt etwas mit Frauen … Aber mit dir … Es war immer so gut mit dir."

Jetzt lächelt sie doch und die Sonne scheint wieder. "Ja. Mit dir auch. Das ist ja das Schlimme. ... Es hat sehr weh getan, als du gegangen bist."

"Aber du wolltest damals doch, dass ich gehe." Was habe ich nicht verstanden?

Sie sieht weg, dann mir fest in die Augen. "Ja, aber nur, weil ich wusste, dass ich dich nicht haben kann. Du warst damals schon verliebt in deinen Freund, diesen Bella."

"Bela. ... Ich war damals nicht ..."

Sie sieht mich einfach nur an. "Dein Herz ist nie ganz frei gewesen."

Es schmerzt. Und ich kann nicht sagen, ob es das Gefühl ist nicht frei zu sein oder ...

"Bela ist mir wichtig. Wirklich wichtig."

"Ich weiß. Sogar wenn du hast nicht über ihn in Briefen geschreiben, er war da."

Ich bin völlig überwältigt. Vorsichtig fasse ich nach ihrem Arm, der zart und sehnig in meinen großen Händen liegt. Ihre braungebrannte Haut ist verschwitzt und dennoch so weich. Sehnsucht – ich kann nicht mal genau sagen wonach.

"Mi dispiace molto. Es tut mir sehr leid, Felice."

Sie nickt. "Es reißt ein bisschen an meinem Herzen, dass du wieder da bist. Ein bisschen viel sogar. ..." Sie entzieht mir vorsichtig ihren Arm. "Ich verstehe nicht, wie du das kannst: gleichzeitig mich mögen und Bela."

Ich denke lange nach, will ihr keine oberflächliche Antwort geben, aber … "Ich befürchte, ich kann es nicht erklären. Ich liebe einfach Menschen." Und auf einmal verstehe ich Bela, bin ihm hier in der Ferne so nah.

"Du liebst mich?" Vorsichtig sieht sie mich an.

"Ein bisschen."

"Nur ein bisschen?"

Ich schlucke, aber will sie nicht anlügen. Ich fühle mich sehr zu ihr hingezogen, aber sie ist nicht … "Du hast es ja selbst gesagt: Ich bin weit weg."

"Mhm." Langsam dreht sie ihren Kopf von mir weg, blickt wieder hinaus auf das Meer. "Manchmal bin ich ganz froh, dass Nonno nicht möchte, dass wir uns so viel sehen." Sie lässt den Kopf hängen und ich möchte sie umarmen, aber genau das soll ich ja nicht.



23. Mai – Maristella, Sardegna

Wieder Wochenende. Wieder wir, am Strand, nach einer langen arbeitsamen und heißen Woche.

Am frühen Nachmittag sieht Felice sich am Platja del Llatzeret um und seufzt. "Viel zu viele Leute. Sollen wir zu einem Strand fahren, wo wir sind allein?"

Mein Herzschlag wird schneller. "Okay."

Auf der Vespa brausen über die holprige Piste aus roter Erde durch den Kiefernwald.

Felice versteckt die Vespa zwischen ein paar niedrigen Büschen. "Jetzt müssen wir ein bisschen klettern." Auf einmal sieht sie mich ernst an. "Du hast keine – wie heißt das – paura dell’alto."

"Angst vor Höhe? ... Ah, Höhenangst. Nee, hab ich nich."

"Buono."

"Was sind denn das für gelbe Kugeln an dem Baum?"

"Acacia d’oro. È bello, vero?"

"Ja. Sieht irgendwie lustig aus."

Schließlich brechen wir aus dem Wald und stehen an der scharf abfallenden Küste.

“Ich kenne einen Geheimweg.” Wie eine Gemse beginne Felice in rasantem Tempo über die Felsen bergab zu klettern. Als wir um eine Felszunge biegen, breitet sich vor uns ein spektakulärer Anblick aus. Ich bleibe wie angewurzelt stehen.

“Wow!”

"Das ist das Capo Caccia." Felice deutet auf die schroffen Klippen in der Ferne. “Ich liebe den Anblick. Also, jetzt ich liebe ihn. Am Anfang, es war nicht so leicht hier auf Sardegna." Sie seufzt.

Wir bleiben eine Weile unten auf den Felsen liegen und lassen uns von den Wellen und dem Ausblick hypnotisieren.

Dunkel. Auf einmal wird es immer dunkler.

"Oh, oh. Das sieht aus, als würde ein Gewitter kommen."

Mein Mund wird trocken. "Gewitter?"

"Mhm." Fieberhaft sieht sich Felice um. "Wir schaffen es nicht mehr zurück bis zum Rifugio. Aber es gibt hier in der Nähe noch einen. Komm."

In der Ferne hören wir jetzt auch das erste Donnergrollen und ich bleibe mitten in der Bewegung stehen.

“Andiamo. Wir müssen schnell sein, um Schutz zu finden.”

“Okay. … Okay.” Ich zwinge meinen Körper mir zu gehorchen und klettere ohne mich nach der dunklen Gewitterfront umzusehen hinter ihr her zurück zum Höhenweg. Als wir oben stehen, blicken wir über die Bucht.

Ich kann den Blick nicht abwenden von den bleigrauen Wolken. Ein greller Blitz zuckt in einiger Entfernung über den Himmel, als wollte er einen silbernen Speer nach uns werfen.  

Auf einmal steht sie ganz nah bei mir. “Jan? ... Du zitterst."

Ich versuche es zu unterdrücken.

"Ist dir kalt?" Ihre Augen liegen so groß und besorgt auf mir.

"Nee, nee. Is schon gut."

Donner wummert über das Wasser und ich zucke heftig zusammen.

"Ick hab nur irgenwie … Angst vor Gewitter."

"Oh." Felices Augen werden ganz mitfühlend. “Komm. Wir verstecken uns in die andere Rifugio.”

Wir laufen auf dem schmalen Weg durch die struppige Maccia. Böen wehen Sand und lose Kiefernnadeln um uns herum auf.

“Wir sind fast da. Komm.” Sie nimmt meine Hand.

“Hier.” Sie zeigt auf eine dunkle Aushöhlung in einer Betonwand. "Hinein mit dir.”

Dieser Bunker ist sehr viel weniger wohnlich als der von Nonno Matia. Wir kauern uns auf den blanken Stein. Felice holt aus ihrer Umhängetasche ein großes Handtuch und wir schlingen es um uns beide.

Es hilft. Die Wärme ihrer Haut, ihre Nähe.

"Besser? Du zitterst nur noch ein bisschen."

"Besser.” Ich lehne mich vorsichtig an sie. “Vor ein paar Jahren, Bela und ich kannten uns erst knapp ein Jahr, da sind wir zusammen campen gegangen. Und da war es auch ganz schlimm und …" Ich denke daran zurück an dieses andere Gewitter, an ein Zelt und bevor ich mich stoppen kann … "Weil ich so Angst hatte bei dem Gewitter hat Bela mich das erste Mal geküsst. Da war ich noch nicht mal 18.”

Irritiert sieht sie mich an. "Aber ich dachte … Seid ihr schon lange ein Paar? Als du bei mir warst in Napoli, da …" Sie runzelt die Stirn. "Ich dachte, ihr wart damals nicht zusammen."

"Waren wir auch nicht."

“Mhm.” Sie sieht mich lange an in der dämmrigen Stimmung des Bunkers. Draußen klatscht und prasselt der Regen auf den Sandboden und ich kuschel mich noch ein Stück mehr an sie. Irgendwie fände ich es schön, wenn sie mich küssen würde, aber …

Sie scheint meinen Blick auf ihre Lippen zu bemerken, drängt sich fester an mich und für einen Moment ... Dann rutscht sie ein Stück von mir weg.

“Ich hab dich wirklich lieb, Jan, aber … ich kann mir das nicht noch einmal antun mit den Schmerzen.”

Auch wenn es schmerzt, eine andere Art von Schmerz als bei ihr vermutlich - ich kann es verstehen. Liebeskummer ist ein stumpfes Messer.


25. Mai – Fertilia, Sardegna

Zum fünften Mal wähle ich die Nummer. Eigentlich zum siebzehnten Mal, denn ich versuche schon seit drei Tagen Bela zu erreichen.

Da ich die Gastfreundschaft und den Geldbeutel von Felices Opa nicht übermässig mit Ferngesprächen strapazieren will, muss ich jedes Mal mit der Vespa hinüber nach Fertilia fahren. Dort gibt es in einem der Promenadengänge hinunter zum Meer eine Telefonzelle.

Aber ich erreiche ihn einfach nicht, um ihm zu sagen, dass ich meinen Aufenthalt um zwei Wochen verlängern werde, um Felice und Matia im Olivenhain zu helfen.


12. Juni – Olbia, Sardegna

Sechs Wochen. Trotz des Alltags im Olivenhain sind sie schnell vergangen und schon stehe ich wieder auf der Fähre.

Ich werde es vermissen. Vor allem Felice, aber auch das Meer und sogar die harte Arbeit im Olivenhain. Traurig sehe ich hinüber zu den Hügeln, ins glasklare Wasser.

Ciao, Sardegna.


*
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LYRICS

Kraftklub - Fenster

David Bowie

Tarantella Napoletana

Dean Martin - Mambo Italiano

Blondie - Call me

Public Image Limited (PiL) - This is not a love song

Cesare Cremonini - Sardegna

Montelupe – Quando l’anarchia verrà

Bella Ciao
The origins of Bella Ciao

RAF - Self Control


ADDITIONAL SONGS

Bowie – Space Oddity original video

Beatles – Here, there and everywhere

Buddy Holly – Lonesome tears

Laura Branigan – Self Control

Montelupo – Il canzoniere anarchico  

die ärzte – wegen dir / Lyrics



Trampen AVUS



RICHY GUITAR in Torino




Belas Nacktfotos in Hagens Fanzine

(Schreckliche Zeitung, aber die einzige offizielle Quelle außerhalb der Bios.)

SCHWEINKRAM: Bevor Hagen Liebing als Bassist bei den Ärzten einstieg, gab er das Berliner Fanzine „Pinthouse" heraus. Für das wurden Aktfotos (!) von Bela B. gemacht. Pech: Das Heft ging niemals in Druck!


OLIVES!!!

Stella Maris Olio

Photo 1

Photo 2

Mediterranean Garden Society



SARDEGNA

Maristella


FERTILIA

Wikipedia

Die Inauguration von Fertilia  

Umsiedlung der istrischen Flüchtlinge nach Fertilia


WWII

Italienischer Faschismus

Pillbox Bunker



SPANISCHER BÜRGERKRIEG  


ANARCHIE

Anarchist partisans Italian resistance

Anarchism in Italy

Chapter 55: 1985 - Raketenjahr

Chapter Text

*

 

* Teenagers in Love *






1985 – Raketenjahr






12. Juni – München

Ich stehe frustierend lange an einer Ausfallstraße in München. Es ist fast Mitternacht, als ein großer, schwarzer BMW vor mir hält. Der Fahrer erinnert mich vom Aussehen her sehr an Gerd und so ich versuche möglichst viel neben ihm zu dösen, um mich nicht unterhalten zu müssen.

Immerhin bringt er mich bis zum S-Bahnhof Charlottenburg. Als ich aus dem BMW steige, atme ich erleichtert auf und schultere meinen Rucksack. Die ersten Sonnenstrahlen beleuchten die grauen Häuser der Niebuhrstraße, als ich mich mit schmerzenden Knochen und schweren Augen in Richtung WG schleppe. Erschöpfung sitzt mir so tief in den Knochen, dass es schwer ist zu sagen, ob ich mich freue wieder hier zu sein.

Vertrauter Geruch als ich die Wohnungstür öffne. Die übliche Mischung aus Zigarettenrauch und nicht abgewaschenem Geschirr. Unwillkürlich breitet sich ein Lächeln in mir aus.

Ich stelle den Rucksack ab und öffne vorsichtig Belas Tür, hoffe auf verstrubbelte schwarze Haare, aber da ist nur ein nacktes Laken.

Mit einem Seufzen schließe ich die Tür wieder, streife mir im Bad die Klamotten ab und schwanke unter die Dusche. Ein Traum nach der tagelangen Tramperei. Genau wie mein eigenes Bett. Ich rutsche mir mein Kopfkissen zurecht. Es riecht ein wenig nach Zigarettenrauch. Kurz wird mir kalt, dann erkenne ich Belas Deo. Hat er hier geschlafen?

Gefühlt penne ich 24 Stunden durch, wache nur zum Pinkeln und Trinken auf, selbst zum Essen bin ich zu müde.

Die Wohnungstür. Ich will meine Augen zwingen sich zu öffnen, aber sie wollen nicht.

„Na, Süßer, nich so stürmisch“, zwitschert es im Flur

Mein Herz poltert los. Was macht sie hier?

„Oh!“, sagt Bela. Schritte. Meine Zimmertür wird geöffnet. Hinter Bela kann ich Suzi mit viel zu weit aufgeknöpftem Oberteil erspähen.

„Du bist wieder da?“ Ich kann aus Belas Stimme nicht lesen, ob das gut oder schlecht ist.

Wir starren uns an.

Fertig sieht er aus. Scheiße.

Suzi späht hinter ihm zu mir ins Zimmer und ich ziehe die Decke höher. „Wow. Das der verlorene Sohn es überhaupt ...“

Bela dreht sich zu Suzi und signalisiert ihr in die Küche zu gehen.

,Was macht die hier?` brennt scharf auf meinen Lippen, das schlechte Gewissen, dass ich so lange weg war auf meinem Gesicht.  „... Hi, Bela.“

„... Schön, dass de wieda da bis. Dann ...“ Er zuckt mit den Schultern. „Mhm, also, schlaf dich erstma aus, wa? Bis später.“ Und schon ist er wieder weg.

„Also, vielleicht verschieben wir das mit ...“, höre ich ihn dumpf in der Küche. „Also, das ... einfach nochmal.“

„Mann, Bela! Schmeißte mich jetzt echt raus? Wegen ihm?“

„Ick schmeiß dich doch nich raus, dit is nur ... Wir verschieben dit halt.“

„Das is doch das Gleiche.“

„Nee ... Es is halt nur ... Ick hab den so lange nich mehr gesehen und ...“

Sie schnaubt. „Ihr wohnt zusammen. Da habt ihr doch genug Zeit in den nächsten Tagen.“

„Mhm, schon, aber ... Der muss ja och pennen und wenn wa ...“

Ich will das alles nicht hören und kann doch nicht aufhören zu lauschen.

„Weißt du was? Ich geh jetzt. Brauchst dich auch gar nicht zu melden. Auf so ein Affentheater hab ich keinen Bock.“

Die Wohnungstür schließt sich mit einem heftigen Wums.

Mein Herz rast, wartet. Aber anstatt ihr hinterher zu laufen, seufzt Bela nur tief im Flur und geht dann zurück in die Küche. Geschirrgepolter, der Duft nach Kaffee und ich sinke wieder hinab in tiefen Schlaf.

Meine Zimmertür klappt. Eine Bewegung neben mir auf der Matratze. Für einen Moment springen meine Reisesensoren an.

„Kann ick mich zu dir legen?" Ein rauhes Flüstern an meinem Ohr und ich drehe mich im Halbschlaf zu ihm, bekomme ein Stück Stoff zu fassen und ziehe.

„Einen Moment musste dich schon noch gedulden“, höre ich seine belustigte Stimme. Etwas fällt auf den Boden, dann hebt sich meine Decke und warme, nackte Haut schmiegt sich an meinen Rücken. „Boah, bist du krass braun.“

Hände, seine breiten Hände auf meinen Armen, meiner Brust. Meine Haut, mein Herz antwortet auf die Berührung und ich drehe mich zu ihm um, öffne kurz meine Augen. „Bela.“

„Hi.“ Er zieht mich fest in seine Arme. Wir klicken ineinander wie Puzzlestücke und mir schießen irgendwie Tränen in die Augen, aber selbst zum Heulen bin ich zu erschöpft.

„Mhmmm.“ Ich atme einfach nur in seine Haare, die nicht nach Rauch, sondern nach Shampoo riechen, so dass ich seinen Geruch erst darunter sondieren muss. An ihn gekuschelt, sacke ich wieder weg.

Als ich wieder aufwache, sehe ich in Belas besorgtes Gesicht. „Mann, Alter, ick dacht schon, ick müsst `n Arzt holen. Also, `n Echten. Biste krank, oder so?" Er fasst vorsichtig an meine Stirn und ich schmiege mich in seine Berührung.

Nee, will ich sagen, aber es kommt nur ein Krächzen heraus. Ich deute ihm eine Trinkbewegung an und er hüpft aus dem Bett, kommt mit einem Glas wieder. Kaltes, klares Wasser. Fuck, tut das gut.

Auf einmal verdüstert sich sein Blick. „Und du bist jetz zurück gekommen, um ... deine restlichen Sachen zu packen?“

„Was?“ Ich richte mich viel zu schnell auf. Kopfweh.

Auch er setzt sich auf. „Na, so lange wie du weg warst, hatteste ja wohl `ne schönen Zeit in diesem Sardinien.“ Er sieht so wütend, traurig aus. „Genug um diese Italienierin zu heiraten.“

„Felice?“, entfährt es mir. Ich muss fast lachen. Fast.

Er dreht den Kopf zur Seite. „Dein Grinsen heißt ja, oder?“ Leise, so leise, dass mir klar wird, dass er es ernst meint.

Vorsichtig lehne ich mich an die Wand, weil mir schwindelig ist. „Hey, Bela.“ Ich streiche über seinen Arm, fasse nach seiner Hand. „Jetz mach mal langsam.“

„Würd ick ja gern, aber ick hab ja keine Ahnung, warum du erst jetz wieder da bis.“ Er funkelt mich an und ich lasse seine Hand wieder los.

„Also, an mir liegt dit nich.“

Sein Gesicht verdüstert sich noch mehr und Trotz steigt in mir hoch. „Ick hab so oft versucht dich anzurufen. Du warst nie da.“

Tatsächlich fällt seine selbstgerechte Pose ein wenig zusammen, aber sein „War unterwegs.“ kommt doch sehr offensiv rüber.

„Is ja jut. Ick hab nur - naja, dich halt nie erreicht.“

„Haste ... haste es oft versucht?“

„Schon.“

„Ick hab am Anfang die ganze Zeit gewartet, aber ...“

„Aber?“

„War`s mir irgendwann zu blöd. Ständig hat`s geklingelt, aber nie warst du es. Nur einmal und da ...“

Ich seufze, greife wieder nach seiner Hand, streiche über seine Finger, die so hell in meinen gebräunten liegen. „Ey, Telefonzellen in Italien. Sehr speziell. ...“ Ich schlucke, sage es dann doch. „Und damit de nich so allein bist, ist dann Suzi hier eingezogen?“

„Quatsch. Die is nich eingezogen, sondern war halt immer mal wieder ... über Nacht hier.“

Ein Pfeil schießt durch meinen Körper, unerwartet, obwohl ich es hätte ahnen können. Das Leben in Berlin stoppt ja nicht, nur weil der Herr Urlaub mal wieder im Urlaub ist. Unwillkürlich drücke ich seine Finger. Viel zu fest.

„Au.“ Er entzieht sich meinem Griff. „Warst ja nich da“, brummt er.

Ich versuche seinen Blick einzufangen. „Und – die is nu öfter hier, oder was?“

„Weiß nich.“ Endlich sieht er mich wieder an. „Jan?“

„Mhm?“

„Die weiß nich, dass wir ... Also, ick hab halt nüscht jesacht, weil ick nich wusste, ob de dit willst.“

„... Oh. ... Äh, okay. ... Danke.“ Fieberhaft suche ich in mir. Was will ich? Keine Ahnung. Da ist nur ein sich viel zu schnell drehendes Karussel.  


13. Juni – Niebuhrstraße 38b, Charlottenburg

Am nächsten Tag koche ich Spaghetti für uns. Das Rezept ist von Matia, aber das sage ich Bela wohl besser nicht. Italien ist nicht gerade das beste Thema zwischen uns, obwohl ich mich entschuldigt habe. Sie schmecken auch gar nicht nach Alghero. Wahrscheinlich weil der Pecorino fehlt und die Oliven aus dem Glas sind.

Es klingelt. Fragend sehe ich Bela an.

Er zuckt die Schultern und geht zur Tür.

„Hallo, Schatz! Mhmm ...“ Sie gibt ihm einen Kuss und ich könnte direkt in die Sauce kotzen. „Oh, das riecht ja lecker. Haste was gekocht für uns?“

„Äh, ... nee.“ Ich bin wohl nicht der Einzige, der nicht mit ihr gerechnet hat. Auch Bela klingt erstaunt.

Sie erscheint im Türrahmen. „Oh. ... Du bist das.“

Ich bedenke sie mit meinem fettesten Grinsen, hoffe es kommt als Laserstrahl bei ihr an . „Ja. ... Ich bin das. Ick wohn nämlich zufällig hier.“

„Naja, das konnte man in den letzten Wochen ja nich so merken.“

Touché, du Biest.

Um nicht zu den gleichen Arschloch-Methoden zu greifen wie sie, frage ich überhöflich: „Möchtest du etwas mitessen?“

Sie lässt sich graziös auf meinen Stuhl fallen. „Okay.“

Ich setze den Teller vor ihr sanft auf, wahrscheinlich überbetont sanft, befreie dann einen anderen Stuhl von Werbeprospekten, Post und leeren Bierflaschen.

Schweigen legt sich über uns, so dicht wie der Rauch aus Suzis Zigarette.

Ich öffne das Fenster, aber das macht nur die Luft ein wenig besser, nicht die Atmosphäre zwischen uns.

Bela legt ihr die Hand auf den Arm. „Kannste die vielleicht nach `m Essen rauchen?“

„Oh, tschuldige. Ich dachte, dass stört dich nicht. Aber – klar, Schatz.“

Bela dreht immer wieder die Nudeln auf seine Gabel, aber diese findet ihren Weg nicht zu seinem Mund.

„Alles okay?“, breche ich in die Stille.

„Ja. Ja, klar“, explodiert Belas Lüge in der dicken Luft.

„Schmeckt`s dir nicht?“, frage ich vorsichtig.

„Nee, nee. Is super.“ Er schiebt sich ein paar Nudeln in den Mund, kaut, kaut mit einer Miene, als würde er sie am liebsten wieder ausspucken.

„Du musst dit nich essen, wenn de dit nich willst, aber ...“

„Jetzt lass ihn doch ma“, mischt sich Suzi ein. „Was geht dich das denn an, was Bela isst? Oder nich isst.“

Ich schieße mit einem Ruck so heftig hoch, dass mein Stuhl umfällt. Eigentlich war das nicht der Plan, aber mein Körper hat vor meinem Verstand reagiert. Ich sehe auf sie hinunter. Suzi funkelt mich an, Bela duckt sich in seinen Teller.

Ich will nicht der Grund sein für noch mehr schlechte Stimmung und schlucke sie, schlucke all die fiesen kleinen und großen Bemerkungen, die mir auf der Zunge liegen, dann stelle ich meinen Teller in die Spüle, wasche ihn ab und gehe in mein Zimmer.

Eine halbe Stunde später schallt wilde Musik durch die Wand aus Belas Zimmer in meins. Keine Ahnung, was das ist. Es ist verrückt und großartig, aber auch durchsetzt von Stöhnen und dem rythmischen Schlagen von Belas Bett gegen die Wand. Sind wir auch so laut?

Ich habe Bela einfach noch nie beim Sex mit anderen gehört und es ist – furchtbar, weil ... Es erregt mich und stößt mich gleichzeitig ab. In meinem Magen liegt ein eiskalter Klotz plus gleichzeitigem Vulkanausbruch. Es ist einfach zum Kotzen!

Mir wird schwindlig davon der Musik zu folgen ohne gleichzeitig die Sexgeräusche von Bela und Suzi zu hören. Der Stereotumult ersetzt meinen Herzschlag, nimmt mich vollkommen ein, erstickt mich.

Dann ist es vorbei. Die Musik und ... der Rest und ich falle aus dem Auge des Schalltornados zurück in mein Zimmer.

Ein für Suzi recht untypisches Kichern dringt durch die Wand und es verstört mich am meisten, da es vertrauter und intimer klingt als alles davor.

Dann klappt Belas Tür, anschließend die Badtür. Die Dusche springt an und ein schrilles Gequietsche hallt durch den Flur.

Ich will das alles nicht mitbekommen und hole die Buzzcocks LP heraus, lege die Nadel auf ein spezielles Lied und drehe voll auf.

Ich lasse weitere sehr bewusst kuratierte Lieder von den Buzzcocks folgen, weiß genau, wie viel sie auch ihm bedeuten, weiß, dass er weiß, wie viel sie mir bedeuten.

Als nächstes spiele ich „Noise annoys“, dann „Just Lust“ und „Orgasm Addict“, gefolgt von „Something’s Gone Wrong Again“ und als Grande Finale „Ever Fallen In Love (With Someone You Shouldn’t’ve)“. Damit sollte eigentlich alles klar sein.

Meine Gedanken rennen mit den Textzeilen um die Wette und es macht nichts auch nur ein Stück besser. Außerdem muss ich pissen, aber ich traue mich nicht aus meinem Zimmer. Ich hasse diese beschissene Hilflosigkeit. Das hier ist auch meine Wohnung.

Schließlich halte ich es nicht mehr aus. Als ich die Tür öffne, sehe ich aus den Augenwinkeln ihn und Suzi an unserem Küchentisch sitzen und die übrig gebliebenen Spaghetti verspeisen. Fehlt nur noch, dass ich Zeuge der „Susi und Strolchi“-Szene werde.

Ich stürze ins Bad, steige in eine große Wasserlache. Angewidert ziehe ich meine Socken aus und schmeiße sie in unsere Dreckwäsche. Pissen – endlich. Erleichterung. Für einen Moment, dann fällt mir ein, dass ich ja auch wieder aus dem Bad raus muss.

Verdammt, ich habe keinen Bock mehr mich zu verstecken. Ich atme einmal tief durch und gehe in den Flur, lehne mich in die Küchentür. „Buon appetito!“ Ich grinse Bela an.

„Häh?“ Bela sieht zu mir auf und dieses Post-Sex-Glänzen in seinen Augen, auf seinen Wangen ist wie ein Messer.

„Jetzt reib`s ihm halt noch mehr rein, dass du in Italien warst“, funkelt mich Suzi an.

Tja, sie war da. Ich war weg. Hat Bela echt so gelitten in den paar Wochen? Hatte doch sie. Ich ignoriere die Zicke, halte meinen Blick auf Bela gerichtet. „Ich habe nur Guten Appetit gewünscht.“

„... Äh ... danke!“ Er will wieder wegsehen, aber ich halte seinen Blick fest.

„Pfff“, macht Suzi und ich kann sehen, wie Bela seinen Kopf zu ihr drehen will, aber ich lasse seine Augen mit meinen nicht los, lasse meinen Blick hart, ihn meine Wut und Verwundung sehen und schließlich scheint meine Botschaft anzukommen.

Als er den Kopf sinken lässt, tut es mir fast schon wieder leid, aber – das gerade ...



16. Juni – Niebuhrstraße 38 b, Charlottenburg

Meine Botschaft scheint sehr nachhaltig angekommen zu sein, denn heute ist schon der dritte Tage, an dem mir eine Wiederholung des Horrorszenarios erspart bleibt. Mir bleibt sogar alles erspart, denn Bela kommt einfach nicht nach Hause.

Kenn ich ja schon, aber dieses Mal habe ich das Gefühl, dass es absichtlich ist. Ist er doch noch sauer wegen Italien? Vielleicht ist es ja auch nett gemeint und er versucht nur eine Lösung für mich zu finden, aber ... Gerade ist alles Scheiße.

Ich schnappe mir meine Jacke und fahre nach Moabit. Hoffentlich ist er da.

Mir wird leichter, als sich die Wohnungstür öffnet und ich Eckys vertrautes Gesicht sehe. „Hey, Jan! Du bist wieder da.“

Er strahlt mich an und zieht mich in eine feste Umarmung. Es ist schön zu wissen, zu fühlen, dass sich wenigstens einer wirklich freut. Aber in seiner Umarmung drohen sich auch meine angestauten Gefühle zu entladen.

Schnell lasse ich ihn wieder los und schlüpfe aus meinen Schuhe. Wir setzen uns in seiner Küche an das weit geöffnete Fenster. Draußen fegen kreischend die Mauersegler vorbei und alles fühlt sich an nach Sommer, aber in mir ist November.

„Boah, bist du braun geworden. Die Karte aus Neapel ist vor einer Woche angekommen. Da klangste etwas verzweifelt. Hast du denn deine Felice wieder gefunden?“

„Ja.“

„Oh, schön.“

„Ja, aber – es ist nicht meine Felice. Sie ... sie wollte nich, dass wir ... uns wieder näher kommen.“

„Oh, das tut mir leid.“

„War schon okay. Ick ... ick hab`s och verstanden. Is nich so leicht, wenn man verliebt ist, aber der andere ... Ey, woll`n wir nich einfach abhauen? Vielleicht nach Griechenland.“ Ich sehe Ecky bittend an, der macht aber nur eine zerknirschte Miene.

„Ich hänge in den letzten Zügen meiner Diplom-Arbeit und danach habe ich Nicole versprochen, dass wir einen gemeinsamen Urlaub machen. War bei uns nich so ganz einfach in letzter Zeit.“ Er seufzt, lächelt dann. Es sieht eher tapfer aus.

Krass. Ecky hat einfach mal ein ganzes Studium beendet, während ich ... „Dit tut mir leid mit euch. ... Schafft ihr dit?“ Ich brauch definitiv nicht noch mehr zerbrechende Beziehungen um mich herum.

Er sieht nach draußen, hoch in den Himmel und ich folge seinem Blick zu den Mauerseglern. So unbeschwert über der Welt kreisen.

„... Ich glaub schon. Aber wir müssen irgendwas ändern. So geht`s nicht weiter.“

Ich halte die Luft an, lasse sie dann ganz langsam wieder aus.

„Dir geht`s auch nich so gut, oder?“, fragt er leise.

„Mhm. ... Nee. ... Naja, doch. ... Weiß nich.“

„Was`n los?“

„Suzi is los.“

„Oh.“ Er legt mir eine Hand auf den Arm und der Staudamm will schon wieder brechen.

„Die ist echt so `ne Pest“, sage ich schnell. „Wenn ick wenigstens verstehen würd, was er an der so jut findet.“ Ich fahre mir müde durch`s Gesicht.

„Aber ... Ihr lasst euch doch solche Freiheiten in eurer Beziehung, oder?“, fragt Ecky vorsichtig. „Da gibt es doch auch noch Gitti ...“

„Die – das hat mich halt nie gestört. Und außerdem ...“ Ich überlege, ob ich Ecky von unserem Dreier erzähle, aber lass es dann doch.

„Naja, also, ... Wenn man Bela kennt, dann war das aber irgendwie auch ... nur eine Frage der Zeit, oder, bis das passiert?“

Ich atme tief durch. „Vielleicht ... Aber seitdem ich in Italien war, geht diese Tusse auf einmal in der Niebuhr ein und aus, als würde sie dort wohnen. Das gab`s vorher definitiv nich.“

„Oje. ... Das tut mir leid.“

„Letztens hatten sie ... Sex in seinem Zimmer und ...“ Ich schlucke und sehe weg. „Also, bisher hat er dit noch nie gemacht. Oder zumindest nich wenn ick da war. Und dann ausgerechnet die.“ Auf einmal schießen mir die Tränen mit Gewalt in die Augen. Ich drehe mich weg, wische an meinem Gesicht herum. „Ick weiß halt nich, ob dit Rache is weil ick mal wieder länger als angekündigt weg war oder ob er die wirklich mehr liebt als alle vorher, mehr als ... mich?“

Ein Hand auf meiner Schulter und ich lasse mich in Eckys Umarmung fallen. Er riecht nach Schultagen und Sommerferien. Nach unserer selbstgebauten Hütte im Wald, nach unseren abenteuerlichen Reisen und nach Vertrauen. Ecky hat mir noch nie wirklich weh getan.

„Ich muss leider weiter an meiner Diplom-Arbeit schreiben. Tut mir echt leid.“

„Oh, klar ... okay, kein Problem. Mann, ey. Schon krass, dass du nun zu akademischen Ehren kommst. Ick weiß irgendwie immer noch nich wirklich, was ick machen will.“

„Na, Musik. Oder?“ Ecky mustert mich.

„Schon, aber ... Ick weeß echt nich, ob ick davon wirklich leben kann. Vielleicht is dit ja och nur `n Luftschloss, dit Bela und ick da gebaut ham ...“

„Ey, ihr Beiden, ihr bekommt das hin. Echt. Das hab ich im Urin.“

Nun muss ich doch lachen. „Dit freut mich. ... Aber wär halt schon geil, wenn ick irgend `nen Plan B hätte.“

Als ich aufbreche, umarmt mich Ecky noch einmal lange. „Dit wird schon, Jan. Und - tut mir echt leid, dass ich dir nicht wirklich helfen konnte.“

„Haste trotzdem.“ Ich drücke ihn noch einmal an mich. „Danke.“

„Und, Jan?“ Sein Blick liegt so warm auf mir und es tut so gut. „Wir müssen wirklich mal wieder zusammen wegfahren.“

Ich grinse. „Ja. Ja, das müssen wir. Wirklich.“


Als ich die Wohnungtür in der WG öffne, rieche ich frischen Zigarettenqualm.

„Bela?“ Ist er zurück?

„Wir sind in der Küche.“ Sie sitzen vor einer Tasse Kaffee und rauchen mal wieder.

„Äh, hi!“ Ich bin schon halb aus meiner Lederjacke, ignoriere Suzi und mustere Bela. Blicke laufen zwischen uns hin und her, aber es kommen keine lesbare Signale bei mir an.

Schnell schlüpfe ich wieder in den Ärmel zurück. „Und – bis später!“

Ich komme mir so blöd vor, aber ich kann mir das nicht noch einmal antun.

Ich gehe eine Runde um den Block, zweimal um den Lietzensee. Es beginnt zu nieseln, aber ich will einfach nicht „Nachhause“. Schließlich mache ich mich auf den Weg zu einem meiner Refugien in Berlin.


Ingeborg-Bachmann-Stadtteilbibliothek, Charlottenburg

Krasser Zufall. Sie steht genau da, wo ich in sie hineingestolpert bin – vor dem Klassikerregal. Ich überlege gerade, ob ich mich schnell zwischen den Büchern verstecken soll. Gerade ist mir nicht nach weiblicher Gesellschaft, überhaupt nach Gesellschaft.

Zu spät. Sie sieht auf, runzelt die Stirn, dann grinst sie – entwaffnend. „Oh, der belesene Rüpel. Ich sollte wohl besser in Deckung gehen?“ Sie zieht spöttisch eine Augenbraue hoch und auf einmal fällt ein Großteil meiner Anspannung ab.

„So wie du aussiehst, warst du wohl im sonnigen Süden.“ Sie streicht mir über meinen Oberarm. „Hübsch. Hast wohl extra noch das weiße T-Shirt angezogen, damit die Bräune noch mehr hervorgehoben wird?“

Obwohl das heute absolut nicht der Fall war, werde ich ein wenig rot, aber das sieht man unter der Bräune wohl nicht.

Die Berührung ihrer Finger kitzelt auf meiner Haut.


Café Zille

Über einer Tasse Tee erzählt mir Mathilda, dass sie kurz vor der Verteidigung ihrer Doktorarbeit in Literaturwisschenschaft steht. Nun komme ich mir nicht nur wegen unserem ersten Zusammenstoß tolpatschig vor, sondern ernsthaft ungebildet. Und jung. Sie ist 26.

„Sieh mal, was ich mir geholt habe.“ Mathilda blättert Diderots Buch auf, streicht eine Seite glatt, sieht mich aufmerksam an und beginnt zu lesen:

„Wie hatten sie einander gefunden? Durch einen Zufall, wie alle Welt.“

Ihr Blick bleibt lange auf mir liegen. Ihre Augen glänzen im Licht der gedämpften Beleuchtung. „Soll ich weiterlesen?“ Ihre Stimme klingt auf einmal sehr sanft und ein wenig weltverloren zwischen den Worten. Es kommt viel zu selten vor, dass jemand Bücher und Geschichten so schätzt wie ich und es zieht mich an.

„Wie war ihr Name? Was liegt Ihnen dran? Woher kamen sie? Aus dem nächsten Ort. Wohin ging ihre Reise? Weiß man je, wohin man geht?“

„Ich dachte eigentlich, dass ich es wüßte“, entkommt es mir unwillkürlich.

Sie sieht mich direkt an, in mich hinein und ich bin mir nicht sicher, ob ich es unangenehm oder anziehend finde.

Immer noch hallen in mir die Fragen nach wie ein Ohrwurm: „Wohin ging ihre Reise? Weiß man je, wohin man geht?“

„Ich hab dich was gefragt.“

„Äh, okay.“

„Glaubst du an Gott?“

„Was?“ Ich bin so perplex, dass ... Vorsichtig schiele ich in ihre Bluse, weil da vorher etwas geglänzt hat, aber sie hat kein Kreuz um, sondern ein altes ägyptisches Ankh.

„Also?“

Schließlich schaffe ich es einigermaßen entschieden den Kopf zu schütteln.

„Dacht ich mir schon“, erwidert sie. „Ich auch nicht, aber erzähl mir mal deine Gründe dafür.“

„Ick ... Also, ick ...“ Sie flösst mir viel zu viel Respekt ein, die Frau Literaturstudentin. „Ich finde das Konzept Gott zwar interessant, aber für mich persönlich nicht erstrebenswert.“

„So, so. Was findest du denn erstrebenswert?“

Reisen. Musik, Band, Bela, denke ich, aber weil ich nicht über meine konkreten Probleme reden will, verstricken wir uns immer tiefer in die Debatte darüber, ob und warum man in einer Welt ohne Gott moralisch sein sollte.

„Aber wenn ethisches Gutsein nur vom Individuum abhängt, dann gibt es ja keine universelle, ethische Richtlinie.“ Ihre Augen blitzen und ihre Wangen sind gerötet. „Wie willst du denn sicherstellen, dass Menschen wünschenswert handeln?“

Ich weiß nicht, warum sich ausgerechnet jetzt Gerds Visage in meinem Kopf manifestiert. „Ich möchte in keinster Weise, dass jemand etwas für mich oder andere sicherstellt.“

„So, so.“ Sie lehnt sich in ihrem Stuhl zurück und mustert mich interessiert. „Ich würde gerne mal sehen, wie du deine These gegenüber meinem Philosophie-Professor verteidigst. Er ist auf Kant spezialisiert.“

Auch wenn mir Kants Ideen nicht komplett fremd sind, so verwirren mich Mathildas Gedanken dennoch. Ab und zu lese ich Bücher auf akademischen Niveau, und es gibt sie, diese Momente, in denen ich davon träume an die Uni zu gehen. Trotzdem - ich bin es nicht wirklich gewohnt auf diesem Niveau zu diskutieren und so sehr es mich anzieht, so sehr schüchtert es mich ein.

Mathilda hat ein neues Thema gefunden: Was ist der Unterschied zwischen Sex und Liebe?

Oh.

Sie behauptet es gäbe keinen und im tiefsten Inneren befürchte ich, dass Bela ihre Position teilt. Dann setzt sie mir auseinander, warum romantische Liebe ein Konstrukt ist - und anti-revolutionär.

„Die Ehe aus Liebe ist nur eine Schöpfung des aufstrebenden Bürgertums im 18. Jahrhundert. Liebe und Sexualität waren bis dahin etwas, was außerhalb der Ehe stattfand.“

Etwas in mir sträubt sich gegen ihre Behauptung. Glaube ich etwa an die romantische Liebe? Nicht wirklich. Oder? Glaubt Bela daran? Vielleicht? Keine Ahnung.

Um 18 Uhr schmeißt uns die Bedienung aus dem Café.

„Ich will mich noch nicht verabschieden.“ Sie sieht mich forschend an.

Ich denke an Suzi und antworte ohne Nachzudenken: „Ich auch nich.“

Sie grinst. „Zu mir oder zu dir?“

„Ähm ...“ Besser zu ihr.

„Also, eigentlich war das eine rhetorische Frage, denn ich wohne zur Untermiete bei einer dieser alten Wilmersdorfer Witwen und die hat glaube ich nicht so Bock, dass ich einfach so einen Punk von der Straße anschleppe.“

„O-okay.“

„Dann also zu dir.“ Sie hängt sich bei mir ein und ich bin mir nicht sicher, wie ich das finde. „Warum denkst du nochmal, dass man keinen Sex haben kann ohne verliebt zu sein?“

Das geht wirklich in die falsche Richtung. Kurz überlege ich, ob ich den Abend einfach beenden soll, aber – Suzi.

„Also, dit is wie kalte Pizza. Spätestens am nächsten Tag is es so `n bisschen eklig irgendwie“, bricht es aus mir heraus.

„Ich würde sagen, du hast einfach noch nicht die Richtige getroffen.“

„Nee, dit is es nich. Ick hab den Richtigen schon getroffen und ...“

„Den ...?“ Sie stutzt, runzelt die Stirn. „Dann bist du mit jemandem zusammen?“

„Ja.“ Ich bin mir unsicher, wie viel ich dazu sagen will oder soll, aber besser sie weiß Bescheid.

„Einem Typen?“

„Ähm, ja. Also, wir lassen uns unsere Freiräume und ...“ Meine Kehle wird eng.

„Na, das hört sich doch sehr progressiv an.“

„Mhm.“ In der Theorie klingt das ja auch wirklich gut. Weniger wenn die Praxis Suzi heißt.

„Das heißt, du kannst auch mit anderen Männern was haben?“

„Mhm. Oder Frauen.“

Etwas funkelt unter ihrer Brille. Ich hätte dieses Detail einfach mal aussparen sollen.

„Nett. Wirklich nett. Und du hattest trotzdem wirklich noch nie mit jemandem Sex, in den ... oder die ... du nicht verliebt warst?“

„Ähm, so mehr oder weniger.“

„Aha.“

Wir biegen in die Niebuhrstraße ein und ich frage mich, was Mathilda und ihre funkelnden Augen denken, auf was wir da gerade hinsteuern.

Es fühlt sich fremd an, sie die Treppe zu unserer WG hochzuführen. Zögerlich schließe ich unsere Wohnungstür auf.

„Jan?“ Bela schießt aus seinem Zimmer, kaum das ich die WG betreten habe. Zwischen seinen Fingern brennt eine Kippe und seine Haare sehen noch verstrubbelter aus als sonst. „Ick wollt nur sagen, dass dit mit Suzi ... Oh!“ Er bleibt wie erstarrt stehen, als sich Mathilda hinter mir durch die Tür schiebt.

„Äh ...“ Sein Blick wandert zu ihr, wieder zu mir und zurück zu Mathilda. „Äh, guten Abend, die Dame.“

„Hallo!“ Mathilda blickt zwischen Bela und mir hin und her und mein Gesicht wird heiß. Ihr kluges Hirn scheint eins und eins zusammen zu zählen. „Freut mich dich kennenzulernen.“

„Äh, ja. Ick bin Bela. ... Und du?“

„Mathilda.“

Belas Blick fliegt zwischen ihr und mir hin und her. „Und ihr kennt euch ... woher?“

„Aus der Stadtbibliothek“, antwortet Mathilda statt mir. Ich bin viel zu sehr damit beschäftigt Belas Blicke zu deuten.

„Er ist in mich reingelaufen, also letztes Mal.“ Ihre Blicke auf mir sind dagegen sehr eindeutig. „Heute stand er da einfach so krass braungebrannt in der Klassiker-Abteilung rum – und jetzt bin ich hier.“ Sie rutscht ein Stück näher.

„Dit seh ick.“

Ich kann Bela, der sonst für mich ist wie ein offenes Buch, gerade nicht lesen. Außerdem weiß ich nicht wohin mit Mathilda. In die Küche oder in mein Zimmer?

„Wo ist denn Suzi?“ So sehr ich versuche keinen Unterton in meine Worte zu legen – ich höre selbst, dass es nicht klappt.

„Gegangen“, erwidert er kurz angebunden. Zwischen den Zeilen schwebt etwas, das ich nicht deuten kann. Gerade weil Bela eigentlich ein Freund direkter Worte ist, ist dieser Unterton verdächtig. „Also, dann ...“ Er wirft mir einen letzten unlesbaren Blick zu, dreht sich auf dem Absatz um und zieht seine Tür zu, lässt uns im Flur zurück.  

Ich entscheide mich für mein Zimmer.

„Magst du Musik hören?“ Belas Anwesenheit nebenan dröhnt durch die Wand.

„Kommt drauf an. Was hast du denn da?“

„Einiges.“

Sie blättert durch meine gut 50 Platten und Singles, schüttelt dabei die ganze Zeit den Kopf.

„Mhm. Schade.“

„Und – was fehlt dir da jetzt?“, frage ich ohne mein Beleidigtsein zu kaschieren.

„Die gute alte Klassik.“ Sie lächelt mich an und ich kann ihr nicht mehr böse sein.

„Also, ick hab fast alles.“ Ich denke an die Klomusik. „Aber Klassik hört hier keiner.“

„Hätte ich gar nicht gedacht auf Grund deines Literaturgeschmacks. Tja, du weißt gar nicht, was dir entgeht, du Banause.“ Sie klopft auf den Boden neben sich und ich lasse mich mit ein wenig Abstand von ihr dort nieder.

„Also, du magst nicht nur Männer?“ Wieder diese gehobene Augenbraue. Es steht ihr.

„Nein.“ Ich hoffe, es war eine klare Antwort ohne seltsame Zwischentöne. Ich finde sie gut, mehr als gut, aber vor allem interessant.

„Und du magst keinen Sex ohne verliebt zu sein?“

„Ehrlich gesagt, weiß ich das nich, weil – ick hab das halt noch nie gemacht.“

„Hast du einen Zettel und einen Stift?“

„Ähm ...“ Ich krame auf meinem Schreibtisch. „Hier.“

Sie kritzelt etwas darauf. Zahlen. „Falls du es mal ausprobieren möchtest, melde dich einfach.“

Ich starre auf ihre Telefonnummer und frage mich, ob Bela nebenan alles hört.

Ihre Blicke auf mir, auf meinem Körper sind sehr deutlich. Irgendwie habe ich erwartet, dass sie wieder diese heiß-kalte Panik auslösen, aber dieses Mal bleibt es still in mir. Vielleicht habe ich das mit Beate verdaut?

„Erzähl mal von deiner Reise, du Abenteurer.“

Es tut gut und tatsächlich wird aus dem Reisebericht immer mehr auch die Geschichte zwischen Felice und mir.

„Mhm. Hört sich schön an. Traurig, aber auch schön.“ Ihr Blick sagt, dass sie versteht, was das alles für mich bedeutet hat.

Aber die Geschichte erschöpft mich auch und um elf bin ich schließlich so müde, dass ich ein Gähnen nicht mehr unterdrücken kann.

„Ich sollte wohl mal langsam ...“, sagt Mathilda und ich bin echt froh, dass es bei Gesprächen geblieben ist.

Ich begleite sie in den Flur.

„War schön mit dir.“ Sie nähert sich mir und alles in mir bereitet sich auf einen Kuss vor, auf einen Kuss. Ich fühle mich ihr sehr viel näher, aber ich weiß nicht, ob ich ihn haben will.

„Es war spannend sich mit dir zu unterhalten und – kann ich dich wiedersehen, Jan?“

Schnell greife ich nach ihrem Mantel an der Garderobe.

„Ähm ...“

Sie verzieht ihr Gesicht.

„Also, ja klar. Klar können wir uns mal wieder treffen.“ In meinem Kopf hat Belas Tür Ohren bekommen. Dahinter ist alles ruhig. Ist er ausgegangen? Nein. Oder? Ich hätte doch die Tür gehört.

„Mach`s gut, Jan.“ Sie küsst mich auf beide Wangen und drückt mich einen Moment zu lange, so dass ich mich vorsichtig befreie.

Als ich die Wohnungstür hinter ihr schließe, atme ich tief durch. So interessant es war, mir klingeln die Ohren und das Hirn von den vielen Worten und dem Spagat ihr zu zuhören, die emotionalen Untiefen meiner Reise auszupacken und gleichzeitig nach Geräuschen aus Belas Zimmer zu lauschen.

Ich checke noch einmal Belas Tür. Kein Lichtschein darunter. Ich traue mich nicht zu klopfen, weil ich ein wenig Angst habe, dass er das mit Mathilda in den falschen Hals bekommen hat und ich nicht weiß, was ich dazu sagen soll.

Zurück in meinem Zimmer kann ich nicht schlafen. Trotz Müdigkeit will der Schlaf einfach nicht kommen. Ich hatte es eigentlich durch Mathildas Wortfluss gut verdrängt, aber jetzt höre ich ihre Stimme wieder.

,Jetzt lass ihn doch ma. Was geht dich das denn an, was Bela isst. Oder nich isst.`

,Jetzt reib`s ihm halt noch mehr rein, dass de in Italien warst.´

Und sie hat recht, diese blöde Zicke. Fuck.

Ich schalte das Licht wieder an, ziehe mein schwarzes Notizheft heraus und beginne zu schreiben.

Du willst mich foltern,
ja, das gefällt dir gut.
Das Einzige was ich fühle,
ist `ne verdammte Wut.
Woo-ho-ho – Du willst mich foltern,
mir einfach nur weh tun ...

Ich starte einen neuen Versuch, will nicht über diese Furie schreiben, sie nun auch noch in meine Songs lassen.

Ich war grade auf dem Weg
in die Stadtbibliothek.
Ich sah dich stehen am Wegesrand
mit einem Buch in deiner Hand.
Ich war sofort verknallt bis über beide Ohren!

Dann weiß ich nicht weiter, weil es ja auch nicht stimmt, aber – eigentlich muss das ja auch niemand wissen. Wenn Bela ... Ach, Scheiße.

Ich klappe meine Textbuch zu. Der Song bleibt wohl vorerst ein Fragment, eines von vielen, die in diesem Buch schlummern und darauf warten bis mir der zündende Gedanke kommt sie wieder zum Leben zu erwecken.


18. Juni – Niebuhrstraße 38b, Charlottenburg

Als ich am nächsten Vormittag in die Küche komme, sitzt Bela dort. Ungewöhnlich um die Uhrzeit. Er hat das Fenster geöffnet und bläst in einem langen Strom blaugrauen Rauch hinaus, bevor er sich zu mir wendet.

„Schon wach?“

„Konnt nich schlafen.“

Das kann viele unterschiedliche Dinge bedeuten.

Ich muster ihn vorsichtig. „Magste och wat von den Nudeln?“

„Nee, danke. ... Und?“ Sein Blick ist viel zu unsicher. „Hatteste `n schönen Abend mit der Frau?“

„War interessant. ... Ey, sag mal, fandste dit komisch, dass ick die mitgebracht hab?“

Bela zuckt mit den Schultern. „Weiß nich. ... Also, natürlich kannste wat mit anderen ham, ... hab ick ja och.“ Der Rest klingt so genuschelt, dass ich nur vermuten kann, was er gesagt hat.

„Da ... da war nüscht ... mit ihr.“

Die Stimmung in der Küche fühlt sich gerade an wie auf hoher See – bei Nebel, kippelig und undurchsichtig.  

Er zieht an seiner Zigarette und stößt mit dem Rauch aus. „Egal. Also, du kannst machen, was de willst, wollt ick nur sagen.“

Das Telefon klingelt und Bela hechtet in den Flur, so schnell, als wäre er auf der Flucht. Ich seufze. Das es uns anscheinend ähnlich geht, hilft nur leider kein Stück weiter.

„Oberwachtmeister Felsenheimer“, höre ich ihn.

Gegen meinen Willen muss ich grinsen und der Nebel liftet sich ein wenig.

„Wer ist denn da?“ Bela lugt um die Ecke und wirft mir einen irritierten Blick zu. „Welcher Jim denn?“

Ich springe von meinem Stuhl auf und und reiße ihm den Hörer aus der Hand.

„Hallo, Jim. Hier ist Farin.“ Ich beuge mich zu Bela und flüstere: „Jim Rakete.“

„Ah, okay. Dann bin ich doch richtig“, sagt Jim am anderen Ende.

„Sagt mal, Jungs, ich habe gehört, dass Beate euch nicht mehr managt und das ihr gerne wollt, dass ich das übernehme.“

Ich schlucke. „Äh, ja ... Da hast du richtig gehört.“

„Tut mir echt leid, dass mit Beate, aber ...“

„Mir nicht.“ Meine Stimme ist viel zu hart und kalt.  

„Oh. ... Okay. Ich ... weiß nicht, was da los war, aber es scheint, dass ...“

„... es so besser ist.“ Immer noch zu hart.

Bela presst sich an mich und ich halte ihm den Hörer so hin, dass er Jim auch verstehen kann.

„Aha. Also, wie gesagt, tut mir leid.“

„Also, es wäre echt toll, wenn du das übernehmen könntest“, platze ich heraus.

Bela und ich sehen uns an und halten beide die Luft an.

„Mhm. Also, ... ich hab euch ja schon beim letzten Mal erklärt, dass das nicht so einfach ist. Ich bin mit Nena, Spliff und den anderen voll ausgebucht und habe eigentlich keine Kapazität mehr.“

Ich greife unwillkürlich nach Belas Hand und drücke sie, vermutlich viel zu fest. „Aber du wärst einfach ... Ick hab bei dir einfach dit Gefühl, dass ...“ Ich breche ab.

„Versteh, dass nicht falsch. Ich finde euch super. Also, was ich mir überlegt habe, ist, dass ihr euch selbst managed.“

„Was?“ Ich sehe zu Bela neben mir, der mit den Schultern zuckt.

„Ihr lasst euch doch eh nicht reinquatschen“, lacht Jim.

„Stimmt.“ Es klingt viel zu grimmig. „Die Zeiten sind echt vorbei.“

„Na, also. Ihr wisst am Besten, was ihr braucht und wie ihr euch darstellen wollt. Mein Angebot ist: Ihr sagt mir, was ihr braucht und ich gebe euch die Ressourcen und meine Beratung.“

„Das heißt ...“ Ich versuche das Strahlen noch zurück zu halten.

„Was soll ich sagen? Ich wurde mehr oder weniger manipuliert. Meine Sekretärinnen haben die „Debil“ so lange rauf und runter gehört, dass ich inzwischen jeden Song mitsingen kann. Und es macht halt einfach Spaß.“

„Das ist ...“ Nun bricht das Strahlen doch aus mir und ich sehe es gespiegelt in Belas Augen.

„Also, ich unterstütze euch, aber den Rest müsst ihr selbst machen, aber das kriegt ihr hin.“

„Danke. ... Ey, danke, Jim, echt!“

Als ich auflege, stehen wir einen Moment lang im Flur und starren uns an, dann fallen wir uns in die Arme und es ist so nah und gut und ich will nicht mehr grübeln und ...  Wir lassen uns los, sehen uns an und dann liegen seine Lippen auf meinen und danach wir beide auf meiner Matratze, weil ich nicht in Belas Zimmer möchte.


20. Juni – Fabrik, Zossener Straße, Kreuzberg

Ich öffne die Tür zur Fabrik und halt sie für Jan auf, aber der kommt nicht. Stattdessen starrt er fast ehrfürchtig das Gebäude hoch. „Wow.“

Oben in der Fabrik bin ich dann auch ein bisschen sehr beeindruckt, deswegen lächle ich den Sekretärinnen besonders charmant zu. Bei der einen werden die Augen ein wenig größer. Anscheinend hat sie mich erkannt. Schmeichelhaft. Das ist so viel besser als bei den Spießer*innen von der CBS.

„Ey.“ Jan knufft mich. „Da hat einfach mal Nena gesessen, bevor sie berühmt geworden ist“, flüstert er mir ins Ohr.

Ich muss über seinen ehrfürchtigen Gesichtsausdruck lachen, aber versteh ihn auch. „Na, vielleicht bekommste ja noch `ne zweite Chance nach deinem Kaffeeauftritt.“

„Oh, Mann.“ Er verbirgt sein Gesicht hinter den Händen. „Erinner mich nich daran.“

„Na, ihr Beiden.“

Schnell lässt Jan seine Hände wieder fallen und setzt sein Grinsen auf.

„Schön, dass ihr es einrichten konntet.“ Jim kommt mit offenen Armen auf uns zu und umarmt uns. „Wo ist denn euer zweiter großer Blonder?“

„Hans? Der konnte es nicht einrichten. Ähm, wegen der Uni“, stammelt Jan.

„Na, dann kommt mal mit.“ Er führt uns in sein Büro und setzt sich an den Schreibtisch. Hinter Jim hängen zwei Plakate: Marilyn und Nena. Es ist, als würde ich Jan bei einem Tennismatch beobachte, so oft wie er zwischen den beiden hin und her sieht und ich kann nicht sagen, welche der beiden mehr seiner Aufmerksamkeit gewinnt. Es ist ein wenig süß.  

„Also, wie gesagt: viel Zeit habe ich nicht für euch, Jungs, aber wenn ihr so weiter macht wie bisher, dann schafft ihr das auch ohne mich. Ihr habt einen guten Humor, und die BRAVO und die jungen Damen liegen euch zu Füßen.“

Jim lächelt uns an und Jan lächelt zurück.

„Ihr wisst einfach am besten, wer ihr als Band sein wollt. Und wenn ihr jetzt einfach noch fleißig seid, dann könnt ihr 90 Prozent der Musiker in diesem Lande übertreffen, auch wenn ihr jetzt vielleicht nicht wirklich musikalisch besser seid als die.“

Ich sinke ein wenig im Stuhl zusammen. Ich kann mich noch gut daran erinnern, als die Schnick-Schnacks mich wegen meiner attestierten musikalischen Unfähigkeit mit eine Studioschlagzeuger ersetzt haben.

„Was sind den eure Pläne für dieses Jahr?“

„Na, wir wollen eine neue Platte aufnehmen“, sagen wir gleichzeitig und Jim lacht.

„Okay. Und mit wem wollt ihr die machen?“

„Auf jeden Fall mit jemand anderem als diesem Härtel“, schießt es aus Jan heraus.

„Okay.“ Jim überlegt. „Ich kann Manne Praeker fragen.“

„Der von Spliff?“

„Genau.“

Ich versuch eine euphorischere Miene aufzusetzen. „Äh, ja. ... Okay.“

Jim mustert mich. „Nicht cool genug?“

Beinahe hätte ich genickt.

„Der hat auch Nena mit „99 Luftballons“ produziert, Bela. Der hat schon was drauf.“

Ich komme mir echt undankbar vor, aber zum Glück springt Jan ein.

„Super. Wir freuen uns.“

„Gut.“ Jim nickt. „Und wie wär`s mit ein paar neuen Promophotos?“

„Cool. Die letzten von dir waren echt toll.“ Jan strahlt ihn an, dass ich glatt eifersüchtig werden könnte.

„Aber lasst uns mal nächste Woche treffen, wenn der hier ...“ Er deutet auf etwas an meinem Hals. Als Jan rot wird, ahne ich, dass es um den fetten Knutschfleck geht.

„Oh. ... Ich probier ma, dass keene neuen dazu kommen“, grinse ich und versuche nicht zu Jan zu gucken.

Jim bringt uns zur Tür. Jan kann die Augen nicht von einem Poster lassen, das dort hängt.

Jim folgt seinem Blick und lacht. „Wollt ihr vielleicht Karten für das Nena-Konzert in der Deutschlandhalle am Wochenende?“

„Äh, ... ick hab grad keene 25 Mark“, sag ich kleinlaut.

Jan sieht überrascht zu mir und ich komm mir echt scheiße vor, denn das ich kein Geld hab – mal wieder – hat Gründe und die hab ich Jan noch nicht so ganz mitgeteilt.

Jim drückt mir drei Karten in die Hand. „Da mach dir mal keine Sorgen drum. Willkommen in der Fabrik-Familie.“

Alles klar. Genauso stell ich mir das Rockstarleben vor.



24. September - Deutschlandhalle, Westend

Wir drängeln uns durch die Masse.

„Is das nich ...?“

„Oh, krass. Farin von den ...“

Ich muss mich zwingen, mich nicht umzudrehen. Die Blicke, die uns folgen, knistern heiß auf meiner Haut und ich genieße es. Jan sieht anfangs eher unglücklich aus mit der ganzen Aufmerksamkeit, die uns zu teil wird, aber ich hau ihm meinen Ellbogen in die Seite und grinse ihn an.

Gut, dass Suzi nicht dabei ist. Das wäre ein Spießrutenlauf geworden - weniger mit den Fans, sondern mit ihr. So sehr ich diese Frau auch liebe, und ich liebe sie sehr, dass wäre nicht gut gegangen. Zum Glück war die Deutschlandhalle ausverkauft. Außerdem mag sie Nena eh nicht. Und Jan.

Ein Mädchen direkt neben mir, tuschelt mit seiner Freundin, die Augen weit aufgerissen. „... ey, ... und Bela. ... machen die denn hier?“

Ich werfe ihr eine Kusshand zu. Sie wird knallrot und lächelt scheu zurück. Süß. Eine junge Frau hält mir ihr Nena-Ticket vor die Nase und einen Stift. Seltsam das zu signieren, aber okay.

„Ey, wir sin Rockstars", brülle ich Jan zu, der eher nervös als euphorisch wirkt. „Gewöhn dich da ma besser dran.“

„Haha.“ Aber nun grinst er doch.

Ich wink zwei anderen Mädchen zu, die kichernd und tuschelnd auf uns zeigen.

Nach viel Geschubse und Gedrängel sind wir schließlich da.

„Geschafft.“ Wir stehen direkt an der Absperrung, vor uns nur noch die Bühne. Erste Reihe. Von hinten drängen die Massen nach vorne. Jan steht hinter mir und stützt seine Arme rechts und links von mir am Absperrgitter auf.

„Na, spielste den Ritter mit platinblondem Haar?“ Ich muss lachen, aber er sieht ernst zurück.

„Naja ...“ Seine Augen huschen über meinen Körper und auf einmal komme ich mir seltsam zierlich vor. Das Wort „abgemagert“ schießt durch meinen Kopf. Ich mag seinen durchdringenden Blick auf mir nicht. Ja, ich bin ein bisschen dünn, aber ...

Zum Glück geht eine weitere Diskussion im ohrenbetäubender Jubel unter der um uns herum aufbrandet – und da ist sie. Sie setzt sich an ein Klavier. Krass. Ich wusste nicht mal, dass sie das kann.

Ich drehe mich zu Jan um und endlich strahlt er. „Geil, so nah dran zu sein, oder?“

„Hmmm.“ Ich schmiege mich an ihn, beuge mich zu ihm hinauf und küsse ihn.

Als ich mich wieder von ihm löse und auf die Bühne schaue, liegt Nenas Blick auf uns.

Sie wirkt erstaunt, verpasst sogar ihren Einsatz, dann grinst sie und singt weiter. Hat sie uns zugezwinkert oder hab ich mir das nur eingebildet? Könnt schon sein, dass sie uns erkannt hat. Gerade zusammen sind wir schlecht zu übersehen, zumal in der ersten Reihe.

Auf einmal löst Jan seine Hände von der Absperrung, nimmt mein Gesicht zwischen seine langen Finger und küsst mich, küsst mich wirklich mitten hier in dieser Menge aus neugierigen Augen, aber die starren zum Glück nur Nena auf der Bühne an.



28. Juni - Kant-Kino, Charlottenburg

Jan und ich laden Gitti ins Kino ein, weil sie uns seit Wochen in den Ohren liegt, dass sie den Film mit uns - den Stars – sehen will und weil sie außerdem ja auch mal am Set war und währenddessen unser persönliches Dr. Sommer-Team, wie sie erklärt.

Als wir drei zur Tür reinkommen, sieht der Kartenverkäufer im Kant-Kino von Jan zum Filmplakat und zurück.

„Das bist doch ...“

„Nee, nee. Dit is meen Bruder“, sagt Jan schnell und verkneift sich das Grinsen. „Wollt mir nur mal seinen Film ansehen.“

Seltsame Vorstellung, dass Jan einen Bruder hat. Ob ich mich auch in den verknallt hätte? Oder wär der ganz anders? Ein Spießer. Oder BWL-Student. Nunja, das ist Hans ja auch. Ich seufze. Und auch vielleicht besser, dass es nur den unvergleichlichen und gerade leider auch oft unverständlichen Jan gibt.

„Aha. Na, dann sach deinem Bruder ma, dass ... Also, er ist ganz nett der Film.“

Jan wird zehn Zentimeter kleiner und ich befürchte, dass er nach dieser „nett“ formulierten Kritik nie wieder in dieses Kino kommen will. Schnell schiebe ich uns drei weiter Richtung Saal 2, der komplett leer ist. Jan neben mir atmet auf.

„Ick bin echt voll gespannt, wie ihr euch da nu geschlagen habt, die Herren Schauspieler.“ Gitti hängt sich bei mir ein.

Jan wird ein wenig blaß unter seiner Italienbräune, vermutlich weil er genau wie ich wieder an die Dreharbeiten denkt.

„Ey, ick hoff echt, dass niemand mehr kommt.“ Jan sieht unruhig zur Tür. „Ey, wenn die den Film scheiße finden und und dann uns entdecken ...“

„Also, ick ... naja, bisher hab ick sehr gemischte Rückmeldungen ... ähm, aus der Szene gehört“, druckst Gitti herum. „Aber Bine zum Beispiel war sehr begeistert.“

Jan rollt demonstrativ mit den Augen.

„Aber - naja ... also, dit tut mir echt leid, aber so `n paar Leute ham sich lustig gemacht über euch. Oder euch zum Teufel gewünscht.“

„War zu erwarten“, seufzt Jan.

Gitti legt ihm ihre Hand auf den Arm. „Ey, die meisten von denen ham den Film wahrscheinlich nich ma gesehen. Oder sin immer noch eifersüchtig, dass sie nachdem Casting nich genommen worden sin.“

„Dit macht`s ja nu och nich besser“, antwortet Jan mit zusammengebissenen Zähnen.

Ich wünschte er wäre genauso stolz auf den Film wie ich, aber – irgendwie ist er sehr viel kritischer mit sich und seinen Leistungen.

„Aber ...“ Gitti grinst. „... eigentlich alle Frauen waren sich einig, dass der Film sehr schick geworden ist.“

„Okay.“ Ein kleines Lächeln schleicht sich in seine verdrießliche Miene.

Das Licht geht aus und wir versinken in der Kinodunkelheit. Tatsächlich bleiben wir die einzigen Leute im Publikum. Will uns denn niemand sehen? Nicht so gut, vermute ich, und lenke Jan mit Werbung raten ab, lasse ihn absichtlich gewinnen.

Der Vorspann flackert über die Leinwand.

Als das erste Bild auf der Leinwand vom verpennten Richy erscheint, stöhnt Jan neben mir auf, Gitti seufzt dafür ein „Boah, du siehst echt jut aus.“

Jan richtet sich wieder ein wenig auf, aber ich kann spüren wie er den ganzen Film auf Habachtstellung bleibt.

Der in der Nacht erleuchtete Wohnwagen taucht auf und wir beide werden als Silhouetten sichtbar. Ich wünschte, es wäre auf die Leinwand gebannt, dass ich es bin, den er küsst.

Die Szene auf den Yorckbrücken flackert blaugrau vor uns auf, gibt mir doch nochmal ganz schön eine mit. Wie er da so einsam gesessen hat, dass werd ich mein Leben lang nicht vergessen. Ich seh zu Jan hinüber, der im gleichen Augenblick zu mir blickt. Wir denken wohl beide an das Gleiche.

Ich nehm seine Hand und nach einem langen Moment drückt er zu. Er beugt sich zu mir. „Ick wünschte echt, es wäre einfacher mit uns beiden.“

Ich halt die Luft an, weiß nicht, was ich dazu sagen soll. „Ich auch“, antwort ich schließlich.  

Als Nena auftaucht, flüstert Gitti sehr laut: „Ey, die hat ja wohl mal voll mit dir geflirtet, Jan.“

„Meinste?“

Na, also. Herr Vetter klingt wieder sehr viel gefasster.

Und dann sind die 90 Minuten auch schon wieder rum. Jans – Richys Gesicht ist auf der großen Leinwand eingefroren und darüber läuft der Abspann.

„Schick. Echt schick, ihr Beiden.“ Gitti erhebt sich aus ihrem Sessel und setzt sich dann auf einmal rittlings auf meinen Schoß. „Ach, Mann. Ick vermiss dich echt, Felse.“ Sie küsst mich und auf einmal sind da Funken und verdammt, ich vermiss sie auch.

Ein Räuspern neben uns.

Gitti löst sich von mir und sieht hinüber zu Jan. Der Blick zwischen den beiden dauert an und schließlich nickt Jan und sie beugt sich zu ihm, küsst ihn mit derselben Intensität.

Auf einmal geht das Licht an und wir stieben schweratmend auseinander.

„Könn wa zu euch gehen?“ Gitti sieht erst mich, dann Jan bittend an. Suzi taucht in meinem Kopf auf, aber gerade bin ich trotzig. Auch wenn ich übelst verliebt bin, ich kann doch nicht wegen ihr Jan und Gitti verlieren.

„Klar.“

Gitti atmet auf und auch Jan sieht seltsam erleichtert aus.

„Wie fandste den Film denn nu?“

„Naja, also ... ick würd sagen, ihr gebt euer Bestes. Und euer Bestes is schon ganz schön jut, aber ... Die Geschichte hinkt einfach. Und diese Frau ... Nee. Aber heilige Scheiße, seht ihr jut aus!"

Wir landen wieder auf Jans Matratze, weil er sich weigert in meinem Zimmer zu sein. Sie ist viel zu schmal für uns drei und trotzdem ist es dieses Mal mit uns Dreien sogar noch besser als an Neujahr.

Ich liege zwischen ihnen und ich hab sie einfach so vermisst, die Beiden. Als Gitti Jan ziemlich intensiv küsst, kann ich auf einmal seine Blicke ein wenig besser verstehen, wenn er mich mit Suzi sieht.

Verdammt, kann es nicht einfach mal unkompliziert sein mit uns.





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LYRICS

Rio Reiser - Lass mich schlafen

Swans - She lives

Mr Bungle – Chemical Marriage
In the song Evil Satan, they sampled Ritchie Valens’s „La Bamba“.

Buzzcocks - What do I get?

Joy Division – Isolation

The Subtones – Raining in Paradise

Maow - One-night stand

Faith No More - Jim

Kraftklub - Songs for Liam

NENA - Du kennst die Liebe nicht (live)


ADDITIONAL SONGS

die ärzte - Medley (Tittenmaus / Nur Geträumt / Marmor, Stein und Eisen u.a., Live in Kassel 1993)


INTERVIEW

DW – Die Ärzte – 30 Jahre Punkrock, Teil 2

Farin: Ich habe eigentlich bis 86, 85/86 immer noch überlegt, was ick denn jetzt mal richtiget an Job machen werde. Gut, dass mir nüscht eingefallen ist.

Plus: Seltene Teenagerliebe-Aufnahme


Sälly`s TV Schnellfrage-Runde - Die Ärzte interviewen sich gegenseitig



Jim RAKETE

Von 1977 bis 1987 führte Jim Rakete in einer Altbauwohnung in der Charlottenburger Leibnizstraße die Fotoagentur „Fabrik“.


„Für Claudia ist es der letzte TV-Auftritt, zu dem sie die Band begleiten wird. Wenig später trennen sich Die Ärzte von ihr. Zu den genauen Vorkommnissen schweigen sich Farin, Bela und Kaloff bis heute aus. Nach all den Jahren scheinen die Narben der Trennung noch immer nicht verheilt zu sein.

Bela B: „Sie war sehr wichtig für unsere Entwicklung und ein gutes Bindeglied zwischen Popbusiness und Indie-Haltung. ... Ich finde es schade, dass es keinen Kontakt mehr gibt.“

Nach dem Split von Claudia Kaloff soll nach den Vorstellungen der Die Ärzte nun ihr Mentor Jim Rakete neuer Manager werden. Jim sträubt sich jedoch etwas, da er mit seinen anderen Schützlingen Nena und Spliff noch immer gut beschäftigt ist. Er sagt aber zu, eine Art „abgespecktes Management“ für die Band zu übernehmen. Seiner Meinung nach brauchen Die Ärzte sowieso keine Ganztagsmutter.

Am Ende weiß die Band schon selbst am besten, was ihr schadet und nützt.

Für Farin, der wie Bela bei einer alleinerziehenden Mutter groß geworden ist, wird Jim auch zu einer Art Ersatzvater, dessen Ausführungen und Meinung er gerne hört.

Farin: „Jim war ein totaler Visionär. Sein Engagement für uns war ein echter Ritterschlag, das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen. Als wir das erste Mal in seinem sehr geräumigen Büro waren, entstand wirklich das Gefühl, dass wir nun die heiligen Hallen betreten. Ich bin ihm noch heute dankbar dafür, dass er das für uns gemacht hat. Er hat uns ganz, ganz viel beigebracht.“

Quelle: Das Buch Ä – S. 156


Kulturmacher : Jim Rakete (Westberlin 1984)

SPLIFF feat. JIM RAKETE - Der Mann mit dem goldenen Ohr 1, 1981

Ausstellung Rockpoeten

Deutsche Welle, 2021
Jim Rakete is one of Germany’s best-known photographers. He’s done portraits of international celebrities. Now he’s made a film called „Now.“ It’s a documentary about youngsters fighting to stop climate change.

Über seine Doku „Now“ über Klimaaktivist*innen

Claudia Skoda – Berlin’s Legendary Fashion Icon on the Explosion of Culture in 1989
Claudia Skoda lebte und arbeitete im selben Gebäude wie Jim Rakete`s Fabrik.


RAKETE & die ärzte

Der polyamoröse Farin Urlaub

Wenn ich etwas mache, versuche ich, es wirklich richtig zu machen. Und ich möchte auch ein technisch guter Fotograf werden. Ich habe gestern tatsächlich ein Lob von Jim Rakete gekriegt: „Was der Farin da den Landschaften abtrotzt, ist schon nicht so schlecht.“ Das bedeutet mir sehr viel, denn was Fotografie angeht, ist Jim Rakete knapp unter Gott.

Deutsche Mugge Interview

Auch DIE ÄRZTE? Wie bist Du auf sie gekommen und wie kam es zur Zusammenarbeit mit den drei Jungs?

Ich fand sie unglaublich. Und das finde ich noch immer. Wir haben zusammen gefunden, weil sie ihren Act auf professionellere Füße stellen wollten. Die Ärzte wollten lernen, lernen, lernen. Und das erwarteten sie auch von allen Anderen. Ich muss heute noch darüber lachen, wie sie damals einen Computer bei mir einrichteten - den ersten, wohlgemerkt- und ihn gleich mal Herbert Grönemeyer nannten. Sie hätten jede Tür aufgekriegt, da bin ich mir sicher.

Ich hatte Dich vorhin nach Deinem ersten „Klienten“ gefragt. Darum auch die Frage, wer die letzte Kapelle war, die in Deine Agentur kam ...

Last but not least waren das die ÄRZTE.



NENA & die ärzte

Nena: Sie waren arrogant-sexy, wild, ungestüm, bereichernd, ernsthafte, intelligente Top-Jungs mit Humor. Da konnte ich weiß Gott nicht vorbeischauen – irgendwie magnetisch. In einem unserer ersten großen Konzerte, in der Deutschlandhalle Berlin, standen sie mal überraschenderweise in der ersten Reihe. Darauf bin ich heute noch stolz.“
Quelle:  Buch Ä – S. 145


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Chapter 56: 1985 - Heroes

Chapter Text

*



* Teenagers in Love *





Gerade bei diesem Kapitel ist es mir nochmal super wichtig darauf hinzuweisen, dass ich zwar die bekannten Biographien plus Bühnenanekdoten :-) als Grundlage verwende, dies aber eine rein fiktive Geschichte ist.

Wissen ja eh alle, ne, Captain Obvious.

Und es sind dieses Mal arg viele Perspektivwechsel drin. Ich hoffe, es bleibt dennoch verständlich.

The Windmills





Inhaltswarnungen: siehe Ende



1985 – Heroes





1. Juli – Gerichtstraße 21, Wedding

„Och, musste wirklich los.“ Suzi zieht an meiner Hand, versucht mich zu sich ins Bett zurück zu holen.

„Ick muss echt los, Süße. Wir legn doch heut mit den Aufnahmen los für dit neue Album.“

„Mhm... Okay. Schade.“

Eigentlich würde ich viel lieber bei ihr bleiben, bisschen Sex, noch eine Runde schlafen, mich an sie kuscheln, aber ich will einen zuverlässigen Eindruck machen, damit sie mich nicht wieder ersetzen im Studio.

„Kommst du dann heute abend wieder?“

„Weiß ick noch nich. Kann sein, dass Jan ...“

Ihr lauter Seufzer unterbricht mich. „Ey, ich versuch echt zu respektieren, dass ihr zusammen wohnt und in `ner Band spielt und das dir Jan wichtig ist ...“ Ich nicke, sie schüttelt den Kopf. „Aber ehrlich gesagt: so richtig versteh ich nicht, was du an dem findest. Vor allem weil ihr so ... so ... unterschiedlich seid.“ Sie schüttelt immer noch den Kopf. „Im Vergleich mit dir ist der geradezu grandios spießig.“

„Hey. Dit is doch okay. Jan hat halt keen Bock auf Saufen und Zeug schmeißen. Dit hat doch nüscht mit spießig zu tun.“ Ich wünschte, ich könnte ihr erklären, dass das vermutlich was mit seiner Kindheit zu tun hat. So genau hat Jan mir das auch nie gesagt, vielleicht weiß er es selber nicht, aber dieser Gerd - ich glaube, der hat da keine unbedeutende Rolle gespielt. Und das gepaart mit Jans Sturheit schafft halt klare Verhältnisse. „Is doch okay. Knallen sich eh viele zu viele Leute hier weg.“

„Und dit ausgerechnet von dir.“ Sie lacht und zieht mich mit einem Ruck nun wirklich zurück ins Bett, setzt sich auf mich. Sie knöpft mein Hemd auf und kratzt mit ihren langen roten Fingernägeln über meine Haut, leckt über meine Brustwarze. Augenblicklich werd ich wieder hart. Eigentlich muss ich los, aber ... Ihr Mund auf meinem, dann tiefer. Kein Platz für Protest.

Verdammt, diese Frau ist gerade meine größte Droge.


Preussen-Tonstudio, Hasenheide 9, Kreuzberg

Nur eine Viertelstunde zu spät. Ich lauf vom Hermannplatz die Hasenheide entlang  und bieg in den Hinterhof ein. Natürlich. Jan ist schon da, läuft im Hof hin und her.

Obwohl ich zu spät dran bin, bleibe ich spontan in der Einfahrt stehen, beobachte ihn. Ich habe ihn seit einer Woche nicht mehr gesehen und natürlich hat er sich in der kurzen Zeit nicht verändert, aber gerade ... Es ist seltsam ihn so unbeobachtet zu beobachten.

Unruhig zieht er seine Kreise wie ein unruhiges Tier. Tiere brauchen viel Auslauf, Jan seinen Urlaub. Aber jetzt ist er ja wieder da. Nur sehen wir uns gerade ziemlich wenig, weil - Suzi. Ich kann mich irgendwie nicht entziehen, obwohl ich ja eigentlich so sehnsüchtig auf seine Rückkehr gewartet hab.

Jan drückt auf seinem Walkman herum. Wahrscheinlich spult er zum x-ten Mal zurück zum Anfang von „Blue Monday“. Er sollte sich einfach eine ganze Kassette voll mit dem Lied aufnehmen.

Auf einmal blickt er auf, läuft auf mich zu. „Ey, da biste ja endlich.“ Er nimmt seinen Hörer ab. „Husch, husch. Dieser Praeker wartet bestimmt schon auf uns.“ Er packt mich an der Hand und zieht mich in einen der Aufgänge und die Treppen hoch.

Ich versuch, so gut es geht mitzuhalten, aber irgendwie ...  „Is ja ... jut. `ne alte Frau ... is doch keen ... D-Zug.“ Ich bleib stehen und schnapp nach Luft.

Er dreht sich zu mir um, mustert mich mit besorgter Miene, weil ich so keuche. „Jetz glotz nich so. Ick hör nich uff zu rauchen.“

„Wie der Herr wünschen.“ Extra leichtfüssig hüpft er vor mir die Treppe rauf. Arsch!

Ein Typ öffnet uns die Tür, gut ein paar Jahre älter als wir. „Na, da seid ihr ja endlich.“

Ich hass es, wenn Leute auf meiner Unpünktlichkeit herumreiten. Vielleicht sollten die sich einfach mal entspannen.

„Ich bin Manne.“ Er hält Jan die Hand hin, dann mir. Dünn wie ein Bleistift ist er, dieser Manne. Beneidenswert dünn.

„Und du spielst also bei Spliff?“

„Ja. Bass.“ Er grinst. Ein Grinsen, dass ich nicht mögen will, das mich aber trotzdem auftaut. „Mir ist schon klar, dass das nicht deine Musik ist.“

Ich mag seine Direktheit. „Stimmt.“

„Muss sie ja auch nicht.“ Sein Blick schweift zurück zu Jan. „Und ihr seid also diese neuen Kometen am Berliner Punkhimmel. Solltet ihr nicht drei sein?“

„Hans hatte keine Zeit wegen irgendso `nem Unikram.“ Jan zuckt mit den Schultern.

„Der am Bass, oder?“

Jan nickt.

„Mhm, okay. ... Also: was stellt ihr euch denn so vor?“

„Na ... Dit wär ganz schick, wenn de dit mit dem Kometen zu `nem bleibenden Phänomen machen könntest“, formuliert Jan einen unserer Wünsche. „Wär halt schon geil, endlich mal von der Musik leben zu können. Wenn ... also, wenn dit mit dem Album nich klappt, dann ... dann werd ich mir wohl `n anderen Job suchen müssen.“

Entsetzt seh ich zu ihm rüber, aber er erwidert meinen Blick nicht.

Manne wiegt bedächtig den Kopf hin und her. „Verständlich. ... Na, ich schau mal, was ich für euch tun kann, Jungs. Vor allem muss ich aber verstehen, was ihr wollt.“

Der Kerl ist mir viel zu sympathisch. Dennoch bin ich von dieser Zusammenarbeit nicht überzeugt. Ich stemme meine Hände in die Hüften. „Also, ick sach dit jetz einfach ma so ehrlich. Ick spiel meine Drums mit Sicherheit nich perfekt, aber – so sin wa halt. Und ick hab halt keen Bock auf so `n Muckergewäsch von dir, wenn wat schief geht.“

„Mhm, mhm.“ Manne wiegt seinen Kopf bedächtig hin und her. „Dann bin ich auch mal ehrlich mit euch.“

Ich halt die Luft an und wenn ich Jans Haltung richtig deute, nicht nur ich.

„Eure Demos klingen gut und ich werde versuchen mein „Muckergewäsch“ auf ein Minimum zu reduzieren, aber wenn was nicht läuft, dann werd ich euch das ehrlich sagen. Ihr wollt euch doch weiterentwickeln, oder nicht?“

Jan atmet aus, nickt eifrig. Streber.

„Und es wäre halt gut, wenn ihr die Lieder spielen könnt. Das ist ja das Rohmaterial, mit dem ich dann arbeiten muss. Da hab ich schon Sachen erlebt.“ Er schüttelt den Kopf.

„Ja. ... Ja, klar“, sag ich schnell, da ich dem Mucker ja schlecht antworten kann, dass ich andere Dinge wichtiger finde als proben.

„Na, wunderbar.“ Er scheint zufrieden. „Na, dann lasst uns mal irgendwohin gehen und auf unsere Zusammenarbeit anstoßen.“

„Äh ...“ Jan sieht zwischen uns beiden hin und her. „Ähm, woll`n wa nich anfangen zu arbeiten?“

„Na, erstmal müssen wir uns ja auch ein bisschen kennenlernen, oder?“ Wieder dieses Grinsen. Irgendwie mag ich den Typen.


Risiko, Yorckstraße 48

„Bin gleich wieder da.“ Manne deutet in Richtung Toiletten.

„Okay. Ich bestell schon ma. Bier?“

„Wenn sie `n Jacky haben, dann lieber `n Jacky Cola.“

Ich dreh mich zu Blixa, der gerade Nick an der Schulter rüttelt. Viele nennen den nur „den Australier“. Eigentlich ist der ganz cool und ich mag seine Band „Birthday Party“, aber gerade hängt er mehr am Tresen als das er sitzt.

Wenn Blixa und er in ein Gespräch vertieft sind, kann es auch mal eine halbe Stunde dauern bis man sein Bier bekommt. Aber gerade ist da kein Gespräch, denn Nick hängt einfach nur vollkommen apathisch auf seinem Hocker, als hätte jemand die Luft aus ihm gelassen. Was hat der denn bitte geschmissen?

Und nicht nur er. Als Manne wieder vom Klo zurück ist, erkenn ich es sofort. Leicht flackernder Blick, ständiges Kauen. Hatte gar nich gedacht, dass sich so `n Mucker Speed reinpfeift.

„Na, dann ...“ Manne hebt sein Glas, runzelt die Stirn, als Jan mit seinem Wasser anstößt.

„Farin trinkt nicht“, flüster ich Manne zu, der Jan daraufhin ungläubig betrachtet wie ein seltenes Tier. Der rollt nur mit den Augen.

„Hat der nicht mal so einen Song über Vollmilch geschrieben?“, flüstert er zurück und ich verschluck mich fast an meinem Jacky, muss ein Kichern unterdrücken.

„Gut informiert.“

Zum Glück hat Farin gerade Gitti entdeckt, die auf uns zukommt. Sein Blick beginnt wieder zu leuchten.

„Na, du treulose Tomate.“ Sie küsst mich auf die Wange, kneift mich dann in den Hintern, so dass ich mit einem kleinen Quieken hochspringe. „Haste denn etwa deine Suziiiiii heut gar nich dabei?“

„Is ja jut. Brauchste mir nich jedes Mal unter die Nase reiben.“

Sie wirft Jan einen Blick zu und die beiden wirken so, als wären sie sich über etwas sehr einig. Sie hängt sich bei ihm ein und zieht ihn zur Seite. Keine Ahnung, was die Beiden da tuscheln, aber fühlt sich nicht so geil an.

„Ey, sach ma, Manne, du ... du hast doch vorhin auf dem Klo ... Haste noch was da?“

„Oh. ... Ja, klar. Wusste nicht, dass du ... Komm, ich geb dir was aus.“

Jan und Gitti sind so in ihr intensives Gespräch vertieft, dass sie nicht mal merken, dass ich mit Manne verschwinde.

Na, das läuft doch. Ich zieh die Nase hoch. Das Zeug ballert tierisch, knallt mir fast die Schädelplatte weg. Wahrscheinlich guter Stoff, nicht der Gestreckte, den sie hier im Hinterzimmer verchecken.

Ich wisch mir über die Nase, um verräterrische weiße Pulverreste zu entsorgen, aber eigentlich interessiert das hier im Risiko eh keinen. Nur Jan muss das ja nicht unbedingt mitbekommen. Der sagt zwar nichts, aber guckt dann immer so kritisch.

Danach sind Manne und ich viel zu aufgedreht. Blixa spielt irgendwas, dass Mane als etwas von „Neu!“ identifiziert. Für mich ist es viel zu langsam. Ich zapple neben dem halb bewußtlosen Nick herum und fange einen durchdringenden Blick von Jan auf, der sich immer noch mit Gitti unterhält. Sein Blick über ihre Schulter ist wie ein messerscharfer Laser.

„Ganz schön wegschossen“, höre ich Gitti sagen, als die beiden langsam auf uns zukommen. Anscheinend haben sie endlich ihr konspiratives Privatgespräch beendet. „Die sind jetzt in dem Haus wohl alle irgendwie auf Heroin. Schöne Scheiße, ey.“ Immerhin unterhalten sie sich anscheinend nicht über Suzi und mich. „Also, nich, dass ick was gegen Drogen hab, aber dit Zeuch ...“ Gitti macht eine wegwerfende Handbewegung. „Pfff, zieht irgendwie voll die Stimmung runter. Und die Leute werden so übel egoistisch.“

Ich hab keinen Bock auf so viel zu ernste Unterhaltungen. Ich will tanzen. „Hey, wolln wa noch woanders hin? Sound wär doch mal wieder geil.“

Manne reagiert augenblicklich. „Wir können auch in den Dschungel, wenn ihr wollt. Ich kenn einen der Barmänner.“

„Jut.“ Ich geb mich cool, aber find das ganz schön schick. Im Dschungel war ich noch nicht so oft, weil die Einlasspolitik dort so hart ist.

„Auf Dschungel hab ick keen Bock. Dit is mir zu Schicki-Micki“, meckert Gitti.

„Musst ja nich mit.“

„Mach ick och nich.“ Sie wirft mir einen genervten Blick zu, umarmt nur Jan zum Abschied.


Dschungel, Nürnberger Straße 53

Kaum sind wir dank Manne durch die Tür und die lange Treppe runter, erspäh ich ein bekanntes Gesicht.

„Ey, da ist René. Bin gleich wieder da.“ Ich winke Jan und Manne schnell zu und lauf zu René hinüber, der mich in eine feste Umarmung zieht. Meine Arme können ihn komplett umfassen. Dünn ist er geworden. Ich bin ein wenig neidisch. „Hey. Na, Du? Wir ham uns ja ewig nich gesehn.“

„Na, Herr Felsenheimer?“ Er grinst. Sogar sein Grinsen ist dünn, fast zerbrechlich. „Sie hatte ich hier gar nicht erwartet.“

„Aber, aber. Hier warten alle auf mich“, kokettiere ich. Ich seh mich um und komme mir wie jedes Mal augenblicklich deplatziert vor. Ich mag Mode, aber hier ... Es wirkt so oberflächlich, so arrogant. Außerdem ist der Laden viel zu hell.

Ich wende mich wieder René. „Alles okay bei dir?“

„Ja. ... Geht schon.“

„Wie meinst `n dit?“

„Irgendwie war ich letzter Zeit ständig krank. Keine Ahnung. Aber heute ... heute will ich endlich mal wieder feiern mit meinen Jungs.“ Er deutet auf eine Gruppe hinter uns am Tresen. Ein, zwei Gesichter kommen mir bekanntn vor. Lang ist`s her. Die andren sind alle neu.

„Mhm, okay. Na, dann ... Ich will dich nich aufhalten.“

„Du doch nie, Dirk.“ Er drückt mich nochmal fest. „Wär schön mal wieder länger mit dir zu quatschen. Wohnste noch in der Niebuhrstraße?“

„Ja.“

„Ich hab vor ein paar Monaten deinen Mitbewohner ...“

„Freund“, platzt es aus mir heraus.

René sieht mich perplex an. „... Ernsthaft?“

„Äh, ja.“

„Also, hatten wir doch nicht so Unrecht damals mit dir.“

„Vielleicht. ... Keine Ahnung. Ihn ...“ Ich dreh mich um und suche Jan. Obwohl mehr Leute hier so wasserstoffgebleichte und toupierte Haare haben, finde ich ihn sofort. Seine sind einfach am Schönsten und er am Größten. Er unterhält sich mit Manne und es wirkt recht angeregt. Schön, dass er noch mitgekommen ist.

„Ist `n Hübscher. Ich hab ihn vor ein paar Monaten zufällig in der Schwulenberatung getroffen. Echt nett.“

Ich nicke und ein warmes Gefühl zieht durch meine Brust, durch meinen Bauch.

„Freut mich für dich. Für euch.“ René sieht mich ein wenig wehmütig an und ich vermute, dass er wohl mehr in mich verknallt gewesen ist damals, als ich mir eingestehen wollte.

„Danke.“ Ich will zurück zu ihm und ... Schade, dass er oft bei Körperkontakt in der Öffentlichkeit so ein bisschen starr wird. „War echt schön dich ma wiedergesehen zu ham.“ Wir umarmen uns noch einmal.

Als ich zu Jan zurück gehe, sieht er über meine Schulter hinweg zu René und seinen Freunden. „Sach ma, dein Freund. Der ... Er sieht so anders aus. Als ich ihn im Winter in der Schwulenberatung gesehen hab ... Ist der noch dünner geworden?“

„Is mir och aufgefallen. Keine Ahnung.“ Insgeheim überleg ich, ob René jetzt auch unter die Fixer gegangen ist. Hoffentlich nicht.

Manne unterbricht uns. „Guckt mal. Da oben saß oft Bowie mit Romy Haag.“ Er deutet hoch auf den Balkon.

Andächtig folge ich seinem ausgestreckten Arm und für einen Moment sehe ich ihn, den Thin White Duke, aber dann ist es doch nur ein anderer dünner Typ. Berlin scheint voll von ihnen zu sein.

„Schick hier, oder?“

„Joa, is irgendwie ganz interessant. Aber fürchterlich hell.“

„Dit heißt dann wohl, dass de nich auf die Tanzfläche gehst, wa?“

Er sieht mich nur entsetzt an. „Die Mucke is och nich ganz so mein Geschmack.“

Sie spielen gerade was von Bowie. „Aber passt jut hierher.“

Eine Stunde später werden Jans Augen immer kleiner. Ohne Hilfsmittel ist es wahrscheinlich gar nicht so einfach eine Nacht durchzumachen.

„Hey, ick würd dann ma langsam losmachen.“ Seine Finger zupfen am Saum meines Hemds. „Kommste mit?“

Es zieht mich zu ihm – und in die Nacht, die noch viel zu jung und frisch ist. Ich will noch nicht heim. So oft bin ich auch nicht im Dschungel. Außerdem macht es Spaß sich mit Manne zu unterhalten. Die Wellenlänge passt einfach. „Is okay, wenn ick noch bleib?“

Jan wirkt ein bisschen verletzt, nickt dann. „Ähm, klar. ... Okay, dann bis morgen.“ Er beugt sich ein Stück zu mir hinunter und meine Augen schließen sich für einen Abschiedskuss, aber der landet nur auf meiner Wange, wenn auch etwas länger.

Einen Moment überleg ich, ob ich nicht doch mit ihm nach Hause geh. Ich mag es, wenn er so ein bisschen anhänglicher ist, zeigt dass er mich will. Etwas, dass ich sehr an Suzi schätze und viel zu oft an Jan vermisse. Auch wenn Suzi mit ihrer besitzergreifenden Art eine ganz schöne Herausforderung ist, irgendwie tut mir das auch gut, so als würd ich genau das brauchen – bedingungslos gewollt werden.

Und ihre nicht unterdrückte Leidenschaft. Bei ihr komm ich mir mit meinen ganzen wilden Gefühlen nicht so irre vor wie manchmal bei Jan, wenn er manchmal so reserviert und kontrolliert ist, vor allem in der Öffentlichkeit.

Der hat sich schon wieder zurück gelehnt und sieht zu Manne, der unsere kurze Interaktion wohl beobachtet hat. Keine Ahnung, was er denkt. Mir egal und anscheinend Jan endlich auch mal.

„Wann wollen wir uns denn morgen treffen?“, fragt er.

Manne wechselt einen Blick mit mir. „Naja, vielleicht so um eins.“

„Eins?“

„Wir machen dann auch länger“, beschwichtigt ihn Manne.

„Mhm. Okay, dann ... viel Spaß euch noch.“ Er sagt es sehr leise.

Irgendwann will ich dann doch pennen, aber das ist gar nicht so einfach mit soviel Zeug im Blut. Und eigentlich wär es schön bei Jan zu schlafen, aber so aufgedreht wie ich bin und er will pennen, das macht auch keinen Sinn.

Vielleicht helfen ein paar Downer. „Sach ma, Manne, haste vielleich och `n paar Benzos oder so stecken?“

„Oh, nee. Tut mir leid. Ich misch nicht so gerne.“

„Mhm. ... Okay, verständlich.“

Irgendwie helfen die auch gar nicht mehr so zuverlässig, wie am Anfang. Gewöhnungseffekt, hat Gitti das mit argwöhnischer Miene kommentiert. Dabei muss sie grad reden. Wahrscheinlich ist sie nur wegen Suzi so kritisch mit mir. Einfach weil wir nicht mehr so viel abhängen, seitdem ich diese faszinierende Frau kennengelernt habe. Eifersüchtig kenn ich Gitti gar nich. Gleichzeitig hab ich dadurch noch weniger Bock sie zu sehen.

Suzi ist definitiv weniger verurteilend als Jan und Gitti. Also, ab in den Wedding.


2. Juli – Preussen-Tonstudio, Hasenheide 9, Kreuzberg

Puh. Ich hab einen ziemlichen Schädel auf, als ich die Tür zum Tonstudio aufsperre. War eine lange Nacht gestern mit Bela. Ist ein dufter Typ. Hatte ich am Anfang gar nicht gedacht, weil er so zickig war. Nachdem Jan nach Hause ist, sind er und ich noch weiter gezogen und in irgendso einer Berliner Eckkneipe abgestürzt bis um sechs Uhr morgens.

Dementsprechend müde bin ich nun leider. Aber dem kann schnell abgeholfen werden. Ich ziehe den Plastikbeutel aus meiner Tabaktasche und lege mir eine Line. Damit kann ich eh besser arbeiten.

Angenehm wie es das Blut durch die Adern jagt. Sorgt einfach für eine bessere Durchblutung im Hirn. Das Zeug ist echt der beste Wecker. Apropos Wecker. Ich sehe auf die Uhr. Viertel nach eins. Eigentlich sollten die Drei schon hier sein.

Genau in diesem Moment klopft es und ein großer, blonder Typ steckt den Kopf zur Tür rein.

„Äh, hallo. Ich bin der Hans und äh, wir sollten heute hier ...“

„Hi! Ich bin Manne, euer Produzent. Komm rein. Immerhin einer, der pünktlich ist. Weißt du, wo die andern beiden sind?“

„Keine Ahnung. Ist wahrscheinlich Bela dran schuld. Der ist so gut wie immer unpünktlich. Jan eigentlich nicht. Wahrscheinlich Belas schlechter Einfluss.“

Schräge Bemerkung. Ich hoffe, dass geht jetzt nicht die ganze Zeit so. Zerstrittene Bands sind echt die Pest im Aufnahmestudio. Hatte ich viel zu oft.

„Aber wir zwei könn ja schon mal anfangen.“

„Mit was?“

Ich deute das Zupfen eines Basses an. „Na, mit den Aufnahmen. Ich hatte mir überlegt, dass wir mit „Wegen dir“ anfangen. Hast du deinen Bass schon gestimmt?“

„Nee. Also, ich hab den auch gar nicht dabei.“

„Was?“

„Ich muss eh gleich zur Vorlesung und da dachte ...“

„Was für eine Vorlesung?“

„Na, an der Uni. Ich studiere BWL.“ Er steht auf einmal viel aufrechter, sieht mich dabei an, als müsste ich jetzt applaudieren oder sowas.

Ich deute auf meinen eigenen Bass in der Ecke. „Da hast du echt mehr Glück als Verstand, würd ich sagen. Der hier ist schon gestimmt.“ Ich stöpsel ihn ein und halte ihn Hans hin, aber der greift nicht zu. „Hier.“

„Ähm ...“

„Ich hatte mir eigentlich überlegt, dass ich nicht bei den Aufnahmen dabei sein will.“

„...?“ Eigentlich fehlen mir selten die Worte.

„Na, ich bin mehr für den finanziellen Teil der Band zuständig.“

„Ich dachte, du bist der Bassist?“

„Ja, schon, aber ... Mir bleibt neben der Uni einfach nicht so viel Zeit zu üben und deswegen ... Außerdem mögen die anderen vielleicht Talent für Musik haben, aber betriebswirtschaftliches Geschick fehlt denen halt total.“

„Okay. Aber was hat das damit zu tun, dass du jetzt heute hier deine Bassparts einspielen sollst?“

„Ähm ... Also ... Nunja, ich dachte nur, dass das vielleicht wichtig ist für dich zu wissen, also, was so meine Funktion in der Band ist.“

„Bass spielen.“

„Also, auch. Aber ...“

Langsam, aber sicher macht mich der Typ wahnsinnig. Ganz schlechte vibes. „Ich würd jetzt einfach gerne mal anfangen.“

 

* * *



„Dafür müsste Bela wohl erst mal lernen, was Pünktlichkeit bedeutet“, höre ich Hans, als ich eine halbe Stunde zu spät vor der Tür des Studios stehe. Auch wenn er nicht Unrecht hat, so ist das einfach nur frech. Was für eine Arschgeige!

Ich warte auf Widerworte von Jan, aber da kommt nichts und schließlich öffne ich die Tür zum Studio.

Manne sieht blaß aus. Vielleicht war es gestern doch ein wenig zu spät beziehungsweise früh. Jan ist nirgendwo zu sehen.

„Hey, Bela!“ Manne läuft etwas fahrig in meine Richtung. „Also, ey ... das ist mir jetzt echt unangenehm und tut mir total leid, aber ... Ich kann euch doch nicht produzieren.“

„Hä? Was is los?“ Geschockt seh ich Manne an.

„Mir ist ein anderer Auftrag dazwischen gekommen und ... Echt blöd, dass ich euch so kurzfristig absagen muss.“

„Aber ...“ Ich halte ihn an der Schulter fest. „Dit Studio und alles is doch schon gebucht. Wir – wir wollten doch heute loslegen.“

„Tut mir echt leid, Bela, aber ... Fragt doch mal Jim, ob er jemand anders für euch findet.“

Mir liegen einige böse Worte auf den Lippen, aber ich mag Manne auch. Mist.

Und wo ist Jan?

„Okay, also, dann ...“ Er scheucht Hans in meine Richtung, Richtung Tür, die er hinter uns schließt.

Das ist echt alles wie ein schlechter Traum.

Schritte auf der Treppe, die sich uns schnell nähern.

„Hey, ihr Beiden. Ey, sorry. Ick hab verpennt. Die Scheißbatterien im Wecker ... Was macht ihr den für `n Gesicht?“

„Der Typ ist mir wirklich mehr als suspekt“, sagt Hans und erzählt von der plötzlichen Abfuhr.

Puh. Hab ich mich so in Manne geirrt? Seltsam, mehr als seltsam.

Jan wird blass, richtig blass. „Is ... is dit `n Zeichen, dass ick ...“

Er steht immer noch auf der Treppe und ist nun sogar ein Stückchen kleiner als ich. Ich packe ihn an den Schultern und warte bis er mich ansieht. „Wat auch immer du sagen willst: Nein! Wir machen weiter. Okay?“

Es dauert, es dauert lange, aber schließlich nickt er. Ich küsse ihn auf den Kopf und ernte ein verkniffenes Lächeln, aber immerhin ein Lächeln.

Es dauert, es dauert lange, aber schließlich nickt er. Ich küsse ihn auf den Kopf und ernte ein verkniffenes Lächeln, aber immerhin ein Lächeln.


4. Juli – Fabrik, Zossener Straße

„Das ist einfach so viel professioneller.“ Hans sieht richtig glücklich aus, als er den Knopf am Monitor drückt. Mit viel Geknister erwacht dieser zum Leben. Eine grüne Eingabezeile blinkt uns auf schwarzem Grund entgegen.

„Okay, Heinz. Are you ready?“ Ich tätschel den Monitor des Commodore.

Jim sieht irritiert von seinem Schreibtisch zu uns hinüber.  

„Ick hab nur mit dem Computer gesprochen.“

„Aha.“

„Ja. Darf ich vorstellen? Heinz Grönemeyer.“

„Angenehm.“ Mit Genugtuung sehe ich, dass Jim sich das Grinsen nicht verkneifen kann. „Das hat nicht zufällig etwas mit Herberts schlechter Rezension in der Spex zu tun?“

Peinlich, dass Jim die kennt. „Von wegen „langweilig und harmlos.“ Wenn dit jemand is, dann ja wohl er.“

„Findest du?“

„Herbert ist halt einfach so `n ... naja, halt so `n Deutschrock-Wichser.“

„Bitte?“ Einen Moment sieht Jim etwas geschockt aus und ich beiße mir auf die Lippen wegen meiner vorlauten Klappe, aber dann fängt er auf einmal an zu grinsen und dann laut zu lachen. „Über den Kommentar freut er sich bestimmt.“

Er kommt zu uns hinüber und sieht Hans über die Schulter. „Was macht ihr da eigentlich?“

„Wir erstellen eine Datenbank mit den Fan-Adressen, damit wir unsere Fanbriefe effektiver verschicken können.“

Jim lächelt zufrieden. „Genau das meinte ich mit fleißig. Wusste doch ihr seid wief.“

Sein Lob geht runter wie der strahlende Sonnenschein draußen vor dem Fenster.

„Wartet mal einen Moment.“ Er geht kurz weg und kommt mit seinem Photoapparat wieder. „Das Licht ist gerade echt gut. ... Nee, ohne posen. Macht einfach mit der Adresseingabe weiter.“

„Okay.“ Ich deute auf die nächste Zeile. „Hier ... Anneliese Schmidt.“

„Was?“ Hans sieht verständnislos zu mir hoch.

Im Hintergrund höre ich Jim lachen. Immerhin einer.



* * *



Am nächsten Tag zeigt Jim uns das Ergebnis. „Hab`s gestern abend noch entwickelt.“ Er grinst zufrieden.

„Wow, cool.“ Ich bin ihm wirklich dankbar. „Das können wir jetzt auch bei unseren Konzerten aushängen. Hoffentlich hört dann endlich auch mal die Postlawine in der Niebuhrstraße auf.“

„Oje.“

„Das ist noch nicht mal das Schlimmste. Seit Neuestem schmieren sie das Treppenhaus voll. Die anderen Mieter*innen sind nicht so richtig begeistert davon.“

„Was?“ Es ist Jim anzumerken, dass er nicht weiß, ob er belustigt oder bestürzt sein soll. „Ihr habt echt leidenschaftliche Fans.“

„Is echt bizarr. Und es nervt halt auch. Bela findet`s witzig, aber ick hätt auch schon gern ab und zu einfach mal Ruhe.“

„Verständlich.“

 

* * *



Da wir immer noch 200 Adressen eingeben müssen, kommen Hans und ich auch am nächsten Wochenende in die Fabrik. Wäre echt schön gewesen, wenn Bela auch ein wenig geholfen hätte, aber der ist mal wieder untergetaucht. Vermutlich mit Suzi.

Egal, mit Hans geht es eh schneller, weil der pünktlich ist und sich mit dem Programm auskennt.

„... Also, ehrlich gesagt ...“, höre ich Jims Stimme aus seinem Büro. Wochenende kennt der Mann wohl auch nicht. „... würde Nena wohl eher dich als Vorband nehmen. ... Wäre auch eine Möglichkeit. Oder du nimmst die Ärzte mit. Da hast du dann mal eine ganze andere Zielgruppe erreicht.“

Stille. Ich wüsste zu gern, mit wem Jim da telefoniert.

„Ich glaube, die sind vorhin gekommen.“ Jim schaut aus der offenen Tür seines Büros und winkt mich zu sich. „Hier.“ Er hält mir den Telefonhörer hin. „Jemand möchte dich sprechen.“

„Hallo? Hier ist Farin.“

„Ah, hier ist Herbert. Der Deutschrockwichser.“

Ich sehe geschockt zu Jim, aber der grinst nur.

„Das ist ja mal schön, dass wir uns sprechen können“, höre ich Grönemeyer aus dem Hörer. „Ich wollte nur sagen, dass ihr irrt mit eurer Bezeichnung. Ich bin zwar heute schon fünf Mal gekommen, allerdings mit einer durchaus erlesenen Auswahl an Sexualpartnerinnen.“

„... Aha. ... Schön für dich, Her-bert.“ Mir ist das echt zu doof und so erspare ich mir sogar den blöden Spruch, der mir auf den Lippen liegt. Ich will gerade den Hörer an Jim zurückgeben, als ich auf einmal eine mir viel zu bekannte Stimme im Hintergrund höre.

Meine Beine knicken weg und ich schaffe es mich gerade noch so am Türrahmen festzuhalten.

Jemand zieht mich hoch. „Hey, hey. Alles okay?“

„Hä?“ Mein Blick wird wieder klarer. Jim sieht besorgt auf mich hinunter, hinter ihm Hans. Schnell rappel ich mich wieder auf.

„Bin gleich wieder da.“ Ich eile auf die Toilette, schließe die Tür hinter mir und atme tief durch. War das wirklich Beate? Was macht die denn ...? Ich will nicht drüber nachdenken, spritze mir kaltes Wasser ins Gesicht, aber das reicht nicht, deswegen halte ich den ganzen Kopf drunter.

Als ich mit triefenden Haaren zurück zu Hans gehe, stellt er zum Glück keine Fragen.

„Geht´s dir wieder besser?“

Ich nicke und es tropft aus meinen Haaren. Schnell trete ich einen Schritt zurück, damit das Wasser nicht in die Tastatur fällt.

„Mhm, klar!“ Bela hätte mir dieses Grinsen nicht abgekauft, aber Hans nickt nur.

„Ich muss dann auch bald los, weil ich Ulla versprochen habe, dass wir heute ihre Eltern besuchen.“

„Okay.“ Irgendwie bin ich fast froh, dass ich hier raus kann. Fertig sind wir allerdings immer noch nicht.


11. Juli – Niebuhrstraße 38b, Charlottenburg

Bela ist nachts wieder viel unterwegs. Ich weiß nicht mal, wo und mit wem, vermutlich mit Suzi.

Es klingelt. Nicht unten an der Haustür, sondern an der Wohnungstür, wie ich feststelle, als ich diese aufreiße und mir Frau Ruppert direkt gegenüber steht.

„Nu, is Schluß“, schreit sie mir entgegen. Ihre Fahne schlägt mir ins Gesicht, als hätte sie einen ganzen Schnapsladen ausgetrunken. Mir wird augenblicklich schlecht.

„Was meinen Sie damit?“ Eskalation hilft bei ihr nicht. Das hat Bela oft genug ausprobiert. Und egal wie betrunken sie ist, sie ist immer noch die Hausmeisterin.

„Na, diese Herzen und ... Liebesbekundungen und das Gekreische - also, keine Ahnung, warum diese Mädchen das machen, aber das ... das geht nicht. Die müssen weg.“

Tatsächlich bin ich da mit ihr sogar einer Meinung. 

„Und ...“ Sie deutet im Treppenhaus nach oben. „Fräulein Prediger hat sich ... sogar schriftlich beschwert.“ Sie hält mir einen Zettel vor`s Gesicht auf dem mit vielen Rechtschreibfehlern steht, dass wir eine Schande für dieses Haus sind und die Leute, die unterzeichnet haben sich wünschen, dass wir ausziehen. Na, prima.

Ich bin mir hundertprozentig sicher, dass das nicht die junge Frau, sondern ihr grauenvoller Nazi-Freund angezettelt hat. „Über was denn?“

„Über ...“ Sie stößt laut einmal auf. „Über die Musik und das Geschrei und ...“

Ich ahne, dass das nächste Wort Gestöhne ist und falle ihr ins Wort. „Ja, tut mir leid. Wir werden uns bessern.“

„Mhm.“ Sie mustert mich. „Na, Ihnen glaub ich das wenigstens. Aber der Punker ...“

Ich bin ernsthaft einen Moment beleidigt, dann sage ich mir, dass ich genau so Punk bin wie Bela und das nichts mit Aussehen zu tun hat.

„Mit diesem Giftzwerg ... kann man einfach nicht reden. Der hat einfach nur Glück, dass seine Mutter in der Wohnungs... Wohnungsbau... gesellschaft arbeitet.“

Beinahe hätte ich genickt. „Wie gesagt, wir werden uns bessern.“

„Mhm, dit will ick hoffen.“

Unten klappt eine Haustür. „Mama?“

„Hier oben.“

Schritte auf der Treppe. Einen Moment später steht ihre Tochter Maria neben ihr. Wenn man die beiden zusammen sieht, versteht man nochmal besser, was der Alkohol für ein Trauerspiel ist. Wahrscheinlich war Frau Ruppert mal so hübsch wie Maria, aber ...

Keine Ahnung, was da genau für ein Drama dahintersteckt, aber alleinerziehend sein ist nicht einfach. Hab ich ja selber miterlebt bis ... Gerd aufgetaucht ist. Hat auch nichts besser gemacht.  

Maria nickt mir entschuldigend zu. „Also, wir gehen wohl besser mal.“

„Alles okay“, versuch ich ihr zu versichern, obwohl wahrscheinlich gar nichts okay ist - weder für sie noch für uns.



13. Juli – Niebuhrstraße 38b, Charlottenburg

Es ist zwei Uhr morgens als es auf einmal Sturm klingelt.

Verdammt, Bela. Vielleicht einfach ein Mal an deinen Schlüssel denken. Im Halbschlaf schlüpfe ich in meine Unterhose.

Ich öffne die Tür und werde von drei Typen in Polizeiuniformen umgerannt, dann mit dem Gesicht voran an die Wand gepresst, mein Arm auf den Rücken gedreht. Wie an einer Zündschnur rast Adrenalin durch meinen Körper.

„Gefahr im Verzug“, brüllt mir einer der Bullen ins Ohr, während der andere meinen Arm weiter verdreht. „Wer befindet sich noch in der Wohnung?“

Ich antworte nicht, aber da verstärkt er sein Gewicht auf mir noch mehr. „Niemand“, presse ich durch meine Zähne. Mein ganzer Körper spannt sich an und ich will ihn abschütteln, ihn mitten ins Gesicht schlagen, sie aus der Wohnung prügeln. Mein Blickfeld verengt sich, Blut rauscht in einem Höllentempo durch meine Ohren und ich sehe rot. Der Bulle verwandelt sich in Gerd und ich ...

Atmen, Jan. Atmen!

„Wir ham hier `n Durchsuchungsbeschluss“, erklingt es hinter meinem Rücken.

„Waaas?“

„Na, wir dürfen Ihre Wohnung durchsuchen.“

„Warum?“

„Jemand hat Se angezeigt. Es solln sich illegale Dinge in Ihrer Wohnung befinden.“

„Wat denn für ...?“ Oh. Verdammt nochmal, Bela. „Und dit soll jetz sofort ...“

„Ja, wat glooben Sie denn? Können Se sich ausweisen?“

„Bisschen schwierig grad“, knurre ich gegen die Wand vor mir.

„Und wer sind Sie?“

„Jan Vetter.“

„Ausweis her.“

„Wenn Se mich loslassen, dann ...“ Ich muss mich so zusammenreißen nicht ausfällig zu werden, ihm nicht die Fresse einzuschlagen.

Endlich verschwinden seine Finger auf mir. Mein Arm rutscht in eine normale Stellung zurück. Ich reibe über meine Schulter und gehe in mein Zimmer, hole meinen Geldbeutel und halte dem Oberlippenbartträger wortlos meinen Ausweis hin.
„Vor `ner Woche abjeloofen.“ Er gibt ihn an Bulle 2.

„Wa...? Sh... Bin trotzdem ich.“

„Ja, ja, schon jut.“

Bulle 2 überträgt meine Daten in seinen Notizblock. Was für ein Alptraum.

„Na, denn wollen wa ma.“ Er und Bulle 3, der bisher noch gar nichts gesagt hat, streifen sich ihre Lederhandschuhe über und gehen in die Küche.

Fieberhaft überlege ich, ob und was Bela in seinem Zimmer hat. Wenn die hier jetzt Stoff finden, dann ... Aber wenn ich jetzt in Belas Zimmer gehe, dann ist das ja noch auffälliger. Verdammte Axt! Ich hoffe, er hat es gut versteckt. Oder - noch besser – er hat einfach nichts dort gebunkert. Sehr realistisch!

Es dauert eine Viertelstunde bis sie sich durch unser dreckiges Geschirr und hundert alte Pfandflaschen gewühlt haben. Ich verschränke meine Arme vor meiner nackten Brust. Mir ist kalt, aber ich will die beiden nicht aus den Augen lassen.

„Na, bisher ham Se ja Glück gehabt.“ In Unterhosen gesiezt zu werden, gibt der ganzen Szenerie ein noch surrealeren Flair. Oberlippenbart bedenkt mich mit einem Blick, der wohl cooler Cop signalisieren soll. Er geht in den Flur, guckt zwischen unseren beiden Zimmern hin und her, geht dann in Belas.

Mein Herzschlag pocht unangenehm in meinen Schläfen.

„Wat is `n dit für `n Gruselkabinett hier?“ Bulle 2 schaut auf Belas Fangeschenk, den Totenkopf. „Der is aber nich echt? ... Oder?“

„Natürlich nich“, behaupte ich mit versucht fester Stimme.

Sie nähern sich dem Schreibtisch. Gut. Da hat er nichts. Sein Zeug ist meistens irgendwo zwischen seinen Socken versteckt, wie ich selbst feststellen durfte, als ich die nach dem Waschsalon da reinsortiert habe.

„Okay.“ Der Oberbulle sieht sich nochmal in Belas Zimmer um. „Dann machen wa noch dit andere Zimmer.“

„Aber der Durchsuchungsbefehl gilt doch nur für den Herrn Felsenheimer, oder?“ Pony hat mal sowas erzählt, als die Bullen das Eck durchsuchen wollten.

„Ja, und? Ham Se doch wat zu verheimlichen?“

Ich schiebe mein Kinn vor, halte mich mühsam zurück den Oberlippenbart-Beamten niederzustarren. Mann, warum ist Bela nicht hier? Obwohl – wahrscheinlich besser so. Der ist seinen alten Kollegen noch übler gesonnen und hat weniger Impulskontrolle.

Mit zusammengebissenem Kiefer sehe ich den drei Trotteln dabei zu, wie sie sich durch meine Platten wühlen, meine Bücher aus dem Regal nehmen und ausschütteln, meine Matratze anheben. Dann entdeckt Bulle 2 meine Marilyn-Bilder, sieht sie sich viel zu genau an. Als würde er sie beschmutzen. Was für eine Scheißaktion. Wahrscheinlich haben wir auch dem Nazi vom 3. Stock zu verdanken.

Auf einmal ruft der Bart triumphierend „Na, also!“ und hält mein Nunchaku hoch. Fuck! Ich liebe dieses Ding, weil es mich immer an Bruce Lee erinnert. Meine Versuche damit vernünftig umzugehen, hätten mich allerdings beinahe meine Schneidezähne gekostet.

„Das ist ein japanischer Dreschflegel“, erkläre ich dem Beamten mit vor Wut zitternder Stimme und unterdrücke das „Sie Flegel“ am Ende.

„Dit is ja wohl ma ganz klar `ne Waffe.“

„Nee, eben nich. Manche benutzen es dafür, aber ich habe es aus nostalgischen Gründe von einer Urlaubsreise aus Okinawa mitgebracht.“ Das ist so rundheraus gelogen, dass es schon wieder glaubwürdig klingt.

Tatsächlich guckt der Bulle nun auch nachdenklicher. Oder er kapiert gar nichts mehr, was wahrscheinlicher ist. „Und dit Ding is von Ihnen?“

„Ja. Wie gesagt, es ist ein Souvenir.“

„Nich dem Herrn Felsenheimer?“

„Nein. Dit kann ick Ihnen och schriftlich versichern, wenn Ihnen dit weiterhilft.“ Hauptsache die verschwinden endlich.

„Aha. ... Mhm, nunja, die Anzeige hat janz klar den Herrn Felsenheimer benannt. Und wenn dit nu Ihnen gehört ...“ Er kratzt sich ratlos am Kopf und guckt zu Bulle 2, der auch nicht gerade schlauer wirkt.

„Na, dann ...“ Und weg sind sie. Was für ein Alptraum.

Erst im Morgengrauen hat mein Körper das restliche Adrenalin abgebaut und mein Kopf gibt das Grübeln auf, wer uns die auf den Hals gehetzt hat. In meinem fiktiven Gespräch mit Bela stimme ich ihm zu, dass es der Nazi war.


14. Juli - Fabrik, Kreuzberg

Am nächsten Nachmittag steht das Shooting mit Jim an für die neuen Promophotos.

Bela ist noch nicht da und ich habe keine Ahnung, wo er steckt, habe ihn ja seit über einer Woche nicht mehr gesehen. Ich will mir meine Nervosität nicht anmerken lassen und rede und lache besonders viel.

„Wat haste dir denn vorgestellt, Jim?“

Dieser zeigt auf ein Bild. „Also, ihr seht – jeder auf seine eigene Art - gut aus, aber um das zu unterstreichen würde ich das anders machen.“

„Und was haste für `n Konzept?“

„Nichts Spektakuläres.“ Jim beginnt ein paar Lampen vor einem grünen Hintergrund zu arrangieren. „Ich würd gerne hier im Studio was ausprobieren.“

Als Bela geschlagene 45 Minuten zu spät endlich eintrifft, hat Jim das Set schon längst fertig aufgebaut.

„Okay, dann wollen wir mal. Kommt, ich zeig euch mal, was ich meine." Er arrangiert uns, so dass wir der Größe nach wie die Orgelpfeifen nebeneinander stehen. „Bela, Jan, legt mal eure Hände auf Hans Schultern.“ Er hält sich die Kamera vor die Augen, wiegt den Kopf hin und her. „Schade, dass wir es nicht blond – schwarz – blond arrangieren können, aber ... Das passt von eurer Größe her nicht, ansonsten wirkt Bela zwischen euch beiden Riesen noch kleiner und das ist er ja eigentlich gar nicht.“

„Danke.“ Bela lächelt Jim an. „Endlich bemerkt dit mal jemand.“

„Hans kannst du dich ein wenig ducken und dann zu mir schauen.“ Er blickt wieder durch seine Kamera. „Okay, schon besser. ... Ja, genauso. Und dich hätte ich gerne mehr im Profil, Jan, damit deine Knochenstruktur besser ausgeleuchtet ist.“

Ich vertraue ihm, auch wenn ich das mit der Knochenstruktur echt nicht kapier.

Jim richtet zwei Lampe neu aus, knipst ein paar Bilder mehr und legt dann seine Kamera zur Seite. „Super. Ich glaub, das haben wir im Kasten. Okay, danke, Jungs. Den Rest würde ich gerne draußen aufnehmen.“

Wir gehen von der Fabrik hoch zum Landwehrkanal.

„Also, das is jetzt alles sehr improvisiert, aber ich glaube, ich könnte aus euch echt ein paar interessante Aufnahmen herausholen. Sagt mir mal, wie die Lieder auf der neuen Platte heißen?“

„Du willst mich küssen“, platzt es aus mir heraus.

„Na, das können wir wohl eher schlecht umsetzen mit euch Dreien“, lächelt er.

Unwillkürlich sehe ich zu Bela, der ernst zurück blickt, dann grinst und mir verdeckt hinter Hans Rücken eine Kusshand zu wirft.

Ich muss grinsen, obwohl es mich auch traurig macht, fast nostalgisch, hab ihn ja kaum gesehen, die letzten Tage.

Bela beginnt mich mit Wasser zu bespritzen. Keine Ahnung, ob das ärgern, flirten oder eine Entschuldigung ist. Als er mich ins Auge trifft, habe ich auf einmal genug und packe ihn.

„Hey!“ Er sieht mich überrascht an. „War doch nur Spaß!“

Mit einem Seufzer lasse ich ihn wieder los. Vermutlich weiß er nicht, wie es mir gerade geht, aber das macht es auch nicht besser.

„Könnt ihr das nochmal machen?“, fragt Jim.

Wir sehen ihn verständnislos an.

„Also, ich mein, das jagen und rennen. Alle drei.“

Hans sieht unsicher zu mir und Bela, aber dann gehen wir ein Stück den Pfad am Landwehrkanal runter und rennen los. Um ehrlich zu sein, macht es richtig Spaß, fühlt sich endlich mal wieder so an, als würden wir drei zusammen gehören. Yessss!

„Okay, Jungs.“ Jim sieht sehr zufrieden aus. „Vielen Dank. Das sollte reichen für euer nächstes Album.“

„Dafür bräuchten wir aber erstmal wieder einen Produzenten.“ Augenblicklich ist meine euphorische Stimmung wieder wie weggeblasen. Wir machen uns auf den Rückweg.

„Also, ich hab mich mal umgehört und vielleicht hab ich jemanden für euch. Er heißt Micki Meuser.“

„Kenn ich nich“, sagt Bela.

„Der hat Ideal und Bettina Wegner produziert und spielt Bass bei Ina Deter.“

Bela macht ein Geräusch, als müsste er sich übergeben, das Jim geflissentlich übergeht. „Ich befürchte, so spontan können wir nicht wählerisch sein. Was war denn eigentlich los mit Manne?“

„Tja, das wüssten wir auch gerne.“ Ich zucke mit den Schultern.

„Mhm. Also, ich ruf Micki gleich mal an.“ Auf einmal bleibt Jim mitten im Treppenhaus stehen und ich laufe fast in ihn hinein. Er zückt seine Kamera. „Hey, Jan, setz dich mal da auf die Treppe.“

Zögernd folge ich seinem Befehl.

„Ja, das Licht ist super.“ Ich höre den Spiegel seiner Spiegelreflexkamera klicken und freue mich, dass wir für das Album einen Schritt weiter sind, auch wenn ich es immer noch seltsam finde für Photos zu posieren. 

Bei der BRAVO war das einfach immer nur absoluter Quatsch. Jetzt mit Jim hat das auf einmal eine Tiefe bekommen, in der ich mich fast verletzlich fühle. Seine Bilder fangen mehr ein, als mir lieb ist.

„Spiel mal was, Jan.“


17. Juli - Sound, Genthiner Straße 26, Tiergarten  

„Komm!" Suzi packt mich an der Ledermanschette, die ich um mein Handgelenk trage. Wenn sie etwas sagt, dann hat das nicht nur wegen des Tonfalls Befehlscharakter. Und es gefällt mir. Viel zu gut, um ehrlich zu sein.

„Mann, Bela!“ Auf einmal ist da Gitti, die mich hart an der Schulter packt, mich gegen die Wand neben dem Eingang vom Sound drückt.

Suzi sieht irritiert zu uns hinüber, dann geht sie einfach weiter, steigt die Treppe hinunter ins Dunkel, ins Paradies von Nebelschwaden und wummernden Bässen.

„Echt, ey.“ Gittis Gesicht ist auf einmal sehr nah an meinem. „Du scharwänzelt hinter der Tusse her, als hätt se dein Gehirn gekidnappt. Seit wann stehst `n du so drauf, hörig zu sein?" Schön sieht sie aus, wenn sie so wütend ist, aber ich will gerade nicht sie und ihre Vorwürfe, sondern Suzi.

„Dit verstehste nich. Sie is halt ... anders." Ich reiße mich von ihr los, aber Gitti hält mich weiter fest.

„Sehr anders, Felsenheimer ...“ Es soll wohl wütend klingen, aber sie wirkt einfach nur traurig.

Ich blicke die Treppe runter. Suzi ist nirgendwo mehr zu sehen und das macht mich unruhig. Ich drück ihr einen Kuss auf die Wange, will sie trösten, aber weiß nicht wie. „Mensch, ey. Ick weiß doch och nich. Ick find Suzi halt echt jut. Außerdem mag ick dit so `n bisschen devot zu sein.“

Gitti rollt mit den Augen. „Schön für dich.“

„Is es och. Also, lass mich. Eifersucht steht dir nicht."

Fast wie ertappt, lässt sie mich endlich los, streckt mir dann die Zunge raus.

„Wir führen einfach eine etwas ungewöhnlichere Beziehung." Damit lass ich sie stethen, laufe hinter Suzi her, die Treppe hinunter, tiefer in die Eingeweide der Nacht.

Ich finde Suzi an der Theke und geb ihr schnell einen Kuss.

„Die nervt, die Tusse.“

„Ey, dit is `ne echt gute Freundin von mir.“

„Kann schon sein, aber - mal ganz ehrlich. Du hast schon seltsame Freundinnen und Freunde.“

Sie muss seinen Namen nicht aussprechen, mir ist auch so klar, dass sie auf Jan anspielt.

„Die bedeuten mir halt was und ick hab keen Bock, dass du so über sie ...“

Aber Suzi hört mir gar nicht mehr zu, sieht stattdessen hinüber zu einer Gruppe von Leuten. Ich erkenn Mark Reeder und hinter ihm Andi von den Hosen. Auch wenn wir gerade nicht aktiv streiten, so ist unser Verhältnis doch stark abgekühlt.

„Apropos alte Freundinnen: Dit sin welche von mir. Komm.“ Und schon ist sie weg.

Ich folge ihr.

„Hey, Mufti." Sie umarmt einen großen, hageren Typen, danach eine zierliche Frau mit wachen Augen. Sie schiebt mich nach vorne. „Das ist Bela", sagt sie, aber macht uns nicht weiter miteinander bekannt.

Die junge Frau kommt mir irgendwie bekannt vor, aber ich komm nicht drauf woher. Den Mann allerdings erkenn ich sofort: FM Einheit von den Neubauten. Sowas wie Ehrfurcht kriecht in mir hoch. Obwohl wir oft an den gleichen Orten sind, bisher gab es irgendwie noch keine Berührungspunkte, kein Gespräch. Vielleicht auch weil er `n bisschen älter ist als ich.

Die junge Frau zieht Suzi zur Seite, flüstert ihr etwas ins Ohr. Suzi nickt. „Wir gehen auf`s Klo. Komm mit!" Sie zieht mich hinter sich her zu den Frauentoiletten. Kann mir schon denken, was jetzt kommt, aber als die andere Frau einen verrußten Löffel auspackt, merke ich, dass ich es doch nicht weiß - oder viel zu gut.

Suzi beugt sich zu ihr. „Bist du dir sicher, Christiane? Du warst so lange clean."

Verdammt, deswegen kam sie mir so bekannt vor.

„Ey, komm jetzt nich ausgerechnet du mir mit der Moralkeule." Ihre wachen, glänzenden Augen mustern Suzi, bis diese wegsieht. Das hab ich auch noch nicht oft erlebt. Normalerweise hat Suzi das letzte Wort. „Na, komm." Christiane legt ihr den Arm auf die Schulter. „Kriegst och was ab."

Ich halt den Atem an. Suzi neben mir wird kurz ganz starr, schüttelt den Kopf und ich atme aus, aber dann nickt sie.

Geschockt seh ich zu ihr. Sie wirkt traurig, doch darunter vibriert erregte Unruhe, die bis zu mir strahlt, in mir weiterschwingt. Etwas Ungeheuerliches wird hier gleich passieren.

„Weiß er, was dit is?", fragt Christiane halb an mir vorbei in Richtung Suzi.

„Er kommt klar", antwortet die nur über meinen Kopf hinweg.

„Ick weeß nich." Christiane mustert mich. „Schore is schon ..." Sie holt etwas aus ihrer Umhängetasche und klemmt es sich zwischen die Zähne. Eine dünne, lange Nadel streckt sich mir entgegen und ein kalter Schauer läuft über meine Haut.

Eine Flamme leuchtet auf. Das Licht beruhigt mich seltsamer Weise. Es leuchtet warm von unseren Gesichtern, beleuchtet diese eklig-dreckige Toilette, als säßen wir hier gemütlich um ein Lagerfeuer. Das schmutzig-gelbe Pulver brodelt in der Flüssigkeit auf dem Löffel, wird golden, als es sich in der Hitze auflöst.

Christiane nimmt die Spritze aus dem Mund. Langsam zieht sie das Zeug durch einen Wattebausch, durch die Nadel. Jetzt muss es nur noch in ihr Blut.

Ich kann nicht so richtig gut atmen, bin so verstört, wie fasziniert von dem ganzen Ritual.

„Machste dit och?", frag ich Suzi leise, aber Christiane hat es trotzdem gehört.

Zum ersten Mal sieht sie mich direkt an. Ihre wachen Augen mustern mich nun mit voller Aufmerksamkeit. „Dein erstes Mal Drachenjagd?"

„Was?"

„Na, ob de zum ersten Mal, wat mit H zu tun hast?"

„Fast. Ick hab dit ma gesnifft, aber irgendwie war dit nüscht.“

Sie nickt. „Manchmal kriegste echt den letzten Scheiß angedreht.“ Sie blickt an die Wand, an der unzählige Graffitis ineinander verschlungen sind. „`n paar Freundinnen von mir ham dit immer so genannt: Den Drachen jagen." Sie lächelt vorsichtig. Hübsch ist sie und irgendwie will ich am liebsten die aufgezogene Spritze in der Toilette entsorgen.

„Wie heißte nochmal?"

„Bela." Ich halt ihr meine Hand hin.

„Schöner Name." Auf ihrer sind ein paar Russflecken und ihre Finger sind so schmal, dass sie fast zweimal in meine Hand passen. Ich will sie einfach nur festhalten.

„Alles klar mit dir?" Sie lächelt mich traurig an und schnell lass ich ihre Hand los. „Nervös?"

„`n bisschen", nuschel ich und komm mir doof vor.

„Is okay. Du muss nichts machen, ne."

„Aber – wie is es denn?" Meine Neugier wird nochmal mein Ende sein.

Sie reicht Suzi das Feuerzeug und ein Glasröhrchen. Ein schmales Lächeln umspielt ihre Mundwinkel, wird dann leuchtender. „Stell dir einfach vor, wie der Rauch so nach oben steigt, wie ein Drache, der seine Flügel entfaltet. Er ist wunderschön und filigran, aber auch gefährlich, denn er spukt Feuer direkt in dich hinein. Und wenn er mit seinen riesigen Flügeln schlägt, dann ..." Sie neigt den Kopf zur Seite, sieht mich nachdenklich an. „Ick weiß nich mal, ob ick möchte, dass es dir gefällt."

„Aber dit kann ick ja och selbst entscheiden, oder?"

Sie sieht mich lange an, nickt dann. „Es is sehr faszinierend. ... Aber ... du solltest es nich unterschätzen. Du kannst den Drachen besiegen. Aber meistens – meistens da besiegt er dich. ... Und du merks es nich mal." Sie lässt den Kopf sinken. „Vielleicht sollt ick`s doch lassen, Suzi."

„Wär schon echt besser." Suzi legt ihr eine Hand auf die Schulter. „Oder einfach nur rauchen?" Sie hält das Feuerzeug unter die Alufolie, in die das H eingepackt war.

„Nee, is ja schon aufgezogen." Christiane bindet sich ihre silberne Kette ab und legt sie um ihren Oberarm, zieht fest. Auf ihrem dünnen, weißen Ärmchen werden blaue Linien sichtbar.

Suzi steckt sich das Glasröhrchen zwischen die Lippen. Das Feuerzeug leuchtet auf und der Drache erwacht zum Leben, steigt in leuchtendem grau-blau von der Folie auf. Einen Moment schwebt er in der Luft, dann zieht sie ihn ein, reicht die Folie an mich weiter, aber ich kann gerade nicht.

Ich kann meinen Blick nicht abwenden von Christiane, wie sie nach einer Vene sucht, die Nadel durch ihre Haut sticht. Rot fließt in das schmutzige Gold in der Spritze, dann drückt sie ab – wie in einem schlechten Zaubertrick verschwindet es.

Ihre Augen verdrehen sich kurz - alles weiß – und ich seh Blaulicht flackern, dann ist sie wieder da. Langsam legt sie den Kopf zurück an die beschmierten Kacheln. „No Future“, lese ich links von ihr.

„Vielleicht – vielleicht lässte – lässte es doch lieber bleiben, Bela." Ihre Worte perlen ganz langsam aus ihrem Mund, als hätte sie das Sprechen verlernt. Ihre glänzenden, wachen Augen sind jetzt stumpfer, nach innen gewandter. Irgendwie vermisse ich die Frau von vorher. Warum will ich es dann trotzdem?

Nervös spiel ich mit der Folie und dem Feuerzeug. Scheiße, irgendwie will ich immer alles. Ich seufz und nehm das Glasröhrchen in den Mund. Die Flamme erhellt und wärmt mein Gesicht.

Der Drache steigt auf und ich atme ihn ein. Augenblicklich beißt und kratzt der Rauch in mir, als würde er Krallen haben, die er in meine Kehle schlägt, in meine Lungen. Ich schlucke, versuch so lange wie möglich den blauen Dunst in mir zu behalten, damit er seine Magie ...

Ein Hustenanfall wie Glassplitter. Ich huste und keuche bis mein Gesicht ganz heiß ist und meine Lungen brennen, dann sink ich zurück gegen die Wand.

Alles fließt – wird hell, warm. Ich habe den Drachen besiegt und ... Alles wird gut. Der Druck, der Streit, die angespannte Traurigkeit, der Ärger, die Wut, alles wird zu weichem Licht, das mich umarmt, mir erlaubt zu fallen - ohne Aufschlag.

...

...

...

Jemand fasst mich unter den Armen und zieht mich hoch. Über mir schweben blonde Haare. Ein Heiligenschein über einem hübschen Gesicht. Nur die Miene des Mannes wirkt nicht besonders engelhaft.


„Was machst`n du hier?", flüster ich.

„Gitti hat mich angerufen." Schöne Stimme, nur die Worte sind etwas ruppig.

„Hä?"

„Sie fand, dass ..." Der Engel vor mir seufzt. „... du besser nach Hause gehen solltest." Er hält mir seine Hand hin, zieht mich hoch.

„Schön." Ich streck die Hand nach seinem Gesicht aus. „Du bis so schön." Auf einmmal sacken mir die Knie weg.

Ich werd hochgehoben, jemand trägt mich.

Lärm und Rauch verschwinden. Frische, glasklare Luft.

Ein Auto. Ich liege. Lichter funkeln mir rhythmisch ins Gesicht. Ein warmer Körper unter meinem Kopf, der heftig atmet. Etwas Nasses tropft auf meine Wange. Jemand streicht mir sanft durch die Haare und ich flieg.

Vorsichtig nehm ich die Hand, die mich streichelt, denn ich will, dass mein Engel mit mir fliegt, aber der scheint nicht mitkommen zu wollen, sagt nur: „Was machst du nur für Sachen?“


* * *


Ich habe ihn ein Taxi gepackt, dass wir uns nicht leisten können.

Für einen Moment ist er wieder ein wenig mehr da. „Bela?“

„Mhm ...“ Er liegt so schwer, halb bewußtlos in meinen Armen. In seinen Augen mehr weiß, als Pupille.

Ich streiche über seine Haare, um mich abzulenken von diesem gruseligen Anblick. Ich versuch das ganze Wasser, das in meine Augen drängt, gewaltsam zurück zu halten, aber ... „Du hättest sterben können. Einfach so. Heute Nacht.“ Ich weiß nicht, ob er mich hören kann, ob er versteht.

„Ich sterb nich. Ick hab doch meinen Engel hier.“ Ein Auge öffnet sich ein wenig mehr und er schafft es fast mich zu fokussieren. „Un wenn doch ... Dit is doch nich ... so schlimm“, murmelt er so leise, dass ich mich zu ihm hinunter beugen muss. „Irgendwann ... müssn wa ja doch alle sterbn. Da musste nich wein." Sein Kopf rollt gegen meine Schulter und er ist wieder weg.

Was wenn Bela ...

Ich weiß nicht, ob ich dem Fahrer befehlen soll in die Notaufnahme zu fahren. Aber wenn die dort Fragen stellen und ...

Ich bekomme keine Luft, merke erst, dass ich wirklich heule, als ich den ganzen Rotz in der Nase hochziehen muss. Hektisch fahre ich mir über die Wangen.

Das dunkle Berlin hinter der Fensterscheibe ist surreal und ich weiß nicht, was ich tun soll, weil die Welt, wie ich sie kenne, nicht mehr zu existieren scheint. Aber es ist ja auch nicht das erste Mal, dass so etwas passiert. Doch dieses Mal hat er mich wirklich so erschreckt, dass ...

Als Gitti mich um 2 Uhr angerufen hat, vollkommen panisch aus irgendeiner Telefonzelle in mein Ohr gebrüllt hat, dass sie nicht weiß, was mit ihm ist, aber sie sich nicht traut den Krankenwagen zu holen, weil Suzi meint, dass sie ihn dann der Polizei übergeben würden, hat nichts Sinn gemacht außer dem Wort „Heroin". Tut es immer noch nicht, aber – er lebt.

Kapiert hab ich am Telefon nur, dass es um Leben und Tod geht. Kurz hatte ich wohl einen Blackout, denn ich habe mich auf einmal auf dem Boden wiedergefunden, zwischen unseren Schuhen. Erst Gittis „Hey, Jan! Biste noch dran?“-Rufe haben mich zurück in die Gegenwart geholt. Mein Herz hat so beschissen schnell gerast und dann ...

Mit dem Telefonhörer zwischen Schulter und Ohr geklemmt bin ich in meine Hose geschlüpft, meine Schuhe. Und dann bin ich gerannt – die komplette Niebuhrstraße runter, über den Kurfürstendamm, wo mich fast ein Auto angefahren hätte, weil ich wie in einem Tunnel immer nur weiter wollte. In der Augsburger Straße ist mir kurz schwarz vor Augen geworden und ich musste anhalten, Luft holen. Dann bin ich weiter, weiter, weiter – den ganzen Weg bis zum Dschungel einfach nur gerannt.

Die Gedanken an diese grauenvollen 20 Minuten lassen mein Herz wieder rasen und meinen Atem. Ist das eine Panikattacke?

Ich streiche mit schweißnassen Fingern über Belas Gesicht, dass so blass und kühl ist. Verdammt, komm runter, Jan. Er lebt. Ich ziehe ihn fester in meine Arme und er hängt dort wie ein verwundeter Westernhelden nach dem Showdown. Ein kreidebleicher Goth-Westernheld – verletzt, aber nicht gebrochen. Verletzt durch seine eigenen Hände. Ich lege meine über seine Finger. Kalt und irgendwie leblos. Ich versuche sie zu wärmen.


Als wir endlich in der Niebuhrstraße ankommen, versuche ich ihn zu wecken. Ohne Erfolg. Ich tippe dem Fahrer hektisch auf die Schulter. „`tschuldigung, aber können Sie uns ins Krankenhaus ...“

„Nich ins Krankenhaus ...“ Obwohl er immer noch halb bewußtlos zu sein scheint, klingt Bela so energisch, dass ich die Idee verwerfe.

Ich schleppe seinen Körper, der mehr Hülle ist als Mensch, aus dem Taxi. Er kann nicht laufen und so nehme ich ihn schließlich hoch, stolpere mit ihm in meinen Armen durch den Hinterhof, die Treppen hoch, lege ihn in sein Bett. Mein Körper ist stocksteif, als ich mich zu ihm setze. Jeder Muskel in meinem Körper schmerzt, ist verspannt wegen der Angst, dass er ...

Ich greife nach seiner Hand. Sie ist ganz weich, so als wären seine Muskeln, er selbst geschmolzen. Keine Ahnung, wo er gerade weilt.

Ich rutsche zu ihm hinunter, schmiege mich an ihn. Ich weiß nicht mal, ob er mich überhaupt wahrnimmt. Schade, dass das sanfte, glückliche Lächeln auf seinem Gesicht nicht wegen mir ist. Früher ...

Vorsichtig streiche ich über seine knochigen Wangen.

„Jan?"

Ich beiße mir auf die Lippen. „Hey, Bela." Ich streiche ihm über den Arm. Immer noch viel zu kalt. Ich decke ihn zu, verbiete mir aktiv nach Einstichstellen zu suchen, aber meine Augen gehorchen mir nicht. Nichts, so weit ich das beurteilen kann. „Ich bin da. Okay?"

„Das ist schön", murmelt er und dreht sich zu mir. „Du bis so schön.“

Ich ziehe ihn in meine Arme. Sein Herzschlag an meinem Brustkorb taut mein Herz aus eisiger Angst ein wenig auf, aber ...

Rastlos sehe ich mich in seinem Zimmer um. Ich will die Schubladen aufreißen und durchwühlen, seinen Schreibtisch durchsuchen, unter seinem Bett nachsehen, brauche meine letzte Willenskraft auf, um all das nicht zu tun.

Warum?

Verdammt nochmal warum?

Es ist als würde ich ihm dabei zu sehen, wie er sich ganz weit aus einem Fenster beugt, und immer noch ein Stück weiter, bis er die Balance verliert. Seine Füsse lösen sich vom Boden und einen Moment hängt er noch über dem Abgrund, dann beginnt der Fall. Ich weiß nicht in welcher Phase wir – nein, er sich gerade befindet, nur dass ...

Und ich?

Was will ich in diesem Chaos?






*
*





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LYRICS

Die ärzte - Dir

Nick Cave – All tomorrow`s parties

Neu! - Hero

Spliff – Duett komplett

David Bowie V-2 Schneider

The Stranglers – Golden Brown

Palais Schaumburg - Jawohl, meine Herren

Stiff Little Fingers - Nobody`s Hero

The Stranglers - No more Heroes

David Bowie - Sense of Doubt

Velvet Underground - Heroin

Rio Reiser - Halt dich an deiner Liebe fest


ADDITIONAL SONGS

Nico & the Velvet Underground – All tomorrow`s parties

David Bowie - Station To Station, 1980
Lyrics

Christiane F. - Süchtig

Ton Steine Scherben - Halt dich an deiner Liebe fest - Live 1982

WDR-Reportage, 1982 - Ton Steine Scherben - „Halt Dich an Deiner Liebe fest“


HEROES – David Bowie & Cover

Die Wahrheit über: David Bowie – Heroes

David Bowie - Heroes

David Bowie - Helden (deutsch)

Motörhead – Heroes, Live

Depeche Mode – Heroes


COMPUTER Heinz Grönemeyer

Meersau ab S. 134 f.


MANNE PRAEKER

Photo

Nachruf von Hagen Liebig zum Tod von Manne Praeker

Artist Info

Spliff – Duett komplett, Live


BELA über Drogen

Rock Hard Vol. 198, 2013

Welche Drogen kannst du auf keinen Fall weiterempfehlen? Welche schon?

»Das ist eine sehr persönliche Sache, die jeder für sich selbst herausfinden muss. Ich kann niemandem raten, mit Drogen anzufangen, aber wenn jemand neugierig ist, soll er sie mit einem wachen Auge ruhig mal ausprobieren. Ich hab selbst so ziemlich alles getestet und schnell herausgefunden, was für mich gut und was scheiße ist. Kokain wird gerne unterschätzt und ist deswegen sehr gefährlich. Man verändert sich unter dem Einfluss von Koks ziemlich schnell und wird zum Arschloch. Das habe ich auch an mir selber festgestellt. Es soll nicht verherrlichend klingen, aber es gibt durchaus Leute, die mit Heroin gut umgehen können und - wie Nick Cave zum Beispiel - unter H-Einfluss sehr bedeutende Sachen geschaffen haben. Für andere dagegen ist Kiffen schon zu viel. Ich denke jedenfalls, dass die meisten Drogen bei weitem nicht so schnell süchtig machen, wie behauptet wird, und dass im Gegenzug Alkohol wesentlich gefährlicher ist, als die meisten meinen. Er macht aggressiv, führt zu Schlägereien oder Autounfällen - hahaha! - und zerstört auf Dauer den Körper. Deswegen finde ich den legalen Verkauf von Alkohol einerseits und die Hatz auf kleine Dealer andererseits total doppelzüngig.«



Richtigstellung zum BZ-Interview – https://teenager-liebe.skyrock.com/11.html (Link funktioniert leider nicht mehr)

„ Wichtige Richtigstellung: 06.04.2011 - 02:12
 
In einer Pressemeldung, die nach einer Pressekonferenz bezüglich meiner Synchronisation des „Pauls" zu dem gleichnamigen Kinofilm rausgegeben wurde, hat man mich wie folgt zitiert:
„Ich finde es ist immer besser, Dinge zu bereuen, die man verpasst hat, als Dinge, die man gemacht hat."
Das ist natürlich falsch! Das Gegenteil ist der Fall, was, wer mich kennt, niemanden verwundern wird.
Also:
Ich finde, es ist immer besser, Dinge zu bereuen, die man gemacht hat, als Dinge, die man verpasst hat.
Lieber mal die Finger verbrennen, als sich hinterher zu fragen, „was wäre wenn?"
Damit das klar ist!
Euer Human B und ja, auch noch Graf!! „

Bela-B.de


NICK CAVE – BIRTHDAY PARTY

Mutiny In Heaven - The Birthday Party - Official Trailer


CHRISTIANE F.  

Christiane F. im Risiko

Ilse Ruppert – Photos aus den 80ern

Original-Tondokumente

Audible Audio-Dokumentation

Auch von Miku Sophie Kühmel:
Podcast Shceitern – Frühling: Farin Urlaub
Sehr hörenswert!


Wir, Kinder vom Bahnhof Zoo

DAS BUCH, 1979

Wikipedia


DER FILM, 1981

Wikipedia

Erste Minuten des Films

Photo von Natja Brunckhorst & David Bowie

Interview mit Regisseur Uli Edel


DIE SERIE, 2021

Trailer

So wurden die Drogen-Szenen gedreht


BERLIN

Podcast Grenzgänger ARD-Audiothek – Mark Reeder über die 80er Jahre – Folge 9: Absturz
Der Wind dreht sich in der Westberliner Avantgarde. Nach wenigen Jahren Dauerparty und extremer Kreativität zerfällt die Szene. Bands geben auf, Labels schließen. Die Neue Deutsche Welle mit ihren poppigen Gute-Laune-Sounds und ihrem starken kommerziellen Erfolg drängt den Underground immer weiter ins Abseits. Dazu kommen Drogen, Alkohol und eine Handvoll Künstler aus Übersee. Nick Cave zieht nach Berlin – und zieht als Couchgast mit in Mark Reeders Kreuzberger 1-Zimmer-Wohnung.

ID Vice – Mark Reeder
DROGEN – In den 80ern war Speed die Hauptdroge. Microdots waren so Mini-LSD-Pillen, die ganz stark dosiert waren. Wenn du das genommen hast, war es so, als ob du 30 Pillen genommen hättest. Heroin war damals auch schon groß. Das gab es überall. Ein schräges Erlebnis war im Soul, ein Club mit sehr gemischtem Publikum - von New-Wavern bis Punkrockern, als ich alle auf dem Boden sitzen gesehen habe, sie die Tangerine Dreams hörten und voll zugedröhnt waren. Das war in einen Club! – „Risiko", in dem „einer der schrägsten Vögel", Blixa Bargeld, ausschenkt, oder Diskotheken wie den „Dschungel", in dem David Bowie verkehrt. „Wir glitten wie auf Schienen durch die Nacht und schnieften billiges Speed", erinnert sich Reeder aus dem Off. „Alles war geil."

12 Legendäre Clubs in West-Berlin
Man tanzte im Dschungel und im Linientreu, Konzerte gab es im Loft, Quartier Latin und im alten Tempodrom, als es noch ein richtiges Zelt war und kein Betonkoloss. Im Risiko, wo Maria Zastrow an der Bar stand, im SO36 oder dem Ex’n’Pop konnte man alkoholgetränkt abstürzen. Die Ärzte brachten die Punk-Kultur mit Humor und Verstand in die Charts und der düstere Australier Nick Cave wählte Berlin als Heimstätte für seine Bad Seeds. Nicht zuletzt wegen des leichten Zugriffs auf harte Drogen.

In den Nischen gedieh eine sperrige, avantgardistische Subkultur und ihre Heimat war das Risiko an den Yorckbrücken. Es war die Stunde der „Genialen Dilletanten". Ein kulturhistorischer Moment, keine Gruppe oder Kunstströmung. Eher eine Haltung, die so nur in West-Berlin entstehen konnte. Neben den Einstürzenden Neubauten gehörten auch Die Tödliche Doris, Din-A-Testbild, Jörg Buttgereit, Die Haut, Geile Tiere und Frieder Butzmann zum Umfeld.


RISIKO

Article about Risiko

Photo – Christiane F. im Risiko


DSCHUNGEL

Photos

In diesem Kultclub saß auch David Bowie an der Bar



Reportage über West-Berlin in den 80ern – U1 Punker


Nunchaku




Inhaltswarnungen: Polizeigewalt und Drogen




*

 

 

Chapter 57: 1985 - Last days of summer

Chapter Text

*



* Teenagers in Love *





Inhaltswarnung: körperliche Auseinandersetzung




Happy Birthday to holiday boy!
(In welcher Zeitzone auch immer :-)






1985 – Last day of summer






17. Juli - Niebuhrstraße 38b, Charlottenburg  

Ich habe das dringende Bedürfnis bei ihm zu schlafen, damit er nicht mitten in der Nacht aufhört - zu atmen oder so, an seiner eigenen Kotze erstickt und es nicht mal in den „Club 27" schafft. Aber ich schaffe auch etwas nicht - und das ist ihn so zu sehen. So weg, so abgeschossen, so – glücklich schwebend über Berlin.

Deswegen geh ich, lass aber seine Tür angelehnt. Ratlos steh ich im dunklen Flur zwischen unseren Zimmern, versuch den fiesen Kupfergeschmack im Mund weg zu schlucken, aber er weicht nicht. Is wohl vom Rennen oder von der Angst, die immer noch auf meinem Brustkorb sitzt wie ein Nachtmahr. Ich geh in die Küche, reiß den Kühlschrank auf, schütt einen halben Liter Milch in mich hinein ohne Luft zu holen. Danach ist mir noch mehr übel.

Im Dunkeln tast ich mich hinüber in mein Zimmer, zieh mich aus, zum zweiten Mal in dieser Nacht, zieh mir mein T-Shirt wieder über, weil mir so verdammt kalt ist trotz des lauen Sommers draußen vor dem Fenster.

Bleischwer, jeder Knochen in mir, aber vor allem mein Herz. Meine Oberschenkel brennen immer noch vom Todesangst-Sprint zum Sound. Ich sollte mir das nicht antun, aber – Bela gibt es anscheinend nicht ohne all das, seine anderen Freunde und Freundinnen, die durchfeierten Nächte, die Drogen, den Exzess.

Vor meinem Auge taucht Dirk auf. Jünger, unschuldiger und trotzdem wild und strahlend. Mir hätte Dirk gereicht und trotzdem lieb ich den so viel schwierigeren Bela. Viel zu sehr. Ich beiß so fest auf meine Lippe, dass sie aufspringt. Noch mehr Kupfergeschmack, aber dieses Mal weiß ich wenigstens woher er rührt. Ich wisch mir über den Mund, seh wieder Bela vor ein paar Wochen, seine bleiche Hand, darauf dunkelrot sein Blut ...

Erschöpft sink ich auf meine Matratze. Alles in mir so aufgewühlt. Ein wilder Ozean. Meine Augen schwer und schockweit geöffnet.

Ich find keine Ruhe. Draußen geht die Nacht langsam in die Morgendämmerung über, aber ich kann nicht schlafen. Schließlich knips ich das Licht an und greif nach meinem Buch. Meine Augen rutschen über die Sätze von Allendes „Geisterhaus", aber in Wirklichkeit bin ich immer noch in diesem Taxi. Ich schalt das Licht wieder aus, lieg ganz still, weil dann vielleicht nichts passiert ist und alles nur ein Traum, starre auf die Schatten, die die Laterne im Hinterhof an die Decke zeichnet. Sie sind aus einem Horrorfilm, doch der größte Horror in dieser Nacht bleibt Bela.


Dröhnender Lärm weckt mich. Mein Herzschlag trommelt Panik und ich versteh nicht warum. Die Landung in der Realität der Niebuhrstraße erschreckt mich und für einen Augenblick halte ich es vollkommen desorientiert nicht für mein Zuhause. Dann senken sich die Bilder über mich und ...

„And we could be heroes“, schallt es durch die Wand. Ist das Lemmy? Das Lied dröhnt durch die WG, vermutlich das ganze Haus.

Ich atme tief durch, ganz tief. Er lebt! Ich schlüpf in meine Klamotten, die nach gestern stinken und dann liegt meine Hand auf der Türklinke und ich weiß nicht, ob ich es schaff, ihn jetzt zu sehen, zu konfrontieren mit allem, dass mir unsortiert auf der Zunge liegt. Ich straff meine Schultern, öffne vorsichtig die Tür, tret in den Flur.

Er sitzt mit einer Zigarette am offenen Fenster in der Küche, während „Heroes" weiter durch die WG ballert.

„Hey ..." Ich ziehe mir den Stuhl heran, setze mich neben ihn, obwohl ich den Rauch hasse, der ihn umnebelt.

„ ... Hey ..."

„Morn."

Ich mustere seine tiefblauen Augenringe, aber schlimmer ist dieses zarte, immer noch leicht weggetreten sein, dass wie ein Schleier über ihm hängt, ihn von mir trennt. „Wie ... wie geht`s dir?"

„ ... Okay. ... Gut." Er wirft mir ein Lächeln zu, dass mir wahrscheinlich versichern soll, dass wirklich alles gut ist, aber es wirkt schwach, unsicher.

„Du wirst nicht aufhören damit, oder?", platzt es aus mir heraus, obwohl ich eigentlich diplomatisch vorgehen wollte.

„... Mit Rauchen?" Er hält seine Zigarette hoch, weiß genau, was ich meine.

„Mit Heroin."

„Quatsch." Er sagt es so, als würden wir uns doch nur über seine Zigarette unterhalten. Er bläst langsam den Rauch aus dem Fenster, sieht ihm hinterher. „Da musste echt keene Angst ham.“

Genau. Ist ja mein Problem, das ganze Ding. Am liebsten würde ich ihn an seinem T-Shirt packen, ihn schütteln, anbrüllen, was er eigentlich glaubt, wie es mir mit seinen verdammten Kamikaze-Trips geht. Ich zwinge mich sitzen zu bleiben.

Er scheint zu merken, dass das nicht die richtige Antwort war. „Ick fang nich an zu fixen." Er sieht mich fest an. „Versprochen."

„... O-okay. ..." Nichts ist okay, gar nichts, aber es ist immerhin eine klare Antwort. „Wenn ick ehrlich bin, dann ..." Ich hole Luft. „Am liebsten würd ick deen Zimmer durchsuchen."

Er wird weiß, bleicher als sonst, sieht mich geschockt an, dann wird seine Miene abweisend. „Bitte! Tu dir keen Zwang an. Ham die Bullen ja och gemacht. Vielleicht biste ja erfolgreicher."

„Mir wär lieber, ick wär nich erfolgreich." Grimmig erwider ich seinen kühlen Blick, überschlag meine Arme, dann sinken meine Schultern wieder nach unten. „... Darum geht`s doch gar nich. Ick will damit nur sagen, dass ick Angst hab um dich. Verdammte Angst." Meine Zähne knirschen, so verspannt ist mein Kiefer.

„Mann, Jan! Jetz mach doch nich so `n Aufriss. Ick mag Drogen halt. Dit weeßte doch. Und du magst halt keene. Wär echt schön, wenn wa dit einfach so stehen lassn könn."

Ich seh, wie er ein Nicken von mir erwartet, ein Nicken, das uns wieder auf eine Wellenlänge zaubern würde, die Mauer zwischen uns einreißt, aber ich habe dieses Nicken nicht in mir. Stattdessen schüttel ich langsam den Kopf. „Dit ... Bela, dit gestern ... war einfach krass."

„Jahaa." Er rollt mit den Augen, dann zuckt er mit den Schultern. „Kommt nich mehr vor, okay?"

Genau das würde ein Junkie am Bahnhof Zoo auch versprechen. Oder? Ich hab genug passiven Kontakt mit dem ganzen Scheiß gehabt, aber trotzdem überfordert es mich gerade, alles, inklusive Bela. Ich will mich bei jemandem auskotzen, der mich versteht, echte Hilfe suchen. Jims ruhige Miene erscheint vor mir und alles zieht mich zu ihm, aber das wäre - unverzeihlich. Das versteh sogar ich.

Sprachlosigkeit erstreckt sich zwischen uns, als wäre Bela der Nordpol und ich die Antarktis, zwischen uns begraben die ganze Welt unter der Stille hier in unserer Küche.

Ich steh auf und hoff, dass er mich zurückhält, aber ... Mit schweren Schritten geh ich in mein Zimmer, will das alles hinter mir lassen, will in den Tag starten ohne Gedanken an Tod und Teufel. In meinem Kopf rotiert ein Gefühl, ein Satz oder vielmehr eine Frage.

Ich tausche die Beatles-Platte aus gegen The Cure, weil „Lovesong" alles sagt, was gerade mit uns nicht mehr stimmt und trotzdem kann ich ihn nicht loslassen.

  singe ich leise mit.


Ich grübel so lange über Bela und mich, bis es eher ein Zermartern ist. Wann ist nur die Leichtigkeit verschwunden? Oder bin das nur ich? Ich brüte über meiner Kladde. Da wo sonst die Worte in mir sprudeln, ist eine Stille, die ... Ich bekomme meine Gefühle einfach nicht in Worte gegossen, bin angespannt, überdehnt wie die Sehne eines Bogens und der Pfeil weiß genau, wohin er möchte, aber ich trau mich nicht, ihn loszulassen.

Schließlich schreibe ich den Satz auf, der mich nicht loslässt: „ich weiß nicht, ob es Liebe ist.“

Die Anspannung, die aufgestauten Gedanken schmerzen so sehr, dass ich nicht mehr weiß, wohin mit mir, außer ...

Ich binde mir gerade die Schuhe zu, als sich neben mir Belas Zimmertür öffnet.

„Jan? Ick ... ick ... Es tut mir wirklich lei..." Seine Augen fallen auf den Rucksack zu meinen Füßen. „Du ..." Er kommt einen Schritt auf mich zu. „Du gehst?"

Ich nicke.

Sein Blick wandert wie in Trance zwischen mir und meinem Rucksack hin und her. In seinen Augen so viel Angst. Aber nicht so viel wie gestern Nacht in mir.

In mir steigt eine explosive Unruhe hoch, die sagt, dass ich ihn anschreie, wenn ich noch eine Sekunde verweile, und das tut keinem gut. „Ich muss los."

Er senkt den Kopf, als hätte ich ihn geschlagen.

Ich erhebe mich, geh innerlich einen Schritt auf ihn zu, aber schaff es körperlich dann doch nicht. „Hey, ick ... ick will nur ... jemand besuchen." Warum tröste eigentlich ich ihn?

Er sieht zu mir hoch. Sein trauriger Blick trifft mich mitten ins Herz. Nur Bela kann so gucken, wie ein stolzer, getretener Hund.

Ich wünschte, ich könnte ihm erklären, wohin und warum, aber zwischen uns ist gerade alles so ... Die Unruhe treibt mich aus der Niebuhrstraße.  



Schöneberg

Der unangenehme Druck auf meiner Brust löst sich ein wenig, als ich auf die Klingel drücke, wandelt sich in elektrische Aufregung.

„Schön, dich wieder zu sehen." Ihr Blick liegt so warm und interessiert auf mir. So hat Bela mich angesehen - früher. Jetzt ist dieser Blick meistens für Suzi reserviert, nicht mehr für mich, das alte Spielzeug.

Ihre Stirn zieht sich in besorgte Falten. „Dir geht`s nicht so gut, oder?"

Ich kann nur nicken.

„Sicher, dass das heute eine gute Idee ist hier mit mir?"

„Ja", bricht es so vehement aus mir heraus, dass wir beide ein klein wenig zurückschrecken.

Und ich habe recht. Am Ende der Session fällt mit dem Knebel, mit den Stricken auch meine Anspannung ab, weicht einem traurig, verzweifelten Heulen, das durch mich zieht, aber sich nicht an die Oberfläche traut, obwohl es gesehen werden will.

„Wie geht es dir jetzt?", fragt Madame Manu mich ernst.

„Besser." Ich kann wieder atmen. Der Gefühlssturm ist nicht vorbei, nur ein anderer.  

„Möchtest du darüber reden, warum du mich heute besuchen wolltest?"

Ich denke Heroin und Tod und schüttle den Kopf, aber dann platzt unvermittelt aus mir heraus: „Ick ... ick hab manchmal Angst, dass ..." Ich hebe die Hand, presse sie mir auf den Mund, als wollte ich mich selbst knebeln.

Für einen Moment übernimmt der Fluchtinstinkt jeden Muskel in meinem Körper, dann atme ich aus und dem Atem folgen Worte, die schon viel zu lange in mir schwelt. „Ick hab Angst, dass ick so bin, weil ..." Ich beiße mir auf die Lippen, aber es hilft nicht, die Schleusen sind auf und die Flut zu gewaltig. „... weil mein Stiefvater ... Er hat mich geschlagen – als ich jünger war - und jetzt ... Ick hab Angst, dass da jetz irgendwelche Synapsen falsch verschaltet sind und ick deswegen sowas mag." Ich deute auf die Seile am Boden.

„Oh. ..." Sie streckt fast ein wenig hilflos eine Hand nach mir aus, als wollte sie mir über die Schulter streicheln oder mich in den Arm nehmen. „... Danke, dass du mir das sagst. ... Es tut mir leid, dass du so etwas erleben musstest. ... Es ..." Sie deutet auf das Salonzimmer. „Hast du noch ein wenig Zeit?"

Ich nicke.

„Setz dich doch."

Ungelenk setze ich mich an den schwarzen, runden Tisch, der mir unheimlicher ist als ihr ganzes Sortiment an Gerten und Peitschen.

„Ich hab tatsächlich auch mal ein wenig geforscht, warum ich so bin, wie ich bin." Sie seufzt, lächelt dann. „Die ersten Jahre habe ich das auch nicht so umarmt, wie ich es jetzt tue. Ich habe lange gezweifelt, ob das okay ist, Menschen, auch wenn sie es wollen und es ihnen gut tut, so zu behandeln, aber ..."

Sie schreitet hinüber zu ihrem großen Bücherregal und zieht geheftete kopierte Blätter heraus. Vorsichtig streicht sie darüber. „Die Studie, die ich gelesen habe, es gab an der Staatsbibliothek nur eine einzige aus den Niederlanden, sagt, dass nicht nachgewiesen werden konnte, woher diese Bedürfnisse kommen und das es keine Zusammenhängen mit psychischen Erkrankungen gibt. Danach hab ich mich besser gefühlt." Sie sieht mich prüfend an. „Ich hoffe, du auch."

„Weiß nich. Vielleicht." Ich versuch ein Lächeln, aber ich kann an ihrem sehen, wie traurig es wohl wirkt. Dennoch - es geht mir besser. Ich kann Bela wieder sehen ohne ihn erwürgen zu wollen oder in Tränen auszubrechen. Ruhe. Endlich wieder mehr Ruhe in mir - und ein diffuses Gefühl, ihn betrogen zu haben. Andererseits - warum sollte ausgerechnet ich jetzt ein schlechtes Gewissen haben?

Als ich zurückkomme in die Niebuhrstraße, ist er weg. Und er kommt auch nachts nicht wieder, nicht am nächsten Morgen. Oder am Übernächsten.

Ich gehe allein ins Prinzenbad, fahre allein durch Sonnenschein und Hitze mit dem Fahrrad durch die sommerliche Stadt, stehe allein im Proberaum, weil anscheinend sogar Hans heute vergessen hat, dass wir uns treffen wollten.

Was für ein beschissener Sommer. Ich könnte am Meer sein, auf Sardinien Felice und Matia im Olivenhain helfen oder griechische Ruinen erforschen, Portugal sehen. Ich war noch nie in Portugal.

Ich lass mich auf die Couch fallen und fahre über den abgewetzten, alten Samt. Vor ein paar Monaten hatte Bela und ich hier Sex, als Hans nicht zur Probe erschienen ist. Tja, die Zeiten sind wohl eindeutig vorbei.

Ich gehe durch die langen, leeren Gänge der Flughafenkatakomben und setze mich draußen vor dem Riesengebäude in die Abendsonne. Ich schreibe weiter an „Du willst mich küssen" und überlege schon wieder, ob ich Mathilda anrufen soll. Immerhin interessiert die sich für mich.

Wildes Hupen. Ich schrecke hoch. Der Feierabendverkehr auf dem Tempelhofer Damm gerät quietschend ins Stocken und ich will jetzt auch Feierabend. Was für ein sinnloser Tag.



23. Juli – Niebuhrstraße 38b, Charlottenburg

Fast eine Woche ist Bela weg. Dann ist er wieder da, beide sind wieder da, und „es" geht wieder los – ein Déjà Vu aus einem Alptraum.

Es dauert bis ich Bela endlich mal allein in einer ihrer Fickpausen in der Küche erwische. Eigentlich will ich mir nicht die Blöße geben, aber meine Nerven liegen gerade einfach echt blank.

„Bela, könnt ihr ... dit bitte nich hier machen?“

Er runzelt die Stirn, dann kommt die Erkenntnis. „Dit ... Ick hab nich nachgedacht. Ey, tut mir leid, aber Suzi will nich, dass wa immer nur bei ihr abhängen."

Warum - verdammt nochmal – ist Suzi für ihn eine Göttin samt ihren ureigenen zehn Geboten? Weil er noch nie so verliebt war, sagt eine fiese, kleine Stimme in mir. Vor zwei Wochen meinte Gitti, dass Bela mit mir auch so war, als sie früher mit uns beiden unterwegs gewesen ist. Ich hab sie in den Arm genommen, weil ich jetzt weiß, wie scheiße sich das auf der anderen Seite anfühlt.

„... Mir tut das och leid, weil ..." Fast hätte ich „es mir weh tut" gesagt.  

Vielleicht hat er trotzdem durch meine Maske gesehen, denn es wirkt, als hätte er fast genickt, aber dann fragt er: „Weil?"

Ich schüttel den Kopf. „Mach zumindest bitte einfach Musik an – laut! – damit ich das nicht alles so ..."

Nun nickt er wirklich und ich bilde mir ein, dass ich in seinen Augen ein bisschen von meinem Schmerz erkennen kann. „Ick ... ick schau, dass dit nich zu oft vorkommt. Is dit okay?" Er sieht mich bittend an, aber mehr ehrlich gemeinte Absolution kann ich ihm nicht geben.

„Vielleicht.“ Ich geh zurück in mein Zimmer.



21. August – Niebuhrstraße 38b, Charlottenburg

In den folgenden Wochen versucht er wirklich, „es" auf ein Minimum zu reduzieren. Und er warnt mich vor. Nur heute Abend nicht.

Die beiden sind wohl total betrunken oder total auf, was auch immer. Jedenfalls bekomme ich mal wieder das ganze Programm: laute Musik, die es nicht schafft, das Gestöhne und Bettgestellgewackel zu übertünchen. Selbst mein Walkman hilft nicht und ich überlege, was für Fluchtoptionen mir bleiben. Ecky ist nun im Urlaub. Hans. Nee. Nopper will bestimmt in die Kneipe, so wie die ganzen Anderen von der Crew. Mir fällt auf, wie klein mein Netzwerk aus echten Freund*innen ist. Nach Frohnau will ich auch nicht, obwohl es schön wäre, Julia mal wieder zu sehen, aber da käme ich mir dann wirklich vertrieben und besiegt vor.

Als ein besonders lautes „Ja, nimm mich, Bela!" zusammen mit irgendeiner Black-Metal-Band durch die Wand schallt, reicht es mir und ich schnapp mir mal wieder meine Jacke.

Draußen ist es immer noch warm und ich brauche meine Jacke gar nicht. Milde Sommerluft streicht über meine Haut. Es sollte sich gut anfühlen. Die ganze Zeit hängt mir ein Duft wie nach verblühenden Linden in der Nase. Ich sehe in die Bäume an der Leibnizstraße, aber keine Blüten. Die Zeit ist längst vorbei. Vielleicht spielen mir Wut und Trauer olfaktorische Streiche. Eine Erinnerung streift mich. Bela und ich vor zwei Jahren, als wir mit den Fahrrädern am Viktoriapark vorbei gefahren sind und uns dann an den Wasserfall gesetzt haben.

Urplötzlich bin ich komplett erschöpft, will nur noch zurück in die WG, in mein Zimmer. Aber das vor dem ich geflohen bin, wütet dort bestimmt immer noch. Bela kann bei sowas ziemlich ausdauernd sein und ich will dem gerade nicht ausgesetzt sein, so allein.

Ein Gesicht erscheint vor meinem inneren Auge und dann real eine Telefonzelle vor mir.

„Hi! Schön das ich dich erreiche. Hier ist Jan."

„Der aus der Stadtbibliothek?"

Wie viele Jans kennt sie denn bitte? „Äh, ja. Genau der."

„Ick wollte fragen, ob du Lust hast vorbei zu kommen?"

„Oh. ... Eigentlich hatte ich schon etwas anderes vor, aber ... Mhm ... Okay."

„Jetzt?"

„Du scheinst es ja echt nötig zu haben." Mathilda lacht. Es ist ein nettes Lachen, mit ein klein bisschen Aufziehen darin. Vielleicht war es tatsächlich eine gute Idee, sie anzurufen.

Wir treffen uns vor der obligatorischen Stadtbibliothek.

„Können wa zu mir gehen?“

„Klar.“ Sie mustert mich, grinst.

Als ich die Wohnungstür aufschließe, ist es totenstill in der WG. Ich komme mir albern vor, weiß nicht, was ich mit ihr reden soll. Zum Glück übernimmt sie das Ruder. Ich deute auf den Stuhl vor meinem Schreibtisch und sie sieht mich irritiert an, setzt sich dann aber. Ich komme mir wahnsinnig ungelenk vor, aber vor allem bin ich nur noch müde, deshalb lasse mich auf meine Matratze fallen. Mit einem unsicheren Lächeln sehe ich zu Mathilda hoch.

„So ganz versteh ich nicht, warum ich unbedingt vorbei kommen sollte?“ Sie sieht mich prüfend an.

Ich zucke mit den Schultern, versuche mich an dem Grinsen, bei dem ich oft mit allem möglichen durchkomme.

Sie lacht. „Du bist echt ein komischer Typ.“

Es macht mich noch unsicherer, aber da lächelt sie mich an. „Also, komisch im Sinn von besonders.“

Ich entspanne mich wieder, auch wenn das nicht wirklich wie ein Kompliment klang. „Und, Frau Studentin, was haben Sie denn die letzten Wochen so gemacht?“

Sie erzählt von ihrer Abschlussarbeit und ihren Überlegungen, was sie nach der Uni machen soll. „Was hat mich nur geritten, dass ich Literatur studieren musste?" Sie seufzt. „Damit kann man nicht wirklich Geld verdienen."

Ich lausche in das Schweigen nebenan. Hoffe ich, dass Bela mitbekommt, dass ich Besuch habe, Damenbesuch oder ...? Das ist doch alles doof, als müsste ich mir oder ihm was beweisen. Vielleicht sollte ich sie einfach wieder hinaus komplementieren.

Es wird langsam dämmrig im Zimmer. Mathilda sieht mich an, fischt ein Feuerzeug aus ihrer Handtasche und zündet die Weinflasche mit der Kerze auf meinem Schreibtisch an. Langsam steht sie auf und setzt sich zu mir auf die Matratze. Schön sieht sie aus im Schein der Flamme. Ich mag ihre Sommersprossen, die irgendwie gar nicht zu ihrer intellektuell-anzüglichen Art passen. Ihre Augen glänzen mich an. Es tut gut, so angesehen zu werden.

„Hey, Jan?" Sie lehnt sich zu mir hinüber. „Ich würd dich gern küssen. Gern auch mehr."

Ihr Blick liegt so warm auf mir, dass ich mich ihm nicht entziehen kann. Ich nehme ihr die große Brille ab und ... Als sich unsere Lippen treffen, ist es fremd, aber nicht unangenehm. Sie drängt sich vorsichtig an mich, streicht mir durch die Haare. Jede Berührung ist gut, funktioniert. Kurz macht mich ihre deutliche Erfahrung unsicher, dann langsam, ganz langsam wird mein Kopf ruhiger, meine Gedanken leiser und ich lasse mich treiben, in den Küssen, in der Berührung von ihren Fingern unter meinem T-Shirt.

Erst als ich ihre Hände an meiner Gürtelschnalle spüre, erwache ich aus meiner Trance. Behutsam schiebe ich sie weg.

„Mrmmm." Sie sieht mich schmollend an und deutet auf den gut sichtbaren Ständer in meiner Stoffhose.

„ ... Bela is nebenan und ... ick ..."

„Schade. ... Okay, aber schade. Du bist `n verdammt hübscher Kerl, Jan. Weißt du das eigentlich?"

Ich schüttel den Kopf, bevor ich weiter darüber nachgedacht habe. „Also, irgendwie weiß ick dit schon, aber ..." Gewisse Kommentare von Gerd werde ich wohl nie aus dem Kopf bekommen. Ich denke an die ganzen BRAVO-Bilder, die nicht Ich sind. Gutes Aussehen ist angenehm, aber wirklich wichtig für mich ist nicht Schönheit, sondern Freiheit, ungezügelte Freiheit. Am meisten Ich bin ich auf Reisen. Vielleicht auch auf der Bühne.

Und mit Bela, meistens.

Fuck.

Ich rutsche ein Stück hoch, minimal von ihr weg. „Es tut mir echt leid, aber ..."

Ihre Miene fällt. „Ich soll gehen, oder?"

Ich nicke vorsichtig. „Ist das okay?"

„Um ehrlich zu sein: du bist so rätselhaft, wie du hübsch bist, mein Lieber. Aber ... meld dich trotzdem gerne wieder, wenn dich mal wieder so eine Laune überfällt." Sie küsst mich noch einmal und kurz flammt das Begehren in mir wieder auf, aber es stimmt schon – Bela is nebenan und dieser unterschwellige Plan ihm eins auswischen, fühlt sich gerade hässlich an.

„Danke. Danke, dass du gekommen bist und – das du wieder gehst."

Sie lacht, sieht anscheinend selbst ein wenig die schräge Situationskomik. Ich mag sie. Warum kann ich mich nicht einfach in sie verknallen?

„Na, dann bis irgendwann mal wieder."


Als Bela am nächsten Tag mittags in die Küche schlurft, sieht er mich aufmerksam an. „Und? Schöne Nacht gehabt?“

„Ja.“ Ich zaubere ein Pokerface auf mein Gesicht.

„Ey, ick wollt nur sagn, dass das echt okay ist, wenn du mit der hier ficken willst.“

Ich verschütte meinen Tee und er läuft von der Tischplatte direkt auf meine Hose. Von wegen Pokerface.

„Wirklich.“ Er sieht mich ganz ernst an. „Ick bin da nich eifersüchtig oder so.“

„... Okay. ...“ Ich sehe ihn lange an, versuch meine Gedanke zu ordnen. „Ick ... bin da nich so gut drin. Dit weißte, oder?“

„Hab ick jetz verstanden.“ Er kommt langsam auf mich zu und streicht mir behutsam durch die Haare. Meine Augen fallen zu. Er umarmt mich vorsichtig und unwillkürlich brumme ich in seine Umarmung.

Er küsst mich auf den Kopf. „Hab dich vermisst.“

Alle in mir schmilzt, während ich trotzig denke: Warum warste dann nich hier?

Er lässt sich auf meinem Schoß nieder und ich spüre fast schon seinen Kuss, aber er sieht mich nur an. „Wie geht`s dir?“

Ich schlucke. „Okay. ... Glaub ich.“ Es ist schwer, seinem forschenden Blick standzuhalten und schließlich muss ich wegsehen. Draußen vor dem Fenster zwitschern die Vögel im Gestrüpp vor den S-Bahngleisen. „Sach ma, Bela, warste du eigentlich noch nie eifersüchtig ... oder so?“ Die Frage ist wie tonnenschwere Steine heben. Vorsichtig seh ich zu ihm auf.

„Mhm ... Doch schon. Manchma bin ick eifersüchtig drauf, dass de so jute Lieder schreiben kannst. Und du hast einfach so `ne schöne Stimme und spielst halt echt jut Gitarre und so.“

„Oh. ... Ick meinte eher ...“

„Ick weiß schon, was de meinst, aber ...“

„Was wäre, wenn wenn ick jetz was mit Suzi anfangen würd ...“

Er lacht. „Also, dit seh ick nich wirklich, aber wenn de mal mit uns `nen Dreier ...“

Mir wird schlecht und schnell schüttel ich den Kopf. „Nee, danke. Dit is dit einzige, wo ick vermutlich mit Suzi eener Meinung bin. War ja och nur `ne hypothetische Frage.“ Um nicht weiter über meine „hypothetischen“ Fragen reden zu müssen, küsse ich ihn.

Er setzt sich rittlings auf meinen Schoß. Aus dem Kuss wird schnell mehr und Bela räumt das dreckige Geschirr von der Anrichte, damit wir Platz haben.

Manchmal frage ich mich wirklich, was sein größeres Hobby ist: Sex oder Drogen. Wie kann man nur so unersättlich sein?



25. August - Preußen-Tonstudio

Zuerst weiß ich nicht so ganz, was ich von dem Typen halten soll, der noch dünner und größer ist als ich. Sein Hemd ziert ein Muster, das Bela als „Paisley“ bezeichnet.
Eigentlich will ich ihn nicht mögen, diesen Micki Meuser aus Westdeutschland. Fitz Baum von der CBS hat ihn angekündigt als den „Typ für schwierige Fälle“. Na, toll. Bei der CBS stehen wir anscheinend auf einer Stufe mit Ina Deter.  

Doch er scheint zu wissen, wovon er redet. Und im Gegensatz zum plötzlich verschwundenen Manne, scheint er Bock zu haben, mit uns zu arbeiten, kniet sich echt in die Aufnahmen rein und das ist auch dringend notwendig, denn bisher stehen diese insgesamt unter keinem guten Stern. Hans kümmert sich gar nicht, Bela ist nur unterwegs anstatt Songs zu schreiben oder zumindest die zu üben, die wir bisher haben – alle von mir. Er hat bisher noch kein einziges Lied geschrieben.

Außerdem hat Micki einen Emulator 2.

„Echt cool.“ Ich schleiche ehrfürchtig um den Sampling-Computer herum und bin ein wenig neidisch.

„Ja, damit können wir die Drums gut einspielen“, meint Micki.

Bela wird sehr blass. „Nich schon wieder.“

Erst jetzt scheint Micki zu kapieren, was das für Bela als den Schlagzeuger der Band bedeutet. „Das ist nicht böse gemeint, aber dein Rhythmus ... Also, wir können es schon probieren, aber dann musst du schon einiges an Zeit investieren, damit dein Timing passt.“

Bela wird noch blasser. Üben ist für ein Schimpfwort und obwohl ich es verstehen kann, es geht hier darum die Lieder auf eine Platte zu bannen. Das ist nicht live, wo das Publikum uns echt viel verzeiht.

Wir entscheiden uns dafür heute „Rennen, nicht Laufen" aufzunehmen. Ich gebe beim Singen mein Bestes, aber ich muss mich auch erstmal wieder an diese neue Präsenz von Micki gewöhnen – und überhaupt die Studioatmosphäre.

Als ich aus der Aufnahmekabine trete, macht Micki mehrmals „Mhm – mhm – mhm."

Genervt sehe ich ihn an. Singen im Studio ist, als würde ich mich vor allen ausziehen und jetzt wackelt Micki so bedeutsam mit dem Kopf hin und her.

„Ich weiß nicht." Er schnalzt mit der Zunge. „Das Lied ist echt gut, aber irgendwie – deine Stimme passt da nicht so ganz. Bela? Kannst du das vielleicht mal probieren?"

„Icke?" Bela sieht verunsichert zu mir und ich bin mehr als genervt, aber ich will auch, dass die Platte so gut wie möglich wird, also nicke ich ihm zu.

Micki sieht schlagartig sehr viel begeisterter aus und ich verdrücke mich auf die Toilette, weil ich gar nicht hören will, wie er Belas Gesang lobt.

Auf dem Nachhauseweg meint Bela in der S-Bahn. „Ey, tut mir leid, wie dit heut gelaufen ist. Dit war echt blöd von diesem Micki.“

„Mhm. ... Ja, aber ... deine Stimme passt da wirklich besser.“

„Ich weiß nich. Ick mag deine Stimme. Und deine Songs. Und dich.“ Er kuschelt sich an mich.

„Und mir tut`s leid, dass der jetz och schon wieder mit den künstlichen Drums ankommt.“

„Is schon okay“, nuschelt er in mein T-Shirt. Er sieht dennoch traurig aus, dann grinst er. „Aber „Käfer“, dit trommel ick ein. Der Computer kann mich mal. Dit muss so richtig dreckiger Punkrock werden.“

„Absolut.“ Ich küsse ihn auf den Kopf.


5. September – Niebuhrstraße 38b, Charlottenburg

„Woll `n wa los?“ Jan steckt den Kopf zur Tür rein. Er stutzt. „Was is `n dit für abgedrehte Musik?"

„Äh, dit is Christiane. Die ham dit wohl rückwärts aufgenommen. Echt `ne coole Idee."

„Welche Christia..."

In dem Moment ertönt der Refrain: „Ich bin so süchtig."

Seine Augen werden ganz starr.

Schnell versteck ich das Buch unter meiner Decke, aber er hat es schon erkannt. „Du ... Du liest jetzt nich wirklich dit Buch?"

„Wieso nich?" Gerade nervt mich seine Art. „Interessiert mich halt, nachdem ick se kurz kennengelernt hab."

„Kennengele..." Seine erschrockene Miene wechselt zu absoluter Kühle.

„Mann, Jan. Jetz mach nich so `n Wind hier." Ich hab nichts dagegen, dass er keine Drogen nimmt, aber – so `n bisschen spießig macht es ihn dann halt doch, zumindest wenn er so über mich zu verfügen versucht. „Is och nich dit erste Mal, dass ick dit les. Ick weiß schon, wie Scheiße der Stoff is."

„Ach ja?"

„Ja. Hab ick dir och gesagt. Sogar versprochn."

Auf einmal wird Jans Gesicht ernst. Er setzt sich auf den Bettrand. „Hey, Bela. Ick ... Irgendwie geht dit so nich weiter."

Mir wird kalt und ich zieh die Decke höher, aber die gehorcht nicht, weil Jan drauf sitzt. „Wie meinst´n dit?"

„Ick ... Wir brauchen `ne Auszeit."

Ein eiskalter Blitz zuckt durch meine Brust. „Machst du ... Machst du mit mir ... Schluss?"

„Was?... Nein. ... Nein! Ick wollt gern ... mit dir wohin fahren." Unsicher sieht er mich an.

„Oh. ... Echt." Das kalte Gefühl in mir taut. „Und wohin?"

„Also, zuerst dacht ick, dass wa vielleicht nach Bremen zu Fabsi fahrn, um da `n paar Lieder für die Platte zu schreibn, die könnt dit jut vertragn, aber ... Ick glaub wir brauchen wat anderet. Wie wär`s denn mit ...?"

Jan flüstert mir seine Idee ins Ohr und alles in mir wird ganz weich.



7. September – Sieseby

Als ich die kleine reetgedeckte Kate unten an der Schlei seh, wird meine Kehle ganz eng. Langsam geh ich durchs Gartentor, staune über die Rosen rund um`s Haus. Damals im Winter sah alles ganz anders aus. Schön ist es hier, als hätte Jan mich in ein Märchen entführt oder so.

Die Tür öffnet sich und da steht sie. Ein wenig gebeugter, ein wenig grauer, als vor fast zwei Jahren, aber als sie zu Strahlen beginnt, ist das wie weggeblasen.

„Hallo, Omi!" Jan fällt ihr in die Arme, küsst sie auf die Wange.

Ich umarme sie viel stürmischer, drücke sie an mich, lasse sie dann wieder los, weil sie viel zu zerbrechlich wirkt. Zwei Jahre sind eine lange Zeit in einem alten Leben.

„Na, na, min Jung." Sie lacht, dann wird ihr Blick ernst. Erst jetzt bemerke ich, dass mir Tränen übers Gesicht laufen. „Da musst du doch nich weinen. Ich leb ja noch."

Sie drückt mich nochmal an sich, hält mich dann ein Stück von sich und mustert mich. Mir kommt ihr Blick durch die Brille eher vor wie ein Röntgenstrahl. „Du bis ja noch spiddeliger als beim letzten Mal, min Jung."

„Er war krank", sagt Jan hinter mir und in meinen Ohren klingt es hart.

„Ja ... Genau. ... Ich war krank."

„Das tut mir leid. Was schlimmes?"

„Das ist noch nich so ganz klar", antwortet wieder Jan für mich.

„Na, denn woll`n wa ma sehn, dass du wieder was auf die Rippen kriechst, nich wahr? Und ...“ Ihre Augen wirken hinter den Brillengläsern sehr wach, als sie von Jan zu mir und wieder zurücksieht. „Wie geiht dat euch beiden?“

„Uns?“, fragt Jan perplex. „Äh, ... gut.“

Ich grinse ihn an. „Ick glaub, Omi meinte was anderes.“ Ich greife nach seiner Hand und er will sie mir entziehen, aber ich halte sie fest.

Omi lächelt uns an. „Das freut mich, dass es euch gut geht.“

Jans Ohren werden rot.

„Schön, dass ihr immer noch so verliebt seid.“

Die Röte verteilt sich nun auch hübsch auf Jans Wangen.

„Es is etwas ungewöhnlich, min Jung, aber ... Hauptsache, es macht dich glücklich.“ Sie blickt zu mir. „Euch glücklich.“

Jan sieht mich nun auch an und sein Blick sagt so vieles, aber ich kann es nicht lesen. „Ja, uns geht`s gut, Omi“, sagt er langsam und lächelt, ein falsches Lächeln, das weh tut.

Einen Moment runzelt sie die Stirn, aber dann lächelt Omi zurück. „Das freut mich für euch."

Ich wünschte, ich könnte es auch einfach so übergehen, aber befürchte, dass ich der Grund bin für diese aufgesetzte Fröhlichkeit.

„Wirklich. Es ist schon wichtig, jemanden an seiner Seite zu haben, auf den man sich verlassen kann. Mit meinem Johann war es viel zu kurz. Der Krieg ...“ Sie seufzt. „Na ... Ich hab Kuchen gebacken.“

Ich bin froh über den Themenwechsel, aber als ich den gedeckten Kaffeetisch seh, wird mir etwas flau im Magen.

„Nee, lieber ein dünneres Stück“, bitte ich, aber Omi hat schon ein großes Stück Apfelkuchen für mich abgeschnitten.

„Aber, Junge, du bist doch noch im Wachstum. Da musste doch genug essen.“

„Na, ick weeß ja nich. Ick glaub mit 23 bin ick nu och ausgewachsen.“

„Hast du denn gar kein Appetit?“

„Nich so richtig. Vielleicht kommt dit ja noch vom krank sein“, übernehm ich dankbar Jans Ausrede.

„Na, dann ... Ich hoff, ich kann dich ein wenig aufpäppeln hier auf dem Land.“

Das war wohl auch Jans Plan und ein bisschen macht mich das schwummrig, aber ehrlich gesagt: ich würde auch gern mal sehen, ob ich noch ohne kann – ohne Berlin und Party und Drogen. Deswegen hab ich auch nur ein paar Benzos eingesteckt, falls ich nicht schlafen kann.


Das Abendessen fällt noch üppiger aus und eigentlich hätte ich das von unserem letzten Besuch wissen können, aber damals hat mir das nichts ausgemacht. Jetzt allerdings sieht alles fettig aus und mir wird ein wenig schlecht.

Ich kau an einer Essiggurke herum und schmiere etwas Krabbensalat auf eine Scheibe Schwarzbrot, aber – ich hab einfach keinen Appetit.

„Na, greift zu“, ermuntert Omi uns und Jan lässt sich das nicht zweimal sagen. Die Dürrezeiten, wenn nicht genug Geld zum Einkaufen da ist, sind weniger geworden, aber ich weiß, wie sehr er darunter leidet, dass er oft nicht satt wird, auch wenn er nichts sagt.

Omis Blick wandert schon wieder auf meinen Teller.

„Und? Wie geht`s Bauer Peddersen?“

„Der olle Klookschieter?“

Jan lacht, aber ich versteh nicht, was das bedeuten soll.

„Warst du nich mal in den verliebt?“, grinst Jan sie an.

„In den? Der is doch viel zu piefig.“

„So, so.“ Jetzt grinst Jan zu mir hinüber.

„Du büst och `n ollen Klookschieter“, erwidert Omi mit leicht rosa Wangen.

Ich versteh kein Wort, werd aber das Gefühl nicht los, dass Jan Omi von mir ablenken wollte. Sie grinst nun auf eine Art und Weise, die sagt, dass Jan mit seiner Verliebt-Vermutung nicht unrecht hat. Und das Grinsen betont auf einmal die Verwandtschaft enorm. Uta hat das Gleiche. Auf einmal vermiss ich meine Familie. Ich sollte wirklich mehr Zeit mit ihnen verbringen, aber mit Suzi ist das gar nicht so einfach.

„Nu, nimm dir doch noch wat von den Bratkartoffeln.“ Omi lässt sich nicht so leicht ablenken von ihrer Mission mich aufzupäppeln.

„Nee, danke. Bin schon satt.“ Schnell leg ich mein angebissenes Brot auf Jans Teller und steh auf: „Ick geh ma raus, eene rauchn.“

Zehn Minuten später öffnet sich die Haustür und Jan schiebt sich heraus.

„Allet okay mit dir?“

„Ja, ja.“

„Tut mir leid, dass Omi ...“

„Dit liegt ja nich an ihr, sondern ...“

„Du isst wirklich nich besonders viel“, sagt er vorsichtig. „Schon länger nich. Ick dachte, dit liegt vielleicht an unserer finanziellen Misere, aber ...“ Er verstummt und ich weiß auch nicht, was ich dazu sagen soll.

„Mhm. ... Hab halt nich mehr so viel Hunger. Könn wa da grad nich ... Schau mal.“ Ich zeige auf die ersten Sterne, die sich am samtblauen Himmel zeigen.

Er seufzt neben mir in die Abenddämmerung.



9. September – Sieseby

Wir frühstücken im Garten unter dem großen „Appel“Baum und blitzblauem Himmel. Alles fühlt sich so richtig nach Sommerferien an.

„Und, Jungs, wat wollt ihr heut machen?“

„Ick dachte, dass wa vielleicht nach Fischleger raus fahren mit den Fahrrädern", sagt Jan, den Mund voll mit etwas das "Rote Grütze" heißt und sehr gruselig aussieht.

„Na denn man tau.“


„Wow. Dit Meer is schon echt `n toller Anblick.“ Ich leg das Fahrrad in den feinen, warmen Sand und starr einfach nur hinaus auf das weite Blau und die Wellen. „Schööön.“

„Ja, nee?“ Jan sieht so stolz aus, als hätte er das selbst alles für mich hergerichtet.

„Und hier is niemand.“  

„Wahrscheinlich weil die Kinder wieder in der Schule sind. Und Touris verirren sich hier nicht her. Die sind alle in Damp 2000.“ Jan deutet die Küste runter auf seltsame Gebäude, die dreieckig wie Pyramiden sind.

„Find ick jut.“

„Ick och. Wer als Erster drin ist.“ Jan reißt sich sein T-Shirt und seine kurzen Hosen runter und rennt nackt ins Wasser. Sein weißer Hintern leuchtet über seinen braungebrannten Beinen.

„Gewonnen“, triumphiert er, als ich keuchend hinter ihm her hechte.

„Dit war sooo unfair.“ Ich spritze ihn ordentlich nass. Er packt mich und ich versuch mich aus seinem Klammergriff zu befreien. „Manno, du mit deinen Affenarmen.“ Ich tret ihm wenig erfolgreich gegen das Schienbein.

Er grinst mich an, hebt mich hoch. „Luft anhalten!“ Urplötzlich lässt er mich fallen und ich mach Bekanntschaft mit extrem salzigen Wasser. „Oh, dit brennt.“ Ich taste mit ausgestreckten Armen und geschlossenen Augen herum.

„Oh, scheiße. Dit tut mir le...“

Ich reiße die Augen auf und stürze mich auf ihn. Haha. Das hat er nicht kommen sehen, dieses Mal geht er unter, dann berührt mich etwas am Bein. „Iiiiiiiih, Jan, da is was.“ Ich renne panisch zurück zum Strand.

„Häh?“ Er wischt sich das Wasser aus den Augen.

„Da hat mich wat angeglitscht“, schrei ich zu ihm hinüber.

„Was? ... Oh, dit is nur `ne ... Oh, scheiße, dit ist `ne Feuerqualle. Allet jut bei dir?“

„Feuer..., was?“

„Naja, es gibt och Quallen, die brennen.“ Er geht schnell von der Stelle weg und kommt zu mir.

„Na, toll. Und dit sachste mir erst jetz?“

„Na, wärste sonst reingegangen?“

„Pfff.“

Ich weigere mich standhaft, nochmal ins Feuerwasser zu steigen und penne stattdessen in der Sonne weg, merk nur am Rande, dass irgendwas Schweres auf mir liegt. Als ich versuch, mich aufzurichten, geht es nicht, ich bin wie einbetoniert.

„Jan?“

Ich höre über mir ein Kichern. „Na, bin mal gespannt, wie de da wieder rauskommst.“

Ich öffne ein Auge und seh auf mir Sand. Überall. „Sach ma spinnste?“

„Nö.“ Dieses unverschämte Grinsen, das ich von seinem Gesicht küssen will, aber das geht gerade schlecht.

„Was bietest du mir denn Schönes an, damit ich dich da wieder raushol?“

„Mhmmm. Ick würd sagn `ne Tracht Prügel.“

Er tut so, als würde der überlegen. „Vielleicht“, grinst er auf mich hinunter und damit hatte ich nicht gerechnet, auch nicht damit, dass ich die Idee sehr interessant finde.

„Wie wär`s damit, dass de mich nachher ficken darfst?“

Er sieht geschockt aus und ich versteh nicht, was daran falsch sein soll.

„Hey.“ Er kniet sich neben mich. „Nich ... also, nich, wenn wa bei Omi sind. ... Is dit okay?“

Schöne Scheiße, aber – ja, das kleine Haus ist sehr hellhörig. Ich seufze. „Kann ick dir dann wenigstens hier einen blasen?“

Erfreut seh ich, wie sich etwas in seiner roten Badehosen regt. Na, also.

„Aber nich hier.“ Er zieht mich hinter eine Hecke mit sehr fiesen, kleinen Dornen und sehr gut riechenden rosa Blüten. Die großen grünen Halme im Sand pieken ein wenig, als ich mich hinknie, aber das stört mich nicht. Er schmeckt nach Salzwasser und ich vergesse mich in seinen unterdrückten Lauten über mir.

Anschließend bauen wir uns eine staatliche Sandburg, die aussieht wie ein Schiff und schreiben mit Muscheln „MS Jan + Bela“ drauf.

Als ich auf meine Bugs-Bunny schaue, ist es fast halb neun. Die Sonne geht hier einfach so spät unter. Schnell schwingen wir uns auf die Räder und heizen zurück zu Omi.

„Nein, min Jung, ich mach mir da keine Sorgen. Jan war früher auch immer so lange unterwegs. Der konnte nie genuch kriegen.“ Sie lächelt ihn liebevoll an und Jan gibt ihr einen Kuss auf die Wange.

Wir müssen wieder durch das Essensgelage, aber heute fällt es mir etwas leichter. Noch leichter als Omi fragt: „Na, Bela, was hältst du von `nem steifen Grog?“

„Oh ja, cool.“ Vielleicht macht der das leichte Zittern besser, dass mich schon den ganzen Tag nicht verlässt. Wahrscheinlich viel zu viel Bewegung und frische Luft.

Jan spielt ein paar Melodien auf der Gitarre und summt vor sich hin. Ich sollte auch endlich ein paar Lieder für die Platte machen.

„Na, enn geiht noch, Bela, oder?“ Omi hält mir ihr Glas entgegen und dieses Mal versteh ich sofort, was sie meint.

„Watt mutt dat mutt“, antworte ich und sie lacht so, dass sie fast aus ihrem Lehnstuhl fällt.


12. September – Sieseby

Die Woche verfliegt viel zu schnell mit Strandtagen, von denen Jan total braun geworden ist und sogar ich hab nicht nur Sonnenbrand bekommen. Viel zu schnell brechen die letzten Tage an.

Heute helfen wir Omi beim „Einwecken“ und ich lerne, wie man Gurken mit Dill und Essig einkocht. Alles dampft und brodelt in der kleinen Küche.

„Du siehst aus wie eine sehr gütige Hexe“, sage ich zu Omi und sie haut mir mit ihrem Kochlöffel auf den Arm.

„Na, so dünn wie du bist, brauchst du keine Angst haben, dass ich dich in den Ofen pack.“

Schnell seh ich weg. Draußen klettert Jan hoch oben im Pflaumenbaum herum und ich hoffe, er fällt nicht runter. Omi bäckt einen Kuchen, der wirklich lecker riecht nach Zimt und Zuhause und ich muss mich gar nicht so sehr zwingen, ein zweites Stück zu essen.

„Noch ein letzter Spaziergang durch`s Dorf?“ Jan sieht richtig abschiedstraurig aus.

„Ja, gerne.“

Wir stehen unten am Ufer der Schlei. Die Sonne steht genau so über dem Fluß, dass alles glitzert und ich die Hand heben muss gegen das Licht. Die langen Gräser, die Jan Reet nennt, leuchten orange im Sonnenuntergang. Eine Möwe schreit über uns, ansonsten Stille. Nur das Reet um uns herum wispert.

Jan stellt sich hinter mich und schließt seine Arme ganz fest um mich. Alles in mir öffnet sich, atmet auf. „Mann, schade, dass wa morgen schon wieder zurück müssn", seufzt er hinter mir. „Ick könnt es hier echt noch länger aushalten."

„Mhm. ... Also, du weiß ja wie sehr ick Omi lieb und es is echt schön hier, aber ..."

Er löst sich von mir, sieht mich prüfend von oben her an. „Aber ...?"

Die Auszeit hatten wir wirklich dringend nötig, aber langsam will ich doch wieder zurück ins verrückte Berlin, nicht nur wegen Suzi, sondern weil ich einfach eine Großstadtpflanze bin. Er dagegen scheint hier vollkommen glücklich und zufrieden.

Ich drehe mich zu ihm um. „Also, äh, ick hab Suzi versprochen ..."

Abrupt lässt er mich los, geht ein paar Schritte von mir weg und stemmt seine Hände in die Hüften. Mehrere lange Momente bleibt er so stehen, dem Wasser zugewandt, dann dreht er sich wieder ein Stück zu mir. „Super, echt. ... Keene Ahnung, wie de dit mit der aushältst.“

„Na, ick lieb die halt einfach. Die sagt übrigens leider dit gleiche über dich."

Er dreht sich wieder von mir weg und seine Abwesenheit, immer seine Abwesenheit, macht mich so sauer. „Dit is nich schwer zu erraten“, grummelt er schließlich.

„Mann, Jan. Ick weiß, dass dit nich einfach is für dich, aber kannste ... Bitte!“

„Ick kann se halt nich leiden. Sorry!“ Hört sich kein Stück nach einer Entschuldigung an. Abrupt dreht er sich zu mir um. „Wat findeste bloß an der ollen Zicke?“

„Hey!“ Ich versuch die hochsteigende Wut zu zügeln. „Sie zeigt mir halt sehr eindeutig, dass se mich liebt."

Er zuckt zusammen, als hätte ich ihn geschlagen. „Aha. Und ... ick ..." Er wirft mir einen kurzen Blick über die Schulter zu. „Ick mach dit nich, oder wat?"

Ich geb mir einen Ruck, geh zu ihm und greif nach seiner Hand. „Naja, ihr seid halt eenfach unterschiedliche Menschen", sag ich vorsichtig. „Is nich so schlimm, dass de dit nich so ... Aber ich mag dit halt schon, wenn ...“

„Ick kann dit halt nich so jut", murmelt er. Jans Wangen leuchten und das ist nicht nur der Sonnenuntergang, vermute ich.

Ich lege meine Hände an sein Gesicht, warte bis er es endlich schafft, mich anzusehen. „Dit is okay, Jan."

„Aber ... du magst sie trotzdem mehr, oder?" Er seufzt.

„Ick lieb euch halt beide. Aber bei ihr is dit grad eenfach so `n krasser Hormoncocktail. Am Anfang war dit doch mit uns och so."

„Ja, am Anfang ...“ Er klingt so traurig.



13. September – Sieseby

Bela will wirklich schon wieder zurück nach Berlin. Kurz hatte ich überlegt, ob ich einfach noch länger bleibe, aber gerade läuft es so gut mit uns und ich will nicht der sein, der es abreißen lässt.

Wir müssen schon um 6 Uhr raus, um den Zug zu bekommen. Der Abschied tut weh. Richtig doll weh, nicht nur mir. Ich seh wie Bela schluckt, als er noch etwas verpennt Omi umarmt. Es sieht schön und bizarr aus wie meine weißhaarige Omi in ihrer Rüschenschürze Bela in seinen Lederhosen an sich drückt.„Danke für die schöne Zeit und ..." Er schluckt nochmal.

„Nu, min Jung.“ Sie umarmt ihn fest und täschelt ihm dann die Wange. „Holl de Ohren stiev, nee, und kiek mol weder in.“

„Mach ick“, sagt Bela mit belegter Stimme und dann nehmen wir unsere Rucksäcke und gehen den Pfad entlang der reetgedeckten Häuser zur Bushaltestelle. Omi winkt uns noch mit einem Taschentuch bis zur Ecke nach, wird immer kleiner.



Bis Hamburg haben wir ein Sechser-Abteil für uns allein. Bela zieht den Vorhang vor und sofort sind seine Hände auf mir, in meinen Haaren, unter meinem T-Shirt.

„Die Fahrkarten, bi...“ Der Schaffner stolpert wieder aus der Abteiltür, mustert uns dann abfällig.

Langsam ziehe ich Belas Hand aus meiner Hosentasche. Sex im Zug ist keine Option, egal wie rattig wir beide sind.



Niebuhrstraße 38b, Charlottenburg

Wir fallen durch die Wohnungstür und Bela reißt mir mein T-Shirt über den Kopf, ich ihm die Hose auf. Verdammt, war das eine lange Woche bei Omi. Wir drängen uns unter die Dusche, waschen den Reisedreck ab, fallen dann in Belas Bett.

„Haste Bock, dass ick dich heute ficke?", keucht Bela mir ins Ohr.

Mein Ja klingt eher wie ein Stöhnen. Ich kann nicht mehr klar denken, will gerade alles – vor allem Bela. Ich ziehe in auf mich, weil ich ihn so, so will, obwohl wir das so rum noch nicht so oft gemacht haben. Bela macht ganz langsam, obwohl er so angetörnt ist, dennoch dauert es ein wenig, bis ich bereit bin. 

Auf einmal bewegt sich etwas am Fußende. Die Tür.

„Hey, du treulose Seele, du hättst dich echt mal melden kö..." Auf einmal steht sie im Zimmer und alles verlangsamt sich wie bei einem Unfall.

Das ist einer meiner Alpträume über sie, denke ich verzweifelt, doch Bela rafft die Decke über uns, obwohl es da nichts mehr zu verdecken gibt, außer vielleicht unseren Körpern. Der Rest ist mehr als eindeutig.

Ich verstecke mich unter der Decke, aber die wird weggezogen und als ich ihren Blick sehe, ihren vollkommen fassungslosen Blick, der sagt, dass gerade eine Welt für sie zusammenbricht, da tut sie mir für einen Moment wirklich leid.

„Suzi, ick ..."

‚Sag jetzt nicht, das kann ich erklären, Bela`, denk ich.

„Ick wollt dir dit mit Jan und mir ... Also, dit mit ihm wollt ick dir schon länger sagn ..."

Sie sinkt auf den Stuhl, auf meine Klamotten, die dort liegen und ich würde mich echt gerne anziehen, gehen und Bela und sie das ohne mich klären lassen, aber ...

„Das ...?" Suzis Blick wandert von Bela zu mir und wieder zurück. Sie wirkt so niedergeschlagen. Ich kann es ihr nachfühlen, dieses schmerzhafte Entdecken, dass Bela auch Anderen seine ungeteilte, intensive Aufmerksamkeit schenkt. Aber wie konnte sie das nicht über ihn wissen? Das mit Gitti hat er ihr dann wohl auch verschwiegen. Und ich dachte immer, dass er damit ehrlich ist.

„Das läuft also schon länger?", fragt sie schließlich ganz leise.

„Ja, also ... Jan und ich ...“ Bela bricht ab und ich warte genauso atemlos wie Suzi auf seine Antwort. Als ich keine Luft mehr habe, haue ich ihm meinen Ellbogen in die Seite.

„Also, Jan und ich, wir sind schon länger zusammen und ..."

„Zusammen?" Sie springt auf und tritt einen Schritt auf Bela zu. „Ich fass es nicht. Wie kannst du ...? Mir immer die große Liebe vorspielen und stattdessen ... Was bist du eigentlich für ein hinterhältiges, mieses Arschloch?" Es knallt, Belas Kopf fliegt zurück. Suzi holt noch einmal aus und ich springe auf, halte ihre erhobene Hand fest.

Sie funkelt mich an. „Verdammt ..." Tränen schießen ihr in die Augen. „Ich hätt`s echt wissen können. Wie er dich immer angesehen hat."

Augenblicklich lasse ich sie los. Ein Fehler. Ihre Ohrfeige trifft mich so unvermittelt, dass ich aushole und zurückschlagen will, es nur im allerletzten Moment ...  

„Du bist genauso ein Lügner wie er", schreit sie mich an.

Selbst unter der glühend roten Wut erkenne ich, dass sie nicht unrecht hat. Auch ich hätte was sagen können, aber vielleicht hab ich gedacht, er hätte das inzwischen geklärt, vielleicht war es mir ganz recht, es nicht so genau zu wissen.

„Ick dachte, dass ihr auch eine offene Beziehung habt." Es ist eine feige Ausrede.

Vorsichtig streckt Bela seine Hand nach Suzi aus. „Es – es tut mir echt lei..." Auf seiner linken Wange leuchtet rot Suzis Handabdruck, auf der Anderen - Reue?

Sie mustert ihn so kalt, dass mir das Häufchen Bela vor mir auf einmal wieder leidtut. „Du hast jetzt genau eine Chance, um das wieder gut zu machen." Sie blickt wieder zu mir und in ihren Augen lodert etwas. „Er ..." Sie dreht sich zurück zu Bela. „Oder ich?"

Mein Herz setzt mehrere Schläge aus, dann rast es los. Ich kann nicht atmen.

„Was?", fragt Bela und es tut gut zu hören, dass er genauso fassungslos ist wie ich.

Suzi beugt sich zu ihm, ganz nah. „Was ist daran so schwer zu verstehen? Er – oder – ich?", wiederholt sie.

„Das ... Das kann ich nicht", keucht er.

Mein Herz wird langsamer, fühlt sich weniger nach Herzinfarkt an.

„Gut. Das ist auch eine Entscheidung." Sie geht in Richtung Tür und ich würde so gerne aufatmen, aber ... Bela hat sich nicht entschieden. Auch nicht für mich und obwohl das etwas ist, zu dem ich ihn nie gezwungen hätte, was ich nicht mal will, so weh tut es trotzdem, ganz tief innen unter den vielen Lagen Blut und Knochen.

Sie dreht sich nochmal in der Tür um. Die Tränen in ihren Augen sollten bei dem eisigen Blick auf mir eigentlich gefrieren. „Ich hab noch nie verstanden, was du an dem findest, aber das ihr auch miteinander fickt, dass geht echt zu weit."

„Es ist nicht nur Ficken, sondern ..." Bela bricht ab, dabei hätte ich das, genau das, hören müssen.

Ich raff meine Sachen zusammen und stolzier nackt an ihr vorbei, in mein Zimmer, knall die Tür zu. Schnell werf ich mir meine Klamotten über, Balkontür auf, starre in den Abgrund. Scheiße. Zweiter Stock ist viel zu hoch zum Klettern.

Draußen im Flur höre ich Bela, eindringlich. „Bitte bleib, Suzi. Ich mach dit auch allet wieder gut."

„So? Wie denn, du Wicht?"

„Mit allem."

Ich schmeiß mein Notizbuch in meinen Rucksack. Gerade ist es mir fast egal, ob Suzi abhaut oder bleibt oder was auch immer. Es geht mir nicht um sie, es geht um Bela und sein „Es-allen-recht-machen-wollen". Vielleicht ist es auch ein „Alles-haben-wollen". Ich schüttel mich, bin gerade einfach nur angewidert.


Manteuffelstraße, Kreuzberg

„Danke, dass ich .."

„Alles gut. Klang dringend." Gitti sieht mich fragend an.

Ich falle in ihre Arme und sie ist weich und warm und irgendwann reicht sie mir ein Taschentuch. Irgendwann kann ich nicht mehr heulen, bin einfach nur erschöpft von diesem endlosen Desaster.

„Und er hat ihr nüscht über uns gesagt?"

Ich schüttel den Kopf. „Die war echt ... fertig. Tat mir fast leid."

„Die Tante? Ernsthaft?"

„Nee. ... Doch. Ick weeß och nich. War wohl echt `n ganz schöner Schock für sie."

„Na, dit hoff ick doch. Die is so egozentrisch.“ Gitti verdreht theatralisch die Augen. „War bestimmt `n Schock, zu erfahren, dass sich doch nich die janze Welt um sie dreht.“ Mit einem lauten Seufzer lässt sie sich auf ihr Sofa fallen, klopft neben sich und ich folge ihr.

„Mhm. ... Aber – sie liebt den wirklich, oder?" Unsicher sehe ich zu Gitti.

„Glaub schon", grummelt sie.

„Und er? Er liebt sie och, wa?"

Sie presst die Lippen zusammen. „Da fragste die Falsche. Ick - ick versteh dit eenfach nich, dit mit den Beiden. Hat sie ihn verhext, oder wat?

„Eher verflucht,“ presse ich raus.

Auf einmal müssen wir beide grinsen, dann ist die Wut-Trauer-Verzweiflung zurück in ihrem Blick und es tut seltsam gut zu wissen, dass ich nicht allein bin in diesem Gefühlschaos.

„Na, irgendwie is es ja och Belas Schuld, wa?“, sagt sie schließlich.

„Dit is fast noch schlimmer als die Zicke selbst.“ Es tut gut, sie und ihr Verständnis so nah neben mir zu haben. Ich lass meinen Kopf auf ihre Schulter sinken und sie streicht über meine Haare. Ich kuschel mich an sie. Ihre Hand landet an meiner Wange. Langsam seh ich zu ihr hoch. Etwas flackert zwischen uns, etwas das nichts mit Bela zu tun hat.

Sie fasst vorsichtig nach meiner Hand. „Willste ... willste vielleicht hier übernachten?"
Unsicher, fast scheu sehen wir uns an und ich will ihre unkomplizierte Zuneigung, aber ... Langsam setz ich mich auf, obwohl alles zurückwill in ihre Wärme. „Ick glaub, ick geh besser wieder nach Hau..." Ich seufze. „Oder zu jemand anderem."

„Ja. ... Ja, wahrscheinlich is dit besser", sagt Gitti leise, aber ihre Augen sagen etwas anderes.


Turmstraße, Alt-Moabit

Meine Odyssee durch Berlin muss jetzt ein Ende finden. Ich kann nicht mehr. Ich drücke auf die Klingel vor mir, warte mit angehaltenem Atem.

Endlich öffnet sich die Tür vor mir.

„Jan? ... Ich dachte, du bist an der Ostsee?" Eckys Haare sind total verstrubelt. Wahrscheinlich hat er schon geschlafen.

„Nee, bin schon wieder zurück."

„Schön. ...“

„Tut mir leid, dass ick dich so spät stör.“

„Schon okay. Du, ähm, siehst irgendwie ... Alles okay?" So vertraut, mein sicherer Hafen. Beschämt fällt mir auf, wie sehr ich ihn vernachlässigt habe, seitdem ich Bela kenne. Am liebsten würd ich mich einfach in seine Arme schmeißen.

„Also, ja. ... Nee. Irgendwie nich.“ Meine Stimme gehorcht mir nicht.

„Oje ... Is was mit deiner Familie?" Alte Angst in seiner Stimme. So war ich früher nur, wenn es Ärger mit Gerd gab und ich zu ihm geflüchtet bin.

„Nee, mit denen ist alles okay. Zum Glück. Aber es gibt `n Problem mit ... in der Niebuhr."

Er sieht mich ernst an.

„ ... Suzi hat Bela und mich erwischt, als wir ... Naja, also halt beim Ficken."

Eckys Wangen werden ein wenig rot. Wir reden nicht so oft über Sex, darüber, dass ich jetzt auch was mit Typen habe. Mein Gesicht wird auch ein wenig warm.

„Oh. ... Und ...?"

„Sie wusste das nicht, das mit Bela und mir."

„Oh, Mist."

„Ja. Ick ... also, ick wollt fragen, ob ick heut bei euch übernachten kann."

„Ja, klar. Komm rein. Nicole hat Nachtschicht."

Ich ziehe meine Jacke aus und stehe dann unschlüssig vor Ecky.

„Du siehst echt fertig aus, Alter." Er drückt meine Schulter.

„Danke." Ich versuche ein Grinsen, aber bin zu erschöpft. „Sie ... Sie hat ihn vor die Wahl gestellt und er ..." Ich brech ab.

„Hat sich für sie entschieden?" Ecky sieht vollkommen entsetzt aus.

„Nein. ... Zum Glück nicht.“ Ich will gar nicht wissen, wie mein Leben in einer Parallelwelt wäre, wenn er das getan hätte. „Aber dit war eenfach so `ne beschissene Situation – eigentlich schon die ganze Zeit."

„Mhm. ..." Ich kann förmlich sehen, wie Ecky an etwas Bestimmtes denkt, aber nicht damit rausrücken will. „Tee?“

„Ja, bitte.“ Ich lasse mich auf die Sitzbank in der kleinen Küche fallen. „Ey, ick red die ganze Zeit nur über mich. Wie geht`s dir denn jetzt, wo de die Uni fertig hast?"

„Och ... Eigentlich gut, aber ...“ Er stellt zwei dampfende Tassen auf den Tisch und setzt sich langsam. „Naja, bei Nicole und mir läuft es immer noch nicht so gut und ..."

„Wollt ihr euch trennen?" Ich mag es gar nicht, wenn sich solche Dinge in meinem nahen Umfeld ändern.

„Also nicht direkt, aber ... Ich überlege, dass es vielleicht gut wäre, wenn ich ... also, wenn ich ausziehe."

„Aha."

„Ja. Es tut uns nicht gut, wenn wir uns ständig sehen, alles voneinander mitbekommen. Es fehlt mir Nicole einfach mal zu vermissen, so wie früher."

Ich nicke unwillkürlich – sehr langsam, aber ich nicke.

„Ein Freund von mir will aus seiner Wohnung ausziehen und hat mich gefragt, ob ich sie übernehmen will."

„Wo?"

„Gleich hier um die Ecke. Auch in der Turmstraße."

Turmstraße.

Es ist jedes Mal so, wenn ich Ecky hier besuche. Alles Erinnerung. Der Knast. Hinter seinen Fenstern eingesperrte Menschen. Noch mehr halb eingesperrte Jugendliche im Heim nebenan. Von unserer alten WG konnte ich direkt zu ihnen hinüber sehen. Ich fand das immer doof mit dem Einsperren, auch wenn sie mir meinen Roller geklaut haben.

Aber auch viel Wärme. Mama deckt mich zu und schaltet das Nachtlicht ein, damit ich keine Angst haben muss vor Gewitter oder Geistern oder der Einsamkeit, während sie unterwegs ist, um in den Kneipen Rosen zu verkaufen. Arabische Klänge und Musik von Um Kulthum. Riadh, der Couscous macht.

Die Bilder ziehen mich in eine Vergangenheit, in der Gerd nicht passiert ist, obwohl dort auch nicht alles gut war. Doch ...

Charlottenburg ist mir immer fremd geblieben.

Die alten Bilder machen neuen Platz, die in mir hochsteigen wie leuchtende Laternen.

„Ich weiß nicht ...“, sagt Ecky vorsichtig. „Aber vielleicht täte es dir ja auch gut, ein wenig mehr Abstand zu haben. Es wäre definitiv noch ein Zimmer frei. Ich würd mich echt freuen."

Ich mich auch, stelle ich erstaunt, fast entsetzt fest.

„Also, eigentlich sogar zwei Zimmer, falls du noch jemanden weißt.“

Axel, denke ich. Axel sucht gerade etwas Neues. „Ick weiß nich. ... Also, ick würd echt gern, aber ick weiß nich, ob ich ihn allein lassen ka... Ick muss drüber nachdenken."




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LYRICS

Beatsteaks - Glory Box (Portishead Cover)

Motorhead - Heroes (David Bowie – Cover)

Corey Taylor - Lovesong (The Cure cover)

Sunday Girl - Where is my mind? (Pixies Cover)

Nervous Germans - Summer of Love

die ärzte - ich weiß nicht, ob es Liebe ist

Christiane F. - Süchtig

The Cure - Last Day of Summer

Faith No More - This guy`s in love with you (Herb Alpert Cover)

Swans - Love will save you

Kim Wilde - Keep me hanging on (The Supremes Cover)

The Animals – We gotta get out of this place



ADDITIONAL SONGS

Portishead - Roads
Portishead – Roseland NYC Live 25
Einfach die ganze Platte hören.

die ärzte – ich weiß nicht, ob es Liebe ist (Absolut Live)
Speziell dieses Konzert lieb ich einfach so.

die ärzte - you want to kiss me

Die Ärzte: Rennen, Nicht Laufen - Demo Version mit Farin
Ich find diese Version persönlich in allen Aspekten besser als die spätere Album-Version. I agree with Farin: Die Synthie-Überlagerungen sind echt zu wuchtig und ersticken das Lied.

Nervous Germans – Strange Fruit

Christiana – Final Church


LP „Im Schatten der Ärzte"

Rennen, nicht laufen!: Farin: Es gibt einen sehr berühmten Jazz-Song namens „Walk, don’t run". Den Titel empfand ich in meiner Sturm- und Drangphase (1963 - ??) als völlig lahmarschig - und schlug Bela vor, ein atemloses Lied mit gegenteiligem Titel zu schreiben. Wenn ich mich recht erinnere, ist das Riff von mir, den Text haben Bela und ich zusammen geschrieben. Im Studio meinte Micky Meuser (der Produzent der „ISdÄ"), dass Bela der bessere Sänger für den Song wäre, seitdem finde ich Micky doof. (Auch wenn er wahrscheinlich recht hatte. Pah!) Quelle: Prawda 04


MICKI MEUSER
Wikipedia
Podcast - erst Zahnarzt, dann die Ärzte


NERVOUS GERMANS
Wikipedia
Homepage


CHRISTIANE F.
Ex-Berliner - Photoserie


MOABIT
Bela und Farin reden über Privates


OMI
Im Kapitel 37
Schwansen kommt Omi übrigens zum ersten Mal vor.
Und falls ihr noch mehr Spiel und Spaß mit den beiden wollt, seid ihr in dem Kapitel gut aufgehoben. :-)



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Chapter 58: Meine Reflexionen zum Fall Farin / Flake

Chapter Text

*




Na, wie viele Stunden emotionaler Arbeit habt ihr schon in diese von Farin Urlaub initiierte sh*tshow gesteckt / stecken müssen?
Ich befürchte, bei mir beläuft sich die Summe auf (seit Donnerstag nacht – Sonntag nachmittag) so circa: 15 Stunden bewußt plus mindestens 10 unterbewußt.

Deswegen wird dies auch eine längere Reflexion über verschiedene Themen, die mich seit Donnerstag nacht umtreiben, als ich erfahren habe, dass Farin Urlaub nicht nur auf der Bühne die Kostüme von R.s Flake trägt, sondern diesen aktiv durch die Kollaboration auf Flakes Weihnachtsplatte unterstützt.

Ich hoffe, ich klinge nicht zu fies. Ich möchte gerne so fair wie möglich bleiben, aber bin mir ein wenig unsicher, ob mir das gelingt, zumal ich mir gerade mehrfach am Tag sagen muss, dass nicht alle Männer *rschl*cher sind. Danke an alle männlichen Fans, die kritische Reflexionen in Farin Urlaubs Gästebuch hinterlassen haben. Ich hoffe, ihn erreichen all diese Gedanken und Gefühle, denn er ist der beste Adressat dafür.

Da diese Reflexion so lang ist (Waren die Kapitel ja auch immer.), gibt es hier eine Art Inhaltsverzeichnis, so dass ihr euch rauspicken könnt, was euch interessiert:

0. "Policy of Truth" - Chronologie (unvollständig)
1. "Our lips are sealed" - Das Schweigen und Mittragen des Netzwerkes um Farin Urlaub
2. "The Windmills of your mind" - Selbstreflexion über Fan sein & „Real people fanfictions"
3. "Song for the Man" - Die Konsequenzen, die ich daraus für mich persönlich ziehe
4. "A Teenager in Love" - Konsequenzen, die ich daraus für meine dä-Fanfiktions ziehe
5. Quellen (und natürlich wieder Song-Lyrics)



Circa 1978
- Farin schreibt mit 15 ein Lied über (non-konsensuellen?) Inzest mit seiner damals circa 8-jährigen Schwester. (s. Quellen am Ende)
- Es wird in den 80ern zensiert, aber alle nicken es ab als pubertäre Verwirrtheit (including me) und feiern den Tabubruch des illegalen Mitsingens auf Konzerten.

1983 – 2023
- verbale Entgleisungen auf der Bühne, die als „der Ärzte-Humor" gelabelt und damit versucht unantastbar gemacht werden
- kritisiert jemand etwas, springen Teile der Fans für ihre Götter in die Bresche und teilen einem live oder per Gästebuch mit, dass man eben diesen Humor nicht verstehe und sowieso eine verstockte Spaßbremse sei
- Ich lasse jetzt die, damals gerade mal so 16 Jahre alt gewordene, Jenny E. mal raus.

Mai 2023 – Kopenhagen
- Ihr könnt euch selber live ein Bild von den Kommentaren machen, wenn ihr wollt.
- Diese Quellen findet ihr unter dem Text:
* Die Ärzte – über Rammstein und KOTropfen von unrockable 21
* Vorwürfe gegen Rammstein – „Die Ärzte" reißen Witze über K.o.-Tropfen vom Berliner Tagesspiegel
- Ich war selbst vor Ort und es war wie ein Schlag in die Magengrube, von dem ich mich nur langsam erholt habe. Ich wollte damals schon aufhören, die Ärzte-Fanfiktions zu schreiben, speziell „Teenagers in Love", aber ... habe es mir nach einem Monat Reflektion am Ende wieder schön geredet, so dass ich die Fanfiktions weiter geschrieben habe, begeistert auf die „Herbst-des-Lebens"-Konzerte gegangen bin und mich von ihnen auf der Bühne (meistens) bestens unterhalten gefühlt habe.

Juli 2023
- Die zwei gut recherchierten Verg*w*ltigungsvorwürfe von 1996 und 2002 gegen Flake werden öffentlich gemacht. Eine der beiden Frauen ist noch minderjährig. (s. Quellen am Ende des Textes)
- Die eidesstattlichen Erklärungen der beiden Frauen liegen vor, so Nadja Mitzkat vom Rechercheteam des NDR und der Süddeutschen Zeitung. Auch Familienangehörige, Freunde und Therapeuten der beiden Frauen äußern sich und untermauern die Aussagen.

Aug. 2024 – Tempelhof (Fr. / So.)
- Farin trägt bei „Bitte, bitte" ein goldenes Kostüm. Das Publikum ist außer Rand und Band (including me.)
- Nachdem die Tempelhof-Konzerte vorbei sind, kommt heraus, dass dieses (Original-)Kostüm R.s Flake auf der Bühne getragen hat.
- Ich bin verstört, verstehe es nicht, aber schaffe wieder es für mich abzuwiegeln: Sah doch genial aus. Und gerade bei dem Lied. Vielleicht war es ja eine R. Satire.

Nov. 2024
- Flake feiert Weihnachten – auf einem Album.
- Farin Urlaub feiert mit einem deutschen Weihnachtslied mit.
- Hmmm. Tja, dann war das wohl mit dem Kostüm in Tempelhof keine Satire, sondern Flake ist sein Bro und er „steht" zu ihm.

Es sind so un-fucking-fassbar patriarchale Aktionen. Und die haben Konsequenzen. (siehe Link zu Musicmetoo-Handbuch)


Potentielle Zukunft – goldenes Ticket für Hardcore-Rammstein-Fans von Farin Urlaub persönlich zu Ärzte-Konzerten

Wenn der Gitarrist so zu dem angeklagten Keyboarder steht, dann könnte man als R. Fan ja vielleicht auch mal bei den F*n-Punks von den Ärzten vorbeischauen. Man wurde doch ja mehr oder weniger höchstpersönlich von einem Bandmitglied eingeladen. Vielleicht sogar im R.-T-Shirt. (Die habe ich bewusst, zumindest auf den kleinen Clubshows, noch nicht bei Ärzte-Konzerten gesehen.) Und wenn man schon eingeladen ist, dann bringt man am besten doch auch gleich seine eigene Bandkultur mit, die ich für extrem manosphere-ig halte (siehe u.a. aktuelle Einträge in den Gästebücher).
Sind jetzt also gespikte Drinks und Übergriffe auf Ärzte-Konzerten damit gegreenlighted? Wäre gut zu wissen.


Wie geht es mir seit Donnerstag nacht?

Nachdem ich von der Flake-Kollaboration erfahren habe, wird mir spontan sehr schlecht plus Adrenalinsturm pur.
Ich fühle mich wie ein Versuchskaninchen für graduell steigende Grenzüberschreitungen. Ich wusste damals in Tempelhof nicht, welcher Inszenierung ich da bewohne, welcher Symbolfigur ich da zujuble. Ich fühle mich „schmutzig und benutzt" (Zitat eines anderen ehemaligen Farin-Fans).
Ich finde Farin eklig. Danach wird mir eiskalt. Die Kälte ist seitdem nicht mehr gewichen. Wie man vielleicht auch hier lesen kann, begegne ich dem ganzen gerade mit sehr, sehr viel Galgenhumor und habe echt viel gelacht die letzten Tage z.B. über den „Pflaumenkuchen backen"-Gästebuch-Eintrag. Der war einfach zu bizarr.

Aber insgesamt will ich (gerade?) nichts sehen und nichts hören von Farin Urlaub und auch dem Rest der Band ...

... außer es handelt sich um ein gut reflektiertes Statement, in dem Farin Urlaub verkündet, dass die „Jungs" von R. inzwischen alles zugegeben haben, die Art von Schadensbegrenzung für die Betroffenen organisieren, die diese sich wünschen und sich selbst in therapeutische Behandlung begeben haben und er deswegen dachte, dass es inzwischen okay sei, Flake zu unterstützen.

Und selbst dann bleibt das Ekelgefühl meinerseits kleben.



"Our lips are sealed"
1. Das Schweigen und Mittragen des Netzwerkes um Farin Urlaub


Bela und Rod sowie die ganze Crew von Hot Action Records, KKT und Loft haben ziemlich sicher gewusst, was das für ein „Kostüm" ist, dass Farin in Tempelhof anhatte, sie haben die Sprüche in Kopenhagen mitbekommen.
Aber zumindest bei dem Kostüm wäre das im Vorfeld vermeidbar gewesen, aber es scheint ihn ja niemand drauf hingewiesen zu haben. Dementsprechend haben sie es mitgetragen. Natürlich ist es als kleines Rädchen im Showbiz-Getriebe durch die finanzielle Abhängigkeit von Jobs schwierig(er), sich kritisch zu äußern.

Aber Bela und Rod sind Teil der Chefs / Arbeitgeber und da erwarte ich mehr.

Falls Farin dies versucht hat nicht hinter den sprichwörtlichen Kulissen bekannt werden zu lassen, dann sollte es immer noch jemand aus dem Musikbusiness erkannt haben. R. ist ja nun nicht gerade eine Garagenband.

Deswegen werde ich mit ziemlicher Sicherheit mein Ticket für Bela Bs Lesetour zurückgeben.

Es zieht insgesamt so viel in den Dreck. Auch das restliche politische Engagement der Band wirkt auf mich nun sehr schaal. Frauenrechte sind kein Sidekick von Anti-Faschismus oder dem Eintreten für Demokratie. Ich erwarte von einer Band, die seit ihrer Gründung so viele weibliche* Fans hat und (angeblich?) Songs gegen Gewalt an Frauen schreibt, sehr, sehr, sehr viel mehr. Oder zumindest keine Kollaboration mit Tätern.

See the problem in being a fan?

In diesem Fall war der Sturz echt spektakulär. Die krasse Fallhöhe ist weniger dadurch entstanden, dass ich Farin auf einem Götterthron installiert hatte, sondern weil die Fallgrube so tief ist, die er gebudelt hat.

Und es ist auch ein wieder so klassisches Genderphänomen/-problem:
- Ich, die sozialisierte Frau, setze mich gemeinsam mit anderen Frauen* auseinander mit den ganzen beschissenen Gefühlsstürmen, die diese Sch***-Aktion mit sich bringt.
- Die Männer auf der anderen Seite scheffeln aktive Unterstützung für ihre Taten und Entscheidungen, sowie materiellen Profit.

 


"The Windmills of your mind"
2. Selbstreflexion über Fan sein & „Real people fanfictions"


Die Vielfalt von Fansein sieht am Beispiel der Ärzte  u.a. so aus:
- „Mag deren Musik."
- „Stelle mich für die erste Reihe schon am Vorabend an."
- „Weiß / verfolge alles, was sie machen und je gemacht haben."
- „Ich create Fanart in Bildern, Covern oder Geschichten."

Die letzten zwei Punkte, that`s me / was me.

Tja, was soll ich sagen. Irgendwie auch selber Schuld, oder?

Ich habe mich vor circa 3 Jahren während der Corona-Zeit zuerst langsam und dann mit Anlauf (wieder) in diese Band gestürzt. Der Wieder-Auslöser nach den 80ern war speziell Farin Urlaub mit all seinen auf mich sehr faszinierend wirkenden Aktivitäten.

Aus diesem Fan sein mit Haut und Haaren entstanden also mehrere exzessiv recherchierte Fanfiktions (real people fanfictions), die ein ganz eigenes Problem sind, denn ...

Möchte ich das jemand über mich mit Klarnamen, öffentlich im Internet, Geschichten schreibt?
Nein.

Warum tue ich es dann trotzdem (Kategorischer Imperativ von Kant und so)?
Weil Fansein (zumindest bei mir) so eine wunderbare Euphorie und Leidenschaft weckt. Das letzte Mal war ich so „verknallt" in Antifa und politisch sein.

Farin Urlaub hat mich als der Mensch / Mann, als den ich ihn vermutet und interpretiert habe, sehr angezogen und inspiriert mit seinen Reisen, seinen Photographien, seiner Stimme, seinen Liedern, seiner Erscheinung, seinem „jugendlich" sein als inzwischen alter, weißer Mann.

Davon wollte ich dann wohl immer mehr und bin so intensiv in die Bandgeschichte eingetaucht, dass ich unbedingt Geschichten zu ihm und Bela in den 80er Jahren in West-Berlin erzählen wollte. Und das habe ich auch getan, wider besseren Wissens und einem, sich immer wieder meldenden, Bauchgefühl, das „real people fanfiction" mehr als grenzwertig ist - für alle Beteiligten.

Selber schuld, denke ich immer wieder - mit viel Galgenhumor und auch ein wenig amüsiert über meine eigene Naivität. Auch wenn ich sie nie unkritisch gesehen habe, so fühlt es sich an, als hätte ich sie auf die weirde und ambivalente Weise meiner Fanfiktions irgendwie „promotet" und fühle mich eben nun auch in diesem Maße verantwortlich.

Es gäbe noch sehr, sehr, sehr viel zu diesen parasozialen Verbindungen zu sagen, aber ... maybe another time.

Übrigens – ich erwarte von niemandem die eine „richtige" Entscheidung, aber ich erwarte schon, dass Leute, die z.B. zu diesem Fall etwas ins Gästebuch schreiben, sich davor mit den bekannten Details auseinandergesetzt haben. Da habe ich wirklich gestaunt, was da für unkritische „Farin ist mein Idol und deswegen macht er auch immer alles richtig"-Kommentare kamen.


"No Gods, No Masters"
3. Die Konsequenzen, die ich daraus ziehe(n muss)


Das grundlegende Gefühl ist auch Wut, auch betrogen worden sein, auch Enttäuschung, auch Trauer, aber vor allem Ekel.

Stand heute (das kann und darf sich auch alles wieder ändern):
- Ich kann die Musik / Podcasts nicht hören.
- Ich werde nicht mehr zu potentiellen Konzerten gehen.
- Ich werde weiterhin (pop-)kulturelle Produkte konsumieren, aber eben als Konsument*in, nicht mehr als Fan. (Die Reflexion über die Abgründe von Fan sein habe ich ja schon beschrieben.)
- Ich muss nun die viel zu vielen Bilder archivieren, so dass ich nicht ständig über eines stolpere, die Biographien wegsortieren und gefühlt noch 1.000 andere Verknüpfungen wieder lösen.

Ich will nach den neuen Informationen nicht alles schlecht reden. Ich hatte (meistens) verdammt gute 3 Jahre mit der Band, mit vielen von euch Fans (besonders mit euch) und mit den Geschichten, die ich geschrieben habe. Ich möchte, dass der gute Teil bleibt, auch wenn das schwierig wird. Nach dem, was sich jetzt offenbart hat, ist das für mich "einfach" vorbei. Selbst wenn ich Fan bleiben wollte, es geht gefühlsmässig einfach nicht.

Im Austausch mit einem weiteren kritischen Farin-Fan fielen die Worte „wieder eine Independent Woman" zu werden. Und genau darin sehe ich persönlich die Stärke dieses Shitshow-Moments für mich selbst. Es tut mir total gut zu reflektieren, was die Probleme waren / sind am Fan sein und meine Konsequenzen daraus ziehen.

Ich werde jetzt zurückkehren zu einem - meinem - Leben ohne Fansein. Es wird ein bisschen grauer, es wird ein wenig weniger euphorisch sein, aber mir ist der Grundsatz „No Gods, No masters", dann doch persönlich und politisch näher als „Es gibt nur einen Gott ..."




Mein erster Impuls war:
- Alle dä-Fanfiktions löschen.
- Meinen Windmills_ff-Account schließen.

Mein Zweiter:
- Die Geschichte runter nehmen aus dem Ärzte-Fandom.
- Mit geänderten Namen (vielleicht Ole und Mika?) auf einer anderen Plattform wieder hochladen.
- Und sie fertig schreiben.

Mein Dritter:
- Versuchen, „Teenagers in Love" im Ärzte-Fanfiktion-Bereich fertig zu schreiben und die fiktiven Figuren und ihr Tun sehr, sehr viel kritischer darstellen.  

Mein Vierter:
- I don`t know.


Mir ist wichtig, zu sagen, dass diese ganzen Entscheidungen, die Konsequenzen sind, dich ich ziehe - auch wenn sie euch Leser*innen leider mitbetreffen.

Es ist heavy zu wissen, dass meine Entscheidung um die 2.000 Leser*innen und Ärzte-Fans trifft. Es wird - genau wie zu Farin Urlaubs Aktion – viele unterschiedliche Meinungen und Gefühle geben, deswegen ...

Ich bin sehr offen für hilfreiche Vorschläge von euch, was man aus dieser Misere machen kann, so dass die (unfertigen?) Fanfiktions weiter leben können.

Ich werde mir das ganze jetzt noch so 1-2 Wochen überlegen, aber dann auch handeln. Wenn die Entscheidung ist, die Geschichten zu löschen, sage ich auf jeden Fall frühzeitig vorher Bescheid, damit ihr euch die noch herunterladen könnte, wenn ihr mögt.


Ich bin echt froh, dass so vielen Unwillen und Unwohlsein über diese Kollaboration ausdrücken. Ich finde, es sind immer noch nicht genügend. Als es „nur" um Rammstein ging, haben ja viele im Ärzte-Fandom so mit den Augen gerollt über deren Nichtverhalten und deren Fans, also ... Besser sein.

Nichts wird sich ändern, wenn wir nicht die Täter(*innen) outcallen (oder incallen), egal ob sie Ex-Freunde(*innen), Arbeitskollegen(*innen), Verwandschaft oder eben der Star sind, den man so sehr bewundert hat.


Alles Liebe und Gute in diesen turbulenten und wirren Zeiten, The Windmills


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MusicMeToo - Handbuch "Macht und sexualisierte Gewalt - eine Einführung in strukturelle Zusammenhänge



5. Quellen


Die zusätzlichen Quellen sind alle vorsichtig anzusehen, da hier schnell tr*ggernde Bezüge und auch Bilder wie von den R.-Mitgliedern auftauchen. Passt auf euch auf, so gut es geht.

Geschwisterliebe
Farin Urlaub von „Die Ärzte": „Ich, Politiker?! Wenn, dann Blödsinnsminister" F.A.Z. – Podcast für Deutschland
Circa ab 28:50
„Als ich 15 war fand ich Geschwisterliebe also einen Sex-Song mit meiner eigenen Schwester das fand ich total wohooo..."

K.o.-Tropfen-"Witze"
Tagesspiegel - Zu Vorwürfen gegen Rammstein: Die Ärzte greifen mit Witzen über K.-o.-Tropfen daneben

youtube von unrockable21 - Die Ärzte - über Rammstein und KO Tropfen


Informationen, die ich zum Fall Flake gefunden habe
Tagesschau – investigativ: Flake Vorwürfe
Jetzt auch Vorwürfe gegen Rammstein-Keyboarder ‚Flake‘ | DW Nachrichten

Und zu R.s Frontsänger
NDR Podcast – Row Zero


Lyrics
Süßer die Glocken nie klingen
Depeche Mode – Policy of Truth
Fun Boy Three - our lips are sealed
Dusty Springfield - The Windmills of your mind
Garbage - No Gods, No Masters
Etwas bizarr, dass Shirley Manson so einen spiky Kronenkranz im Video trägt.
Donny Osmond - A teenager in Love
Cover by Elena Lukášová - Ta dívka jsem já



Additional Videos
Jahresendfiguren – süßer die Glocken nie klingen

Lady Gaga – Til it Happens to you (original video)
Wikipedia
Til it Happens to you




*

Chapter 59: Swan Song

Chapter Text

*





Hallo liebe Leser*innen!

Es ist jetzt zwei Wochen her, dass ich mich / wir uns mit Farin Urlaub und seinen Freunden zwangsweise auseinander setzen musste/n und genau diese Zeit wollte ich mir geben, um eine Entscheidung zu treffen, wie es hier weiter geht.

Das diese nun ausgerechnet mit der Album-Veröffentlichung und den Video-Releases zusammen trifft, passt leider wie die sprichwörtliche Faust auf`s Auge. In dem einen Video, dass ich mir angesehen habe, hüpfen viele glücklich lächelnde Menschen herum, stehen hinter Flake, der z.T. im Video eines seiner R.-Kostüme anhat, als wollten sie ihm auch sinnbildlich den Rücken stärken.

In diesem Video sieht man auch den Herrn U. und es ist immer noch wie ein Schlag in die Fr***. Theoretisch habe ich auch sehr viele, sehr große Fragezeichen im Kopf, aber praktisch gar nicht, denn dieses musikalische und tatsächlich auch visuelle Schulterklopfen ist für mich persönlich unentschuldbar, egal wie viel oder wenig er Anteil hatte an diesem Produkt. Das er sich überhaupt dafür hergegeben hat, ist das Problem, dass ich damit habe. Und von Bela und Rod und der gemeinsamen Firma etc. "natürlich" auch kein Wort.

Es gibt immer noch mindestens eine Frau, die seit Jahren mit den Nachwirkungen von Flakes direktem Übergriff kämpft und viele Frauen, die unter den Nachwirkungen des - von der Band getragenen - Systems "Row Zero" leiden.

Und was macht einer der angeklagten Täter? Er feiert mit seinen Freund*innen Weihnachten, verdient damit Geld und Beachtung als Künstler.

Maybe this is preaching to the choir, aber irgendwie fühlt es sich so an, als w/sollte ich die ganze Zeit erklären, was daran so unglaublich “falsch” ist. Im Gästebuch wird neben der ganzen R.-Fan Brüllerei auch immer noch so viel relativiert mit “Das hat er sich bestimmt gut überlegt. Da müssen wir ihm einfach vertrauen.”, “Er spielt ja nur Gitarre.” und "Ich wünsche euch ganz viel Friede und Liebe und schöne Weihnachten." geschrieben und ich weiß nicht, was damit gemeint sein soll.

Haben sich diese Leute schon mal den  5-teiligen "Row Zero"-Podcast angehört? Vermutlich nicht, denn danach dürfte es etwas schwerer sein, etwas zu schreiben von "Liebe und Verehrung". Verehrung, eh schwieriges Konzept.

Ich kann und will Künstler*innen nicht von ihrem Werk trennen, denn das würde bedeuten, dass diese auf einmal keine Verantwortung mehr dafür tragen, was sie tun und sagen. Aber diese hat meiner Meinung nach jeder Mensch. Warum sollte das also für berühmtere Leute auf einmal nicht gelten?

Es gibt von Musicmetoo ein detailliertes Handbuch über das Problemfeld “Macht und sexualisierte Gewalt – eine Einführung in die strukturellen Zusammenhänge”, das ich euch sehr ans Herz lege, gerade wenn ihr viele Fragen habt zu meinen Ansichten und meiner Entscheidung.


Was ist nun mit der/n Geschichte/n?

Ich wünschte wirklich, ich wäre schneller gewesen in den letzten 2 Jahren, dann wäre TiL schon längst fertig. Aber leider war ich zu langsam, habe anderen Dingen in meinem Leben Priorität gegeben. Und das war auch gut so. Meine Fixierung auf diese Band war sowieso schon viel zu stark und das hinterfrage ich gerade auch sehr intensiv. Wie viel Zeit und Raum gibt man Menschen und speziell Männern?

Die Verbindungen zu cutten, die ich so lange einseitig geschaffen habe und die mir auch jetzt ungewollt im Alltag ständig begegnen, hinterlässt eine merkwürdige Leerstelle und fühlt sich sehr grau an, aber ich freue mich, dass an diesem Platz nun etwas anderes wachsen kann als Rockstar-Verehrung.

Kurz gesagt: Ich werde die Geschichte(n) nicht löschen, aber mit sehr, sehr großer Wahrscheinlichkeit auch in einer entfernteren Zukunft TiL nicht fertig schreiben.

Am traurigsten bin ich über die unbearbeiteten Themen der 80er. Es wären jetzt die Komplexe Tschernobyl und AIDS gekommen und es ist so schade, dass ich sie nicht mehr im Rahmen einer / dieser Geschichte beleuchten kann.

Tja ... Männer, würde ich jetzt am liebsten schreiben, aber das trifft es nicht, denn es geht hier zwar um Einzelne (auch Frauen btw), aber vor allem um das System namens Patriarchat!

Weiter schreiben werde ich dennoch, u.a. im Rahmen meines Master in Kreativem Schreiben.

Mein nächstes Projekt ist aber erstmal die Überarbeitung einer alten, eigenen Geschichte. Ich habe diese schon vor längerer Zeit gepostet, aber sie ist – mal wieder – zu lang geworden und braucht Überarbeitung. Die Urversion findet ihr auf Fanfiktion.de. Falls ihr also Lust habt auf eine queere Geschichte, dann seid ihr bei Jules und Leo in “Riptide” gut aufgehoben, die ich auf meinem Zweitaccount “TheLifesIneverhad” veröffentlicht habe.

Außerdem gibt es noch meinen Erstaccount “La Chat Noir” mit ganz viel “Die Drei ???” und “Supernatural”-Geschichten.

Es war eine wirklich fantastische Zeit hier und vielen Dank an euch alle, gerade auch die Leser*innen, die mir Rückmeldung und Feedback gegeben haben. Der Austausch mit euch war sehr wertvoll für mich.

Hui, diese Schlußzeilen zu schreiben, tut echt verdammt weh. Wer hätte gedacht, dass das so enden würde …

Was bleibt, ist Musik - sehr viel Musik, die sich dank der Initialzündung von Anouk hier auf der Spotify Playlist "Teenagers in Love" zusammengefunden hat.

Ich behalte das Schöne der letzten Jahre in Erinnerung und freue mich weiterhin von euch zu hören, wenn ihr mögt.


Alles Liebe und Gute, The Windmills / Siggy


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LYRICS

Popular Folksong covered by The Animals - House of the Rising Sun (Cover von Adam Franklin


*

Chapter 60: 1985 - * Fans & Stars *

Chapter Text

*

 

Tja, what can I say ... Da bin ich wieder.

Warum ich weg war?

Falls du dir das nochmal in Erinnerung rufen möchtest, empfehle ich die vorherigen zwei „Kapitel" dieser Geschichte durchzulesen und/oder die besonders gut recherchierte und vorgetragene Zusammenfassung der „Wilden Mädchen" anzusehen.

Aber vorsichtig – es ist echt harter Tobak. Danke für nichts, Farin! Oft befürchtet man, dass Typen nicht safe sind, aber es so vorgeführt zu bekommen ...

 

Also, warum bin ich jetzt dann doch wieder da?

Es ist für mich selbst ein wenig unerwartet, aber die Geschichte hat mich einfach nicht losgelassen, obwohl es mir beim Gedanken an Farin/Flake-Gate immer noch schlecht wird. Ich bin immer noch geschockt und es ist nicht vergessen. Geschockt bin ich aber zusätzlich auch davon, dass Farin seine Zusammenarbeit mit F. - bis heute - nur auf einem sehr wenig in die Tiefe gehenden Level reflektiert zu haben scheint. Zumindest wurde nichts über seinen einzigen post Hinausgehendes kommuniziert.

Besser sein!

Auch das sein Umfeld entweder seine Meinung teilt oder … Ey, keine Ahnung, wie das so passieren konnte!

Die Antwort findet sich vielleicht in FU`s Gästebuch:
Farin, wo nimmst du die gute Laune her?
1. Ignoranz
2. Aus der Tatsache, daß diese Welt kein Stückchen besser wird, wenn ich schlechtgelaunt durch sie laufe.
25.07.2025, 07:52 | XXX

Meine eigene Kritik an mir - nämlich, dass real people fiction anmaßend ist – besteht ebenfalls weiterhin. Etwas zu tun, dass man eigentlich schwierig findet, hinterlässt ein mehr als ambivalentes Gefühl, aber diese Geschichte aus den 80er Jahren im geteilten Berlin berührt mich einfach jenseits der realen Vorbilder immer noch sehr.

Und so hoffe ich, TiL dieses Mal zum Ende im Jahr 1989 zu führen.

Es geht für mich auch nicht um dieses oft beschworene und selten stattfindende “Canceln”. Für mich ist es wichtig, sich kritisch damit auseinanderzusetzen, was
" ich als Fan tue und,
* was “Stars” tun – oder nicht.

Dieses Kapitel stand schon vor dem Abbruch fest und handelt passenderweise von verschiedenen Aspekten der Fan-Star-"Beziehung".

Und es ist eine Hommage an echte, reale Fans ;-) - auch um mal wegzukommen vom Lobhudeln für alte, weiße Männer. Wer das irl ist, wird in den üblichen Links am Ende enthüllt.

 

Wenn ihr die real people fiction-Kritik teilt und lieber Fanfiktions über wirklich fiktive Charaktere lesen möchtet, empfehle ich euch die Geschichten von Polly-Flint auf fanfiktion.de. Sie ist eine sehr gute (Schreib-)Freundin von mir und schreibt in den Fandoms: Die Drei ???, Supernatural und Harry Potter

Viel Spaß mit den Easter Eggs, die ich hier im Text versteckt habe. ;-)

Also dann … Auf ein Noise.

The Windmills

 

 

* Teenagers in Love *

 

 

Links mit Liedern und Bildern im Kapitel und am Ende - as usual.

 

 

1985 – * Fans & Stars *

 

 

20. Oktober - Albert-Schweitzer-Gymnasium, Hamburg

 

Jacky setzt sich den Kopfhörer ihres Walkmans auf, drückt auf die Starttaste und pfeift die ersten Takte von „Wilde Mädchen" mit.

Im Neonlicht des Lehrer*innenzimmers prüft sie mit kritischem Blick den frisch gedruckten Bogen. Die blaulila Farbe erinnert sie zwar immer an die Kopien im Unterricht, aber die lila Farbe passt auch wieder gut in das Konzept von Karo und ihr.

Der Spiritusgeruch des Matrizendruckers brennt in ihrer Nase. Sie hasst und liebt ihn. Zum einen erweckt dieser ihren Traum vom Fanzine zum Leben, andererseits hasst sie Alkohol – genau wie Farin.

Leider sieht Karos bunte Collage ausgedruckt nicht genauso cool aus wie im Original. Da hat sie voll Bock gemacht. Auf der Kopie sind die Gesichter der drei Ärzte eher wie Scherenschnitte. Irgendwie auch cool, aber eben nicht so gut zu erkennen, wie sie es gerne gehabt hätten. Dabei sahen die Drei hier besonders gut aus – besonders Farin mit diesem Lächeln. Wirklich schade.

Jacky setzt mit einem Edding den letzten Strich über das „Ä" auf dem Cover ihres "wilde mÄdchen”-Rundbriefs, dann vergleicht sie den Druck nochmal mit dem Original. Aber auch Belas verwuschelte schwarze Mähne wirkt in dem Licht echt gut und dann eben noch Sahnie, dessen Miene – naja.

Seit sie diese Rundbriefe machen, trudeln jede Woche neue Fanbriefe ein, sogar ein paar selbstgemachte Buttons aus Leipzig waren dabei. Echt cool.

Besonders beeindruckend fand sie aber den Comic von Wolff aus Berlin. Unfassbar gut, wie sie die Gesichtszüge von Farin und Bela einfing. Echt begabt. Diese feinen Bleistiftzeichnungen - manchmal mit coolen Neonakzenten. Oder Tinte. Oder Kohle. Oder Acryl... Es war immer eine Freude Wolffs Interpretationen zu betrachten.

Sie würden sich jetzt in Berlin zum ersten Mal in echt treffen. Vielleicht könnte Wolff ja was zum Konzert zeichnen. Das wäre echt cool für die nächste Ausgabe. Plus die Photos von Karo. Die waren auch immer super.

Es klopft, dann öffnet sich vorsichtig die Tür und Karo lugt hinein.

„Sturmfrei", grinst Jacky. „Die sind grad alle in der Konferenz.”

„Ey, zum Glück. Wenn der Paulsen mitkriegt, dass wir hier gar nicht die Schüler*innenzeitung kopieren.” Sie verzieht das Gesicht, muss dann doch grinsen, ob ihrer Chuzpe.

„Hier." Sie hält Jacky eine Kassette hin.

„Was ist drauf?"

„Na, das ist die Debil."

„Oh, echt? Wie geil. Danke."

„Ich hab das ganze Wochenende vor den Kassettenrekordern gesessen und kopiert. Vor allem auch für meine Cousine Annika in Görlitz. In der DDR kommste echt super schwer da ran."

„Cool."

„Ja. Leider gibt es mit der Anfahrt nach Berlin am Wochenende ein Problem." Karo hält Jacky den Ordner Konzertfahrten entgegen. „Zwei haben abgesagt. Ich ruf gleich mal Jenni an, ob sie noch ein paar gute Leute kennt."

„Danke dir." Jacky streckt Karo die erste Kopie entgegen. „Guck mal, der neue Rundbrief."

„Oje. Das Design hat echt gelitten."

„Aber der Inhalt ist gut. Deine Analyse ist mal wieder premium."

„Das ist mir auch wichtiger als das Aussehen - sozusagen Kerngeschäft."

„Stimmt. ... Haste die Textanalyse von Mein kleiner Liebling schon durchgejagt?”

„Na, klar. Hier.”

Karo überfliegt den Text, den sie dazu geschrieben hat. ,Das Learning für heute ist, wenn die andere Person nicht lacht, ist es nicht witzig. Gilt für viele Witze. Da gibt es auch eine Menge, die ich mir als Frau auch mal anhören durfte. So sexistische Witze, die am Ende doch nur Spaß waren. Haha. Nein, sind sie nicht. Und ein kleiner Tipp: wenn das Gegenüber nicht lacht, vielleicht auch einfach mal fragen, ein bisschen reflektieren und das Verhalten ändern. Man muss nicht perfekt sein, aber in sozialen Interaktionen ein bisschen dazu lernen, ist schon hilfreich.´

Zufrieden nickt sie. „Jo. Passt. Bin gespannt, ob wir wieder so merkwürdige Reaktionen deswegen bekommen.” Sie schüttelt entnervt den Kopf.

Jacky rollt mit den Augen. „Na, wenigstens denken sie dann mal nach.”

„Stimmt auch wieder. Ey, ich fahr dann mal los, um die letzten Details mit dem Busunternehmen klarzumachen. Übrigens - chicer Rock, den du da anhast.”

Jacky grinst und fährt über ihren neuen roten Minirock. „Dankeschön.”

In drei Tagen geht es los. Seit Wochen freut sich Jacky auf ihren gemeinsamen Trip rüber nach West-Berlin. Es ist einfach immer cool, die anderen Fans zu treffen und zusammen zu feiern – auch vor und nach dem Konzert.

Eine Lucy aus Berlin hatte sie letzte Woche angeschrieben, dass sie so aufgeregt ist wegen ihrem ersten Konzert und sie freut sich mit ihr, auch wenn ihr erstes in der Hamburger Fabrik schon eineinhalb Jahre her ist. Das war noch in den Anfangszeiten. Gerade mal 60 Leute waren sie gewesen im Publikum und trotzdem hat es absurd viel Spaß gemacht.

Sie betrachtet das fertige Design noch einmal. Joah. Auch wenn es nicht so schön wie in der Original-Collage ist, es hat Stil. DIY-Style.

 

25. Oktober  – Vor der Deutschland-Halle, 10 °C

23 Uhr. Margarete zieht zum dritten Mal die Decke fester um die Schultern ihrer Tochter.

„Ob er wirklich so groß ist?” Schon hat sich Lucy die Decke wieder runter gezogen und ist aufgesprungen, um zu sehen, wie viel größer der eine von den Ärzten wohl ist als sie. Außerdem ist dieser auch fast zehn Jahre älter, wenn Margarete das richtig ausgerechnet hat.

Lucy hat ihr vor einer Woche mit leuchtenden Augen ihr selbstgemachtes Foto-Album aus BRAVO-Artikeln erklärt, damit sie das Wichtigste über die Band weiß, wenn sie mit zum Konzert kommt. Zwei Stunden hatten sie in der Küche gesessen und auch wenn sie definitiv nicht alles über Bela, Farin und Sahnie verstanden hat, so hat sie die Zeit mit ihrer Tochter dennoch genossen. Schon lange hatte sie sich nicht mehr so intensiv mit Lucy unterhalten.

Sie sieht sich die kleinen Gruppen vor der Halle an. Mit ihren 46 Jahren ist sie mit Abstand die Älteste. Dennoch kommt sie sich dank des kleinen Ärzte-Workshops nicht als komplette Außenseiterin vor. Die Musik kennt sie, dank der Dauerbeschallung, wenn Johannes nicht zu Hause ist, inzwischen auch recht gut.

Die Texte sind, gelinde gesagt, oft mehr als merkwürdig, aber letztens hatte sie sich ertappt, wie sie eine Melodie vor sich hingesummt hat. Ihr waren aber nur die ersten Zeilen eingefallen.

 

Warum hast du mir das angetan?
Ich habs von einem Bekannten erfahren

 

Irgendwas an diesem Lied hallte in ihr wieder und erstaunt merkte sie, dass auch sie sich auf das Konzert freut. Außerdem – sie kennt diese Nächte. Die feuchte Kälte in den Morgenstunden ist dieselbe, die ihr 1964 vor der Hamburger Ernst-Merck-Halle in die Beine kroch, als sie auf die Beatles gewartet hat. Damals hat sie nicht an Decken gedacht. Nur an John.

Sie hält Lucy noch eine Decke hin. Es wäre besser, wenn die Mädchen noch etwas schlafen würden, um für morgen fit zu sein. Aber Lucy und ihre Freundinnen sind viel zu aufgeregt. Sie reicht Daisy und Lizzy dampfenden Pfefferminztee, streicht ihrer Tochter eine Ponysträhne aus dem Gesicht.

Um Mitternacht sehnt sie sich doch nach ihrem gemütlichen Bett, aber … Besser hier frieren, als zu Hause abwaschen, auf Johannes warten, nur um ihm dann dabei zu zusehen, wie er wortlos das Abendessen hinunterschlingt. Kein Lächeln. Kein Danke. Nichts.

Vor einem halben Jahr war er erst nach Hause gekommen, als sie schon geschlafen hatte. Der Geruch nach Alkohol war überwältigend gewesen, aber das Schlimmste war der Duft darunter – viel zu blumig. Seitdem war er häufig erst gegen 22 Uhr zu Hause. Überstunden in seiner Werbeagentur. Natürlich.

Obwohl sie sich oft allein fühlt in ihrer Ehe, hat es doch verdammt wehgetan, zu verstehen, dass er sich wohl nun jemand anderen zum Lieben gesucht hatte als sie.

Nostalgische Erinnerungen an ihre Anfangszeit steigen in ihr auf. Bei „Love me Do" hatte Johannes ihre Hand genommen, was schön gewesen war, doch damals hatte sie nur Augen für John gehabt. Erst nach dem Konzert hatte sie sein Strahlen auf sich bemerkt, das Strahlen des Mannes, der später ihr Ehemann werden sollte.

Und so hatte sie nicht John, sondern Johannes geheiratet. Schade, dass ein Versprechen wie „Ich verspreche dir treu zu sein, in guten und in schlechten Tagen" so selten wirklich eingelöst wird.

Sie lässt ihren Blick über die kleine aufgeregte Meute vor der riesigen Deutschlandhalle wandern und seufzt.

Tatsächlich hatte sie an die hübschen Engländer nur noch bei der Namensgebung gedacht. Nach Lucys Geburt vor 13 Jahren war dann aber so viel Alltag gewesen, dass sie diese fast vergessen hatte. Erst Johns Tod ... Noch immer verkrampft ihr Magen sich, wenn der SFB „Imagine" spielt und seine ruhige Stimme durch ihre Küche schwebt.

Die Küche war der einzige Ort, an dem sie bestimmen konnte, in der großen 4-Zimmer-Wohnung in Charlottenburg. Viel zu oft fühlte diese sich an wie ein goldener Käfig.

Wenn sie wieder anfangen würde, als Sekretärin zu arbeiten, dann könnte sie mit eigenem Geld … Johannes war eh nie da, weder für sie noch für Lucy. Ihr Ehemann wurde ihr mit jedem Tag fremder. Oder war sie es, die sich veränderte?

Sie schaut zu ihrer Tochter, die Lizzy und Daisy enthusiastisch etwas erzählt, in dem sehr oft die Worte „groß” und „blond” vorkommen.

 

*

 

Lucy blickt zu ihrer Mutter, die gerade einem fremden Mädchen ein Butterbrot anbietet. Sie kann es immer noch nicht fassen, dass sie wirklich hier ist, schließlich hat ihr Vater klar und deutlich gesagt, was er von dieser "asozialen” Band hielt. Aber der fand ja alles Scheiße. Sogar die BRAVO, die sie deswegen vor ihm verstecken musste.

Sie nimmt einen Schluck vom Tee. Tut das gut. Ein warmes Gefühl durchströmt sie für ihre Mutter. Von wegen wir fahren zu Oma. Ha! Sie zieht die kuschlige Decke enger um sich. Verdammt kalt, aber egal. Ihr erstes Konzert! Endlich würde sie ihn live sehen, nicht nur in der BRAVO.

Daisy blickt gedankenverloren auf ihr selbstgemaltes Schild. „Ich hoff echt, dass Bela das auch wirklich sieht.”

Lizzy fährt durch ihre frisch rot getönten Haare. Leider färben die Crazy Colors auch die Hände immer etwas mit, aber egal. „Ey, wenn das mit der ersten Reihe klappt, dann ...”

Manchmal fühlt sich Lucy ein bisschen außen vor, weil ihre Freundinnen so totale Bela-Fans sind.

Daisy grinst sie an und springt auf und ab. „Echt cool, dass deine Mutter mitgekommen ist." Ihr hellbrauner Pferdeschwanz schwingt hin und her. „Ohne sie hätte mir meine das nie erlaubt."

Als die Sonne endlich aufgeht, leuchten ihre Atemwolken in der kalten Luft golden auf. Hoffentlich schaffen sie es in die erste Reihe. Lucy zählt durch. Hier waren mindestens 50 weitere Fans und die meisten viel älter als sie. Von einigen hatte sie schon merkwürdige Blicke abbekommen. Sie strich über ihren Faltenrock, der von der langen Nacht sehr mitgenommen aussah, dann drückte sie den Rücken raus. Auch wenn sie nicht so punkig aussah, denen würde sie es schon zeigen.

Ein paar Stunden später beginnt das lange Warten nun doch an ihren Nerven zu zerren. Müde. Zum x-ten Mal schleppt sie sich in das kleine Café, das ein paar hundert Meter die Straße runter liegt. Inzwischen sind die dort so genervt von ihnen, dass sie verlangen, dass man etwas kauft. Sie bringt ihrer Mutter einen Kaffee mit, den diese dankbar annimmt.

Am Nachmittag wird das Gedränge dichter. Nervös zupft sie an ihrem Zopf. Ist sie wirklich bereit den Dreien heute gegenüberzutreten?

Um 18 Uhr öffnen sich vor ihnen die Türen zur Halle und schnell rafft sie alles zusammen, drückt es ihrer Mutter in die Arme und geht entschlossen auf den Security zu.

Kurze Leibesvisitation. Ihre Mutter mustert argwöhnisch die Hände des Mannes. Der fragt nicht mal, wie alt sie ist. Das war ihre größte Befürchtung gewesen. Das sie vielleicht als die jüngste ihrer Clique mit ihren 13 Jahren einfach nach Hause geschickt wird. Aber schon ist sie drin. Sie dreht sich nochmal um und ruft ihrer Mutter „Wir müssen schnell los. Bis später!" zu.

„Ich drück euch die Daumen, Schatz!", hört sie noch mit einem halben Ohr, dann rennt sie mit Daisy Hand in Hand los.

„Bela!", brüllt Lizzy, obwohl die Halle noch komplett leer ist. Lucy zieht sie nach rechts. Aber schon werden sie von älteren Fans abgedrängt und landen schließlich viel zu weit links. Egal: erste Reihe. Geschafft. Sie lassen sich vor der Absperrung nieder.

Noch eine gute Stunde, dann würde es losgehen. Besser nochmal was trinken und auf`s Klo. „Passt ihr auf meinen Platz auf?”

„Klar”, antworten Daisy und Lizzy im Chor.

Als sie eine halbe Stunde später versucht sich in die erste Reihe zurückzudrängen, kommt sie nicht durch und das, obwohl sie so klein und wendig ist. Aber diese großen Typen sind wie die Mauer durch Berlin, trennen sie von der Bühne. Sie stellt sich auf die Zehenspitzen. Über das Meer aus Köpfen sieht sie Daisy und Lizzy ihr verzweifelt zuwinken.

„Hey, alles okay?” Neben ihr steht eine große Frau mit einem blonden Pferdeschwanz.

„Ich komm nicht mehr zu meinen Freundinnen zurück. Die sind ganz vorne.”

„Das kriegen wir schon hin.” Die Frau drängt sich zwischen zwei großen Männern durch und zieht sie an der Hand hinter sich her.

Nach viel Geschubse und Rippenstößen fällt sie Daisy in die Arme. „Danke, ey, vielen Dank”, ruft sie der Frau zu.

Diese grinst. „Kein Problem. Ich bin übrigens Jacky.”

Lucys Augen werden groß. „Die von den wilden mÄdchen mit dem Rundbrief?”

„Genau. Ich glaub es geht gleich los. Ich muss mal rüber zu meiner Freundin.” Sie winkt einer Frau zu, die ein paar Reihen hinter ihnen steht und ziemlich cool aussieht. Die Ohrringe hätte sie auch gerne.

„Viel Spaß euch.”

„Werden wir haben”, grinst Lucy.

Die Lichter in der Halle werden dunkel. Die Menge hinter ihr johlt und schreit wie ein riesiges Tier.

Von der Bühne spülen sie die ersten Töne des Intros wie eine Welle mit, dann wird sie hart an das Absperrgitter gedrückt und ihr bleibt die Luft weg. Einen Moment wird ihr schwarz vor Augen, dann stemmt sie sich gegen den Druck und atmet erleichtert durch.

„Bela ist so Zucker”, schreit Daisy neben ihr mit roten Wangen.

Lucy klatscht mit und versucht sich in diesem Chaos aus Lichtblitzen, brüllend lautem Sound und der Hitze in der Halle zu orientieren. Bisher hat sie es noch nicht mal geschafft, wirklich zu checken, was auf der Bühne los ist. Sie blickt hinauf und da steht er. Nur ein paar Meter von ihr entfernt. Er steht wirklich vor ihr und er ist sogar noch größer, als sie dachte. Sein Bass wummert sich bis in ihr Herz. Sahnie!

Er zwinkert gegen das grelle Licht an und fixiert die Menge. Sein Blick schwenkt über die erste Reihe, bleibt für eine Sekunde auf ihr hängen. Oder? Lucy grinst und Sahnie hebt eine Augenbraue, zwinkert dann – vielleicht ins Dunkel hinter ihr oder aber …

Sie lächelt ihn an, winkt ihm zu und tatsächlich, er lächelt zurück. Es brennt in ihrem Herzen und für einen Moment geben ihre Knie nach.

Das erste Riff von „Du willst mich küssen" zündet und die Halle explodiert komplett um sie herum. Daisy und Lizzy reißen ihr „Bela, ich will dich küssen"-Schild hoch und Bela schenkt den Beiden ein Schmunzeln und einen Luftkuss.

Am Ende des Songs kommt er vor an den Bühnenrand und wirft einen seiner Drumsticks in ihre Richtung. Daisy streckt ihren Arm nach ihm aus, dann bricht ein Tornado aus Händen über Lucy herein. Nur nicht hinfallen, denkt sie panisch.

Hände ziehen sie wieder hoch. Neben ihr hält Daisy im Strobo-Geflacker den Stick hoch. Ihre beiden Freundinnen schreien los und fallen sich in die Arme. Auf ihrem ersten Konzert hat sie einfach einen Stick direkt von ihrem absoluten Star gefangen.

Hinter ihnen beginnt die Masse etwas zu grölen, dass nach „Vollmilch, Vollmilch” klingt. Aber Sahnie beginnt etwas anderes zu spielen. Sie hört Farin zum Basslauf schnipsen und dann singen die drei auf der Bühne zusammen mit der ganzen Halle: „Ich war grade auf dem Weg …"

Lucy entdeckt ihre Mutter rechts von der Bühne. Sie hat sich an die Wand gelehnt und wenn sie das richtig deutet, flirtet diese mit einem der Securities. Sie freut sich für sie, auch wenn es ein seltsamer Anblick ist.

Auf einmal werden wir total nach links abgedrängt und stehen plötzlich vor Farin, der gerade singt: ”Mädchen, Mädchen, Mädchen - Marilyn Monroe, Nastassja Kinski, Boy George und Nena Kerner ...”Und wir singen mit ihm.

Lucy ist ungefähr auf Höhe von Farins Händen, die sich auf den Saiten doppelt so schnell wie ihre Realität zu bewegen scheinen.

Das Lied ist zu Ende und Farin dreht sich zu Bela, so dass sie das Lied synchron beenden. Dann nicken sie sich beide zu und die Akkorde des nächsten Songs rauschen durch die Halle.

Lucy brüllt den Text mit. Das ewige Gedrücke von hinten hört auf einmal auf und dankbar atmet sie ein, dann wird sie weggerissen in einen Wirbel aus Armen, Ellbogen und verschwitzten Körpern. Verdammt ist das schwer, sich auf den Beinen zu halten. Es ist mehr als wild und sie hat Angst, dass sie fallen könnte unter all die Füße, aber irgendwie ist es auch geil.

 

Dann bin ich ein Star
Der in der Zeitung steht
Und dann tut es dir Leid
Doch dann ist es zu spät
Zu spät, zu spät, zu spät
Doch dann ist es zu spät

 

Ein unbekannter Typ grinst sie an und auf einmal ist das Waschmaschinengefühl weg und irgendwie auch die Bühne, sondern nur noch die Musik, der moshpit und ihr wilder Körper.

 

Deutschland-Halle, Backstage

Ich knall die Tür zu. Das „Zugabe! Zugabe!"-Gebrüll dringt durch den Gang. Ich brauch was zu trinken und zwar sofort. Am besten was Härteres, um meinen Frust wegzubrennen, aber ein Bier tut`s zur Not auch. Neben mir hebt Jan sein T-Shirt und wischt sich damit über das Gesicht, grinst mich verschwitzt an: „Geil, wa?"

Trotz meiner schlechten Laune, heben sich meine Mundwinkel. Ich lieb es, wenn er so strahlt mit seinen roten Wangen.

„Axel wollte wat von mir. Bin gleich wieder da.” Er küsst mich auf meine verschwitzten Haare und schon ist er weg..

Ein großer Schatten neben mir. Hans. In der Umkleide lässt er sich breitbeinig auf eine der Holzbänke fallen und schnallt seinen Bass ab, der wie ein Fremdkörper an ihm hängt. Genauso spielt er den auch.

„Du könntest echt mal `n bisschen mehr Tempo geben, Felse!” Seine Stimme ist leise, aber hat Biss.

Ein Knurren steigt in mir hoch, was er aber nicht hört oder ignoriert. „Pfffff. Du spielst grad mal die Hälfte der Töne richtig”, fauch ich. „Und mit deiner Bühnen”show” … Da is ja `ne Schrankwand aus rustikaler Eiche coller und hat mehr Sexappeal.”

Farin kommt zur Tür rein und sieht mich erstaunt an.

Hans geht in diese typische defensive Position mit gebeugten Schultern, die ich so an ihm hasse. „Außer dir hat da keiner ’n Problem damit. Die sind doch total ausgeflippt da draußen. Außerdem find ich manche Lied halt einfach nicht so geil. Von wegen Mr. Sexpistols.”

Wahrscheinlich weil es von mir ist. Ich versuch, ihn mit einem Blick zu töten, aber er tut einfach nur cool, so als wär ich hier das Problem.

„Stell dich nicht so an. Hauptsache, die Mädels kreischen. Sind ein paar ganz Süße, wenn auch ein bisschen junge, in der ersten Reihe.”

Ich pfeffere die Sticks auf den Schminktisch und bau mich vor ihm auf. „Dit hier is keene Playback-Show, S-a-h-n-i-e! Dit is die verdammte Deutschlandhalle."

„Hey.” Farin sieht zwischen uns hin und her, macht eine beschwichtigende Geste in meine Richtung. „Wir müssen gleich wieder raus. Wär schön, wenn ihr euch auf der Bühne nicht ...” Er sieht uns nacheinander beide lange an.

„Gern, wenn alle vernünftig spielen”, spuck ich in Hans Richtung. „Nich nur zwei."

„Du bist auch nicht immer im Takt, Felsenheimer."

„Fresse, Runge."

Hans knackt mit seinen riesigen Pranken und schlurft zum Spiegel, um sich seine uncoole Popperfrisur zu richten. „Punk lebt vom Feeling.”

„Da spricht ja genau der Rich....”

Axel steckt hektisch den Kopf zur Tür rein. „Ey, wo bleibt ihr? Die zerlegen draußen gleich die Halle, wenn ihr nich nochmal was spielt."

Hans nutzt die Gunst der Stunde zur Flucht.

„Hey, wir sin noch nich fertig.” Ich hechte ihm hinterher, aber Farin hält mich an der Schulter fest.

„Lass ihn. Dit Publikum is geil druf und jetz spieln wir noch drei Songs und dann …" Er beugt sich zu mir runter, küsst mich auf die Wange, aber ich schüttel ihn ab.

„Der nervt einfach so hart ab.”

„Jetz verdirb dit nich, Bela. Bitte.”

„Mann, ey.” Ich wie in einem Tunnel, nur seinen flehenden Blick auf mir. „Wenn ihr mich beide so scheiße findet, dann kann ick och aussteigen.”

Jans Hand auf meiner Schulter drückt auf einmal so fest, dass es weh tut. „Ey, jetz krieg dich ma wieder ein.”

„Icke? Du bist echt so blind.” Ich pack meine Sticks und stürm an ihm vorbei.

 

S-Bahn nach Charlottenburg

Nach dem Konzert hab ich mich wieder beruhigt, aber nun ist Jan extrem wortkarg. Wir drücken uns in den vollkommen überfüllten S-Bahn-Waggon.

„Heeeeeyyy, Bela. Geil. Ey, Tommi, schau mal wer hier ist. Das ist ja krass. Ihr fahrt echt mit der …”

Jan dreht sich schnell weg und zieht seine Mütze tiefer in die Stirn, aber vorne lugen immer noch die blonden Strähnen raus.

„Kann ich `n Autogramm haben?” Der Typ hält mir seine Eintrittskarte vor die Nase und ich kritzel mit einem Edding, den ich inzwischen immer dabei hab, ein schnelles Bela B drauf.

„Kannste mir auch noch eines für meine Freundin machen?” Er hält mir ein zerknittertes Blatt Papier hin, dass er aus seinem Rucksack gekramt hat und ich will nicht unfreundlich sein. Außerdem lässt er dann vielleicht locker.

„Lass uns die nächste raus”, flüstert mir Jan genervt zu.

„Aber dann müssen wa ja `ne halbe Stunde laufen.”

„Ja, aber …”

„Farin kannste …”

„Nächstes Mal nehmen wir die Räder. Oder `n Taxi”, murrt Jan, als wir die Kantstraße runterlaufen.

„Na, so große Rockstars sin wa nu och nich.”

„Ja, vor allem wenn der Herr Felsenheimer aussteigen will.” Seine sonst so melodische Stimme ist wie trockenes Laub.

„Dit … Ick war halt mal wieder so genervt von Hans.”

Er zuckt mit den Schultern und ich weiß nicht, ob ich ihn gerade erreiche.

„Außerdem kann ick och gar nich aussteigen, weil …" Mit einem Stechen in der Brust, sehe ich vorsichtig zu ihm hinauf. „Also, weil …”

Er hebt die Augenbrauen. „Weil …?"

Mein Hals fühlt sich trocken an. „Naja, ick brauch ja och dit Geld”, drucks ich rum.

„Aber wird ja langsam.” Es klingt versöhnlich. „Die Kohle von der GEMA war echt krass. Ich bin fast umgefallen, als ich die Summe auf dem Konto gesehen hab. Kann man sich echt dran gewöhnen, wa, einfach mal keine Geldsorgen zu haben."

Ich schluck. „Naja, ick …  also, ... ick hab trotzdem irgendwie welche."

Er bleibt stehen. „Okay … Wat meinste denn mit irgendwie?"

Ich starr auf die dunkle Schaufensterscheibe vor mir. „… Also, äh, ... ick hab Suzi ’n bisschen Geld geliehen."

Jans Miene verhärtet sich schlagartig wieder. „’n … bisschen?"

Ich beiß mir auf die Lippe, schieb eine Hand in die Tasche. „Mhm."

„Will ick wissen, wie viel?" Sein Blick brennt auf mir.

Mein Gesicht brennt auch, aber die Frage lässt sich nicht abschütteln.

Sein Blick verengt sich, sein Schweigen ist kalt – wie ein Schlag ins Gesicht.

„Aber die Miete hab ick jetz doch immer gezahlt."

Er klatscht ganz langsam in die Hände. „Ja. … Wirklich ganz toll.”

Dieses Mal bleib ich stehen. „Dit is immer noch mein Geld.”

„Klar!” Er schüttelt den Kopf. „Du bist echt so … Ick weiß nich, ob ick deine Hilfsbereitschaft gut oder einfach nur dumm find.”

„Die zahlt dit doch zurück.”

„Mhm. … Wie viel war dit nu?”

„…”

„Alles?”

„Naja, den Großteil.”

„Ernsthaft? Die Ausschüttung von der GEMA waren 5.000 €.”

„Bei mir nur 3.000.”

„Okay? Er runzelt die Stirn.

„Ick hab ja immer weniger Lieder auf den Platten als du.” Jetzt fühl ich mich wirklich irgendwie dumm.

„Oh. … Stimmt”

Endlich biegen wir in die Niebuhrstraße ein. In der kühlen Nachtluft schmeck ich zum ersten Mal wieder den Kohlerauch-Gestank der Stadt. Mist. Kohlen müssen wir ja auch noch bestellen. Und zahlen.

 

Niebuhrstraße 38b, Charlottenburg

Jan und ich stolpern durch den Hinterhof auf unsere Haustür zu.

„Mann, ey. Ick muss so pissen.” Ich rüttel an der Klinke

„Beeeelaaaaa!", kreischt es auf einmal hinter mir durch den Hof. „Faaariiiin!"

Zuerst halte ich es für akustische Halluzinationen von der Tour, aber als ich mich umdreh stürzen drei Gestalten aus der Dunkelheit auf uns zu. Eine davon kommt mir bekannt vor.

„Heeeeyyyy!", schreien die Mädchen.

Auf Jans Gesicht spiegelt sich blanke Panik, dann werden seine Augen schmal. Er mustert die Eindringlinge.

„Wo wart ihr denn?" Die Schwarzhaarige, die ich so auf knapp 18 schätze, klingt richtig vorwurfsvoll.

„Dit geht dich ja wohl überhaupt nüscht an", faucht Jan.

„Äh, hi!" Ich tret schnell einen Schritt vor ihn. „Wat wollt ihr denn hier?"

„Na, euch sehen!"

„Das wäre beim Konzert in der Deutschlandhalle wohl besser gewesen heute." Jans Stimme ist einfach nur hart.

„Keene Kohle." Die drei Mädchen sehen traurig aus und sofort tun sie mir leid. Kein Geld haben ist echt scheiße.

„Aber dafür hat`s dann trotzdem gereicht, oder was?" Jan deutet hinter die Mädchen.
Aus der hintersten Ecke leuchtet mir orange ein Zelt entgegen. „Dit is jetz aba nich euer Ernst, oder?"

„Ach, das geht schon. Is nich zu kalt, falls ihr euch deswegen Sorgen macht. Beschwert hat sich auch noch keiner", sagt die Rothaarige. „Ich bin übrigens Sandra."

„Aber ick find dit nich okay. Gar nich okay." Jans Stimme klingt wie eisige Polarluft.

„Aber bisher hat sich doch niemand aufgeregt", mischt sich die Dritte ein, die blond ist. Mit ihren Haarfarben ergeben sie die perfekte Deutschlandflagge ab.

„Dit is mir egal, was die anderen sagen. Dit is unser Zuhause", fährt Jan mit schneidender Stimme fort. „Unseres! Kapiert."

„Naja, nu …", versuch ich einzulenken.

„Pfff." Jan klopft hektisch seine Hosentaschen ab..

„Können wir vielleicht `n Autogramm haben?”

„Ey, Mädels. Jetz nich, okay. Wir sind müde und ... Mann, Jan, mach ma hinne. Ick muss so pissen.”

Er hält inne, dreht sich zu mir und sieht mich einfach nur stumm an. „Wo is dein Schlüssel?”

„Weiß ick nich”, gesteh ich kleinlaut. „Äh, sorry, aber ..." Ich geh an den Mädchen vorbei, an ihrem Zelt, an ihrem Campinggaskocher und stell mich weit entfernt davon an das Gebüsch an der S-Bahn-Trasse. Oh, tut das gut.

„Hab den Schlüssel", hör ich Jan erleichtert rufen.

Sandra und ihre Deutschlandflagge sehen fasziniert von Jan zu mir. Schnell zieh ich meinen Reißverschluss hoch. „Ey, also, wir müssen pennen und ihr ... Wär schon besser, wenn ihr das hier ma wieder abbaut. Hier wohn ja och noch andere Leute, die ham nich so viel Bock wie ihr auf so Rock `n Roll-Chaos. Dafür bekommt ihr auch `n Autogramm."

Sie überlegen. „Vielleicht morgen”, erklärt die Kecke. „Außerdem woll`n wir `nen Kuss dafür.”

„Ma sehn. Erstma abbauen, nee!" Ich spazier durch die von Jan demonstrativ aufgehaltene Haustür.

„Un-fucking-fassbar!", murmelt Jan.

„Sin halt einfach Groupies", grins ich. „Is doch och schmeichelhaft.”

„Nich für mich. Ick will hier einfach meine Ruhe.”

Als die Tür hinter uns ins Schloss fällt, küss ich ihn auf seine spitze Nase. Er zuckt zusammen und sieht schnell zur Haustür, aber es sind keine Gesichter hinter der Scheibe zu sehen. Langsam entspannt sich Jans leicht angefressene Miene wieder. Er zückt den kleinen Briefkastenschlüssel und hält dann inne, seine Augen werden wieder schmal.

„Was `n dit für `n Scheiß?" Er deutet auf die dicke Eddingschrift unter Felsenheimer / Vetter.

„Ich liebe dich, Bela! Deine Sandra.", lese ich laut vor und drehe mich triumphierend zu ihm um. „Na, dit is doch eindeutig. Sandra liebt mich."

„Ick meinte, dit hier." Jan deutet auf das Blech an einer Ecke unseres Briefkastens. Es ist verbogen. Vorsichtig schließt er auf, weil sich normalerweise jedes Mal eine kleine Lawine aus Fanbriefen daraus ergießt. Aber da sind nur fünf mickrige Umschläge.

„Meinste, die ham …"

Er nickt und seine Schultern fallen schwer nach unten.

„Ob dit diese Sandra war?"

„Oder Betti. Oder Monika. Oder Gabi. Oder Becky oder wie die alle heißen." Er sieht richtig genervt aus. „Vor allem ham die jetze meine Italienphotos. Die sollten nämlich letzte Woche ankomm. Mist, verdammter." Er schlägt mit der Faust gegen die Wand.

Ich hab ihn selten so wütend gesehen. Die Wangen knallrot, sein Blick brennt.

„Ick frag die morgen danach, okay? Du bist viel zu sauer grad."

Sein Blick lasert ein paar Momente die Haustür, dann sackt er in sich zusammen. „Ey, Mann, was für `ne Scheiße."

„Tut mir echt leid." Vorsichtig leg ich meine Hand auf seine Schulter, spür seinen kurzen Impuls mich abzuschütteln, aber dann seufzt er nur. .

„Da warn auch die Photos von Felice und Mattia dabei. Ick hab ihnen versprochen Abzüge zu schicken."

„Ick versuch morgen die zurückzukriegen, okay?"

Er drückt meine Hand. „Manchma da wünscht ick, dass wa dit früher gecheckt hätten, dass wa unsere Adresse nich öffentlich raushauen."

„Na, wir konnten doch nich ahnen, dass dit mit dem reich und berühmt werden so gut klappen würde.”

„Fluch und Segen, wa?”

„Mhm.”

„Bei meiner nächsten Wohnung werd ich die Adresse auf jeden Fall geheim halten.”

„Nächste Wohnung?” Ich dreh mich so schnell zu ihm, dass mir schwindlig wird.

Sein Blick weicht meinem aus. „Naja, wir werden doch wahrscheinlich nich ewig hier wohnen, oder?”

„Weiß nich.” Es tut mehr weh, als ich mir zugesteh zu fühlen. „Aber wir ham doch jetz dit Postfach und  ..."

„Schon, aber … Dit Kind is halt schon in den Brunnen ..." Er seufzt, als wär er ein alter Mann.

 

*

 

Am nächsten Morgen sieht er extrem missmutig aus und das, obwohl er sonst oft ein unerträglich strahlender Morgenmensch ist.

„Hab echt scheiße geschlafen wegen …” Er deutet nach draußen. „Ein Wunder, das sich die olle Pachulke noch nich bei der Hausverwaltung beschwert hat. Oder die blöde Ruppert. Aber dit is nur eine Frage der Zeit. Da kannste Gift drauf nehmen."

„Ja, aber da sitzt ja meine Muuu-huuutter", versuch ich ihn positiv zu stimmen.

„Ja, schon, aber ... Soll die dann dit Zelt räumen lassen, oder was?”

„Quatsch.” Er sieht so unglücklich aus. „Weeßte wat?”

Es klingelt und ich will schon auf den Türöffner drücken, aber Jan sagt nur „Nich.” Er öffnet vorsichtig das Badfenster, um den Eingang zu checken. Sein Seufzer verrät alles.

„Wir stellen die Klingel einfach ab”, schlag ich vor.

„Und wie kommen dann unsere Freund*innen rein?"

„Ähm … Also, … Die müssen uns dann wohl vorher aus der Telefonzelle am Stutti anrufen."

„Tolle Lösung …", grummelt er.

Mir fällt sein „nächste Wohnung” von gestern Abend wieder ein. „Haste `ne Bessere?"

Er schüttelt den Kopf und nun fühlt sich auch mein Herz schwer an.

 

*

 

Tatsächlich bekomm ich am Nachmittag die meisten Photos zurück.

„Is dit seine Freundin?", fragt mich die, die wohl Sandra heißt und hält mir ein Photo von einer jungen Frau in einem weißen Sommerkleid auf sonnengebräunter Haut entgegen. Ihre schwarzen Haare glänzen. Meine hochtoupierte Pracht ist nur stumpf. Das ist sie also. Etwas unangenehm Kribbeliges steigt in mir hoch.

„Ist das in Italien? Oder Spanien?”, fragt die Blonde.

„Ey, jetz ma ernsthaft: Dit geht euch nüscht an." Ich pack die Photos weg.

„Och, menno.” Die Rothaarige schiebt ihre Unterlippe vor. „In der BRAVO steht halt nie was über euch."

„Da steht mehr als genuch drin."

„Ja, okay. Aber halt nichts Privates."

„Merkste, wat? P-r-i-v-a-t! Ihr könnt froh sein, dass euch Jan nicht mit `ner Mistgabel vertrieben hat.”

„Meinste mit Jan Farin?” Ihre Augen glänzen.

„Is besser ihr baut jetz ma dit Zelt ab.”

Sie verschränkt die Arme. „Nööö. Erst `n Kuss.” Sie deutet auf ihre Wange.

Alter! Die sind echt ganz schön krass unterwegs.

 

*

 

Jan weint fast, als ich ihm die Abzüge von dieser Felice in die Hand drücke.

„Na, biste jetz zufrieden?"

Er nickt. „Danke. Diese blöden Gören, ey. Sin die jetz wenigstens …?” Er geht zum Badezimmerfenster. „Dit is echt zum Kotzen. Warum …?”

„Sorry, ick konnt sie nich überzeugen.” Vom Kuss sag ich besser nichts. Das blöde is … „Duhu?"

„Mhm?" Er lehnt sich an die Badtür.

„Ick ... also, ick muss los."

„Okay. … Wohin denn?”

„Also, ick hab sie ja wegen der Tour  ...”

Er verzieht das Gesicht. „Du willst jetz zu ...?" Er sagt ihren Namen nicht, aber seine Miene macht klar, dass er weiß, dass es um Suzi geht.

Ich nicke.

Er zuckt resigniert mit den Schultern.

„Weiß noch nich, wann ick zurück komm."

Wieder dieses Zucken mit den Schultern. „Schön, dass es euch wieder so prima geht."

Ich pack schnell meine Sachen um, will nur noch los zu Suzi. Wenn Jan so `ne Laune hat, dann …

Ich stell mich auf die Zehenspitzen und küss ihn. Obwohl er nur genervt wirkt, fühlen sich seine Lippen traurig an.

„Also, dann ... bis bald."

Er dreht sich um und geht in sein Zimmer.

 

 

26. Oktober - Irgendwo im Voralpenland

Silke mag den goldenen Herbst hier. Die Blätter leuchten golden und wenn an klaren Tagen die Berge sich aus dem Dunst schälen, dann ist das hier der schönste Ort der Welt – zumindest von außen betrachtet.

Ihr Blick schweift zurück ins Badezimmer. Die Fliesen hier sind auch gelb, aber auf eine grelle Weisel. Sie drückt den Tesa fest. Auf dem roten Kreuz der Hausapotheke klebt nun das neueste BRAVO-Poster von Farin Urlaub. Sein breites Grinsen ist wie die Sonne, die sie zuhause oft nicht fühlen kann und auch nicht in ihr selbst. Einfach mal so sorgenfrei sein wie der große Blonde.

Sie hat ihren großen Kassettenrecorder mit ins Bad genommen und drückt auf Start. „Mädchen” erklingt. Sie versucht mitzusingen, lässt ihre Stimme tiefer klingen als sonst, versucht sich an einem ähnlich sonnigen Grinsen, aber …

Auf der Fensterbank warten Wasserstoff­peroxid und die viel zu stumpfe Friseur­schere ihrer Mutter. Noch einmal streicht sie sich über ihre langen, straßenköterblonden Haare. Brav, so brav und …

Gestern hat Lisa geschwärmt, Farin sei „sooo süß". Sie hat nur ihre glänzenden Augen wahrgenommen, die statt auf ihr auf diesem Poster lagen.

„Mach die Höllenmusik aus!", ruft ihre Mutter aus dem Flur. „I hob dir des scho tausendmoi gsagt.”

„Glei!" Silke atmet tief durch, klemmt die erste Strähne zwischen Finger und Klinge. Schnipp. Das Haar fällt wie ein verendeter Spatz ins Waschbecken. Noch ein Schnitt. Noch einer. Jede Locke ein Stück Freiheit, ein Stück mehr sie.

Ihr Gesicht wirkt jetzt so anders. Jetzt nur noch das Wasserstoffperoxid. Puh, das brennt. Sie reißt das Fenster auf und, beobachtet im Spiegel wie sich langsam das platinblond herausschält.

„Kruzifix, jetz mach endlich die Musik …” Die Badezimmertür fliegt auf. Das Gesicht ihrer Mutter wird bleich. „Um … Ja, um Himmelswuin. … Silke, wos …Du schaugst ja aus wie da Thomas von nebenan!" Ihre Stimme schrill wie eine Sirene.

Sie sieht in den Spiegel. Ja. Genau das was sie wollte. Mehr wie Thomas, einfach mehr wie ein Ju…

Ihr kleiner Bruder taucht im Türrahmen auf. Seine Augen werden groß. „Boah … cool. Darf I des a?"

Das Gesicht ihrer Mutter zeigt immer noch absoluten Horror. „Ja, spinnt`s ihr jetz alle."

Das nächste Lied: „Zu spät, zu spät …” und sie kann sich das breite Grinsen nicht verkneifen.

 

 

7. Oktober 1985 – Niebuhrstraße 38b, Charlottenburg

Sandra, Betti und Moni hocken seit einer Stunde vor dem fauchenden Camping-Gaskocher im Hinterhof. Der Wind weht die Flamme mal hier hin, mal dorthin, aber im Zelt wäre es zu gefährlich. Außerdem ist es schön, in dieser Kälte einfach mal ein bisschen Wärme zu haben. Und Licht. Es wird so früh dunkel.

Sandra zieht ihre Knie eng unter ihr Kinn und sieht in den alten Kochtopf, den sie zur „Backform" umfunktioniert haben. Wirklich nach Marmorkuchen sieht das Gebilde darin allerdings nicht aus.

Abwechselnd hält jede von ihnen den Deckel fest, damit die Hitze nicht entweicht, denn – so behauptet zumindest Betti: „Marmorkuchen braucht gleichmäßige Oberhitze". Oberhitze! Auf einem Gaskocher!

Der Duft von halb angebranntem Teig mischt sich mit dem Campinggas – köstlich und widerlich zugleich.

Trotzdem klatschen die drei sich leise ab, als die marmorierten Wirbel an der Oberfläche endlich fest werden. Moni sticht prüfend mit einem kleinen Ast hinein: „Bleibt kaum was kleben – perfekt!"

Sie strahlen sich an, als hätten sie soeben ein Fünf-Gänge-Menü gezaubert. Mit Topflappen – genauer: Bettis hochgekrempeltem Ärmel – kippen sie das unförmige Gebäck auf einen Pappteller, bestäuben es großzügig mit Puderzucker.

Jetzt nur noch warten bis ...

Endlich – um kurz nach sieben – geht oben im zweiten Stock in dem Raum, der vermutlich das Bad ist, Licht an.

„1 – 2 – 3! Faaaaaaariiiiiin!”, brüllen Sandra und Rita zu dem erleuchteten Fenster hoch.

„Yeah." Ein Jubeln geht durch sie, als sich tatsächlich das Fenster öffnet und ein sehr, sehr verstrubbelter blonder Kopf erscheint.

„Alles Gute zum Geburtstag, Farin! Komm runter. Wir haben eine Überraschung für dich!", versucht Sandra enthusiastisch ihren noch dampfenden Kuchen anzubieten.

„Äh, also … Ick hab keen Hunger und …”

Unter ihm geht ein Fenster auf. „Wenn hier nich gleich Ruhe is, dann ruf ick die Polizei!”, kreischt die olle Spinatwachtel und ist damit definitiv an diesem frühen Morgen die Lauteste. „Sitten sind dit. So was hät`s früher nich gegeben.” Das Fenster knallt wieder zu.

„Ähm ... okay, dann ... komm ick halt schnell runter." Irgendwie klingt er heute morgen anders. Meist war er einfach nur genervt und wütend, aber gerade ...

Sie stellen sich vor der Haustür auf.

Farin – Jan – kommt zögernd die Treppe hinunter. Seine Haare sind wirklich ganz wunderbar vom Schlaf zerzaust, findet Moni. erdammt. Er sieht sogar so verpennt voll süß aus. Fast wie in Richy Guitar. Ihr Herz trommelt noch heftiger in ihrer Brust. .

Langsam öffnet er die Haustür. „Äh … Guten Morgen." Er klingt müde, aber nicht abweisend.

„Einen Moment noch." Betti versucht, im Wind die Kerzen auf dem Kuchen anzuzünden und endlich klappt es.

„Wir hatten leider keine 22 Kerzen." Die Mädchen strecken Farin ihr Gaskocher-Meisterwerk entgegen. Puderzucker rieselt auf seine nackten Füße.

 

„Happy Birthday to you, Happy Birthday to you,
Happy Birthday, lieber Farin, Happy Birthday you.”

 

Sie versuchen, es so zu hauchen wie Marilyn für JFK gesungen hat. Schließlich hat Farin in der BRAVO gesagt, dass er die gut findet. Doch die weiße Atemfahne vor ihren Gesichtern sieht eher traurig aus.

„Alles Gute zum Geburtstag! Den haben wir extra für dich gebacken", erklärt Moni stolz, obwohl der Kuchen inzwischen verdächtig den Pappteller durchbiegt.

Farins Blick wandert zu ihrem buckligen Gebäck und etwas ändert sich in seinem abweisenden Blick. „Ähm … also, danke."

„Jetzt musste die Kerzen auspusten und dir was wünschen."

Einen Moment wirkt es, als hätte sie damit den Bogen überspannt, aber dann pustet er die fünf Kerzen tatsächlich aus und schließt danach kurz die Augen.

„Okay, also ... Dann ..."

„Zum Geburtstag", beginnt Sandra, ihre Stimme bricht, „also, wünschen wir dir … und auch uns, dass du uns vergibst." Sie lächelt ihn an. V

Vor ihr zieht Farin seine Brauen auf diese typische Art hoch. Ein kleines, schiefes Lächeln huscht über sein Gesicht und Betti deutet es als Einladung und tritt einen halben Schritt näher, aber Moni hält sie zurück.

„Hey, ist schon okay. Wir wollten nur wissen, wie’s dir geht", sagt sie schnell, aber Betti schüttelt ihre Hand ab.

„Vielleicht könnten wir den … zusammen essen?", schlägt sie vor. Ihr Tonfall schnellt am Ende hoffnungsvoll nach oben.

Farin fährt sich über seinen Nacken. „Oh. … Äh, also …"

„Ist Bela eigentlich auch da?", fragt Sandra und ihre roten Locken wippen mit ihr auf und ab.

„Nein." Auf einmal ist Farin wieder sehr kurzangebunden. Doch dann greift er nach dem Teller, nickt ihnen nochmal zu und schon schließt sich die Haustür wieder hinter ihm.

„Tja. … Da müssen wir uns wohl noch was besseres einfallen lassen, um in die WG zu kommen." Betti sieht so aus, als würde sie schon einen Plan aushecken.

„Bela wär heute ja eh nicht da gewesen.” Sandra scheint es eher egal zu sein.

„Also, ich fand, dass war total nett. … Das reicht doch auch.” Irgendwie ist Moni die ganze Sache mit der Camperei langsam unangenehm. „Ich bin dafür, dass wir das Zelt abbauen und nachhause fahren."

 

*

 

Es klingelt wieder. Hoffentlich ist das endlich Bela.

Vor der Tür steht Ecky, was absolut logisch ist, denn wir sind verabredet und er auf die Minute genau pünktlich. An unseren Geburtstagen machen wir fast immer zusammen einen Ausflug – und er hat es nicht vergessen.

Nachdem Ecky und ich den weiteren Glückwünschen der Dreifaltigkeit auf dem Hof entkommen sind, düsen wir auf unseren Rädern Richtung Westen und eine halbe Stunde später durch den goldgelben Grunewald.

Ich mag Fahrrad fahren, aber … „Ey, ick überleg, ob ick `n Motorradführerschein mache. Häste da och Bock drauf?"

„Nee.” Ecky verzieht das Gesicht. „Die Dinger lärmen und stinken doch nur."

„Mann, du alter Öko. Wär doch geil so  zusammen in Urlaub zu fahren."

Er sieht mich ein wenig ratlos an. „Das sind ja ganz neue Züge an dir. Und apropos Züge: Hat doch immer gereicht mit denen und trampen."

„Schon, aber ...
Get your motor runnin‘
Head out on the highway
Looking for adventure
In whatever comes our way".

Ecky lacht laut auf und kurz bin ich ernsthaft beleidigt. „Ey, ick hab halt ich so `ne Rock-Röhrenstimme." Ich weiß, dass ich singen kann, aber das ist dennoch meine Achillesferse. Trotzdem läuft das Lied in meinem Kopf weiter. Ich kann die alte „Easy Rider"-Romantik einfach nicht verdrängen.

„Hey, ich wollte dich nicht beleidigen. Ich fand nur, dass Grunewald und Fahrräder nicht so ganz „Easy Rider" sind."

„Eben, deswegen …” Jetzt muss ich auch grinsen. „Mann, jetz mach dich halt nich lustig über mich. Ach, egal. Komm, los! Wettrennen bis zur Havel runter."

Ecky erzählt mir von seinen neuesten Ideen für Reiseziele. Mit seinem neuen Hiwi-Job an seiner alten Uni er genug Zeit und Geld für …  „Einfach durch ganz Europa trampen durch Asien bis in die Mongolei”, schwärmt er mir vor. „Und du?”

„Grad träum ick irgendwie von Afrika.” Oder vielmehr immer noch.

„Hmm. Auch spannend.”

In den schwachen letzten Strahlen der Herbstsonne pennt er ein und ich blicke versonnen hinüber zum anderen Ufer. Da wo der Wachturm über den sich langsam verfärbenden Baumspitzen zu sehen ist, da haben Bela und ich vor vier Jahren gezeltet.

Er fehlt mir.

Wir fehlen mir.

Es tut weh, ihn heute noch gar nicht zu Gesicht bekommen zu haben.

Als ich nach Hause komme, kribbelt meine Haut. Ich drücke vorsichtig auf meinen Unterarm, schaue, ob ich mir einen Sonnenbrand eingefangen habe, aber das Kribbeln geht nicht weg und es ist nicht nur die Haut, sondern mein ganzer Geist. Scheiße. Es ist das Fernweh-Fieber. Schon wieder. Vielleicht weil ich mit Ecky unterwegs war.

Ich gehe zu meinem Bücherregal und hole ein Photoalbum heraus. Bilder von Ecky und mir in Italien. Sie machen mich noch sehnsüchtiger, aber - wenn ich ehrlich bin, will ich allein unterwegs sein. Nur ich und mein potentielles Motorrad.

Mit dem Geld von diesem unsäglichen Film, der GEMA und wenn Joachim an meinem Geburtstag großzügig ist, könnte es reichen für Führerschein und ein Motorrad und vielleicht auch endlich für meine Reise auf den afrikanischen Kontinent. Ich wünschte, ich hätt einfach so viel Kohle wie mein ehrenwerter Erzeuger. Allerdings arbeitet der auch echt widerlich viel.

Ich lege das Photoalbum wieder weg. 19 Uhr. Toller Geburtstag! Ich sitze auf dem Rand meines Betts, blicke durch meine offene Zimmertür in den stillen, leeren Flur. Sweet 22.

Ich debattiere mit mir, ob ich einfach nach Frohnau abhaue und mich von meiner Mutter verwöhnen zu lassen. Julia ist leider auf Klassenfahrt. Nee, irgendwie zieht mich da gerade nicht hin.

Und doch ist Ablenkung das Einzige, was mich aus dieser Misere ziehen kann. Marilyn lächelt vom Bücherregal auf mich hinunter. Wenigstens eine. Ich hole den Bildband herunter und blättere darin herum.

Mit sieben hab ich sie zum ersten Mal gesehen, weil meine Mutter fand, wir sollten was Lustiges im Kino sehen. "Some Like It Hot” in einer abgeranzten Kino­retrospektive in Alt-Moabit.

Die ersten zehn Minuten war ich gar nicht begeistert. Ein schwarz-weiß-Schinken, aber dann ihr Auftritt und auf einmal war alles Technicolor in meinem Kopf.

Als wir zurück in unsere WG gegangen sind, meinte meine Mutter: „Das freut mich, dass sie dir gefallen hat, Jan, aber …. Nicht alle Frauen sehen so klischeeschön aus.” Keine Ahnung, ob es dieser Film damals war, der mich irgendwie verdorben hat in der Richtung, denn irgendwie steh ich auf so Frauen. Ich sehe zu dem Photo von Grace Kelly an der Wand.

Ich hole die drei Bücher aus dem Regal, die ich mir über die Jahre gekauft habe, blättere darin herum. So jung, so unschuldig und das traurig-warme Gefühl sie beschützen zu wollen, steigen in mir hoch. Norma Jean. Die Frau hinter dem Idol. Dabei bin ich doch auch nur einer der vielen Fans, die auf ihren Sexappeal abfahren, auf die platinblonde Marilyn.

Das nächste Bild ist so viel strahlender. Ihr Lächeln wärmt mich bis in meine Seele und ich kann mich ihm nicht entziehen, auch wenn gerade alles so nervig ist.

Im zweiten Buch, dass ich mir im Original auf Englisch aus London mitgebracht habe, geht es um die ganzen Verschwörungstheorien rund um ihren Tod und JFK. Ein Kapitel am Ende beschreibt diesen wie eine Regie­anweisung: „Leere Pillendose, zerwühlte Laken, Telefonhörer baumelt. Hollywood nennt es eine Tragödie.” Manchmal macht es mich merkwürdig traurig, dass ich nicht einen Tag auf dieser Erde mit ihr geteilt habe. Sie wäre jetzt weit über 50. So alt. Wie sie heute wohl aussähe? Ob sie ihr Glück gefunden hätte?

Ich stolpere über ein Zitat von ihr: „Wenn heute nicht dein Tag ist, probier es morgen nochmal!" Nee, heute ist echt nicht mein Tag. Ich greife nach meiner alten Wandergitarre und schlage einen ersten Akkord.


Ich bin froh, obwohl es regnet, ich bin glücklich wie noch nie

Gestern Nacht war ich im Kino und da sah ich plötzlich sie

Sie war jung, sie war fröhlich, sie war blond und sie war schön

Und sie sagte mir ihr Name wäre Norma Jean ...

 

Ich lege die Gitarre beiseite, weil ich gerade einfach nicht weiterkomme mit dem Song. Ich greife nach einer zweiten Biographie über Marilyn. Diese fand ich auch nochmal besser, weil sie auf englisch ist. Nach ein paar Seiten bleibe ich an einem Bild hängen. Oder ist es das Zitat, dass dabei steht?

„Keep smiling, because life is a beautiful thing and there`s so much to smile about.“

Dieses Lächeln … Eigentlich ist das ja auch meine Geheimwaffe. Zumindest habe ich das immer wieder zu hören bekommen. Dein Grinsen ist so ansteckend, so strahlend, so sonnig, so … Ich ziehe die Mundwinkel nach oben. Es tut ein bisschen weh.

 

*

 

Um kurz vor acht kracht auf einmal die Wohnungstür auf. Ein sehr gerupft wirkender Bela stürmt in mein Zimmer. Er trägt immer noch seine Klamotten von vorgestern.

„Ey, sorry, Alter. Ick konnt mich nur kurz losreißen, weil … Ach, egal. Also, auf jeden Fall alles Gute.”
Er beugt sich zu mir hinunter und scheint meine bittere Miene gar nicht wahrzunehmen. Schnell drückt er mir einen Kuss auf die Wange. „Jetzt sind wir wieder für eineinhalb Monate gleich alt. Hier.” Er drückt mir etwas in die Hand.

„Danke", murmel ich und versuche zu lächeln anstatt mir auf die Lippen zu beißen.

Billy Idol starrt mich von einem Zitty-Cover an, dass Bela als Geschenkpapier improvisiert hat. „Sieht cool aus der Typ, oder? `N bisschen wie du.”

„Findeste?”

„Klar!” Er grinst. „Na, pack`s schon  aus.”

Ich streife Billy ab und halte ein Buch in der Hand. „The Beatles - The Band, the Boys, and the Inner Circle“. „Oh wow. Das is ja krass. Dit … dit will ick schon seit `nem Jahr lesen.“ Ich sehe ihn wirklich erstaunt an.

„Hab ick Axel extra aus London mitbringen lassen für dich.”

„Wow. … Ey, dit will ick schon seit drei Jahren ham. Endlich ma richtige Infos, wie das mit ihrem Manager Brian Epstein damals war. Dit wollt ick schon immer mal wissen.“

„Weeß ick doch.” Er grinst und ich umarme ihn stürmisch.

„Du bist ech ein Schatz.” Ich reiße ihn auf meine Matratze und überhäufe ihn mit Küssen. Er lacht, aber hält dann meine Arme fest.

„Aber ey, sorry, ick muss dann auch gleich wieder los.”

„Na toll.”

„Ja, is blöd. Ick weiß, aber … Sie is halt immer noch nich über den Schock hinweg, als sie uns damals zusammen im Bett geseh…”

„Mann, ick ock nich.”

„Mensch, sei doch froh, dass sie zumindest versucht mit dem zwischen uns klarzukommen.”

So wenig, wie er gerade da ist, frag ich mich welches „zwischen uns” er meint.
„Ja. Echt prima von ihr.”

„Ach, Jan.” Er nimmt mich in den Arm. „Tut mir echt leid, dass dit grad allet so … Aber ick muss da echt grad Schadensbegrenzung betreiben.”

„An meinem Geburtstag”, murre ich in seine Umarmung.

„Dit wusste die doch nich und hat Freund*innen versprochen, dass wir auf ihre Theaterpremiere kommen.”

Schwer. Mein ganzer Körper, vor allem in der Mitte, da wo das Herz sitzt. „Du bist immer so weit weg”, entkommt es mir unwillkürlich.

„Ick?” Bela reißt die Augen auf. „Ick bin weit weg, ja?” Seine Augen verziehen sich zu Schlitzen. „Du hast doch ernsthaft `n Rad ab. Ick sach nur über ein Monat Italien. Und London. Zweimal."

„Nicht vom Ort her, sondern ...."

„Ey, ick geh jetzt echt besser ma – vom Ort her, weil sonst …” Er geht zur Tür, in den Flur, wirft mir noch einen letzten Blick zu. „Wegen deinem Geburtstag … Also, dit … dit tut mir echt leid, dass ick nich ....”

„Mir auch.”

Was ist nur mit uns passiert?

 

*

 

Die Nacht streckt ihre Finger zu mir rein, aber an Schlaf ist nicht zu denken, weil das Ärgeradrenalin so krass durch mich strömt. Ich greife nach der Zitty, schlag die Seite mit dem Kino-Programm auf. Genial! Um 22 Uhr zeigen sie „Misfits" im Toni-Kino. Ein bisschen Marilyn-Schönheit und Wärme könnte diesen miesen Tag vielleicht noch retten.

Und ja - sie ist einfach so unfassbar schön. Als sich Clark Gable zu ihr hinunter beugt und sie küsst, will ich ihn einfach nur weghauen.

Das sich auf der Leinwand auch noch krasse Beziehungsdramen zwischen ihr und verschiedenen Männern abspielen, macht es echt nicht besser.

 

28. Oktober – Fabrik, Zossener Straße, Kreuzberg

Später Abend. Die Fabrik atmet Stille und Staub­licht, als ich durch die große Eisentür trete. Ausnahmsweise ist es mal ganz leise in der Fabrik. Niemand da außer Jim und mir auf den 300 m². Ein leises Saxofon knistert aus dem Transistorradio.

„Da bist du ja.” Jim dreht gerade die letzte Softbox aus. Ihr Restglühen malt helle Ränder um sein Profil.

„Danke, dass du … so spontan Zeit für mich hattest.”

„Wenn es wichtig ist immer, Jan. Und es klang wirklich wichtig.” Er holt in einer Nische zwei Gläser und füllt sie mit Wasser.

„Komm. Ich glaube, das besprechen wir lieber in meinem Büro.”

Ich lasse mich auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch sinken. Jim ist der Erste, der uns wie Erwachsene behandelt, ohne den Punk in uns raus­zu­waschen.

„Na, wie war eure Tour?” Er sieht mich sehr aufmerksam an. „Du wirkst ein bisschen …”

„Müde?” Ich setze mein Markenzeichen-Lächeln auf, aber Jim bleibt ernst. „Ist gerade alles etwas sehr ... belebt in der WG", sage ich vage. „Oder das Gegenteil.” Ich zucke mit den Schultern.

„Was meinst du mit belebt?”

„Also, grade … Vor unserer WG zelten drei Fanmädchen, die mich jedes Mal überfallen, wenn ich das Haus verlasse – oder zurückkomm und außerdem das Treppenhaus mit Liebesschwüren dekorieren. Ach ja, sie haben auch noch unsere Post geklaut.”

„Oh. Das klingt nicht gut. Nena klagt auch immer wieder über solche Probleme.”

Nena. Wow. Nena und ich haben die gleichen Probleme. „Das tut mir leid für sie.”

Jim seufzt. „Das ist die Kehrseite der glänzenden Medaille ...”

„Wenn dit  bloß allet wär, dann …”

„Weil?”

„… Naja, …” Ich hole tief Luft. „Belas Freundin is seit neuestem ständig in der WG.”

„Ah. … Okay. … Also, ich dachte, dass … ihr beide …”

„Auch”, sage ich unbestimmt, weil ich Jim sehr mag, wirklich sehr, aber irgendwie ist das schon auch ein professionelles Verhältnis. Wie ein dunkler Schatten erhebt sich Beate hinter mir und schnell konzentriere ich mich wieder auf Jims freundlichen Blick.

Ich vertraue nicht vielen Erwachsenen, aber bei ihm …

„Du bist auch eher so ein Tagmensch wie ich, ne?”

Ich nicke. Das Verstehen in seinem Lächeln tut gut. Mehr als gut. Immer als der Außenseiter gesehen zu werden, nur weil ich keine Drogen nehme und nicht saufe, nervt einfach.

„Kriegst du denn genug Ruhe?"

„Meistens schon." Mit einem viel zu lauten Klirren stelle ich das Glas auf seinem Schreibtisch ab. „Aber jetzt mit den Fans vor dem Haus und Suzi in der Wohnung …”

„Du … magst sie nicht, oder?”

„Nein.” Es klingt viel zu bitter. „Sie … Ich glaub, sie nutzt ihn aus. Und er ist viel zu gutmütig – und verknallt – um das zu checken.”

Jim lehnt sich ein Stück zu mir vor. „Ihr zwei seid ganz schön dicht beisammen, oder?" Jim zieht die Brauen ein wenig hoch, räuspert sich, bevor er weiterfragt. „Wenn man zusammen lebt und arbeitet und das lles unter einem Dach ...”

„Bisher hat das ja auch gut funktioniert.” Mehr oder weniger, füge ich in Gedanken hinzu. „Aber jetzt … Früher war die Niebuhrstraße unser - Abenteuerspielplatz. Mein Schutzraum, aber jetze ist da Jahrmarkt draußen und drinnen und …” Ich nippe an meinem Wasser. „Manchmal ist auch Bela der Jahrmarkt. Man muss nich wirklich um 2 Uhr morgens ärgerlich lauten Punkrock aufdrehen, um Punk zu sein."

„Ich muss sagen, es ist ein wenig faszinierend zu sehen, wie unterschiedlich ihr beide seid und dennoch – wie Yin und Yang. Tag und Nacht. Sonne und Mond. Das ist auch die Ausstrahlung, die ich auf den Photos von euch transportieren wollte.” Er sieht mich nachdenklich an. „Die Frage ist, was habt ihr gemeinsam.”

„Die Band.”

„Ich vermute, dass ist nicht alles. Zumindest strahlt ihr beide nicht aus, dass nur die Band euch verbindet. … Mhm, hast du schon mal über … mehr Abstand nachgedacht?"

Ich nicke, ohne es zu wollen. „Ein Freund hat mir angeboten mit ihm zusammen zu ziehen.” Der Gedanke ist wie das Fenster öffnen in einem komplett verrauchten Zimmer.

Moabit. Wieder zurück in der Turmstraße, da wo ich aufgewachsen bin und Alltag mit Ecky. Alltag, der besser miteinander funktioniert. Das haben wir uns auf den ganzen Reisen x-mal bewiesen. Ich atme tief ein, seufze dann.

„Mhmmm." Jim sieht mich ruhig an.

„Er … Bela könnte es als Verrat sehen."

„Vielleicht versteht er dich besser, als du glaubst."

Kein schöner Gedanke. Wenn Bela es auch gut findet, dass ich ausziehe dann … Wer sind wir dann noch füreinander? Nur noch Bandkollegen?

Ich spiele mit dem Glasrand. Die Jazzplatte im Hintergrund knistert und der Tonabnehmer klickt nach oben.

„Danke, Jim. Ich … Ich will dir nicht mehr von deiner kostbaren Zeit stehlen.” Langsam erhebe ich mich.

„Jederzeit, Jan. Und das meine ich ernst.”

Mein Blick wird angezogen von einem Gesicht. „Kann ich mir das Photo hier mitnehmen?

„Welches?”

„Ähm, dit hier.”

Er lächelt. „Natürlich. Hier.”

Ich hänge es neben das Bild, dass ich fein säuberlich aus einer der MM-Biographien herausgetrennt habe. Das Zitat darauf dreht nun schon seit Tagen seine Runden in meinem Kopf:

„Alles passiert aus einem Grund.

M enschen ändern sich, damit du lernst, loszulassen.

Dinge gehen schief, damit du zu schätzen weißt, wenn es gut läuft.

Du glaubst einer Lüge, damit du lernst, nur dir selbst zu vertrauen.

Und manchmal bricht etwas Gutes auseinander, damit etwas Schöneres zusammenkommen kann.“

 

 

25. September 1985 – Görlitz

Aufgeregt deutet Annika auf ein paar Bilder in einer BRAVO. „Die hat mir meine Cousine Karo aus Hamburg mitgebracht.” BRAVO ist sehr verboten, aber auch verdammt cool.

„Das sind sie”, verkündet Annika stolz. „Das ist Farin.” Sie deutete auf einen riesigen, blonden Typen. „Das ist der Bassist, Sahnie." Noch ein großer Blonder.  „Und das hier … Das hier ist Bela, der Schlagzeuger.” Die Herzchen stehen in ihren Augen.

„Aber ... woher hast du das denn alles?"

„Von meiner Cousine Karo aus Hamburg."

Sie legt eine Kassette ein, auf der "Ä" steht - nicht mehr. „Und eine für dich. Hab ich dir schon überspielt." Sie drückt ihre eine Hülle in die Hand,  auf der ebenfalls "Ä" steht, vorsichtig, als wäre diese der heilige Gral und vielleicht ist sie das auch. Die Musik klingt auf jeden Fall geil.

„Die A-Seite ist die Vorgängerband Soilent Grün. Auf der B-Seite sind dann die Ärzte drauf. Ah, sie sind einfach soooo toll.”

Als Eddy ihre Schwalbe vor dem Plattenbau abstellt, hängt die Dämmerung schon bleigrau über der Neiße. Pioniernachmittag hatte sie ihrer Mutter erzählt, aber da ging sie seit zwei Wochen nicht mehr hin. Bisher war es nicht aufgeflogen, aber das war wohl nur eine Frage der Zeit.

Im Flur stösst sie fast mir ihrer Mutter zusammen, die gerade in ihren Mantel schlüpft. „Da bist du ja. Ich muss los zur Nachtschicht, Schatz. Im Kühlschrank ist dein Abendessen.” Ihre Mutter gibt ihr einen Kuss auf den Kopf.

Während sie sich das Essen aufwärmt, summt sie das Lied vor sich hin, das Annika ihr vorher auf ihrem alten Kassettenrekorder vorgespielt hat. Punk. Seltsame Musik, aber sie hat definitiv Energie.

In ihrem Zimmer legt sie die Kassette vorsichtig ein und dreht den Rekorder extra leise. Besonders das erste Lied davon war bei ihr hängen geblieben.

 

Wir sind die Punks aus der DDR

Unser Leder ist schwarz, unsre Stiefel sind schwer

Wir sind die Punks von der FDJ

Wir glauben nicht an den lieben Gott

 

Sie summt den Refrain. Das war mit Sicherheit systemzersetzend. Besser aufpassen, wo sie das vor sich hinsang oder mit wem sie darüber sprach.

Das Grinsen des Blonden taucht vor ihrem inneren Auge auf und der mysteriöse Blick des Schwarzhaarigen. Gut sahen sie aus, verdammt gut. Und irgendwie hatten die beiden Chemie miteinander. Das konnte man sogar auf den paar Photos in der BRAVO erkennen.

 

Der Wunsch etwas über die Beiden zu schreiben, steigt in ihr hoch. Sowas wie Romeo & Julia, aber eben mit zwei Typen und hier in dem Land, in dem sie leben musste. Also besser verklausuliert – ohne das klar wurde, um wen es da ging. Man wusste nie …

Sie nimmt ein altes Deutschheft, in dem vom letzten Schuljahr noch ein paar Seiten hinten frei sind und atmet durch. Auf keinen Fall darf sie das Heft mit ihrem Deutschheft verwechseln und aus Versehen in der Schule abgeben. Was dann los wäre, konnte sie sich nicht mal richtig vorstellen, aber ein Schauer lief ihr den Rücken runter. Wahrscheinlich wäre es dann mit dem Traum vom Studium vorbei. Also schreibt sie hinten "dä” drauf.

Ob sie vielleicht wirklich mal auf so ein illegales Konzert gehen sollte. Annika hatte seit dem Sommer da Gefallen dran gefunden und inzwischen ein paar Kontakte. Das ist Freiheit pur, Eddy. Der totale Rausch, auch wenn`s verboten ist. Und die Leute dort. Echt dufte. Wir müssen ja nicht den Rest mitmachen, also, die ganze politische Einstellung, die die haben.”

Eigentlich wäre sie gerne so mutig und würde dieses System zersetzen. Das System, das sie hier gefangen hielt - eingeschlossen zwischen der Mauer und der Grenze nach Polen rüber.

Aber erstmal würde sie das nur diesen weißen Seiten Papier anvertrauen. Sie überlegte einen Moment, dann waren die Bilder und Gefühle und Worte da und sie schrieb los.

 

„Es heißt, wenn man seiner wahren Liebe über den Weg läuft, bleibt die Zeit für einen Moment stehen. Sie hält an, nur um dieser Liebe einen Moment zu schenken, bevor sich die Welt weiterdreht und sich im Strudel der Zeit verliert.

Es sollte nur ein Auftritt werden. Ein Auftritt unter vielen. Nichts Besonderes, abgesehen von unzähligen Verstößen gegen die bestehende Ordnung. In irgendeinem unterirdischen Club, fernab von Kameras, Mikrofonen und der Sicherheit. Fern ab von Regeln und dem Regime. Einen Abend frei sein, die Musik den Rhythmus des Herzens ersetzen, und die Gedanken durch den wummernden Bass aussetzen lassen. Eine Nacht das Gefühl von unbändiger Freiheit. …” 

 

Eddy klappt das linierte Heft zu und versteckt es unter einem losen Brett in ihrem Holzboden.

Sie seufzt. Im Westen wäre einfach alles so viel einfacher. Aber war das wirklich so anders als hier?

Sie würde es wohl nie erfahren …

 

*
*

 

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LYRICS

die ärzte – wilde mädchen

die ärzte – zu spät

The Buzzcocks – Everybody`s happy nowadays

The Beatles – Love me do

Bela B – Geburtstagsleid

die ärzte – mädchen

die ärzte – Wilde Welt

die ärzte – Hände innen

die ärzte – Norma Jean

Marilyn Monroe – I wanna be loved by you

 

Hände innen: Bela: Ganz ehrlich? Ich finde den Song einfach nur scheiße... öhem... die Musik, den Text. Ist das Rap? Ist das Pop? Und die doofen Sprichwörter im Text. Ich war so angewidert, dass Farin ihn als Hidden Track auf der „Geräusch" vorschlug. Ähnlich war das bei „Lady" auf der „13", nur dass da wiederum Uwe Hoffmann total angeekelt war. Ich weiß nicht, ob das Finden eines Hidden Tracks bei uns so erstrebsam ist. ;-) Quelle: Prawda 04

 

ADDITIONAL SONGS

FURT - Fan

Plan B

Ein Lied für dich - Bizarre Festival, 2001
Lyrics

 

REAL FANS

Finde Jessi – starring as Jacky
Und Konstanze – alias Karo
Die „Wilden Mädchen“ (Podcast feat. Jenni)
Podcast-Folge 075 „ZeiDverschwÄndung – Bändwurm mit Wurmchor“
Podcast-Folge 017 „Das ist Rock’n’Roll – Konstanze fliegt auf“

Wolff zeichnet IRL als wolfdragon_tv
Wolfgangs Bilder-Highlights für TiL

Lizzy – alias Lissy

Desi – alias Daisy (Stick-Fängerin in Potsdam)

Annika – alias Anika

Edda schreibt hier als Eddy:
exddxa.02 | pixelc0sm0s
Und ihre Geschichten findet ihr auf fanfiktion.de (Profil Turtles0308)

 

FANS & GROUPIES - Was die KI dazu zusammenfasst:

 

Begriffsklärung

Fan (von fanaticus) bezeichnet jede Person, die dauerhafte Bewunderung für eine Band zeigt – von gelegentlichem Streaming bis zu obsessivem Sammeln.

Groupie wird seit dem Rock-Boom der späten 1960er für Fans benutzt, die physische Nähe – häufig sexualisierte – zu Musiker*innen suchen. Der Begriff ist belastet, weil er weibliche Sexualität wahlweise romantisiert (Muse) oder moralisch abwertet (objektifizierte „Anhängerin“). Feministische Kulturhistorikerinnen fordern, den Ausdruck entweder umzudeuten oder ganz zu verwerfen, weil er weibliche Handlungsfähigkeit verdeckt.

 

A History of ...

1950 – Beatlemania: Massenhysterie wird erstmals als Teen-Mädchen-Phänomen pathologisiert.

1965-75 „Groupie-Ära“: Rolling-Stone-Reportagen zementieren das Klischee der sexuell verfügbaren Anhängerin; parallel entstehen weibliche Gegen-Narrative (Pamela Des Barres).

1980er Metal & Glam: Hypermaskuline Bühnenshows reproduzieren das Schema; AIDS-Krise moralisiert Groupie-Sexualität neu.

1990er – Fanzines & Riot Grrrl: Fans organisieren sich als Produzierende (Zines, Street-Teams) und unterwandern die starre Fan–Star-Hierarchie.

2000er – Web 2.0: Foren, Fanfiction und Tumblr demokratisieren Deutungshoheit; Slash-Shipping etabliert neue Normen queerer Lesarten.

2010er/20er – Platform-Fandom: TikTok-Edits, Discord-Server und K-Pop-Stan-Twitter professionalisieren kollektive Mobilisierung

 

Frankfurter Schule

-  Kulturindustrie schafft standardisierte Bedürfnisse → Fan-Sein als „falsches Bewusstsein“
-  Implikation: Fandom = Massen-Verdinglichung statt Selbstbestimmung

Marxistische Wertkritik

- Musik = Ware; Likes, Memes & Free-Promo = unbezahlte Fanarbeit
- Implikation: fordert Idee einer „Fandom-Labour-Union“ für Aufmerksamkeit & Daten

Foucault

- Macht zirkuliert über Intimitäts-Choreografien (Selfies, Q&As)
- Implikation: Fans überwachen sich selbst → Gatekeeping & Normkontrolle in Foren

Bourdieu

-  Geschmack als Distinktionsmittel; limitierte Vinyls = kulturelles Kapital
-   Implikation: Klassismus innerhalb des Fandoms (Sammler vs. Casuals)

Queer-Feminismus

- Shipping & Slash recodieren heteronormative Stories zu queeren Narrativen
- Implikation: Fans „hacken“ Mainstream-Plots und schreiben sie um

 

FANS

Rheingold – FanFanFanatisch (YouTube-Clip)

Wikipedia-Artikel: Fan

Völcker, M. (2016). "Das ist einfach so ein Teil von mir...": Fan-sein und Fan-Identität als resonanter Interaktions- und Erfahrungsraum. kommunikation @ gesellschaft, 17, 1-27.

Keller, K. (2015). Der Star und seine Nutzer: Starkult und Identität in der Mediengesellschaft. (Cultural Studies, 31). Bielefeld: transcript Verlag.

Wikipedia-Artikel: Celebrity Worship Syndrome

WikiHow: Get over a Celebrity Obsession

The Beatles – Far Out Magazine – How the Beatles used song titles to connect with their fans

 

GROUPIES

Ajour: „Ich nutze, was ich habe“ : Sind junge Frauen, die mit Stars schlafen immer Opfer?
In den 60er-Jahren standen Groupies  für den Ausbruch aus patriarchalen Strukturen. Eine kleine Kulturgeschichte der Groupies anlässlich der Affäre um Rammstein. (Achtung: hier muss man leider die Fresse von Lindemann ertragen!)

SRF Kultur – Gibt es überhaupt männliche Groupies?
Hinter der Bühne, vor dem Tourbus oder im Hotelbett: Wo Stars sind, sind Groupies nicht weit – meist sind es Frauen. Denn: Männer sind lieber Stars als Groupies.

Double Bind: Männliche „fanboys“ gelten als kompetent (Collectors), weibliche „fangirls“ als hysterisch – ein persistentes Sexismus-Muster.

 

SRF Kultur – Emanzipation oder Ausbeutung? Wie toxisch die Groupie-Kultur wirklich ist
Die romantische Verklärung von Groupies ist Geschichte. Nicht erst seit dem Rummel um Rammstein zeigt sich: Hinter dem Mythos steckt ein System von Macht und Manipulation. Ein ehemaliges Groupie - Roxana Shirazi - erzählt.

hiphop.de – Groupies zwischen Machtmissbrauch und Selbstbestimmung

The G-Word Article - Western Undergraduate Research Journal

Parasocial Relationships – Daily Bruin Artikel

 

DIE ÄRZTE

Charlotte Roche trifft …  fragt nach Groupie-Babies – Bela erzählt, dass er im Suff jemand geschwängert hat – weirdes Gespräch auch von den Fragen und Statements von Charlotte her

Moskito – Die Ärzte „Wahre Liebe"
Musikexpress – Die Ärzte: Top-50-Songs (Liste & Stream)
Ein guter Kniff: Eigentlich sind Die Ärzte der frühen 80er voll die dauerverknallten Buben, die den tollen Mädchen hinterher hecheln – aber in Songs wie „Teenager Liebe" versuchten sie eine ironische oder gerne auch alberne Distanz dazu einzunehmen.
Da die Mädchen damals aber schon gemerkt haben, wie ernst diese romantischen Buben es tatsächlich meinen, waren Die Ärzte damals eine ausgesprochene Mädchen-Band.

 

Film mit Bela B. - Hinter dem Regenbogen, 1998

Well, well, well – Den Film hat er wohl vor „FUN" gedreht.

Sehr, extrem, ultra weirder Film. Habe nur einen Trailer gesehen und verlinke den nicht, weil der einfach nur eine einzige Content Warning ist!

Over the Rainbow – Rezension

Astrud, Iris und Marie sind um die fünfzehn (!!!), nicht gerade schüchtern und fürchten nichts mehr als Langeweile. Das Trio verbindet eine Vorliebe für makabre Wetten, und als sie feststellen, für den gleichen Mann zu schwärmen, beschließen sie, das Patt durch eine Wette zu lösen.

Ray, Rockstar kurz vor dem Durchbruch, ist der Wettgewinn. Wilde Gerüchte von Drogenexzessen, Sex mit Minderjährigen und Gefängnis prägen seinen Ruf.

Wahrheit oder Märchen? Die Mädchen folgen ihm in sein Apartment am Rande der Stadt, und was sie dort erleben, scheint den Gerüchten recht zu geben ...

 

MM – Marilyn Monroe

"If fame goes by, so long, I’ve had you, fame. If it goes by, I’ve always known it was fickle. So at least it’s something I experience, but that’s not where I live.”

„Wenn der Ruhm vergeht – Tschau, ich hatte dich, Ruhm. Wenn er vorbeigeht, habe ich immer gewusst, dass er unbeständig ist. So ist zumindest meine Erfahrung. Aber das ist nicht meine Welt."

– Life Magazine, Marilyn Monroe Pours Her Heart Out von Richard Meryman (3. August 1962)

 

Für immer: Farin: Damals war ich ein Riesen Marilyn Monroe Fan und fand den Gedanken reizvoll, ein Liebeslied für eine längst Verstorbene zu verfassen. Auf der Maxi hört man sie übrigens: „Now, for the first time, I realize that all I really want is you!" und „I’m mad about you, too" - ich hatte ne LP (erinnert sich noch jemand an dies fossile Tonträgerformat?), auf der eine Fernsehsendung mit ein paar Sketchen der MM zu hören war. Quelle: Prawda 03

 

BUCH & BEITRAG

Joyce Carol Oates: „Blond“ - Zwischen Popkultur und brutaler Ausbeutung

 

FILME

Wenn man sich kurz in die zusammengefasste Biographie von MM eingelesen hat, dann gab es schon im Mädchenalter sexualisierte Gewalt. Besonders krass finde ich, dass sie gefühlt in jedem Trailer von 2-3 Typen geküsst wird – auch mal schlafend. Es ist schlimm anzusehen.

 

Trailer - There’s No Business Like Show Business, 1954

Trailer -The Misfits (deutsch)

 

DOCUMENTARY

MM – I wanna be loved by you remixed for a documentary (with conspiracy theories?)

 

*

Chapter 64: 1985 - 38

Chapter Text

*

 

 

* Teenagers in Love *

 

Links mit Liedern und Bildern im Kapitel und am Ende - as usual.

 

 

1985 – 38

 

 

30. Oktober – Probraum Saskatchewan

Der Keller riecht heute noch stärker nach feuchtem Schimmel, aber immerhin ist es hier unten warm.

Außer Atem öffne ich die Tür zu unserem Proberaum. „Hey, sorry! Tut mir echt leid. Ick ..."

Jan und Hans stehen wie große blonde Statuen aus Missbilligung im Neonlicht und starren mich an - Hans die Arme verschränkt, Jan mit gerunzelter Stirn.

„Du weißt, ick schätz dich echt, aber ..." Jans Stimme ist sehr ruhig. „Aber ... Dit geht einfach nich." Er deutet auf meine Bugs-Bunny-Uhr. „Dit Ding is nich nur `n schicket Armband."

Ich schlag die Augen nieder.

„Wir reden hier nicht von einmaligen Aussetzern", schnaubt Hans. „Du bist ständig nachts unterwegs, säufst, nimmst Drogen und dann kommste nich aus dem Bett. Du bist immer – einfach immer - zu spät."

Jan neben ihm nickt vorsichtig. In der Ecke dudelt das Radio grausame Popsongs, aber alles ist besser als die vorwurfsvolle Stille.

Jan seufzt. „Die ewige Zuspätkommerei, dit is einfach ... Wenn wir dir schon egal sind, dann machet halt wenigstens für die Band." Er reibt sich über das Gesicht. „Du kannst doch pünktlich sein. Bei Suzi trauste dir dit ja och ..."

„Is ja jut. Hab`s schon verstanden."

„Und mein Notsignal ruft dich überall
„Warum hör‘ ich nichts von dir?
SOS, ruf mich an ...”

Ich geh rüber zum Radio und hau auf den „Aus"-Knopf. Das Lied erstirbt mitten im Refrain. Mit hochgezogener Augenbraue seh ich die beiden an und schüttel einfach nur den Kopf. Angriff ist die beste Verteidigung.

Hans geht einen Schritt auf mich zu. „Was soll’n das?"

Ich schnapp mir einen meiner Drumsticks und fahr mir damit symbolisch über die Kehle, als wollt ich diese damit aufschlitzen. „Du und deine Scheißmucke. Wenn de noch einma ›Cheri Cheri Lady‹ anmachst, biste `n toter Mann."

Hans weicht zurück. „Is ja schon gut, du Hitzkopf."

„Und komm bloß nich auf die Idee, dass der olle Phil mit „In the air tonight" okay wär."

Ein halbherziges Achselzucken.

„Hey, jetz, komm ma wieder runter, Felse." Jan stellt sich neben Hans. „Wir hatten überlegt, wie wir den nächsten Schritt hinbekommen und deswegen dit Radio an. Wir wollten halt analyisieren, wat die da so spielen."

„Ja, genau." So eifrig hab ich Hans seit Monaten nicht mehr gesehen. „Mit Pop würden wir einfach weiterkommen, also, karrieretechnisch."

„..." Mir fehlen die Worte und ich starr Farin einfach nur an, der sich strafft.

„Fakt ist: Wir brauchen Songs für dit zweite Album."

„Ja, dit weeß ick doch. Aber – soll ick jetz so dampfende Kacke wie die Deppen aus München schreiben, oder wat?"

„Quatsch!" Er wird etwas lauter. „Dit is doch nich der Punkt und dit weeßte och. Haste ... Haste denn neue Songs mitgebracht?"

„Nö." Meine Schultern sinken nach unten, aber ich halte Farins Blick.

„Mahaan", knurrt Hans, „Dies ist echt so `n Diletanttenkram hier."

Mein Blick wandert zu ihm. „Und du?", frage ich betont freundlich. Lass ma `n paar von deinen neuen Hitkreationen hör`n."

„Ich bin da nicht so gut drin. Ich hab halt eher Talent für das Geschäftliche." Er starrt zurück, aber sein Blick flackert.

Ich roll die Augen so heftig, dass es in meinem Kopf klingelt. „Dann treib se mal voran, unsere Karriere – mit deinem geschäftlichen Talent. Toll wär och, wenn de heut vielleicht ausnahmsweise mal geübt hast. So zur Abwechslung."

„Ich dachte Punk sein, heißt nicht üben." Er hebt so lustlos die Schultern, dass ich ihm eine reinhauen könnte. „Außerdem hab ich keine Zeit gehabt. Prüfungsphase."

„Vielleicht musst de dich ma entscheiden: Studium oder Musik."

Stille. Dann greift er seinen Bass. „Als ob du so viel besser bist, Felsenheimer!”

Ich seh zu Jan, der seine Gitarre stimmt. „Wollen wa loslegen?”

Ich seufze. „Ja, klar."

Wir versuchen uns an einem neuen Song, den Farin geschrieben hat.

„Wie heißt dein neuer Song?"

„Was hat der Junge doch für Nerven."

„Na, das passt ja wie die Faust auf`s Auge", murrt mich Hans an.

„Halt`s Maul und spiel."

Wir versuchen uns an: „Was hat der Junge doch für Nerven”

Denn keiner hier spielt Bass so gut wie ich

Hans wirft mir einen arroganten Seitenblick zu und ich trommel besonders laut, um die Wut aus mir raus zu dreschen.

Das Ende klingt wie eine Beschwörungsformel:

Mit uns kommt sowieso keiner mit

Denn wir sind die Ärzte und wir sind zu dritt

Als der letzte Ton verstummt, werf ich einen vorsichtigen Blick rüber zu Jan. Unsere Blicke treffen sich für einen Moment, aber gerade ...

„Naja", meint er schließlich. „Bevor wir dit im Studio Micki präsentieren, sollten wa dit schon `n bisschen flüssiger hinkriegen."

„Belas Schlagzeug ist viel zu laut," meckert Hans und schraubt an seinem Amp. Ich trommel ein schnelles Solo, von dem ich weiß, dass ich`s gut drauf hab.

„Dann erklär mir mal, warum sie dich beim letzten Album durch ’nen Profi ersetzt haben."

Meine Sticks halten in der Luft inne, dann lass ich sie auf das Crashbecken krachen. „Na, zum Glück ham wa ja dich und sind mit deinem unüberhörbaren Talent gesegnet."

Die Ader in seinem Hals pulsiert. Er zieht das Klinkenkabel, stapft zu mir." Ja, tu du nur so. Wölli spielt tausendmal besser als du und – vielleicht hab ich ihn ja schon gefragt. Bei den Suurbiers hat er dich ja auch erfolgreich ersetz..."

Autsch. Ich such nach ’nem Konter. Nichts. Hilfesuchend werf ich den Blick rüber zu Jan. Der kniet vor seinem Marshall. Kriegt der das nich mit oder ist er seit neuestem taub.

Hans schnauft. „Du bist einfach `n versoffener Trottel, Dirk."

„Ey, ey, ey. ..." Jan steht von seinem Verstärker auf. „Falls ihr`s nich mitbekommen habt, wir spielen hier nich mehr in Richy Guitar. Also brauchte euch och nich mehr so anzublöcken.”

„Ick glaub, die Fake-Band is grad viel näher an der Wirklichkeit, als dir lieb is." Es ist nicht mal eine Provokation, sondern fühlt sich viel zu wahr an.

Hans hängt sich den Bass ab. „Ist ja auch egal. Ich muss jedenfalls los. Hab in zwei Wochen Prüfungen."

„Und wir ham in `ner Wochen `n Konzert im Loft und Plattenaufnahmen und ..."

„Uni geht vor." Hans nimmt seine Jacke. „Im Studio braucht ihr mich nicht einzuplanen."

Wir drei starren uns an. Dann schnappt Hans wortlos seine Tasche, stößt die Tür auf und weg ist er. Nur sein letzter Satz hallt noch im Keller nach.

Jan zuckt die Schultern, als die Tür ins Schloss fällt. „Immer diese Streitereien", murmelt er. „Es nervt."

Ich reagier nich drauf. Grad ist er mir immer einfach nur fremd.

 

Altes Preußen-Tonstudio

Leider bleibt es dann doch nicht dabei, dass Sahnie komplett die Produktion meidet.

Micki runzelt Hans seine Stirn. "Das hört sich nicht gut an. Ein echter Bass wäre hier wirklich besser."

„Ähm, also ... ich könnt den Basslauf spielen!" Hans schlägt ein paar Akkorde an.

„Dit is jetzt nich dein Ernst?", sagen Jan und ich im Chor.

„Das ist aber nicht der Teil, den du spielen sollst", antwortet ihm Micki trocken. „Was ist denn das?"

Er sieht uns verunsichert an.

„Na, das ist doch ein Klassiker. ‘Doesn’t Make It Alright‘ von den Stiff Little Fingers."

„Is `n biss­chen ironisch mit dem Titel, oder?", lächel ich Hans an.

Er ist einen Moment irritiert, dann grinst er verlegen.

Micki schluckt. „Tja, Jungs … Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Am besten holen wir einfach einen anderen Bassisten."

Triumphierend seh ich zu Hans, aber natürlich sieht der mich nicht an. „Es ist bisschen schwierig so ..."

Jan seufzt. Mal wieder.

„Wir können Lutz holen."

„Welchen Lutz denn?", fragt Hans misstrauisch.

„Na, Fahrenkrog-Petersen."

Farins Augen werden groß. „Ist das der von Nena?"

„Nee, sein Bruder."

„Mhm." Jan sieht immer noch ein wenig verträumt aus und ein Lächeln huscht über meine Lippen.

Hans’ Miene fällt dagegen nun komplett in sich zusammen. Mein Lächeln wird zu einem Grinsen.

„Und eventuell müssen wir halt für dich, Bela, den Emulator 2 benutzen."

Mir bleibt die Luft weg. Nicht schon wieder. Aber Micki spricht einfach unbeeindruckt von meinem innerlichen Aufruhr weiter.

„Das ist einfach der beste Sampling-Computer, der grad auf dem Markt ist. Mit dem sampel ich dann einfach deine Drums." Micki schüttelt leicht den Kopf. „Also, ihr seid echt nett und so, aber ... einfach ist es nicht mit euch."

Jan nickt, sieht dann betreten zu Boden. Es schießt wie ein Pfeil durch meine Brust. Trotzdem nicke auch ich.

„Ich muss los!"

„Waaaas?" Sogar Micki sieht Hans verdutzt an.

„Ja, ich hab jemand zu einem Konzert eingeladen."

„Aha. Ich dachte, du gehst nich mehr so gern auf Konzerte, weil „das zu laut" ist."

„Ja, also, nein. Wenn es was außergewöhnliches ist, dann geh ich schon hin."

„So, so. Und wer ist da so außergewöhnlich, dass er deine hochherrschaftliche Präsenz verdient hat?"

„Mhm, also, das ist ein Tina Turner Konzert. ... Also, ... wollt‘ ich mir angucken."

„Weißt du was, Hans?" Micki sieht einfach nur resigniert aus. „Geh einfach zu Tina und ich spiel deinen Bass ein."

„Nich der von Nena?", wirft Jan so schnell ein, dass Hans die Chance nutzt und schon fällt hinter ihm die Tür zu.

Ich atme auf.

 

1. November – Jugendclub Steglitz

Heut spielen wir nich mal in einem richtigen Club, sondern in einem Jugendzentrum für die Show von Dennis King im RIAS. Der ist wirklich witzig und eben auch seine Live-Radio-Parties mit ein bisschen Publikum. Er hat uns schon öfter eingeladen und es macht Spaß. Etwas was wir wirklich dringend brauchen können.

In das Zentrum passen gerade mal 400 Leute. Draußen stehen 900. Zum Glück müssen wir und nicht darum kümmern.

Es tut gut wieder mal mit den Ärzten auf der Bühne zu stehen - abgesehen vom nervigen Playback, für das ich in der Luft rumtrommel wie ein dressierter Pavian. Es nervt, einfach weil ich mich so überhaupt nicht spür dabei.

Insgesamt spielen wir nur neun Lieder heute Abend und sind schon bei der Hälfte angekommen.

Es ist alles viel enger als bei einem echten Konzert und wir sind mit der ersten Reihe fast auf Tuchfühlung. Und da steht sie. Schwarzes, sehr kurzes Kleid, schick gestellte Haare. Sie kaut `nen Kaugummi, während sie mit dem Kopf zum Takt wippt. Ich weiß nicht, ob sie mich zuerst anguckt oder ich sie. Wahrscheinlich passiert’s gleichzeitig. Zack – Boom.

Ich folg einfach meinem ersten Impuls, lass meine Sticks fallen, spring über die Monitorbox und lande direkt vor ihr, seh ihr Grinsen, grins zurück. Und dann küsse ich sie. Sie schmeckt nach Erdbeer. Meine Hand landet an ihrer Hüfte, ihre in meinem Nacken.

Neben uns kreischen ein paar Mädchen meinen Namen. Glaub ich jedenfalls. Könnte auch nur in meinem Kopf sein, aber who cares?

Als ich zurück auf die Bühne springe, laufen gerade die letzten Takte unseres Songs und ich schnapp mir meine Stick wieder und trommel mit, als wär nüscht gewesen. Easy. Rock ’n Roll.

Dann seh ich nach rechts.

Jan. Er wirkt irgendwie - versteinert? Keine hochgezogene Augenbraue, kein schiefes Grinsen. Nicht mal dieses typische „Du bist so’n Idiot!"-Kopfschütteln. Nur starre Augen, angespannter Kiefer. Für einen Moment – ganz kurz – flackert etwas in seinem Blick zu mir hinüber, dann singt er weiter.

Er weiß genau, er ist klüger als ich

Aber trotzdem liebst du mich

Denn keiner spielt Gitarre so wie ich

Egal. Ich will da jetzt nicht drüber nachdenken. Der Kuss war einfach geil. Einer der besten meines Lebens. Vielleicht such ich die Dame nachher nochmal.

Aber soweit kommt es nicht, denn auf einmal steht Suzi im Backstage. Oje. Hoffentlich hat sie das nicht mitbekommen.

„Hey, Süße!" Ich prüfe ihre Miene, aber sie grinst mich einfach an. „Wie ... wie lange biste denn schon da?"

„Hab`s erst zum letzten Lied geschafft."

Ich atme auf und küsse sie auf die Wange.

Als ich in unsere Umkleide geh, seh ich auf einen Blick, dass Jans Sachen schon weg sind. Nich mal Tschüss hat er gesagt.

Ich schau raus auf den Gang. „Hey, Axel! Weißte, wo Jan hin is?"

„Nach hause." Es klingt, als wäre das normal. Mann, ey. Egal, beschließe ich. Wieder draußen im Saal such ich in der Menge nach Suzi. Als ich sie entdecke, steht sie ausgerechnet mit dem anderen Hünen unserer Band zusammen.

„Schade, dass ich nur den Schluß gesehen hab. Du sahst faaantaaastisch aus auf der Bühne!" Sie küsst mich leidenschaftlich und es tut so verdammt gut. Dann dreht sie sich zu Hans. „Sahnie meinte, ob wir noch mit ihm und …" Sie taxiert die junge Frau, um die sich Hans gewickelt hat, dass ich an eine Würgeschlange denken muss.

„Kati", sagt die sehr junge Frau. Ich hoffe, die ist endlich mal volljährig. „Hi, Bela!", fügt sie mit einem schüchternen Lächeln hinzu.

Ich schüttel ihre Hand und sie wird ein bisschen rot. Süß. „Äh, … ja, also ... okay!", sag ich schließlich, obwohl ich gar keinen Bock auf Hans hab.

„Super." Suzi hängt sich auf der anderen Seite bei Hans ein. Anscheinend hat sie sich entschieden, dass sie diesen großen Blonden von den Ärzten besser findet.

„Das Konzert hat echt Spaß gemacht.” Kati wirkt sehr nett, viel zu nett für Sahnie. Sie sieht mich an. „Macht dir das denn Spaß in der Band zu spielen, weil ...?” Sie sieht zögernd zu Hans. „Also, naja – er stöhnt manchmal so, wenn er zu euren Proben oder ins Studio muss.”

Ich hol grad Luft, als Hans sich aufrichten. Er hat uns wohl gehört. „Ich seh das Ganze halt nicht so ideell." Wir lassen uns im hinteren Teil an der Bar nieder und Hans wendet sich Suzi zu. „Also, wenn ich ganz ehrlich bin, dann ... Also, das mit der Band ... Ich würde sagen, bei den Ärzten funktioniert das so: Farin ist das Genie, klar. Und ich?" Er tippt sich auf die Brust, wartet einen Moment, bis die Bedienung die Drinks abgestellt hat. „Ich bin der Mann fürs Finanzielle. Die Strippen hinterm Vorhang, du weißt schon. Der Kopf fürs Geschäft. Und Bela ..."

Pause.


Pause.


Pause.

Ich hab grad den Whiskey an meine Lippen gehoben, halte inne.

„Bela ist ... cool, klar. Keine Frage. Er hat echt Feuer auf der Bühne, aber …” Er hebt seine Schultern, lässt sie wieder fallen.

Suzi blickt mit hochgezogenen Augenbrauen zu mir und erinnert mich für einen Moment wahnsinnig an Jan.

„Aber wenn wir größer werden wollen, müssen wir das Rad neu aufziehen. Vielleicht ... also, schön ist das nicht, aber ... Vielleicht müssen wir auch jemanden aus der Band werfen, um noch erfolgreicher zu sein. Das sieht Jan im übrigen auch so."

Ich sitz fassungslos daneben. Mir fällt seine Wölli-Drohung wieder ein.

„So was muss man manchmal in Kauf nehmen, wenn man größer werden will."

„Was ... meinst du damit?", fragt Suzi mit gerunzelter Stirn und ich bin ihr sehr dankbar, denn ich bekomm grad den Mund nicht auf.

„Na, also, endlich lohnt sich der Kram ein bisschen. Vorher hab ich mit meinem VW-Bus ja sogar noch draufgezahlt. Ich war halt noch nie so der Kreative bei den Ärzten und mach das halt vor allem wegen der Kohle. Und da mich die ganze Nummer musikalisch auch nicht mehr so reizt, bin ich ehrlich gesagt froh, wenn mal mehr Geld abfällt."

Ein heißer Stich fährt durch meinen Bauch.

„Außerdem: Schau dich um." Hans deutet mit seinem Bier auf die Menge, in der ein paar Fans neugierig zu uns rüber sehen. „Das ist schon sehr schmeichelhaft und viele der Mädchen sind sehr ..." Er bricht ab und sieht zu Kati, lächelt sie linkisch an. Anscheinend hat er doch noch ein Minimum an Taktgefühl. Danach sieht er verschmitzt zu mir, als wäre ich sein Kumpan.

Mein Whiskey schmeckt bitter.

Suzi sieht ihn einfach nur an, aber da Hans nicht checkt, dass die Falte auf ihrer Stirn nicht Interesse bedeutet, redet er einfach weiter, immer weiter, sagt irgendwas von Marktstrategie, von Semesterferien-Tourplänen und das wir als Ärzte sein Gesicht brauchen, egal ob er Bass spielen kann oder nicht.

Das flaue Gefühl in meinem Magen kriecht in meine Kehle und ich weiß nicht, ob ich Richtung Klo oder frischer Luft stürzen soll. „Ick ... ick muss los. War nett dich kennzulernen, Kati." Ich nick Hans zu, ohne ihn anzusehen und nehm Suzis Hand, zieh sie nach draußen.

Es ist arschkalt und trotzdem noch wärmer als in mir drin. Hans Worte klingen wie ein übler Ohrwurm in mir nach. Besonders die, die er über mich verloren hat. Was für ein Alptraum!

Suzi atmet ein paar tief durch. „Sach mal, ich dachte, Jan wär ein echtes Arschloch. … Aber der Typ ... der ist ja komplett übel."

Es tut so gut, dass von ihr zu hören und ich zieh sie an mich, aber die Demütigung klebt wie Teer an mir. Mir ist echt nach Heulen. Ich weiß doch selbst, dass ich nicht besonders gut bin.

„Oh, Süßer, nimm dir das doch Gelaber von dem BWL-Idioten doch nicht so zu Herzen."

Sie küsst mich auf die Wange. „Komm. Wir fahren zu dir."

„Ähm, … Danke, dass de dem so Paroli geboten hast. ... Aber ... ick glaub, ick muss … vielleicht heut einfach mal allein ..."

Sie sieht mich traurig an, nickt dann. „Schade, aber ... okay. Bitte ruf mich an, wenn`s dir ... noch schlechter geht, ja?" Sie ahnt wohl, dass ich gerade im freien Fall abrutsche in ...

*

In der U-Bahn zurück in die Niebuhr, weicht das Eis in mir einer Hitze, die direkt aus meinem Bauch aufsteigt. Und es ist keine Wut, sondern ... Das ist reine Scham und sie tut weh.

Vielleicht haben sie einfach auch alle recht. So viele Songs wie Jan schaff ich einfach nicht. Und ich liebe seine Lieder und Melodien und Texte, aber manchmal wünschte ich, er wär nicht ganz so gut.

Ich schließ leise unsere Wohnungstür auf und lausch. Er ist nicht da, das kann ich auch ohne weiteren Check spüren. Keine Ahnung, wo er hin ist.

Ich kann nich pennen. Immer wieder dröhnt Hans’ Stimme in meinen Ohren: „Vielleicht müssen wir auch jemanden aus der Band ersetzen, um noch erfolgreicher zu sein. Das sieht Farin im übrigen auch so."

Die Nacht macht mich schwindelig, schubst das Karussell aus Zweifeln weiter an. Ich wart auf die Wut. Wut wäre besser. Zumal sich nicht nur Hans wie ein Arschloch benimmt, sondern auch Jan – wirklich! Aber ich kann die Wut ihm gegenüber nich fühlen.

Nur meine eigene Nutzlosigkeit. In der Küche find ich im Altglas eine noch halbvolle Flasche Wodka.

Der Rest ist wunderbare Stille.

*

Am nächsten Morgen wach ich mit Magenschmerzen auf. Außerdem brummt mir so dermaßen der Schädel, dass ich fauche, als mich die Sonne grell blendet.

Langsam tast ich mich an den Wänden entlang in die Küche, halt mich am Tisch fest, bis er aufhört zu schwanken. Grade bin ich dankbar, dass Jan nich da is. Ich will niemand sehen.

Nach zwei Tassen Kaffee schwarz, bricht aus dem Kopfwehdröhnen, die Realität wieder zu mir durch.

Auf dem Tisch liegt ein Zettel neben einer leeren Wodkaflasche. Es ist meine Schrift, wenn auch schwer leserlich.

„Hi Jan!

Ich glaub, Hans hat recht. Ich halt die Band echt nur zurück.

Außerdem kann ich auch einfach mit dem nicht mehr zusammen spielen. Der hat mich bei den Suurbiers schon so genervt. Er hat gestern abend gesagt, dass ihr euch einig seid, dass es besser ist, wenn die Ärzte einen Neustart hinlegen, mit wem anderen am Schlagzeug. Nehmt doch einfach Wölli, wenn der schon zugesagt hat.

Ist echt doof, aber ich bin halt einfach nicht so gut. Micki ist schon der Zweite, der mein Trommeln scheiße findet. Ich meine, der ersetzt mich einfach mit `nem Scheiß-Computer. Und als du ja gesagt hast, habe ich das halt auch gemacht, weil ich dir da vertrau. Aber es hat schon übel weh getan.

Tut mir auch irgendwie leid, dass die Zeit mit unserer Band jetzt für mich vorbei ist.
Also, eigentlich wollt ich dir nur sagen, dass ich bei den Ärzten aussteig.

Ich hoff, du bist mir nich böse deswegen. Ich bin dir auch nicht böse und wünsch euch viel Glück. Vielleicht klappt`s ohne mich und mit einem guten Schlagzeuger ja besser.

Dein Bela."

 

Oh.

...

...

...

Ich kann mich nur halb erinnern, den Brief geschrieben zu haben. Ich dreh den zerknitterten Zettel um. Mist! Unter einer Einkaufsliste wechselt die Schrift. Also war Jan doch hier?

„Hi Bela!

Ich versteh gerade nur train station. Über was soll ich mir mit Hans einig sein? Und was ist mit Wölli?

Du willst doch nicht echt aussteigen, oder?!? Lass uns bitte nachher reden, okay? Das klingt alles ganz schön wichtig. Ich muss leider los. Mach keinen Blödsinn, so lang ich weg bin.

Bis später, Jan"

Ich starre auf Jans Worte, weiß nicht, was ich aus ihnen ableiten soll. Er hat nicht mal mit „Dein Jan" unterschrieben.

Eine andere Sehnsucht steigt in mir auf und sie hat mit blitzenden Klingen und Schnitten auf Haut zu tun. Meinte Jan das mit Blödsinn?

Das Telefon klingelt, als ich gerade die Tür des Badezimmers hinter mir schließe. Ich will nicht rangehen, sondern ... Dann fällt mir ein, dass es Jan sein könnte und ich hechte in den Flur.

„Hallo?"

„Bela? Hier ist Jim. Gut, dass ich dich erwische. Jan hat mich vorher total verzweifelt angerufen und meinte, dass du aus der Band aussteigen willst?"

 

Fabrik Rakete, Zossener Str., Kreuzberg

Ein paar Stunden später gehe ich durch den Hinterhof der Fabrik. Jan steht vor dem Eingang. Obwohl er ruhig an der Mauer lehnt, rollt Unruhe in Wellen von ihm.

„Hey! Gut, dass de da bist." Er stößt sich von der Wand ab.

„Mhm." Ich kann ihn nich ansehen, weil dann alles in mir wieder aufschreit.

„Lass uns ..." Es wirkt, als wollte er nach meiner Hand greifen, aber dann geht er doch in Richtung der großen Eisentür. Mit großen, ruhelosen Schritten läuft er die Treppen hoch und ich trotte ’nen halben Schritt hinter ihm her.

Hans ist schon oben und trohnt auf einem Stuhl vor Jims Schreibtisch. Mit Genugtuung stelle ich fest, dass er mit einem Bein wippt. Jan und ich setzen uns dazu.

„Also, ihr drei." Jim mustert uns nacheinander über den Rand seiner Teetasse. „Ich hab gehört, dass es Ärger gab und du, Bela, aussteigen willst, weil Hans …" Zum Glück blickt Jim zu Hans. „Damit ich verstehe, was los ist, würdest du das bitte noch mal erklären, Hans?"

Der schaut auf seine Fingerkuppen, zieht an den Falten seiner Bundhose. „Also, ich ... Vielleicht hat Bela da … etwas zu stark interpretiert."

„Ja, vielleicht ..." Farin sieht mich hoffnungsvoll an.

Ein heißer Stich fährt mir in den Bauch, und ich verschränke die Arme, damit sie nicht zittern. „Ey, da dran war nüscht zu interpretieren."

„Ich … ich wollte nur aufzeigen, wo die Stärken von jedem Einzelnen von uns liegen. Außerdem – wenn wir wachsen wollen, muss man eben auch mal unpopuläre Gedanken aussprechen." Er überschlägt seine Arme und lehnt sich zurück.

Jim runzelt die Stirn. „Unpopulär?"

„Du hast gesagt, dass ick `n schlechter Musiker bin und dass es besser wär, wenn ick die Ärzte verlass. Und dit mach ick nu och. Ick spiel jetz noch die Tour fertig und dann steig ich aus." Ich bin so bereit, dass ich halb aufsteh.

„Hey, Bela!" Jan macht eine leichte Geste, dass ich mich wieder hinsetzen soll.

Auf einmal strömt Wut in mir hoch. „Mann, Jan. Check doch mal, was los ist."

Er runzelt die Stirn, als würd er es wirklich nicht kapieren.

Zum ersten Mal an diesem Tag seh ich ihm in die Augen. „Sollteste doch glücklich sein drüber. Immerhin stimmste Immchen hier zu, dass ick ständig unpünktlich bin und dass `n Computer meinen Job besser erledigt an den Drums."

Jetzt senkt Jan den Blick. „Ick will nich, dass de gehst", sagt er leise. „Ick will nur nich immer ewig auf dich warten müssen und …" Er verstummt.

„Okay. Danke, Jan. Und, Hans?", fragt Jim ruhig nach. „Was hast du jetzt genau gesagt?"

Hans sieht kurz rüber zu Farin, reibt seine Hände. „Vielleicht war das, äh, ... unglücklich formuliert."

„Unglücklich? Mir hast du erklärt, ich sei der Clown fürs Rampenlicht!"

Jim hebt eine Hand. „Hans, was sind die Ärzte denn eigentlich für dich? Ich erinner mich, dass du hier mit Jan die Fanadressen in den Computer …"

„Herbert Grönemeyer", wirft Jan ein, aber …

„...eingegeben hast. Was ist dir denn noch wichtig?"

„Aber es geht doch nicht um mich, sondern um Bela."

„Okay. Aber es sollte ja kein Problem sein, deine Interesse darzustellen." Jim bleibt ganz ruhig, aber sein Blick wird etwas intensiver. „Was tust du, damit ihr als Band gut funktioniert? Nicht nur auf der Bühne, sondern auch im Studio und jenseits davon?"

„Wieso? Was soll ich denn tun?"

„Genau, das möchte ich ja wissen."

„Na, ich schmeiß den geschäftlichen Teil."

„Tust du das?"

„Ja!"

„Ich muss ganz ehrlich sagen, das ich das nicht so sehe oder auch sehen kann. Meiner Einschätzung nach kann es ohne Bela keine Ärzte geben. Eure Band lebt von den zwei kreativen Köpfen." Er sieht erst mich, dann Jan an. „Und auf der Bühne ist Belas Energie mehr als wichtig."

Stille. Lange, endlose Stille legt sich über den großen Raum.

Hans sieht immer wieder zu Jan, aber der scheint gerade komplett in sich selbst versunken zu sein.

Jim massiert sich die Schläfen. „Also, ich schlage Folgendes vor: Hans, du konzentrierst dich jetzt auf deine Prüfungen. Aber danach – und das sollte ein klares Versprechen deinerseits sein – räumst du der Band Priorität ein. Und du, Bela, du bleibst natürlich. Nicht nur, weil du eines der Gründungsmitglieder bist, sondern auch weil du integraler Teil der Ärzte bist. Eine Band ist wie ein lebendiger Organismus und wenn du, Jan, vielleicht mehr der Kopf bist, dann ist Bela das Herz."

Farin lehnt sich zurück, sieht vorsichtig zu mir und nickt. Die Spannung in meinem Rücken löst sich ein wenig.

„Ihr probt jetzt weiter und nehmt die nächste Platte auf. Und wenn wieder einer von euch das Gefühl hat, er müsste den Anderen was an den Kopf werfen, dann ... Denkt bitte einfach darüber nach, was ihr sagt, okay? Diese Art von Eskalation könnte wirklich zu eurer Auflösung führen. Wollt ihr das?"

Er sieht jeden von uns lange an. Jan schüttelt den Kopf, Hans auch.

„Bela?"

Ich weiß grade nicht, was ich will. Es tut immer noch weh. Schließlich nicke ich doch, weil ... „Okay, ich ... bleib."

Ein unterdrücktes Aufatmen fließt über Jans Lippen.

„Gut." Jim stellt die Teetasse auf seinen Schreibtisch. „Also, ihr drei. Ihr macht jetzt verdammt noch mal mit Micki zusammen eine gute zweite Platte. Okay?"

Wir nicken.

„Danke, Jim." Jan schüttelt ihm lange die Hand.

„Ja, also … Ich muss los. In die Uni." Hans steht auf und schon ist er weg, der Drecksack.

„Wie geht`s dir, Bela?" Jim sieht mich viel zu aufmerksam an.

„Weiß nich. …" Ich guck auf den Boden. „Vielleicht `n bisschen besser?"

Jim wartet, bis ich ihn wirklich anschaue. „Bela, ernsthaft. Ich wollte ihn nicht bloßstellen, aber ... Sahnies Gerede ist ungefähr so wichtig wie das Seelenleben eines Baumes in China. Du bleibst. Ende."

*

Später stehen Jan und ich unschlüssig vor der Fabrik voreinander. Zwei Meter trennen uns. Zwei Meter können sich sehr weit anfühlen.

„Warum traust du ihm so sehr?" frag ich leise und zünd mir eine Zigarette an. Meine Finger zittern und ich vermute, dass es nicht an der kühlen Luft liegt.

„Wem?" Seine Stimme klingt erschöpft, aber irgendwie auch wachsam. Auch seine Miene hat sich noch nicht wieder entspannt.

„Hans", sag ich in eine lange Rauchwolke.

Er atmet tief durch. „Es geht mir nich direkt um Hans, sondern ..." Er beißt sich auf die Lippen. „Ick will halt einfach, dass wa ... So `ne Band, dit is doch wat Wichtiget und ... Et wär halt schön, wenn wa füreinander da sind wie so `ne Art ... Ersatzfamilie und uns nich so ..." Sein Blick fällt auf meine Bugs-Bunny-Uhr. „Mist, ich komm zu spät."

Ich zieh den Rauch viel zu tief ein und huste. „Wohin?"

Aber er läuft schon los.

 

26. November – Niebuhrstraße 38b, Charlottenburg

Suzi ist vorbei gekommen und nach dem ganzen Stress der letzten Tage tut es so gut, einfach jemanden um mich zu haben, mit der alles okay ist.

Kaum ist sie am nächsten Tag weg, klopft Jan an meinem Zimmer. „Sach ma, muss dit immer sein, dass Suzi hier abhängt", sagt er als Begrüßung.

Eigentlich würd ich gern was sagen, dass uns beide wieder mehr zusammen bringt, aber momentan geht er mir einfach nur auf den Geist. Dieses ständige torpedieren von Suzi und unserer Beziehung. Es nervt einfach. Ich mag - nein, ich liebe sie einfach. Und sie mich auch. Punkt.

„Geht grad nich anders."

„Häh? Wieso?"

Mir fällt so schnell keine gute Story ein. „Dit geht dich ...", fang ich deswegen an, bieg dann aber ab und sag nur: „Kann ick dir nich sagen."

„Sehr hilfreich."

„Sie muss halt grad hier sein, okay?" Wegen mir. Weil du für mich nicht da bist. Vielleicht sollte ich ihm das wirklich mal an den Kopf knallen.

„Wär echt cool, wenn du mich vorher fragen könntest."

„Ja, ging halt nich. War `n Notfall."

„Aber ick muss dit dann einfach so schlucken, oder was, dass ick ständig ihre Stimme hören muss und euch beede beim ..."

„Jetz mach doch bitte nich so `n Aufriss deswegen. Is alles schon schwer genug für sie." Also, eigentlich für mich, aber wenn ich das Fass jetzt aufmach, dann ...

„Ganz ehrlich: Für mich auch, Bela."

Er klingt schmerzhaft aufrichtig und ich ... Ich komm mir so blöd vor. Und unverstanden, so absolut unverstanden. Wenn er ein bisschen mehr nachdenken würd, dann müsste er doch verstehen, warum. Grade macht ihn sein fehlendes Mitgefühl wirklich unattraktiv und umso mehr wünsch ich mir Suzi her.

„Hol dir doch och einfach mal jemanden hierher. Diese Mathilde oder wie die hieß. Schien doch ganz cool. Dann musst du auch nicht so neidisch und missgünstig sein. Dit is nämlich echt `n bisschen abtörnend und ..."

Sein Kopf zuckt zur Seite, weg von mir, als hätt ich ihm `ne Ohrfeige verpasst.

Flur, Schuhe, Wohnungstür, Treppenhaus, Haustür, Hof – und weg ist er. Mal wieder. Immerhin brauch ich dann auch kein schlechtes Gewissen wegen Suzi zu haben.

 

1. Dezember – Niebuhrstraße 38b

Es klopft an meiner Zimmertür, obwohl die nur angelehnt ist.

„Mhm?"

Jan erscheint im Türrahmen. Er sieht seltsam aus. Blass irgendwie. Wo war er nur die letzten Tage?

„Ähm, hi! ... Kann ich ... mit dir reden?"

„Klar." Ich geh meine Verfehlungen der letzten Tage durch. „Ey, ick hab dit nich so gemeint vor `n paar Tagen. Ehrlich, Jan. Dit war nur so im – Wie heißt dit? – irgendwat mit Affe, weil du mich wegen Suzi so bedrängt hast. Und dit mit deinem Geburtstag ... Dit tut mir och noch echt leid. Heut is Suzi bei `ner Freundin. Wir könn ja heut was zusammen machen. Ins Kino oder so."

„Dit klingt, als würden wa nur was zusammen machen können, wenn Suzi keene Zeit hat ..."

Als er weiterspricht, ist die Wut auf einmal wie weggezaubert. „Also, wenn de noch willst, nachdem ick dir dit gesacht hab, dann ..." Er schafft es nicht, mir in die Augen zu sehen.

„Wat willste mir denn sagen?"

Er blickt zu Boden.

Mir wird ein wenig übel. „Mann, jetz halt mich nich so hin."

„Ick ... Ick werd ausziehen."

„ ..." Kalt. Mein Zimmer ist schlagartig so verdammt kalt geworden. Ich zieh die Arme um meinen Körper. „..."

„Soll ich erklär`n warum?"

Ich nick, weil ich meinen Mund nich bewegen kann.

Er kommt vorsichtig einen Schritt ins Zimmer und holt tief Luft. „Ick pack dit nich mehr mit ..."

„Suzi?"

„Ja. Nee. Dit sin so viele Sachen. Die Fans sind zwar zum Glück endlich weg, aber ... Ick brauch `ne Auszeit von dem ständigen Klingeln, deiner lauten Musik mitten in der Nacht, deinen ... Exzessen und das ick viel zu oft Angst hab, dass de ..." Er bricht ab, sieht mich traurig an.

„Machste ..." Mir schießt Wasser in die Augen. „Machst du mit mir ... Schluss?"

„Was?" Er wirkt ernsthaft erschrocken. „Nein!!! Nein. ... Es is nur … Ick brauch mehr Ruhe. Und dit is hier eenfach ... irgendwie nich mehr möglich."

„Ick könnt ..."

„Nee. Ick ... Also, dit mit Suzi war irgendwie der letzte Tropfen, der dit Fass zum Überloofen gebracht hat. Dit is, als würdeste mir ständig `n Messer zwischen die Rippen stoßen."

Ich senk den Blick. „Dit ... dit tut mir echt leid."

„Mhm. ..." Er lehnt sich an meinen Türrahmen. „Ick wollt dir keen Ultimatum stellen so wie sie damals und ..."

„Aber ..." Auf einmal bricht Trotz durch meine Hilflosigkeit. „Dann entscheideste einfach im Alleingang. Dit is ja sooo viel besser."

Kurz wird sein Blick hart, dann senkt er ihn. „Mhm. Kann schon sein. ... Aber ick ..." Er sieht mich wieder an und für einen Augenblick kann ich in ihm lesen, was und warum, dann senkt er ihn wieder.

„Wann ...?"

„Am 15."

Zwei Tage nach meinem Geburtstag.

*

Danach teilt sich unser Alltag wieder - zwischen Tag und Nacht begegnen wir uns manchmal - nur kurz für ein, zwei Worte, dann geht jeder in sein Zimmer zum Pennen, als wären wir schon getrennt voneinander. Irgendwie scheint er doch nicht nur mit unserer WG Schluß gemacht zu haben. Aber ich will ihn nicht fragen, weil die Antwort ... Außerdem – gerade will ich ihn auch gar nicht.

Eine seltsame Eifersucht auf die Hosen wirbelt durch mich. Die sind einfach eine Gang. Wir dagegen mit unseren individuellen Bedürfnissen …. Aber ich bin da ja einer der Hauptschuldigen, denn - ich will gerade einfach nur Suzi. Mit der ist alles gut und unkompliziert und schön.

Am Anfang versuch ich noch dazubleiben, die letzten Tage mit ihm einzufangen, aber dann halt ich den Countdown nicht mehr aus, unseren so unterkühlten Kontakt. Ich muss raus hier. Ganz dringend raus!

Die Stadt umarmt mich wie eine Geliebte. Der Whisky fließt warm durch meine Kehle, mitten in meinen wunden Bauch und heilt die Gedanken weg und ...

 

 

Ich erwach mit schmerzenden Händen in einem dunklen Raum. Keine Ahnung, wo ich bin. Ich taste vorsichtig nach einem Lichtschalter, finde nicht an Orten, wo ich ihn erwartet hatte, dafür eine Türklinke. Vorsichtig schau ich in den Flur, aber - ich kenn den nicht. Scheiße.

Neben mir liegt – irgendjemand. Eine Frau. Nackt. Keine Ahnung. Kann mich nicht erinner, will mich nicht erinnern, sondern – ich will hier nur weg. Nachhause.

Auf dem Weg zur U-Bahn seh ich an einem Kiosk das Magazin Spiegel und wunder mich, warum der ein neues Cover hat. Ich bleib stehen und les das Datum auf der Berliner Morgenpost. 15. Dezember.

Ich hab meinen Geburtstag verpennt. Oder versoffen.

Ob – ob er noch da ist?

 

Als ich die Wohnungstür in der Niebuhr öffne, ist alles so – normal.

Mein Herz hämmert und etwas in mir zieht sich zusammen. Wenn er wirklich einfach so verschwunden ...

Ich reiß seine geschlossene Zimmertür auf.

Erschrocken sieht er vom Boden hoch, wo er gerade die Saiten aus seiner Rot-Kreuz-Gitarre herausnimmt.

Sein ganzes Zimmer ist voller Umzugskartons, die mich fein säuberlich beschriftet mit „Platten" / „Bücher" / „Klamotten" anschreien. Und es macht mich so wahnsinnig, weil ich einfach nichts tun kann dagegen. Jan hat entschieden. Und wenn Jan entscheidet, dann ... Auf einmal ist alles in mir rot.

„Du bist einfach so `n Wichser", zischt es aus mir heraus.

Er legt die Gitarre zur Seite und erhebt sich langsam, sieht auf mich hinunter. „Mann, Bela, ..." Er klingt erschöpft trotz der trotzigen Worte, aber in mir ist nur dieses Lodern.

Ich stürm auf ihn zu und trommel blindlings auf ihn ein. Meine Fäuste erwischen einen Arm, seine Schulter. Er hebt die Hand, als wolle er sich schützen, als wolle er etwas sagen, dann senkt er sie wieder. Seine Stirn ist in Falten gelegt.

Ich will, dass es weh tut — ihm. Ich will ihn treffen, ihn verletzen, ihm zeigen, wie sehr er mich verletzt.

Ich trommel auf seinen Brustkorb, der hohl klingt. Er rührt sich nicht, weicht nicht aus, wehrt sich nicht, hält einfach still.

Ich will schreien, aber krieg meine zusammengebissenen Zähne nicht auseinander.

Ich erwisch seinen Bauch. Er zieht hart die Luft ein, aber lässt es einfach geschehen.

„Was soll das?" Seine Stimme klingt vorsichtig, aber in seinem schneller gewordenem Atem liegt auch eine Warnung.

Ich will, dass es kippt, dass es endlich knallt zwischen uns. Deswegen schlage ich noch härter auf ihn ein. Es erschreckt mich, dass er sich nicht wehrt.

Ich seh wie die Knochen in seinem Kiefer mahlen. „Hör auf!" Es klingt traurig anstatt wütend.

„Was, wenn ick nich aufhör?", fauch ich und schubs ihn gegen die Brust.

Mit einem Keuchen stolpert er rückwärts gegen einen hohen Stapel mit seinen Bücherkartons. Der Oberste gerät ins Wanken und fällt mit einem lauten Poltern auf den Boden. Er reagiert nicht, sieht mich einfach nur unverwandt an.

Ich lasse meine Arme sinken. Die Kartons stehen um uns herum wie stumme Zeugen und langsam geht mir die Kraft aus. Er sieht mich einfach nur an, dann nimmt er mich ganz vorsichtig - Vielleicht weil ich so zerbrechlich bin. Oder furchterregend. – in seine langen Arme. Er riecht nach Schweiß und irgendwie nach Traurigkeit.

„Du bist immer noch `n Wichser." Hinter meinen Worten ist kein Feuer mehr.

„Tut mir echt leid, Bela", murmelt er.

„Wenn`s dir wirklich leid tät, dann würdste nich gehn", murmel ich zurück.

Langsam löst er sich aus der Umarmung. Die Falten, um seinen Mund sehen müde aus, jede Linie in seinem Gesicht erschöpft, auch wenn seine Miene viel zu regungslos ist.

Ich strecke meine Hand nach ihm aus, bekomme seinen Unterarm zu fassen. „Ick mach dit nich mehr und ...", sage ich, klammer mich an die Idee, an ihn, an einen Kompromiss. So hilflos. Sein Blick zeigt mir, dass es keinen Verhandlungsspielraum mehr gibt. Ich beiß mir auf die Lippen und lass los.

„Besser ein Ende mit Schrecken, als ..."

„Mann, Jan! Willste jetz echt sagen, dass ick `n Schrecken ohne Ende bin?" Die Wut kehrt zurück und ich funkel ihn an. „Immer - gehst - du - einfach."

Er atmet tief durch. „Ich fühl mich ... irgendwie ... nich mehr zuhause hier ..." Der Seufzer rollt durch seinen Brustkorb.

„Aber – warum haste den nüscht gesacht?"

Seine Miene wird wieder härter. „Ick würd sagen, ick war recht deutlich, dass ick keen Bock hab auf ..."

„Suzi? Mann, mach dich ma locker, Jan!"

Seine Gesichtszüge sind nun steinern. „Ick hab`s oft jenuch jesacht. Außerdem geht es gar nicht nur um sie."

„Um was denn noch?"

„Zum Beispiel super laute Musik – mitten in der Nacht. Oder am frühen Morgen."

„Hätteste ja was sagen können."

„Ey, ernsthaft? Dit sollte eigentlich klar sein, dass ick pennen will. Und wenn ick bleib, dann fang ich vielleicht an, dit wirklich zu hassen, wenn de um 4 Uhr morgens Venom auflegst. Und irgendwann hass ick dann nich mehr die Musik, sondern ..." Er sagt leiser und viel zu ernst.

„Was noch?" Meine Stimme ist jetzt viel zu leise.

Seine auch. „Ick schlaf eh nich jut, weil ... also, weil ... Ick hab eenfach ... ständig Angst, dass de einfach nachts wieder so `n Mist baust und ..."

Ich ahne, worauf er hinaus will und gerade hab ich gar keinen Bock das mit ihm zu diskutieren. „Ick hab dich nich gebeten meine Nanny zu spielen."

Seine Augen werden schmal.

„Glaubste eigentlich nich, dass ick och oft Angst hab, wenn de wieder auf einem deiner Trips bist und ick wochenlang nüscht von dir hör?"

Sein langer Körper krümmt sich ein wenig und er greift nach einem der Kistenstapel, als würde er Halt suchen.

„Und dann kommste hier einfach an und ... Dit hättste ja och echt ma mit mir besprechen könn. Aber du hast dit einfach so entschieden. Dit is so ..." Meine Hände zucken schon wieder. Diese Hilflosigkeit macht mich so wütend.

„Ick weeß ja och, das dit scheiße is von mir." Er schluckt hörbar. Seine Stimme bricht an der letzten Silbe. Er sieht weg und beißt sich auf die Lippen.

Ich versteh es nicht und gleichzeitig viel zu viel. Ich bin nicht der richtige Ort. Ich will sie nicht die Tränen und ich dreh mich um und beiß sie zurück. „Mann, dann hau doch ab. Dit kannste ja."

Ich knall seine Tür hinter mir zu, dann fall ich auf mein Bett und heul ins Kissen und schlaf irgendwann über dem Lärm, den er im Flur veranstaltet ein.

Als ich wieder aufwach, ist es draußen totenstill. Vorsichtig öffne ich die Tür.

Leer.

Alles.

Vor allem sein Zimmer – und es wirkt, als würde die WG schon weniger nach ihm riechen.

 

Turmstraße 38, Moabit

Sahnie setzt mich mit meinen Kisten einfach am Randstein vor der Turmstraße ab. Immerhin hat er mich mit seinem Bus hergefahren und noch mit ausgeladen. Dann musste er wieder los.

Moabit. Mein Anfang. So vertraut, als würde gleich meine Mutter aus der Apotheke vor mir kommen.

Das Haus ist voller Arztpraxen. Wenn ich nicht so verdammt fertig wäre, dann würde ich es vielleicht sogar witzig finden.

Ich seh die Turmstraße hinunter, seh den spitzen Kirchturm ... Dennoch - so fremd. Ich starre auf die Hausnummer über der herrschaftlichen Eingangstür.

38.

Irgendjemand im Schicksals-Kommittee hat einen ganz schlechten Sinn für Humor.

Schnell klingel ich. Es gibt hier ernsthaft eine Gegensprechanlage.

„Hallo?", höre ich Ecky.

„Hey! Hier is Jan. Kannse mir mit den Kisten helfen?"

„Klar. Ist Bela auch da?"

„Nee. ... Der ... konnte nich."

„ ... Okay." Aus seiner zögernden Antwort höre ich, dass er mehr versteht, als ich gesagt habe.

 

21. Dezember – Turmstraße 38, Moabit

Das ist es also – mein neues Zuhause. Es riecht seltsam. Nicht nach Rauch, nicht nach Alk. Und es ist riesig – viel zu groß für Ecky und mich. Und viel zu still.

Niemand spielt um 4 Uhr morgens Death Metal. Niemand raucht in der Küche. Wir stehen morgens auf. Wir zahlen unsere Miete, kaufen ein. Ecky kocht gerne, wenn er da ist. Ich mach den Abwasch.

Und trotzdem …

Ich starre auf das Telefon, dass die falsche Farbe hat. Nicht mehr dunkelrot, sondern grün. Es steht so ruhig auf Eckys Schreibtisch, das Kabel ordentlich aufgerollt. Ich greife nach ihm, als wäre es eine giftige Schlange.

Der Hörer liegt schwer in meiner Hand. Meine Finger auf der Wählscheibe. Schwer. Alles in mir. Gleichzeitig poltert mein Herz unangenehm schnell gegen meinen Brustkorb.

... – drei – acht!

Die Zahlen kann ich wahrscheinlich noch auf meinem Totenbett auswendig.

Freizeichen.

Ich presse den Hörer dichter ans Ohr. Ein Teil von mir hofft, dass er nicht da ist, damit wir nicht wieder ... Der andere will einfach nur seine Stimme hören.

„Ja?" So leise.

Ich zucke zusammen, obwohl ich genau mit diesem Klang gerechnet habe, genau diese Stimme hören wollte und dennoch sticht sie in mich wie ein Messer. Es schneidet sich in mein Trommelfell und tiefer.

„... Hallo Bela!"

„Oh! ... ... ... Hi."

„Ick ... ick ..." Wollte fragen, wie`s dir geht. „... Ähm, ... Also, ick hab `n neuen Song geschrieben und wollt fragen, ob de ihn dir anhören willst?"

„... Mhm."

„Also, ... kommste vorbei?" In mir krampft sich alles zusammen, weil ich gefühlt bettel und er trotzdem vielleicht nein sagt.

Er seufzt. „Is ... Is grad `n bisschen schlecht."

„Ähm, ... ja. ... Okay. Dann ... meld du dich doch, wenn ... de dit hören willst."

„Mach ich, Jan." Es klingt aufrichtig, lässt mich hoffen.

*

Und dann kommen und gehen die letzten Vorweihnachtstage.

Keine Bandproben. Kein Studio. Er meldet sich nicht. Ich melde mich nicht.

Verdammt. Dass wir einander so entgleiten. Das war nicht die Idee meines Neuanfangs. Aber ich ruf mit Sicherheit nicht noch mal in der Niebuhr an. Irgendwie kann ich ihn sogar verstehen, auch wenn es weh tut. So wie ihm vermutlich mein Auszug.

*

Und dann kommen die Weihnachtsfeiertage, die ich in Frohnau verbringe, obwohl ich Angst habe, dass ich seinen Anruf hier verpasse, aber ...

In Frohnau ist es nett, aber ich kann es nicht wirklich fühlen. Julia und meine Mutter sind ganz vorsichtig mit mir, obwohl ich ihnen außer der neuen Adresse nicht wirklich erzählt habe von dem ganzen Chaos.

Als ich wieder in der Turmstraße bin, hat der Anrufbeantworter nur eine einzige Nachricht: Axel, der fragt, ob wir vielleicht ein Zimmer für ihn hätten.

 

*
*

 


 

LYRICS

 

ADDITIONAL SONGS

 

INTERVIEWS

Jim Rakete

Jan [= Farin] hatte schon damals einen fast unheimlichen inneren Kompass. Dirk [Bela] war das pure Gegengewicht – unersetz­lich, weil er den Laden zum Beben brachte.«

... oder wie immer, wenn's laut wird oder so, dann muss ich mich schon... Ist das so ein bisschen auch die Angst, die Kontrolle zu verlieren über sich? Ich mag mich nicht in dem Zustand. Ich, ähm, also wenn ich mehr als zwei Bier trinke, ist bei mir Schluss. Da ist Schicht, da wäre ich auch müde.


Und andere Leute drehen dann erst so richtig auf und wollen die Welt aus den Angeln heben. Und das habe ich ja tagsüber schon getan, deshalb soll ich das dann abends machen. Aber Sie haben die auch nie beneidet, die so sind? Die sowas können? Die auch mal Exzesse wagen und solche Grenzgänge machen?


Eher fremdgeschämt für die. Also, ist nicht meins, halt einfach so. Ich brauche auch diese ganzen Bewusstseinserweiterungen auch eigentlich gar nicht. Weil ich finde eigentlich das Leben an sich schon spannend genug. Ich kann auch zum Beispiel Leute schwer nachvollziehen, die immer verreisen müssen unentwegt oder immer woanders hin müssen, als sie sind. Weil das, was ist, ist ja schon so reich. Und ist schon so viel mehr, als Leute vor unseren Generationen jemals erleben durften. Also, nee.

 

Das Buch Ä

S. 162

Überzeugungsarbeit muss Meuser auch beim Drumsound leisten, denn er ist der Meinung, dass Belas Schlagzeugspiel einfach noch nicht exakt genug für eine gute Produktion ist. Er macht Bela jedoch den Vorschlag, den Klang von dessen Trommeln und Becken mit seinem neuen Emulator-II-Keyboard zu sampeln, um so Belas Schlagzeugsound zu übernehmen.

Farin Urlaub: „Micki hat uns nichts zugetraut, und wir waren nicht selbstbewusst genug und viel zu ahnungslos, um uns gegen diese schlechte 80er-Produktion zu wehren. Ich hatte keine Ahnung und war Micki (den ich übrigens sehr mochte) hilflos ausgeliefert. Wir haben uns ein paar Mal gestritten, und er meinte knallhart, dass Belas Schlagzeugkünste einfach nicht gut genug wären. Immerhin haben wir ‚Käfer‘ mit echten Drums aufgenommen. Der Song klingt heute am wenigsten schlecht.“

Bela ist von Meusers Ansage zwar ziemlich zerknirscht, geht aber dennoch mit großem Eifer an die Sache heran. Er will das Beste daraus machen und spielt neben „Käfer“ immerhin auch noch ein paar andere Nummern ein.

S. 175 f.

Dort [Dennis-King-Live-Radioshow] erklärt Sahnie Belas Freundin in dessen Anwesenheit recht unverhohlen seine persönliche Sicht der Dinge zur Lage der Band. Farin sieht er als das musikalische Genie, sich selbst als Geschäftsmann und Strippenzieher hinter den Kulissen und Bela ... ja, Bela ist halt auch dabei.

Falls man sich für noch mehr Erfolg anders aufstellen müsste, so müsste das eben sein. Es besteht kein Zweifel, wessen Position Sahnie dabei am gefährdetsten sieht. Bela traut seinen Ohren nicht, als er dies hört.

Der emotionslose Vortrag von Sahnie bringt ihn fast zum Heulen, denn ihm liegt viel an der Band, und es macht ihn wütend, mit anhören zu müssen, wie egal dies ihrem Bassisten alles eigentlich ist.

 

Meersau, S. 61

Nach dem Gig gingen Bela und Sahnie noch mit ihren Freundinnen aus. In einer Bar hielt Sahnie Belas Freundin Michaela einen längeren Vortrag über Die Ärzte. Hans Runge sah in der Band nichts Ideelles, ihn interessiere einzig und allein der kommerzielle Aspekt, führte er aus. Die Musik bedeute ihm nichts.

In Sahnies Konzept war Farin der Songschreiber, er der Geschäftsmann und Bela halt „dabei". Wenn es sein müsse, jemanden aus der Band zu werfen, um noch erfolgreicher zu sein, müsse man das in Kauf nehmen.

Obwohl Hans Runge keinen Namen nannte, konnte kein Zweifel darüber bestehen, wer das mögliche Erfolgshemmnis war. Auch behauptete Sahnie, er habe diese Problematik mit Farin besprochen und der habe ihm zugestimmt. Bela war wie vom Donner gerührt.

Bela: „Ich saß fassungslos daneben. Abgesehen davon, dass ich schon lange ahnte, was für ein Riesenarschloch der Mann ist, meinte ich noch, das könne er doch nicht ernst meinen. Ich war so sauer, ich hätte fast geheult."

Farin: „Dennis King war ein schräger Charakter ..."

Der Song »Was hat der Junge doch für Nerven« als letztes Lied auf der Platte betont ausdrücklich, dass Die Ärzte zu dritt sind.

Farin Urlaub: „Wir waren schon immer ein Trio, auch wenn Sahnie nicht viel im Studio war und auch sonst wenig beigetragen hat. Damals galt schon: Die Ärzte sind drei Mann auf der Bühne, fertig. Außerdem hatte ich ja noch meinen ‚Die-Band-als-kleine-heile-Familie‘-Traum, der mich die Realität so lange ausblenden ließ, bis es nicht mehr ging.“

Bela B.: „Der Gang-Gedanke war bei uns schon früh gestorben, denn wir haben schnell gemerkt, dass wir drei absolut unterschiedliche Charaktere sind. Wir haben voneinander profitiert, uns ergänzt und so diese immense Vielseitigkeit erreicht. Aber jeder hat sich für sich weiterentwickelt. Darum ist das mit Sahnie wohl auch so gelaufen, weil er nicht daran dachte, sich für die Band zurückzunehmen.“

 

Tonspion – Interview: Die ärzte im Gespräch über ihre Anfänge bis zur Auflösung 1988

 

Leider seit neuestem hinter einer paywall. :-(

 

… Und irgendwann wollte er [Sahnie] dich ja sogar aus der Band werfen.

Bela: Er hatte Jan zumindest so weit, dass er sagte: Wir stellen Bela vor die Wahl: Entweder du hängst dich jetzt voll rein, oder du bist raus. Ich war damals nächtelang unterwegs, auch mal auf Drogen. Das war Hans nicht fokussiert genug. Zum zweiten Album gab es ein Treffen bei Jan in der Wohnung und Hans sagte: „Ab jetzt wird das anders aufgezogen. Jetzt werden Popsongs fürs Radio geschrieben, und du ziehst da gefälligst mit. Oder Wölli, der mich bei Frau Suurbier ersetzt hatte und noch nicht bei den Hosen eingestiegen war, wird der neue Die Ärzte-Schlagzeuger." Angeblich hätte der schon zugesagt, was Wölli mir gegenüber später verneinte.

Farin: Als Bela dann kurzzeitig selbst aussteigen wollte, hat Jim Rakete zum Glück schnell geschaltet und gesagt: Nee, ohne ihn gibt es diese Band nicht. Dann gab es Mediationsgespräche, und Hans gelobte Besserung.

Bela: Du hast das alles nicht verstanden und wolltest es einfach nicht wahrhaben.

Farin: An irgendeinem Abend hat er dann aber Sachen zu mir gesagt, die so krass und drastisch waren – da wurde mir klar, was ich mir für ein Lügengebilde aufgebaut hatte, und da gab es dann keinen Weg mehr zurück. Hans musste weg.

 

*